Eine Wand so weiß wie Milch

Within a Wall

 

Mrs Lemprière war diejenige, die die Existenz von Jane Haworth entdeckte. Sie war immer diejenige. Jemand sagte einmal, dass Mrs Lemprière mit Abstand die meistgehasste Frau Londons sei, doch das halte ich für eine Übertreibung. Aber sie hat unbestreitbar ein Gespür dafür, genau über das zu stolpern, was man nicht gerne publikgemacht haben möchte, und sie legt dabei eine wahre Genialität an den Tag. Es ist immer purer Zufall.

In dem besagten Fall waren wir in Alan Everards Atelier zum Tee eingeladen gewesen. Er gab gelegentlich solche Einladungen und pflegte dann, in abgetragenen Sachen, in Ecken herumzustehen, mit den Kupfermünzen in seinen Hosentaschen zu klimpern und sich offenbar höchst unwohl zu fühlen.

Ich nehme nicht an, dass heutzutage noch irgendjemand Everards Anspruch auf Genialität bezweifelt. Seine beiden berühmtesten Bilder, Farbe und Der Connaisseur, die aus seiner frühen Schaffensperiode stammen, bevor er als Porträtmaler in Mode kam, wurden im vergangenen Jahr vom Staat angekauft, eine Entscheidung, die ausnahmsweise einmal nicht umstritten war. Aber an dem Tag, von dem ich hier spreche, begann Everard gerade erst, sich einen Namen zu machen, und wir durften uns schmeicheln, ihn entdeckt zu haben.

Seine Frau war diejenige, die diese Gesellschaften veranstaltete. Everards Verhalten ihr gegenüber war eigentümlich. Dass er sie anbetete, war offenkundig und genau das, was man erwartet hätte. Anbetung stand Isobel zu. Aber er schien sich immer etwas in ihrer Schuld zu fühlen. Er stimmte allem zu, was sie wünschte, nicht so sehr aus Zuneigung, sondern aus der felsenfesten Überzeugung heraus, dass sie ein Anrecht auf ihre eigene Art hatte. Ich nehme an, dass auch dies durchaus verständlich war, wenn man es richtig betrachtet.

Denn Isobel Loring war wirklich sehr gefeiert gewesen. Als sie in die Gesellschaft eingeführt wurde, war sie die Debütantin der Saison gewesen. Sie hatte alles außer Geld: Schönheit, Rang, Bildung, Verstand. Niemand erwartete, dass sie aus Liebe heiraten würde. Das hätte nicht zu ihr gepasst. In ihrer zweiten Saison hatte sie drei Eisen im Feuer: den Erben eines Herzogtums, einen aufstrebenden Politiker und einen südafrikanischen Millionär. Und dann heiratete sie, zu jedermanns Überraschung, plötzlich Alan Everard – einen sich mühsam durchkämpfenden jungen Maler, von dem noch nie jemand gehört hatte.

Es sagt viel über ihre Persönlichkeit aus, glaube ich, dass jedermann fortfuhr, sie Isobel Loring zu nennen. Niemand sprach von ihr jemals als Isobel Everard. Es hieß: »Ich sah Isobel Loring heute Morgen. Ja – mit ihrem Mann, dem jungen Everard, diesem Maler.«

Man sagte, Isobel habe sich da »etwas Schönes eingebrockt«. Ich glaube, dass die meisten Männer schwer daran zu schlucken gehabt hätten, als »Isobel Lorings Ehemann« bekannt zu sein. Doch Everard war anders. Isobels Talent für Erfolgsmenschen hatte sie also nicht im Stich gelassen. Alan Everard malte Farbe.

Ich nehme an, dass jedermann dieses Bild kennt: ein Stück Straße, auf der einen Seite ein offener Graben, die ausgehobene Erde, von rötlicher Farbe, ein glänzendes, braunes glasiertes Abflussrohr und ein hünenhafter Bauarbeiter, der sich einen Moment, auf seinen Spaten gestützt, ausruht – eine herkulische Gestalt in schmutzigen Cordsamthosen und scharlachrotem Halstuch. Die Augen blicken einen von der Leinwand an, ohne Intelligenz, ohne Hoffnung, aber mit einer Art stummen unbewussten Flehens, die Augen eines herrlichen grausamen Tieres. Es ist ein loderndes Bild – eine Sinfonie in Orange und Rot. Es wurde schon viel über die Symbolik des Gemäldes geschrieben, über das, was es aussagen soll. Alan Everard sagte, er habe damit überhaupt nichts aussagen wollen. Er sei es leid gewesen, sich einen Haufen Bilder von venezianischen Sonnenuntergängen anschauen zu müssen, und da habe ihn ein jähes Verlangen nach einer Orgie rein englischer Farben gepackt.

Danach schenkte Everard der Welt das epische Gemälde eines Wirtshauses, Romantik: die schwarze Straße, auf die der Regen fällt, die halb geöffnete Tür, die Lichter und schimmernden Gläser, der kleine Mann mit dem verschlagenen Gesicht, der durch die Tür tritt, geduckt, schäbig, unbedeutend, mit erwartungsvollem Mund und begierigen Augen eintritt, um zu vergessen.

Aufgrund dieser beiden Bilder wurde Everard als ein Maler der »Arbeiter« gelobt. Er hatte seine Nische. Aber er weigerte sich, in ihr zu verharren. Sein drittes und hervorragendstes Werk war ein lebensgroßes Porträt von Sir Rufus Herschman. Es zeigt den berühmten Wissenschaftler vor einem Hintergrund aus Destillierkolben und Schmelztiegeln und Laborregalen. Das Ganze hat beinahe etwas Kubistisches, könnte man sagen; die perspektivischen Fluchtlinien sind jedoch ungewöhnlich.

