Vierter Teil
54
Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
18.00 Uhr
Als Katerina sah, wie Ambrosi das Krankenhaus betrat, zog sich ihr Magen zusammen. An seiner schwarzen Wollsoutane fielen ihr sofort der purpurrote Besatz und das rote Zingulum ins Auge, Zeichen seiner Erhebung zum Monsignore. Petrus II. legte offensichtlich Wert darauf, die Beute schnellstmöglich zu verteilen.
Michener ruhte in seinem Zimmer. Alle Untersuchungen waren negativ verlaufen, und er sollte am nächsten Tag entlassen werden. Sie beide hatten vor, dann gegen Mittag nach Bukarest aufzubrechen. Dass Ambrosi nun hier in Bosnien auftauchte, konnte nur Ärger bedeuten.
Ambrosi sah Katerina und kam auf sie zu. »Wie ich hörte, ist Monsignore Michener dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen.«
Seine vorgetäuschte Sorge machte sie wütend. »Ziehen Sie Leine, Ambrosi.« Sie flüsterte nur. »Hier läuft nichts mehr.«
Er schüttelte den Kopf in gespielter Entrüstung. »Die Liebe siegt doch wirklich immer. Na, egal. Wir wollen gar nichts mehr von Ihnen.«
Aber sie wollte etwas von ihm. »Ich möchte nicht, dass Colin irgendetwas von unserer früheren Übereinkunft erfährt.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Ich erzähle es ihm selbst. Haben Sie verstanden?«
Er antwortete nicht.
In ihrer Tasche steckte das zehnte Geheimnis, das Jasna niedergeschrieben hatte. Beinahe hätte sie das Blatt herausgezerrt und es Ambrosi in die Hände gedrückt, um ihn loszuwerden. Doch was man im Himmel wünschte, war diesem arroganten Arschloch mit Sicherheit vollkommen egal. Ob die Botschaft tatsächlich von der Mutter Gottes stammte oder nur das Lamento einer Frau war, die sich für auserwählt hielt, würde man niemals erfahren. Allerdings fragte Katerina sich, wie die Kirche und Alberto Valendrea das zehnte Geheimnis wegerklären könnten, nachdem sie die vorherigen neun Geheimnisse aus Medjugorje akzeptiert hatten.
»Wo ist Michener?«, fragte Ambrosi mit tonloser Stimme.
»Was wollen Sie von ihm?«
»Ich will gar nichts, aber was sein Papst will, ist eine ganz andere Frage.«
»Lassen Sie ihn in Ruhe.«
»Meine Güte. Die Löwin zeigt ihre Krallen.«
»Verschwinden Sie hier, Ambrosi.«
»Tja, leider haben Sie mir nichts zu sagen. Das Wort des Privatsekretärs des Papstes dürfte hier wohl einiges Gewicht haben. Es zählt sicherlich mehr als die Meinung einer arbeitslosen Journalistin.« Er ging an ihr vorbei.
Sie trat ihm rasch in den Weg. »Das meine ich ernst, Ambrosi. Verschwinden Sie. Sagen Sie Valendrea, dass Colin mit Rom fertig ist.«
»Er ist noch immer Priester der Heiligen Katholischen Kirche und der päpstlichen Autorität untergeordnet. Er wird tun, was man ihm aufträgt, oder die Konsequenzen tragen.«
»Was will Valendrea von ihm?«
»Gehen wir doch zu Michener«, antwortete Ambrosi, »dann erkläre ich es. Ich kann Ihnen versichern, dass das Zuhören sich lohnt.«
Sie betrat das Zimmer, gefolgt von Ambrosi. Michener saß im Bett, und beim Anblick des Besuchers verfinsterte sich seine Miene.
»Ich bringe Ihnen Grüße von Petrus II.«, sagte Ambrosi. »Wir haben erfahren, was vorgefallen ist …«
»Und da mussten Sie gleich herfliegen, um mir Ihre tiefe Sorge mitzuteilen.«
Ambrosis Miene blieb ausdruckslos. Katerina fragte sich, ob er mit dieser unnatürlichen Beherrschung geboren war oder ob er sie durch die jahrelangen Täuschungsmanöver erlernt und verfeinert hatte.
»Wir wissen, warum Sie sich in Bosnien aufhalten«, sagte Ambrosi. »Ich soll mich bei Ihnen erkundigen, ob Sie etwas von den Sehern erfahren haben.«
»Kein Wort.«
Beeindruckt stellte sie fest, dass auch Michener ausgezeichnet lügen konnte.
»Muss ich mich selbst umhören, ob Sie die Wahrheit sagen?«
»Tun Sie, was Ihnen beliebt.«
»In der Stadt geht das Gerücht um, gestern Nacht sei der Seherin Jasna das zehnte Geheimnis enthüllt worden, und die Visionen seien nun vorbei. Die Priester sind recht verärgert über diese Aussicht.«
»Keine Touristen mehr? Das Geld hört auf zu fließen?« Katerina konnte der Versuchung nicht widerstehen.
Ambrosi fixierte sie. »Vielleicht sollten Sie draußen warten. Das hier sind Kirchenangelegenheiten.«
»Sie bleibt hier«, erklärte Michener fest. »Jetzt sagen Sie mir mal, Sie und Valendrea hatten in den letzten zwei Tagen doch sicherlich alle Hände voll zu tun. Und da machen Sie sich Sorgen, was hier in Bosnien geschieht? Warum?«
Ambrosi verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Hier stelle ich die Fragen.«
»Dann schießen Sie los.«
»Der Heilige Vater beordert Sie zu sich nach Rom.«
»Sie wissen, was Sie dem Heiligen Vater von mir ausrichten können.«
»Welch ein Mangel an Achtung. Wir haben Clemens XV. wenigstens öffentlich Respekt gezeigt.«
Micheners Züge verhärteten sich. »Soll das bei mir Eindruck schinden? Sie haben alles Erdenkliche getan, um seine Pläne zu durchkreuzen.«
»Ich hatte gehofft, dass Sie Schwierigkeiten machen.«
Ambrosis Tonfall beunruhigte Katerina. Er klang ausgesprochen erfreut.
»Ich soll Ihnen ausrichten, dass die italienische Regierung einen Haftbefehl gegen Sie erlassen wird, wenn Sie nicht freiwillig mitkommen.«
»Was schwafeln Sie da für einen Unsinn?«, fragte Michener.
»Der päpstliche Nuntius in Bukarest hat Seine Heiligkeit von Ihrer Begegnung mit Hochwürden Tibor informiert. Der Nuntius ist verärgert, weil er nicht über Clemens’ und Ihre Aktivitäten in Rumänien informiert wurde. Jetzt interessieren sich die rumänischen Behörden für Sie. Nicht nur wir sind neugierig, was der letzte Papst von diesem alten Priester wollte.«
Katerina schnürte sich die Kehle zusammen. Sie gerieten in gefährliches Fahrwasser. Doch Michener wirkte unbeeindruckt. »Wer hat denn behauptet, dass Clemens sich für Hochwürden Tibor interessierte?«
Ambrosi zuckte mit den Schultern. »Sie selbst? Clemens? Das ist doch egal. Jetzt zählt nur, dass Sie Tibor aufgesucht haben und dass die rumänische Polizei sich mit Ihnen unterhalten möchte. Der Heilige Stuhl kann diesen Bemühungen entweder Einhalt gebieten oder sie unterstützen. Was ziehen Sie vor?«
»Das ist mir vollkommen gleichgültig.«
Ambrosi wandte sich an Katerina. »Und Ihnen? Ist es Ihnen auch gleichgültig?«
Sie merkte, dass das Arschloch seinen Trumpf ausspielte. Entweder sie brachte Michener dazu, nach Rom zurückzukehren, oder er würde hier an Ort und Stelle erfahren, wieso sie ihn in Bukarest und Rom so mühelos gefunden hatte.
»Was hat sie damit zu tun?«, fragte Michener rasch.
Einen schrecklichen Moment lang zögerte Ambrosi. Sie hätte ihn am liebsten geohrfeigt, so wie damals in Rom, doch sie rührte sich nicht.
Ambrosi wandte sich wieder an Michener. »Ich hatte mich nur gefragt, welche Meinung sie vertritt. Wenn ich recht informiert bin, ist sie gebürtige Rumänin und kennt die Gepflogenheiten der einheimischen Polizei. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie lieber keine Erfahrungen mit den dortigen Befragungstechniken machen würden.«
»Könnten Sie mir vielleicht noch sagen, wieso Sie so viel über Katerina wissen?«
»Hochwürden Tibor hat sich mit dem päpstlichen Nuntius in Bukarest unterhalten. Er hat ihm berichtet, dass Frau Lew bei Ihrer Unterredung zugegen war. Daraufhin habe ich meine Erkundigungen über sie eingezogen.«
Sie fand Ambrosis Erklärung einleuchtend. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie diese Lüge ohne weiteres geschluckt.
»Lassen Sie Katerina in Ruhe«, sagte Michener.
»Kommen Sie nach Rom?«
»Ich kehre zurück.«
Katerina war überrascht.
Ambrosi nickte erfreut. »In Split steht ein Flugzeug für Sie bereit. Wann werden Sie aus dem Krankenhaus entlassen?«
»Morgen Früh.«
»Halten Sie sich um sieben Uhr bereit.« Ambrosi ging zur Tür. »Und ich werde heute Abend …«, er hielt einen Moment lang inne, »… für Ihre rasche Genesung beten.«
Damit ging er.
»Wenn er für mich betet, sitze ich wirklich in der Patsche«, sagte Michener, als die Tür sich schloss.