Und nun hatte er sein viertes Werk vollendet – ein Porträt seiner Frau. Wir waren eingeladen worden, um es zu begutachten. Everard selbst machte ein finsteres Gesicht und sah zum Fenster hinaus; Isobel Loring ging zwischen den Gästen umher und sprach mit unfehlbarer Sachkenntnis über Maltechniken.

Wir gaben unsere Kommentare ab. Das mussten wir. Wir rühmten die Ausführung des rosa Satins. Wie er den gemacht hatte, sagten wir, war wirklich wunderbar. So hatte noch niemand Satin gemalt.

Mrs Lemprière, die zu den intelligentesten Kunstkritikern gehört, die ich kenne, nahm mich beiseite.

»Georgie«, sagte sie, »was hat er sich da angetan? Das Ding ist tot. Ohne Ecken und Kanten. Es ist – ach, es ist verdammungswürdig!«

»Das Porträt einer Dame in rosa Satin?«, deutete ich vorsichtig an.

»Genau! Dennoch ist die Technik perfekt. Und diese Sorgfalt! Es steckt genug Arbeit für sechzehn Bilder darin.«

»Zuviel Arbeit?«, deutete ich an.

»Das könnte es sein. Falls da überhaupt jemals etwas war, dann hat er es zu Tode gemalt. Eine außergewöhnlich schöne Frau in einem rosa Satinkleid. Warum nicht gleich ein Farbfoto?«

»Warum nicht?«, stimmte ich ihr zu. »Glauben Sie, dass er es weiß?«

»Natürlich weiß er es«, sagte Mrs Lemprière verächtlich. »Sehen Sie denn nicht, wie nervös der Mann ist? Das kommt davon, würde ich sagen, wenn man Gefühl und Geschäft verbindet. Er hat seine ganze Seele hineingelegt, Isobel zu malen, weil sie eben Isobel ist, und indem er sie geschont hat, hat er sie verloren. Er ist zu nachsichtig gewesen. Man muss – manchmal muss man den Leib zerstören, um die Seele zu erreichen.«

Ich nickte nachdenklich. Everard hatte Sir Rufus Herschman körperlich nicht geschmeichelt, aber es war ihm gelungen, eine Persönlichkeit auf die Leinwand zu bannen, die einem nicht aus dem Sinn ging.

»Und Isobel hat eine ausgesprochen starke Persönlichkeit«, fuhr Mrs Lemprière fort.

»Vielleicht kann Everard keine Frauen malen«, sagte ich.

»Vielleicht«, sagte Mrs Lemprière sinnend. »Ja, das könnte eine Erklärung sein.«

Und genau da zog sie, mit dem ihr eigenen untrüglichen Instinkt, ein Bild heraus, das mit der Vorderseite zur Wand stand. Es war eines von etwa acht Bildern, die nachlässig übereinandergestapelt waren. Es war purer Zufall, dass Mrs Lemprière gerade dieses auswählte – aber wie ich bereits sagte, solche Dinge passieren Mrs Lemprière ständig.

»Ah!«, sagte Mrs Lemprière, als sie es zum Licht drehte.

Es war unvollendet, nicht mehr als eine grobe Skizze. Die junge Frau – meiner Meinung nach nicht älter als fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig – war nach vorn gebeugt, hatte das Kinn in die Hand gestützt. Zwei Dinge fielen mir sofort auf: die außerordentliche Vitalität des Bildes und seine verblüffende Unbarmherzigkeit. Everard hatte mit rachsüchtigem Pinsel gemalt. Selbst die Körperhaltung war unbarmherzig – sie brachte jede Unbeholfenheit zum Vorschein, jede scharfe Kante, jede Derbheit. Es war eine Studie in Braun: braunes Kleid, brauner Hintergrund, braune Augen – sehnsüchtige, eifrige Augen. Eifer war in der Tat die vorherrschende Note.

Mrs Lemprière betrachtete es eine Zeitlang schweigend. Dann rief sie Everard zu:

»Alan? Kommen Sie doch mal. Wer ist das?«

Everard kam gehorsam zu uns herüber. Ich sah die jähe Verärgerung in seinem Gesicht, die er nicht ganz verhehlen konnte.

»Das ist nur ein Versuch«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass ich es zu Ende malen werde.«

»Wer ist die Frau?«, fragte Mrs Lemprière.

Everard widerstrebte es offensichtlich zu antworten, und dieses Widerstreben war Wasser auf Mrs Lemprières Mühlen, die aus Prinzip immer das Schlimmste annimmt.

»Eine Freundin von mir. Eine Miss Jane Haworth.«

»Ich bin ihr hier noch nie begegnet«, sagte Mrs Lemprière.

»Sie kommt nie zu derartigen Präsentationen.« Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu: »Sie ist Winnies Patentante.«

Winnie war seine fünfjährige Tochter.

»Tatsächlich?«, sagte Mrs Lemprière. »Wo lebt sie?«

»In Battersea. In einer Wohnung.«

»Tatsächlich«, sagte Mrs Lemprière erneut und fügte dann hinzu: »Und was hat sie Ihnen zu Leide getan?«

»Mir?«

»Ja, Ihnen. Dass Sie so – so brutal zu ihr sind.«

»Ach das!«, sagte er lachend. »Nun ja, sie ist nun einmal keine Schönheit. Und ich kann sie ja kaum aus Freundschaft zu einer machen, oder?«

»Sie haben das Gegenteil getan«, sagte Mrs Lemprière. »Sie haben jede einzelne Unvollkommenheit von ihr eingefangen und diese verstärkt und verzerrt. Sie haben versucht, sie lächerlich zu machen – aber das ist Ihnen nicht gelungen, mein Lieber. Dieses Porträt, sofern Sie es vollenden, wird leben.«

Everard schien verstimmt zu sein.

»Es ist nicht schlecht«, sagte er leichthin, »für eine Studie, meine ich. Aber natürlich überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Porträt von Isobel. Das ist mit Abstand das Beste, was ich je gemacht habe.«

Er sagte es in einem herausfordernden und aggressiven Ton.