»Warum hast du eingewilligt? Das mit Rumänien war ein Bluff.«
Michener veränderte seine Lage im Bett, und sie half ihm dabei. »Ich muss mit Ngovi sprechen. Er muss wissen, was Jasna gesagt hat.«
»Wozu? Ihre Niederschrift ist völlig unglaubwürdig. Dieses Geheimnis ist absurd.«
»Mag sein. Aber es ist das zehnte Geheimnis von Medjugorje, ob wir nun daran glauben oder nicht. Ich muss es Ngovi übergeben.«
Sie rückte sein Kissen zurecht. »Hast du je schon einmal etwas von einem Fax gehört?«
»Ich möchte mich nicht mit dir streiten, Kate. Außerdem bin ich neugierig, warum die Sache Valendrea so wichtig ist, dass er mir seinen Botenjungen schickt. Offensichtlich geht es um etwas Großes, und ich glaube, ich weiß sogar, was es ist.«
»Das dritte Geheimnis von Fatima?«
Er nickte. »Aber das Ganze ergibt immer noch keinen Sinn. Schließlich ist dieses Geheimnis allgemein bekannt.«
Sie rief sich Hochwürden Tibors Botschaft an Clemens in Erinnerung: Sagen Sie dem Heiligen Vater, er soll der Madonna gehorchen … Wie viel Intoleranz wird der Himmel noch dulden?
»Die ganze Sache ist mit dem Verstand nicht zu begreifen«, sagte Michener.
Eine Frage ging ihr durch den Kopf: »Wart ihr beide, du und Ambrosi, eigentlich immer schon Feinde?«
Er nickte. »Ich kann nur staunen, dass ein Mann wie er überhaupt Priester werden konnte. Ohne Valendrea hätte er es niemals nach Rom geschafft. Die beiden sind wie füreinander geschaffen.« Er zögerte nachdenklich. »Vermutlich wird sich jetzt vieles ändern.«
»Das ist nicht dein Problem«, erklärte sie. Hoffentlich würde er jetzt nicht seine Meinung über ihre gemeinsame Zukunft ändern.
»Keine Sorge. Ich hab keine Hintergedanken. Aber ich frage mich, ob die rumänischen Behörden sich wirklich für mich interessieren.«
»Was meinst du damit?«
»Das könnte ein Ablenkungsmanöver sein.«
Sie sah ihn verwirrt an.
»Clemens hat mir in der Nacht vor seinem Tod eine E-Mail geschickt. Darin teilte er mir mit, dass Valendrea vielleicht vor vielen Jahren, als er für Paul VI. arbeitete, einen Teil des ursprünglichen dritten Geheimnisses unterschlagen haben könnte.«
Sie hörte ihm interessiert zu.
»In der Nacht vor Clemens’ Tod waren Clemens und Valendrea gemeinsam in der Riserva. Außerdem trat Valendrea am Tag darauf eine ungeplante Kurzreise an und verließ Rom.«
Sie verstand sofort. »War das der Samstag, an dem Hochwürden Tibor ermordet wurde?«
»Verbinde die Punkte, dann entsteht ein Bild.« Die Erinnerung daran, wie Ambrosi ihr das Knie in die Brust gerammt und sie mit beiden Händen gewürgt hatte, blitzte in ihr auf. Waren Valendrea und Ambrosi in Tibors Ermordung verwickelt? Sie hätte Michener gerne erzählt, was sie wusste, doch es war ihr klar, dass ihre Erklärung weit mehr Fragen aufwerfen würde, als sie derzeit beantworten wollte. Stattdessen fragte sie: »Könnte Valendrea für Hochwürden Tibors Tod verantwortlich sein?«
»Schwer zu sagen. Aber zuzutrauen ist es ihm gewiss. Ebenso diesem Ambrosi. Ich glaube allerdings immer noch, dass Ambrosi blufft. Das Letzte, was der Vatikan will, ist Aufmerksamkeit. Ich wette, unser neuer Papst wird alles in seiner Macht Stehende tun, um nicht ins Rampenlicht zu geraten.«
»Aber Valendrea könnte dafür sorgen, dass jemand anderes unter Verdacht gerät.«
Michener schien zu verstehen. »Wie zum Beispiel ich.«
Sie nickte. »Keiner eignet sich besser zum Sündenbock als ein geschasster Mitarbeiter.«
Valendrea legte eine der weißen Soutanen an, die man im Hause Gammarelli im Laufe des Nachmittags geschneidert hatte. Es war genauso, wie er es sich am Vormittag gedacht hatte: Es lag schon alles für seine Maße bereit, und so hatte man in kurzer Zeit die passende Kleidung für ihn parat. Die Näherinnen hatten gute Arbeit geleistet. Er bewunderte handwerkliches Können und nahm sich vor, Ambrosi eine offizielle Dankesnote schicken zu lassen.
Seit Ambrosis Abreise nach Bosnien hatte er nichts mehr von ihm gehört. Aber er zweifelte nicht daran, dass sein Freund den Auftrag ausführen würde. Ambrosi wusste, was auf dem Spiel stand. Das hatte Valendrea ihm damals, in jener Nacht in Rumänien, vollkommen klar gemacht. Colin Michener musste nach Rom geschafft werden. Clemens XV. hatte vorausschauend gedacht – das musste er dem Deutschen lassen – und er war offensichtlich zu dem Schluss gelangt, dass Valendrea sein Nachfolger werden würde. Daher hatte er Tibors letzte Übersetzung in Sicherheit gebracht, wohl wissend, dass Valendrea sein Pontifikat mit dieser potenziellen Katastrophe im Nacken schlecht antreten konnte.
Aber wo war das Dokument?
Gewiss wusste Michener Bescheid.
Das Telefon läutete.
Valendrea befand sich in seinem alten Schlafzimmer im zweiten Stock des Palasts. Die Papstwohnung war noch nicht ganz bezugsfertig.
Wieder läutete das Telefon.
Er wunderte sich über diese Störung. Es war beinahe zwanzig Uhr, er zog sich gerade für sein erstes offizielles Essen um, eine Dankesfeier mit den Kardinälen, und er hatte angeordnet, dass er nicht gestört werden wolle.
Wieder läutete es.
Valendrea nahm den Hörer ab.
»Heiliger Vater, Monsignore Ambrosi ist am Apparat und bittet, mit Ihnen verbunden zu werden. Er sagt, es sei wichtig.«
»Stellen Sie ihn durch.«
Er hörte ein Klicken in der Leitung, und dann Ambrosis Stimme: »Ich habe Ihre Anweisung ausgeführt.«
»Und?«
»Er trifft morgen in Rom ein.«
»Wie geht es ihm?«
»Er ist praktisch wiederhergestellt.«
»Und seine Reisebegleiterin?«
»So reizend wie immer.«
»Lassen wir sie vorläufig in Ruhe.« Ambrosi hatte ihm von der Ohrfeige in Rom erzählt. Damals war Katerina der beste Verbindungsdraht zu Michener gewesen, doch die Lage hatte sich geändert.
»Ich habe nichts anderes im Sinn.«
»Dann also bis morgen«, schloss Valendrea. »Und gute Reise.«
55
Vatikanstadt
Donnerstag, 30. November
13.00 Uhr
Michener saß auf dem Rücksitz eines Wagens aus dem Fuhrpark des Vatikans, Katerina an seiner Seite. Ambrosi saß neben dem Fahrer und gab ihm Anweisung, durch das Glockentor auf den stillen Cortile di San Damasco einzufahren. Nun befanden sie sich zwischen verschachtelten alten Gebäuden, die sich vor die Mittagssonne schoben und ihre bläulichen Schatten aufs Pflaster warfen.
Zum ersten Mal war Michener der Aufenthalt im Vatikan unangenehm. Jetzt waren Drahtzieher an der Macht. Feinde. Er musste vorsichtig sein, seine Zunge hüten und die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Der Wagen hielt, und sie stiegen aus.
Ambrosi führte sie in einen auf drei Seiten von Buntglasscheiben eingefassten Raum, in dessen eindrucksvoller Kulisse die Päpste seit Jahrhunderten Gäste empfingen. Sie folgten Ambrosi durch ein Gewirr von Loggien und Galerien. Überall standen Kandelaber und hingen Gobelins, und an den Wänden wimmelte es von Bildern, auf denen Kaiser und Könige den Päpsten huldigten.
Michener wusste, wohin der Weg führte, und schließlich blieb Ambrosi vor der Bronzetür zur päpstlichen Bibliothek stehen, wo schon Gorbatschow, Mandela, Jelzin, Bush, Clinton, Rabin und Arafat zu Besuch gewesen waren.
»Frau Lew wird Sie in der vorderen Loggia erwarten, wenn Sie fertig sind«, sagte Ambrosi. »Bis dahin werden Sie mit dem Papst ungestört bleiben.«
Zu seiner Überraschung folgte Katerina Ambrosi widerspruchslos.
Michener öffnete die Tür und trat ein.
Drei bleiverglaste Fenster badeten die fünfhundert Jahre alten Bücherregale in ihrem gebrochenen Licht. Valendrea saß hinter einem Schreibtisch, den seine Vorgänger seit einem halben Jahrtausend benutzt hatten. Hinter ihm schmückte eine Holztafel mit der Madonna die Wand. Vor dem Schreibtisch stand ein gepolsterter Lehnstuhl, doch Michener wusste, dass nur Staatsoberhäupter das Privileg genossen, vor dem Papst zu sitzen.