Keiner von uns gab eine Antwort.

»Mit Abstand das Beste«, sagte er noch einmal.

Einige der anderen waren zu uns getreten. Auch sie erhaschten einen Blick von der Skizze. Man hörte Ausrufe, Kommentare. Die Stimmung begann lebhafter zu werden.

So hörte ich zum ersten Mal von Jane Haworth. Später sollte ich ihr auch begegnen – zweimal. Von einer ihrer engsten Freundinnen sollte ich Näheres über ihr Leben hören. Viel sollte ich von Alan Everard selbst erfahren. Nun, da beide tot sind, halte ich es für an der Zeit, einige der Geschichten zu widerlegen, die Mrs Lemprière so eifrig in die Welt setzt. Nennen Sie meine Geschichte eine Erfindung, wenn Sie wollen – sie ist nicht weit von der Wahrheit entfernt.

Als die Gäste gegangen waren, drehte Alan Everard das Porträt von Jane Haworth wieder mit der Vorderseite zur Wand. Isobel kam durch das Zimmer und blieb neben ihm stehen.

»Ein Erfolg, meinst du nicht?«, fragte sie nachdenklich. »Oder – nicht ganz ein Erfolg?«

»Das Porträt?«, fragte er rasch.

»Nein, du Dummchen, die Teegesellschaft. Das Porträt ist selbstverständlich ein Erfolg.«

»Es ist das Beste, was ich je gemacht habe«, verkündete Everard in aggressivem Ton.

»Wir kommen voran«, sagte Isobel. »Lady Charmington möchte, dass du sie malst.«

»O Gott!« Er runzelte die Stirn. »Ich bin doch kein Porträtmaler, der gerade in Mode ist.«

»Aber du wirst es sein. Du wirst der Größte auf diesem Gebiet werden.«

»Das ist aber nicht das Gebiet, auf dem ich der Größte werden will.«

»Aber nur so, mein lieber Alan, verdient man Geld wie Heu.«

»Wer will schon Geld wie Heu?«

»Ich vielleicht«, sagte sie lächelnd.

Es tat ihm sofort leid, und er schämte sich. Wenn sie einen anderen geheiratet hätte, hätte sie Geld wie Heu haben können. Und das brauchte sie. Ein gewisser Luxus war nun einmal der ihr gemäße Rahmen.

»In letzter Zeit ist es uns nicht gerade schlecht gegangen«, sagte er versonnen.

»Nein, wirklich nicht; aber es sind ständig Rechnungen zu bezahlen.«

Rechnungen! Immer wieder Rechnungen!

Er begann auf und ab zu gehen.

»Zum Henker damit! Ich habe keine Lust, Lady Charmington zu malen«, platzte er heraus wie ein launenhaftes Kind.

Isobel lächelte leise. Sie stand regungslos am Feuer. Alan unterbrach sein rastloses Auf-und-Ab-Gehen und trat zu ihr. Was war es, was ihn an ihr, an ihrer Gelassenheit, ihrer Trägheit so anzog – ihn anzog wie ein Magnet? Wie schön sie war – Arme wie aus weißem Marmor gemeißelt, das schiere Gold ihres Haares, die roten vollen Lippen.

Er küsste diese Lippen – spürte, wie sie sich an seine pressten. Spielte denn sonst etwas eine Rolle? Was hatte Isobel an sich, das einen tröstete, das alle Sorgen von einem nahm? Sie zog einen in die ihr eigene wunderbare Trägheit hinein und hielt einen dort fest, ruhig und zufrieden. Mohn und Alraune; man trieb dahin, auf einem dunklen See, schlafend.

»Ich werde Lady Charmington malen«, sagte er bald darauf. »Was spielt es schon für eine Rolle? Ich werde mich zwar langweilen – aber auch Maler müssen schließlich essen. Genau wie im Kinderquartett: Mr Matz der Maler, Mrs Matz des Malers Frau und Miss Matz des Malers Tochter – alle wollen ernährt werden.«

»Alberner Junge!«, sagte Isobel. »Da du gerade unsere Tochter erwähnst – du solltest mal wieder Jane besuchen. Sie war gestern hier und sagte, sie hätte dich seit Monaten nicht gesehen.«

»Jane war hier?«

»Ja – um Winnie zu besuchen.«

Alan tat Winnie mit einer Handbewegung ab.

»Hat sie das Bild von dir gesehen?«

»Ja.«

»Wie fand sie es?«

»Sie sagte, es sei großartig.«

»Ach!«

Er runzelte gedankenverloren die Stirn.

»Ich glaube, Mrs Lemprière hat dich im Verdacht, leidenschaftliche Gefühle für Jane zu hegen«, bemerkte Isobel. »Ihre Nasenflügel zuckten ziemlich oft.«

»Ein unmögliches Weib!«, sagte Alan voller Abscheu. »Ein unmögliches Weib! Auf welche Gedanken käme die nicht? Auf welche Gedanken kommt die nicht?«

»Nun, ich denke nichts dergleichen«, sagte Isobel lächelnd. »Also besuche Jane recht bald.«

Alan blickte zu ihr hinüber. Sie hatte sich auf eine niedrige Couch am Feuer gesetzt. Ihr Gesicht war halb abgewandt, das Lächeln noch nicht verklungen. Und plötzlich ergriff ihn ein Gefühl der Beklommenheit, der Bestürzung, als wäre um ihn herum Nebel aufgezogen, der, jäh aufreißend, ihn einen Blick in ein fremdes Land hatte werfen lassen.

Irgendetwas sagte zu ihm: »Warum will sie, dass du Jane besuchst? Das muss doch einen Grund haben.« Denn bei Isobel hatte immer alles einen Grund. Spontaneität gab es bei Isobel nicht, nur Berechnung.

»Magst du Jane eigentlich?«, fragte er unvermittelt.

»Sie ist ein Schatz«, sagte Isobel.

»Gewiss, aber magst du sie?«

»Selbstverständlich. Sie liebt Winnie über alles! Übrigens möchte sie Winnie nächste Woche ans Meer mitnehmen. Du hast doch nichts dagegen, oder? Dann wären wir für Schottland frei.«

»Das wäre natürlich ungemein praktisch.«

Genau das wäre es in der Tat. Ungemein praktisch. Er sah mit plötzlichem Argwohn zu Isobel hinüber. Hatte sie Jane darum gebeten? Jane war ja so leicht auszunutzen.

Isobel erhob sich und verließ, leise vor sich hinsummend, das Zimmer. Nun, egal, es spielte keine Rolle. Jedenfalls würde er Jane besuchen gehen.

 

Jane Haworth lebte im obersten Stockwerk eines großen Mietshauses mit Blick auf den Battersea Park. Als Everard die vier Treppen hinaufgestiegen war und klingelte, ärgerte er sich bereits über Jane. Wieso konnte sie nicht leichter erreichbar wohnen? Nachdem er, da niemand öffnete, dreimal geklingelt hatte, war sein Ärger noch größer geworden. Wieso konnte sie nie jemand Zuverlässiges haben, um die Tür zu öffnen?

Plötzlich ging diese auf, und Jane selbst stand da. Sie sah erhitzt aus.

»Wo ist Alice?«, fragte Everard anstelle einer Begrüßung.

»Ach, sie hat leider – sie ist heute unpässlich.«

»Also wieder betrunken«, sagte Everard grimmig.

Zu schade, dass Jane eine so unverbesserliche Lügnerin war.

»Ich glaube, ja«, sagte Jane widerwillig.

»Ich möchte sie sehen.«

Er trat forsch in die Wohnung. Jane folgte ihm mit entwaffnender Unterwürfigkeit. Er fand die pflichtvergessene Alice in der Küche. An ihrem Zustand bestand nicht der geringste Zweifel. Grimmig schweigend folgte er Jane ins Wohnzimmer.

»Du musst diese Frau loswerden«, erklärte er. »Das habe ich dir schon früher gesagt.«

»Ja, ich weiß, Alan, aber das kann ich nicht. Du vergisst, dass ihr Mann im Gefängnis ist.«

»Wo er auch hingehört«, sagte Everard. »Wie oft war diese Frau schon betrunken in den drei Monaten, seit du sie hast?«

»Nicht sehr oft; vielleicht drei- bis viermal. Sie ist eben hin und wieder bedrückt.«

»Drei- bis viermal! Neun- bis zehnmal käme der Sache wohl näher. Und wie kocht sie? Miserabel. Ist sie dir hier in der Wohnung auch nur im Geringsten eine Hilfe? Überhaupt nicht. Um Himmels willen, Jane, wirf sie gleich morgen Früh hinaus und stell ein Mädchen ein, das etwas taugt.«

Jane sah ihn unglücklich an.

»Du wirst es natürlich nicht tun«, sagte Everard düster und ließ sich in einen Sessel sinken. »Du bist ein unmöglich sentimentales Geschöpf. Was höre ich da, du willst mit Winnie ans Meer fahren? Wer hat das vorgeschlagen, du oder Isobel?«

Jane sagte schnell: »Ich natürlich.«

»Jane«, sagte Everard, »wenn du lernen würdest, die Wahrheit zu sagen, hätte ich dich wirklich sehr gern. Setz dich hin und tisch mir um Himmels willen mal zehn Minuten keine Lügen auf.«

»Ach Alan!«, sagte Jane und nahm Platz.

Der Maler musterte sie eine Weile kritisch. Mrs Lemprière – dieses unmögliche Weib – hatte absolut Recht gehabt. Er war bei der Darstellung Janes grausam gewesen. Jane war beinahe schön, aber eben nicht ganz. Ihre schmalen Züge waren rein griechisch. Was Jane linkisch machte, war ihre Beflissenheit. Und auf diese hatte er sich gestürzt – sie verstärkt, die Linie des leicht spitzen Kinns verschärft, den Körper in eine hässliche Pose gezwungen.

Warum? Warum war es ihm unmöglich, fünf Minuten mit Jane in einem Raum zu sein, ohne dass er sich über sie zu ärgern begann? Man konnte sagen, was man wollte, Jane war ein Schatz, aber irritierend. Bei ihr fühlte er sich nie getröstet und geborgen wie bei Isobel. Und dabei war Jane immer so beflissen, immer bereit, allem zuzustimmen, was er sagte, aber – leider! – so offenkundig unfähig, ihre wahren Gefühle zu verbergen.

Er sah sich im Zimmer um. Typisch Jane. Einige schöne Stücke, echte Prachtexemplare, wie zum Beispiel dieses Battersea-Email, und gleich daneben eine absolut abscheuliche Vase, die mit Rosen bemalt war.

Er nahm die Vase in die Hand.

»Wärst du mir sehr böse, wenn ich das Ding aus dem Fenster werfen würde, Jane?«

»O Alan! Das darfst du nicht!«

»Was willst du mit dem ganzen Krempel? Du hast doch Geschmack; warum benutzt du ihn dann nicht? Was für ein Sammelsurium!«

»Ich weiß, Alan. Es ist ja nicht so, als ob ich das nicht wüsste. Aber ich bekomme die Sachen geschenkt. Diese Vase, die hat mir Miss Bates aus Margate mitgebracht, und sie ist doch so arm und schlägt sich so mühsam durch, und sie hat bestimmt sehr viel dafür bezahlt – für ihre Verhältnisse, meine ich –, und sie wollte mir damit eine Freude machen. Da musste ich ihr doch einen Ehrenplatz geben!«

Everard sagte nichts. Er fuhr fort, sich im Zimmer umzusehen. An den Wänden hingen zwei oder drei Radierungen – aber auch mehrere Fotos von Säuglingen. Säuglinge lassen sich, was immer ihre Mütter auch glauben mögen, nicht unbedingt gut fotografieren. Sämtliche Freunde von Jane, die Babys bekamen, beeilten sich, ihr Fotos von ihnen zu schicken, und erwarteten, dass diese Gaben gewürdigt wurden. Jane hatte sie gebührend gewürdigt.