Valendrea kam hinter dem Schreibtisch hervor. Der Papst hielt ihm die Hand mit der Handfläche nach unten hin, und Michener wusste, was von ihm erwartet wurde. Er sah dem Toskaner direkt in die Augen. Dies war der Moment der Unterwerfung. Er fragte sich, was er tun sollte, und kam zu dem Schluss, dass er sich besser unauffällig verhielt. Zumindest bis er wusste, was dieser Teufel eigentlich von ihm wollte. Er kniete sich hin und küsste den Ring, wobei ihm auffiel, dass es bereits ein neuer war, den die Goldschmiede des Vatikans für den Papst geschmiedet hatten.
»Wie ich hörte, hat Clemens seiner Eminenz Kardinal Bartolo in Turin eine ähnliche Geste abverlangt. Ich werde dem guten Kardinal mitteilen, dass Sie das Kirchenprotokoll nun Ihrerseits respektieren.«
Michener erhob sich. »Was wollen Sie von mir?« Das ›heiliger Vater‹ ließ er aus.
»Haben Sie sich gut erholt?«
»Das ist Ihnen sicher gleichgültig.«
»Warum glauben Sie das?«
»Weil Sie in den vergangenen drei Jahren so viel Achtung vor mir hatten.«
Valendrea trat wieder hinter den Schreibtisch. »Ich habe den Eindruck, dass Sie mich provozieren wollen. Doch ich lasse mich nicht provozieren.«
Michener stellte die Frage zum zweiten Mal: »Was wollen Sie von mir?«
»Ich möchte das, was Clemens aus der Riserva entfernt hat.«
»Ich war mir nicht bewusst, dass irgendetwas fehlt.«
»Ich habe keine Lust auf solche Mätzchen. Clemens hatte keine Geheimnisse vor Ihnen.«
Michener rief sich in Erinnerung, was Clemens ihm tatsächlich erzählt hatte: Ich habe Valendrea das Dokument in der Fatima-Schatulle lesen lassen …
Im Jahr 1978 entfernte Valendrea einen Teil des dritten Geheimnisses der Heiligen Jungfrau von Fatima.
»Wie mir scheint, sind Sie der Dieb.«
»Sie nehmen sich gegenüber Ihrem Papst viel heraus. Können Sie das beweisen?«
Diesen Köder würde Michener nicht schlucken. Sollte der Scheißkerl nur darüber nachgrübeln, was er wirklich wusste.
Valendrea trat auf ihn zu. Ganz in Weiß gekleidet, die Schädelkappe fast von der dicken Haarmähne verdeckt, schien er sich in seiner Haut völlig wohl zu fühlen. »Das ist keine Bitte, Michener. Ich befehle Ihnen, mir zu sagen, wo das Dokument sich befindet.«
In der Stimme des Papstes war etwas wie Verzweiflung zu spüren, und Michener fragte sich, ob Clemens’ E-Mail vielleicht doch mehr gewesen war als der Erguss einer gequälten Seele kurz vor dem Tod. »Ich habe gerade erst erfahren, dass überhaupt etwas fehlt.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Glauben Sie, was Sie wollen.«
»Ich habe die Wohnung des Papstes und Castel Gandolfo durchsuchen lassen. Clemens’ persönliche Sachen sind bei Ihnen. Ich wünsche deren Überprüfung.«
»Was suchen Sie eigentlich?«
Valendrea betrachtete ihn misstrauisch. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie die Wahrheit sagen.«
Michener zuckte mit den Schultern. »Sie können mir glauben. Ich lüge nicht.«
»Nun gut. Hochwürden Tibor hat Schwester Lucias Niederschrift des dritten Geheimnisses von Fatima reproduziert. Er schickte Clemens ein Faksimile des handschriftlichen Originals der guten Nonne sowie seiner Übersetzung. Diese Übersetzungskopie ist nun aus der Riserva verschwunden.«
Allmählich verstand Michener, worum es ging. »Sie haben also tatsächlich 1978 einen Teil des dritten Geheimnisses entwendet.«
»Ich möchte einfach nur das Machwerk dieses Priesters in Händen halten. Wo sind Clemens’ persönliche Sachen?«
»Die Möbelstücke habe ich einer wohltätigen Organisation gespendet. Der Rest befindet sich in meinem Besitz.«
»Haben Sie alles durchgesehen?«
»Natürlich«, log Michener.
»Und Sie haben nichts von Hochwürden Tibor gefunden?«
»Würden Sie mir meine Antwort überhaupt glauben?«
»Warum sollte ich?«
»Wegen meiner schönen blauen Augen.«
Valendrea schwieg. Michener sagte ebenfalls nichts.