»Wer ist denn dieser grässliche kleine Kerl?«, fragte Everard, während er argwöhnisch einen pummeligen Neuzugang betrachtete. »Den habe ich noch nie gesehen.«

»Das ist eine Sie«, sagte Jane. »Mary Carringtons Jüngstes.«

»Arme Mary Carrington«, sagte Everard. »Du wirst doch nicht behaupten wollen, dass es dir Spaß macht, den ganzen Tag von diesem Scheusal angestiert zu werden?«

Janes Kinn schoss nach vorn.

»Sie ist ein entzückendes Baby. Und Mary ist eine liebe alte Freundin von mir.«

»Die treue Jane«, sagte Everard und lächelte sie an. »Isobel hat dir also Winnie aufgehalst, stimmt’s?«

»Nun ja, sie sagte, dass ihr nach Schottland fahren wollt, und da habe ich natürlich zugegriffen. Du lässt mich Winnie doch haben, nicht? Ich wollte schon ewig fragen, ob ihr sie mal zu mir kommen lasst, aber ich habe mich nie getraut.«

»Oh, du kannst sie gerne haben – aber es ist trotzdem furchtbar nett von dir.«

»Dann wäre ja alles geklärt«, sagte Jane zufrieden.

Everard zündete sich eine Zigarette an.

»Schon das neue Porträt gesehen?«, fragte er ziemlich undeutlich.

»Isobel hat es mir gezeigt.«

»Wie findest du es?«

Janes Antwort kam prompt – zu prompt. »Es ist einfach großartig. Absolut großartig.«

Alan sprang auf. Die Hand, die die Zigarette hielt, zitterte.

»Verdammt nochmal, Jane, lüg mich nicht an!«

»Aber Alan, ganz bestimmt, es ist absolut großartig.«

»Hast du noch immer nicht begriffen, Jane, dass ich jeden Tonfall deiner Stimme genau kenne? Vermutlich lügst du das Blaue vom Himmel herunter, nur um meine Gefühle nicht zu verletzen. Warum kannst du nicht ehrlich deine Meinung sagen? Glaubst du etwa, dass du mir sagen musst, dass etwas großartig ist, wenn ich ebenso gut weiß wie du, dass es das nicht ist? Das verdammte Ding ist tot – tot! Es hat kein Leben – nichts dahinter, nichts weiter als Oberfläche, verdammt glatte Oberfläche. Ich habe mir die ganze Zeit etwas vorgemacht – ja, sogar heute Nachmittag. Ich bin zu dir gekommen, um mir Klarheit zu verschaffen. Isobel weiß es nicht. Aber du weißt es, du weißt es immer. Ich wusste, dass du mir sagen würdest, es sei gut – in dieser Hinsicht hast du keine moralischen Skrupel. Aber deine Stimme verrät alles. Als ich dir Romantik zeigte, hast du zunächst kein Wort gesagt – du hast den Atem angehalten und irgendwie aufgestöhnt.«

»Alan – «

Everard gab ihr keine Gelegenheit, auszureden. Jane hatte wieder diese Wirkung auf ihn, die er so gut kannte. Seltsam, dass eine so sanftmütige Person ihn derart zur Weißglut bringen konnte.

»Du glaubst vielleicht, ich hätte mein Talent verloren«, sagte er zornig, »aber das habe ich nicht. Ich kann noch genauso gute Sachen malen wie Romantik – vielleicht sogar bessere. Ich werde es dir beweisen, Jane Haworth.«

Er stürmte geradezu aus der Wohnung. Mit schnellen Schritten eilte er durch den Park und über die Albert Bridge. Er bebte am ganzen Leib vor Verärgerung und undefinierbarem Zorn. Ausgerechnet Jane! Was verstand sie denn schon von Malerei? Was war ihre Meinung denn schon wert? Warum sollte er sich etwas daraus machen? Aber er machte sich etwas daraus. Er wollte etwas malen, das Jane den Atem verschlug. Ihr Mund würde sich leicht öffnen, und ihre Wangen würden sich dunkelrot färben. Sie würde erst das Bild ansehen und dann ihn. Wahrscheinlich würde sie gar nichts sagen.

Mitten auf der Brücke sah er das Bild vor sich, das er malen wollte. Es war plötzlich da, wie aus heiterem Himmel. Er sah es vor sich, in der Luft, oder war es in seinem Kopf?

Ein kleiner, schäbiger Raritätenladen, ziemlich dunkel und muffig. Hinter dem Tresen ein Jude – ein geduckter Jude mit listigen Augen. Vor ihm der Kunde, ein kräftiger Mann, gepflegt, gut genährt, wohlhabend, aufgeblasen, mit mächtigen Hängebacken. Über den beiden, auf einem Regal, eine Büste aus weißem Marmor. Das Licht fällt darauf, auf das marmorne Gesicht eines Jünglings, die unvergängliche Schönheit des antiken Griechenlands, verächtlich, erhaben über Handeln und Schachern. Der Jude, der reiche Sammler, der Kopf des griechischen Jünglings. Er sah alles vor sich.

»Der Connaisseur, so werde ich es nennen«, murmelte Alan Everard, im Begriff, die Straße zu überqueren, sodass er beinahe von einem vorbeikommenden Bus überfahren worden wäre. »Ja, Der Connaisseur. Ich werde es Jane beweisen.«

Zuhause angekommen, ging er direkt in sein Atelier. Isobel traf ihn dort beim Aussuchen der passenden Leinwand an.

»Alan, vergiss nicht, dass wir heute Abend bei den Marches speisen.«

Everard schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Zum Teufel mit den Marches. Ich werde arbeiten. Ich habe eine Idee, aber ich muss sie festhalten – sofort auf der Leinwand festhalten, bevor sie sich verflüchtigt. Ruf dort an. Sag ihnen, ich sei tot.«

Isobel betrachtete ihn ein Weilchen nachdenklich und ging dann. Sie beherrschte die Kunst, mit einem Genie zu leben, vollkommen. Sie ging zum Telefon und erfand eine plausible Ausrede.

Sie sah sich, leicht gähnend, um. Dann setzte sie sich an ihren Sekretär und begann zu schreiben.

 

Liebe Jane,

vielen Dank für Deinen Scheck, der heute eintraf. Du bist wirklich gut zu Deinem Patenkind. Mit den hundert Pfund lässt sich einiges machen. Kinder sind nun einmal schrecklich teuer. Du hast Winnie so gern, dass ich das Gefühl hatte, nichts Unrechtes zu tun, als ich Dich um Hilfe bat. Wie alle Genies kann Alan sich nur mit dem beschäftigen, womit er sich beschäftigen will – und damit lassen sich leider keine großen Sprünge machen.

 

Bis bald!

Isobel

 

Als Der Connaisseur einige Monate später vollendet war, lud Alan Jane ein, sich das Bild anzusehen. Es war nicht ganz so, wie er es sich vorgestellt hatte – das hatte er auch unmöglich erwarten können –, aber doch beinahe. Er empfand die Freude dessen, der etwas geschaffen hat. Er hatte das Bild gemalt, und es war gut.

Diesmal sagte Jane nicht, dass es großartig sei. Die Röte stieg in ihre Wangen, und ihre Lippen öffneten sich. Sie blickte Alan an, und er sah in ihren Augen, was er zu sehen gehofft hatte. Jane wusste es.

Alan fühlte sich wie im siebten Himmel. Er hatte es Jane bewiesen!

Nachdem er den Kopf wieder für andere Dinge frei hatte, begann er seiner unmittelbaren Umgebung größere Aufmerksamkeit zu schenken.

Winnie hatten die vierzehn Tage am Meer ungeheuer gutgetan, aber er bemerkte, dass ihre Kleidung sehr schäbig war. Er erwähnte es Isobel gegenüber.

»Alan! Ausgerechnet du, dem nie etwas auffällt! Aber ich mag es, wenn Kinder schlicht gekleidet sind. Ich hasse es, wenn sie herausgeputzt werden.«

»Zwischen Schlichtheit und gestopften und geflickten Stellen ist ein Riesenunterschied.«

Isobel sagte nichts, aber sie kaufte Winnie ein neues Kleid.

Zwei Tage später schlug sich Alan mit seiner Einkommensteuererklärung herum. Seine eigenen Kontoauszüge lagen vor ihm. Gerade als er in Isobels Sekretär nach ihren Auszügen kramte, kam Winnie mit einer arg mitgenommenen Puppe ins Zimmer gehüpft.

»Daddy, ich weiß ein Rätsel. Was ist das? ›Hinter einer Wand so weiß wie Milch, hinter einem Vorhang weich wie Seide, schwimmt, in einem Meer so klar wie Kristall, ein goldener Apfel wie Geschmeide.‹ Rate mal, was das ist?«

»Deine Mutter«, sagte Alan geistesabwesend. Er suchte noch immer nach Isobels Auszügen.

»O Daddy!« Winnie kreischte vor Lachen. »Das ist ein Ei! Wieso hast du gedacht, es sei Mami?«

Alan musste ebenfalls lächeln. »Ich hatte nicht richtig hingehört«, sagte er. »Und es klang irgendwie nach deiner Mutter.«

Eine Wand so weiß wie Milch. Ein Vorhang. Kristall. Der goldene Apfel. Ja, es ließ ihn an Isobel denken. Worte waren schon etwas Merkwürdiges.

Er hatte die Auszüge inzwischen gefunden. Er schickte Winnie gebieterisch aus dem Zimmer. Zehn Minuten später blickte er auf, überrascht von einem scharfen Ausruf.

»Alan!«

»Hallo, Isobel. Ich habe dich gar nicht hereinkommen hören. Schau mal, da sind einige Posten in deinen Kontoauszügen, aus denen ich nicht schlau werde.«

»Was fällt dir ein, meine Kontoauszüge anzurühren?«

Er starrte sie verblüfft an. Sie war wütend. Er hatte sie noch nie wütend gesehen.

»Ich dachte nicht, dass du etwas dagegen hast.«

»Und ob ich etwas dagegen habe – sehr viel sogar! Du hast kein Recht, meine Sachen anzurühren.«

Plötzlich wurde auch Alan wütend.

»Ich bitte um Entschuldigung. Aber da ich deine Sachen nun einmal angerührt habe, hättest du vielleicht die Güte, mir den einen oder anderen Posten zu erklären, den ich nicht verstehe. Soweit ich sehe, wurden in diesem Jahr knapp fünfhundert Pfund auf dein Konto eingezahlt, die ich nicht nachverfolgen kann. Woher stammt dieses Geld?«

Isobel hatte ihre Fassung wiedergewonnen. Sie ließ sich in einen Sessel sinken.

»Du brauchst gar nicht so finster zu schauen, Alan«, sagte sie leichthin. »Es handelt sich nicht um Sündenlohn oder dergleichen.«

»Woher kommt dieses Geld?«

»Von einer Frau. Einer Freundin von dir. Es gehört gar nicht mir. Es ist für Winnie.«

»Für Winnie? Heißt das – das Geld stammt von Jane?«

Isobel nickte.