»Was haben Sie in Bosnien erfahren?«
Michener bemerkte den Themenwechsel. »Dass man bei einem Gewitter nicht auf Berggipfel steigen sollte.«
»Ich verstehe, warum Clemens große Stücke auf Sie hielt. Schlagfertigkeit in Verbindung mit einem scharfen Verstand.« Er hielt inne. »Und jetzt beantworten Sie meine Frage.«
Michener griff in seine Tasche, zog den Zettel mit Jasnas Niederschrift hervor und reichte ihn dem Papst. »Das hier ist das zehnte Geheimnis von Medjugorje.«
Valendrea nahm das Blatt entgegen und las es durch. Der Toskaner holte tief Luft, und sein durchdringender Blick heftete sich auf Micheners Gesicht. Ein leises Stöhnen entkam seinen Lippen, und plötzlich, den Zettel mit der Niederschrift noch immer in der Hand, stürzte der Papst sich ohne Vorwarnung auf Michener und packte ihn an seiner schwarzen Soutane. Mit wütendem Blick starrte er ihn an. »Wo ist die Kopie von Tibors Übersetzung?«
Michener war erschreckt, doch er wahrte die Fassung. »Ich hielt Jasnas Niederschrift für bedeutungslos. Warum regen Sie sich so auf?«
»Dieses Geschwafel ist auch völlig bedeutungslos. Was ich möchte, ist die Kopie von Hochwürden Tibor …«
»Wenn Jasnas Worte bedeutungslos sind, warum greifen Sie mich dann an?«
Valendrea sammelte sich und ließ Michener los. »Tibors Übersetzung gehört der Kirche. Ich brauche sie.«
»Dann lassen Sie die Schweizergarde danach suchen.«
»Ich geben Ihnen achtundvierzig Stunden. Andernfalls lasse ich einen Haftbefehl gegen Sie ausstellen.«
»Wessen wollen Sie mich denn beschuldigen?«
»Diebstahl vatikanischen Eigentums. Außerdem werde ich Sie an die rumänische Polizei überstellen lassen. Man möchte dort gerne etwas über Ihren Besuch bei Hochwürden Tibor erfahren.« Die Worte waren wie Peitschenhiebe.
»Ich wette, man würde dort auch gerne etwas über Ihren Besuch dort erfahren.«
»Welchen Besuch?«
Valendrea sollte ruhig glauben, dass er mehr wusste, als tatsächlich der Fall war. »Sie haben den Vatikan am Tag von Tibors Ermordung verlassen.«
»Dann sagen Sie mir doch, wo ich war, wenn Sie anscheinend alles so genau wissen.«
»Ich weiß genug.«
»Glauben Sie wirklich, dass Sie mit diesem Bluff durchkommen? Sie wollen den Papst in eine Morduntersuchung verwickeln? Damit würden Sie nicht weit kommen.«
Michener klopfte ein weiteres Mal auf den Busch. »Sie waren nicht allein.«
»Ach, tatsächlich? Erzählen Sie mehr.«
»Das hebe ich mir für mein Verhör durch die Polizei auf. Ich verspreche Ihnen, dass die Rumänen fasziniert sein werden.«
Ein Hauch von Röte überzog Valendreas Gesicht. »Sie haben keine Ahnung, was hier auf dem Spiel steht. Das hier ist wichtiger, als Sie es sich überhaupt vorstellen können.«
»Sie klingen schon wie Clemens.«
»In dieser Frage hatte er Recht.« Valendrea wandte sich kurz ab, dann suchte er wieder Micheners Blick. »Hat Clemens Ihnen erzählt, dass ich einen Teil von Tibors Brief vor seinen Augen verbrannt habe? Clemens stand einfach in der Riserva und ließ zu, dass ich die Seite zerstörte. Außerdem ließ er mich wissen, dass der Rest von Tibors Schreiben, eine Kopie der Übersetzung von Schwester Lucias vollständiger Botschaft, ebenfalls in der Schatulle lag. Jetzt aber ist sie verschwunden. Clemens wollte nicht, dass dieses Dokument Schaden litt. Das weiß ich. Also gab er es Ihnen.«
»Warum ist diese Übersetzung so wichtig?«
»Wie käme ich dazu, Ihnen das zu sagen? Ich möchte einfach nur, dass Sie mir das Dokument zurückgeben.«
»Woher wissen Sie denn, dass es überhaupt in der Schatulle lag?«
»Das weiß ich nicht. Aber nach jenem Freitagabend war niemand mehr im Archiv, und zwei Tage darauf war Clemens tot.«
»Genau wie Hochwürden Tibor.«
»Was soll das heißen?«
»Das überlasse ich Ihnen.«
»Ich werde tun, was immer nötig ist, um das Dokument zurückzubekommen.«
»Das glaube ich Ihnen gerne.« Micheners Stimme klang bitter. »Kann ich jetzt gehen?«
»Verschwinden Sie. Aber wenn ich nicht innerhalb der nächsten zwei Tage von Ihnen höre, wird Ihnen mein nächster Bote überhaupt nicht gefallen.«
Was mochte Valendrea damit meinen? Die Polizei? Jemand anders? Schwer zu sagen.
»Haben Sie sich jemals gefragt, wie Frau Lew Sie in Rumänien finden konnte?«, fragte Valendrea beiläufig, als Michener schon bei der Tür war.
Hatte er recht gehört? Wie konnte Valendrea von Katerina wissen? Er blieb stehen und wandte sich um.