»Sie hat Winnie doch so gern – kann gar nicht genug für das Kind tun.«

»Ja, schon, aber das Geld hätte doch für Winnie angelegt werden müssen.«

»Ach, dafür war es nicht gedacht. Es ist für laufende Ausgaben, Kleidung und solche Dinge.«

Alan sagte nichts. Er dachte an Winnies Sachen, an die gestopften und geflickten Stellen.

»Und trotzdem ist dein Konto überzogen, Isobel?«

»Wirklich? Das passiert mir ständig.«

»Schon, aber diese fünfhundert – «

»Mein lieber Alan, die habe ich so für Winnie ausgegeben, wie ich es für richtig hielt. Ich versichere dir, dass Jane nichts dagegen einzuwenden hat.«

Alan jedoch hatte sehr wohl etwas dagegen einzuwenden. Aber so groß war die Macht von Isobels Gelassenheit, dass er nichts mehr sagte. Isobel war in Geldangelegenheiten nun einmal sorglos. Sie hatte Geld, das für ihr Kind bestimmt war, nicht für sich selbst verwenden wollen. Am gleichen Tag traf eine quittierte Rechnung ein, die versehentlich an Mr Everard adressiert war. Sie kam von einer Schneiderin am Hanover Square und belief sich auf etwas über zweihundert Pfund. Er reichte sie Isobel wortlos. Sie warf einen Blick darauf, lächelte und sagte:

»Mein armer Junge, du magst das vielleicht für schrecklich viel halten, aber man kann ja nicht gut nackt herumlaufen.«

Am nächsten Tag suchte er Jane auf.

Jane war irritierend und ausweichend wie immer. Er solle sich keine Gedanken machen. Winnie sei schließlich ihr Patenkind. Frauen verstünden dergleichen, Männer nicht. Natürlich wolle sie nicht, dass Winnie für fünfhundert Pfund Kleider haben solle. Aber würde er das bitte ihr und Isobel überlassen? Sie seien sich vollkommen einig.

Alan verließ sie in einem Zustand wachsender Unzufriedenheit. Er wusste ganz genau, dass er der Frage, die er wirklich beantwortet haben wollte, ausgewichen war, nämlich der Frage: »Hat Isobel dich jemals um Geld für Winnie gebeten?« Er stellte sie nicht, weil er Angst hatte, dass Jane nicht gut genug lügen würde, um ihn zu täuschen.

Aber er war beunruhigt. Jane war arm. Er wusste, dass sie arm war. Sie durfte sich doch nicht selbst berauben. Er beschloss, mit Isobel zu sprechen. Isobel war ruhig und beschwichtigte ihn. Selbstverständlich würde sie nie zulassen, dass Jane mehr ausgab, als sie sich leisten konnte.

Einen Monat später starb Jane.

Es war die Grippe, gefolgt von einer Lungenentzündung. Sie ernannte Alan Everard zu ihrem Testamentsvollstrecker und hinterließ alles, was sie besaß, Winnie. Aber es war nicht viel.

Somit war es Alans Aufgabe, Janes Papiere durchzugehen. Sie hinterließ Unterlagen, die eine deutliche Sprache sprachen – zahlreiche Beweise für gute Taten, Bettelbriefe, Dankschreiben.

Und zuletzt fand er ihr Tagebuch. Darin lag ein Zettel:

»Nach meinem Tod von Alan Everard zu lesen. Er hat mir oft vorgeworfen, nicht die Wahrheit zu sagen. Hier steht die Wahrheit.«

So erfuhr er schließlich alles, da er auf den einzigen Ort gestoßen war, an dem Jane sich getraut hatte, ehrlich zu sein. Es war ein Dokument, sehr schlicht und ungekünstelt, ihrer Liebe zu ihm. Das Ganze war ohne große Gefühlsregungen geschrieben, die Sprache ohne Schnörkel. Aber an den Tatsachen gab es nichts zu rütteln.

»Ich weiß, dass ich dir oft auf die Nerven gehe«, hatte sie geschrieben. »Manchmal scheint dich alles, was ich tue oder sage, in Wut zu versetzen. Ich weiß nicht, warum das so ist, denn ich bemühe mich so sehr, es dir recht zu machen; aber trotz allem glaube ich, dass ich dir doch etwas bedeute. Auf Menschen, die einem gleichgültig sind, ist man nicht böse.«

Es war nicht Janes Schuld, dass Alan noch andere Dinge fand. Jane war loyal – aber auch unordentlich; sie stopfte ihre Schubladen viel zu voll. Kurz vor ihrem Tod hatte sie mit Bedacht alle Briefe von Isobel verbrannt. Der, den Alan fand, war hinten in einer Schublade eingeklemmt. Als er ihn gelesen hatte, wurde ihm die Bedeutung gewisser kabbalistischer Zeichen auf den Kupons an Janes Scheckheft klar. In dem bewussten Brief hatte Isobel sich erst gar nicht bemüht, den Anschein zu wahren, dass das Geld für Winnie benötigt wurde.

Alan saß an Janes Schreibtisch und starrte lange Zeit mit leerem Blick aus dem Fenster. Schließlich steckte er das Scheckheft ein und verließ die Wohnung. Er ging zu Fuß zurück nach Chelsea, beherrscht von einem Zorn, der von Minute zu Minute wuchs.

Als er zuhause ankam, war Isobel ausgegangen, was er bedauerte. Er hatte sich ganz genau zurechtgelegt, was er sagen wollte. Statt dessen ging er in sein Atelier und holte das unvollendete Porträt von Jane hervor. Er stellte es auf eine Staffelei neben dem Porträt von Isobel in rosa Satin.

Diese unmögliche Mrs Lemprière hatte Recht gehabt; in Janes Porträt war Leben. Er sah sie an, die eifrigen Augen, die Schönheit, die er ihr vergeblich streitig zu machen versucht hatte. Es war Jane – vor allem die Lebendigkeit war Jane. Sie war, dachte er, der lebendigste Mensch, den er je gekannt hatte, sodass er selbst jetzt noch nicht glauben wollte, dass sie tot war.