»Sie war bei Ihnen, weil ich sie dafür bezahlt habe. Sie sollte mich informieren.«
Michener schwieg erschüttert.
»Genauso in Bosnien. Sie sollte ein Auge auf Sie haben. Ich legte ihr nahe, ihre Talente zu benutzen, um Ihr Vertrauen zu gewinnen. Und das hat sie offensichtlich getan.«
Er wollte sich auf Valendrea stürzen, doch dieser zeigte ihm einen kleinen, schwarzen Schalter. »Einmal drücken, und die Schweizergardisten stürmen hier herein. Ein Angriff auf den Papst ist ein schweres Verbrechen.«
Michener blieb stehen und unterdrückte mühsam ein Beben.
»Sie sind nicht der erste Mann, der auf eine Frau hereinfällt. Sie ist raffiniert. Lassen Sie sich das zur Warnung dienen, Michener. Trauen Sie nicht jedem. Es steht viel auf dem Spiel. Vielleicht ist Ihnen das nicht klar, aber ich könnte, wenn alles vorüber ist, Ihr allerletzter Freund sein.«
56
Michener verließ die Bibliothek. Draußen erwartete ihn Ambrosi, begleitete ihn aber nicht zur vorderen Loggia, sondern forderte ihn nur auf, sich des Wagens und des Chauffeurs zu bedienen, mit dem sie gekommen waren.
Katerina saß allein auf einer vergoldeten Polsterbank. Er versuchte zu verstehen, was sie zu ihrem Verrat veranlasst hatte. Er hatte sich schon damals gewundert, als sie ihn in Bukarest gefunden hatte und dann auch noch in seiner Wohnung in Rom aufgetaucht war. Er wollte glauben, dass das, was zwischen ihnen gewesen war, echt war, doch er konnte sich nicht gegen den Gedanken wehren, dass sie ihm alles nur vorgespielt hatte, um ihn zu benutzen. Er hatte sich wegen der Bediensteten und irgendwelcher Abhörvorrichtungen Sorgen gemacht, dabei war der einzige Mensch, dem er vertraut hatte, der Gesandte des Feindes gewesen.
In Turin hatte Clemens ihn gewarnt. Sie können sich nicht vorstellen, wie weit ein Mensch wie Alberto Valendrea gehen würde. Sie meinen, Sie könnten es mit Valendrea aufnehmen? Nein, Colin. Sie sind ihm nicht gewachsen. Sie sind zu anständig. Zu vertrauensselig.
Micheners Kehle schnürte sich zusammen, als er auf Katerina zutrat. Anscheinend verriet sein verkrampfter Gesichtsausdruck Katerina schon alles.
»Er hat es dir erzählt, nicht wahr?« Ihre Stimme klang traurig.
»Hattest du das erwartet?«
»Ambrosi hätte es gestern schon fast getan. Da dachte ich mir, dass Valendrea bestimmt damit herausrückt. Ich bin für sie nutzlos geworden.«
Seine Gefühle spielten Pingpong mit ihm.
»Ich habe ihnen nichts verraten, Colin. Überhaupt nichts. Ich hab Valendreas Geld angenommen und bin nach Rumänien und Bosnien geflogen. Das stimmt. Aber ich habe es getan, weil ich es wollte und nicht ihretwegen. Ich habe sie genauso benutzt wie sie mich.«
Die Worte klangen gut, doch sie linderten seinen Schmerz nicht. Er fragte sie ruhig: »Bedeutet dir die Wahrheit eigentlich gar nichts?«
Sie biss sich auf die Lippen, und er bemerkte, dass ihr rechter Arm zitterte. Sie wurde nicht wütend wie sonst, wenn man ihr Vorwürfe machte. Als sie nicht antwortete, sagte er: »Ich habe dir vertraut, Kate. Ich habe dir Dinge gesagt, die ich niemals einem anderen erzählt hätte.«
»Und ich habe dieses Vertrauen nicht missbraucht.«
»Wie soll ich dir das glauben?« Dabei hätte er ihr so gerne geglaubt.
»Was hat Valendrea gesagt?«
»Genug, um mir Grund für dieses Gespräch zu geben.«
Er spürte, wie er innerlich erstarrte. Er war wie betäubt vor Schmerz. Seine Eltern waren verschwunden, und Jakob Volkner hatte sich umgebracht. Jetzt hatte Katerina ihn verraten. Zum ersten Mal in seinem Leben war er ganz allein, und plötzlich spürte er das erdrückende Gewicht der Tatsache, dass er ein ungewolltes Kind war, das in einem Heim geboren und früh von seiner Mutter getrennt worden war. Er war in die Irre gelaufen, und es gab niemanden mehr, zu dem er gehen konnte. Nach Clemens’ Tod hatte er geglaubt, die Frau vor ihm habe die Antwort für seine Zukunft. Er war sogar bereit, alles, was ein Vierteljahrhundert lang sein Leben ausgemacht hatte, hinter sich zurückzulassen, allein für die Möglichkeit, diese Frau zu lieben und wiedergeliebt zu werden.