Und er dachte an seine anderen Bilder – Farbe, Romantik, Sir Rufus Herschman. Alle waren auf irgendeine Weise Bilder von Jane gewesen. Sie hatte bei jedem von ihnen den Funken entfacht – hatte ihn, Alan, wütend und gereizt weggeschickt, damit er es ihr zeigte! Und jetzt? Jetzt war Jane tot. Würde er je wieder ein Bild – ein ehrliches Bild – malen? Er betrachtete wieder das eifrige Gesicht auf der Leinwand. Vielleicht. Jane war gar nicht so weit fort.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Isobel war ins Atelier gekommen. Sie hatte sich für den Abend umgezogen und trug ein gerade geschnittenes weißes Kleid, das das schiere Gold ihres Haares unterstrich.

Sie blieb abrupt stehen und hielt die Worte zurück, die ihr auf der Zunge lagen. Ohne Alan aus den Augen zu lassen, ging sie hinüber zum Diwan und nahm darauf Platz. Nach außen wirkte sie vollkommen ruhig.

Alan zog das Scheckbuch aus der Tasche.

»Ich habe Janes Papiere durchgesehen.«

»Ja?«

Er versuchte, ebenfalls ruhig zu bleiben, zu verhindern, dass seine Stimme zitterte.

»Sie hat dich in den letzten vier Jahren mit Geld versorgt.«

»Ja. Für Winnie.«

»Nein, nicht für Winnie!«, brüllte Everard. »Du hast so getan, ihr beide habt so getan, als ob es für Winnie wäre, aber ihr wusstet beide, dass es sich anders verhielt. Ist dir klar, dass Jane ihre Wertpapiere veräußert hat, von der Hand in den Mund lebte, damit du dir Kleider kaufen konntest – Kleider, die du überhaupt nicht brauchtest?«

Isobel blickte ihm unverwandt ins Gesicht. Sie rekelte sich in den Polstern wie eine weiße Perserkatze, die ein bequemes Plätzchen sucht.

»Ich kann nichts dafür, wenn Jane mehr ausgab, als sie hätte ausgeben dürfen«, sagte sie. »Ich nahm an, dass sie es sich leisten könne. Sie war immer verrückt nach dir – das habe ich deutlich gesehen. Manche Ehefrauen hätten fürchterliche Szenen gemacht, so wie du ständig zu ihr gerannt bist und stundenlang bei ihr warst. Ich nicht.«

»Nein«, sagte Alan, sehr weiß im Gesicht. »Du hast sie statt dessen bezahlen lassen.«

»Du sagst da sehr beleidigende Dinge, Alan. Sieh dich vor.«

»Stimmt es etwa nicht? Wieso fiel es dir so leicht, Geld aus Jane herauszuholen?«

»Bestimmt nicht aus Liebe zu mir. Es muss also wohl aus Liebe zu dir gewesen sein.«

»Genau das war es«, sagte Alan schlicht. »Sie bezahlte für meine Freiheit – für meine Freiheit, auf meine Weise zu arbeiten. Solange du genügend Geld hattest, würdest du mich in Ruhe lassen – mir nicht zusetzen, einen Haufen grässlicher Weiber zu malen.«

Isobel sagte nichts.

»Nun?«, rief Alan zornig.

Ihr Schweigen machte ihn rasend.

Isobel blickte zu Boden. Dann hob sie den Kopf und sagte leise:

»Komm her, Alan.«

Sie deutete neben sich auf den Diwan. Beklommen und widerwillig ging er zu ihr und nahm Platz, ohne sie anzusehen. Aber er wusste, dass er Angst hatte.

»Alan«, sagte Isobel nach einem Weilchen.

»Ja?«

Er war gereizt, nervös.

»Was du da sagst, mag ja stimmen. Aber es ist ohne Belang. Ich bin nun einmal so. Ich möchte Dinge haben – Kleider, Geld, dich. Jane ist tot, Alan!«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass Jane tot ist. Jetzt gehörst du ganz mir. Das war früher nicht der Fall – da gehörtest du nie mir allein.«

Er sah sie an, sah das Leuchten in ihren Augen, habgierig, besitzergreifend – war abgestoßen und doch fasziniert.

»Jetzt wirst du ganz mir gehören.«

Und da verstand er Isobel zum ersten Mal.

»Ich soll dein Sklave sein. Ich soll malen, was du mir sagst, leben, wie du es mir sagst, an deinen Triumphwagen gekettet sein.«

»Wenn du es so ausdrücken willst. Was sind schon Worte?«

Er fühlte, wie sich ihre Arme um seinen Hals schlangen, weiß, glatt, fest wie eine Wand. Worte schossen ihm durch den Kopf. »Eine Wand so weiß wie Milch.« Schon war er hinter dieser Wand eingeschlossen. Konnte er noch entkommen? Wollte er denn entkommen?

Er hörte ihre Stimme dicht an seinem Ohr – Mohn und Alraune.

»Wofür lohnt es sich denn sonst zu leben? Ist das hier nicht genug? Liebe – Glück – Erfolg – Liebe – «

Die Wand um ihn herum wuchs empor, der Vorhang – »der Vorhang weich wie Seide« – schlang sich um ihn, nahm ihm die Luft zum Atmen, war aber so weich, so zart! Nun trieben sie Seite an Seite, friedvoll, hinaus auf das kristallene Meer. Die Wand war jetzt sehr hoch, schloss alles andere aus – all die gefährlichen, beunruhigenden Dinge, die wehtaten, die immer wehtaten. Hinaus auf das Meer aus Kristall, den goldenen Apfel in Händen.

Das Licht auf Janes Porträt wurde schwächer.