Doch wie sollte das jetzt noch möglich sein?
Ein angespanntes Schweigen stand zwischen ihnen. Es war unangenehm.
»Okay, Colin«, sagte sie schließlich. »Ich habe verstanden. Ich verschwinde.«
Sie drehte sich um und ging.
Bei jedem Schritt klackten ihre Absätze auf dem Marmor. Er wollte ihr sagen, dass alles in Ordnung sei. Geh nicht weg. Bleib stehen. Aber er brachte die Worte nicht heraus.
Er ging in die entgegengesetzte Richtung und stieg zum Erdgeschoss hinunter. Er würde den Wagen, den Ambrosi ihm zur Verfügung gestellt hatte, nicht benutzen. Er wollte überhaupt nichts mehr vom Vatikan, nur, dass man ihn in Ruhe ließ.
Er hielt sich ohne Ausweis oder Begleiter im Vatikan auf, doch sein Gesicht war überall so gut bekannt, dass keiner der Wächter ihn auf seine Zugangsberechtigung ansprach. Er kam ans Ende einer langen, mit Planisphären und Globen bestückten Loggia. Vor ihm, in der Tür gegenüber, stand Maurice Ngovi.
»Ich habe gehört, dass Sie hier sind«, sagte Ngovi, als Michener näher kam. »Ich weiß auch, was Ihnen in Bosnien zugestoßen ist. Haben Sie sich gut erholt?«
Michener nickte. »Ich wollte Sie später anrufen.«
»Wir müssen uns unterhalten.«
»Wo?«
Ngovi schien ihn zu verstehen und gab ihm ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie gingen schweigend zum Archiv. Die Lesesäle waren inzwischen wieder voll von Studenten, Historikern und Journalisten. Ngovi suchte den Kardinalarchivar, und dann gingen sie zu dritt in einen leer stehenden Lesesaal. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, sagte Ngovi: »Hier dürften wir einigermaßen unbelauscht sein.«
Michener wandte sich an den Archivar: »Ich dachte, Sie wären entlassen?«
»Ich soll bis zum Wochenende gehen. Mein Nachfolger kommt übermorgen.«
Michener wusste, wie viel dem alten Mann seine Arbeit bedeutete. »Es tut mir Leid. Aber ich glaube, so ist es besser für Sie.«
»Was wollte der Papst von Ihnen?«, fragte Ngovi.
Michener ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Er ist der Meinung, ich hätte ein Dokument in meinem Besitz, das er ursprünglich in der Riserva vermutete. Ein Schreiben Hochwürden Tibors an Clemens. Es geht um das dritte Geheimnis von Fatima. Irgend so eine Kopie einer Übersetzung. Ich habe keine Ahnung, wovon überhaupt die Rede war.«
Ngovi warf dem Archivar einen sonderbaren Blick zu.
»Was ist los?«, fragte Michener.
Ngovi berichtete ihm von Valendreas Besuch der Riserva am Vortag.
»Er führte sich auf wie ein Irrer«, erzählte der Archivar. »Ständig wiederholte er, etwas sei aus der Schatulle verschwunden. Er hat mir richtig Angst eingejagt.«
»Hat Valendrea irgendwas erklärt?«, fragte Ngovi.
Michener berichtete, was der Papst gesagt hatte.
»An jenem Freitagabend, als Clemens mit Valendrea in der Riserva war, wurde etwas verbrannt«, erzählte der Kardinalarchivar. »Auf dem Boden haben wir Asche gefunden.«
»Clemens hat nicht mit Ihnen über den Vorfall gesprochen?«, fragte Michener.
Der Archivar schüttelte den Kopf. »Kein Wort.«
Inzwischen fügten sich die meisten Puzzlestücke zusammen, doch es gab noch immer ein Problem. »Das alles ist äußerst merkwürdig«, begann Michener. »Schließlich hat Schwester Lucia die Echtheit des dritten Geheimnisses vor der Veröffentlichung durch Johannes Paul persönlich bestätigt.«
Ngovi nickte. »Ich war damals dabei. Die Seite mit der Niederschrift wurde mitsamt der Schatulle aus der Riserva nach Portugal gebracht, und sie bestätigte, dass es sich um das von ihr selbst im Jahre 1944 verfasste Originaldokument handelte. Aber, Colin, in der Schatulle lagen damals nur zwei Blatt Papier. Ich selbst war bei der Eröffnung zugegen. Dort lag die Originalseite zusammen mit ihrer italienischen Übersetzung. Und sonst nichts.«
»Wenn die Botschaft unvollständig war, hätte Schwester Lucia dann nicht Einwände erhoben?«, fragte Michener.
»Sie war alt und gebrechlich«, erwiderte Ngovi. »Ich erinnere mich, dass sie nur einen Blick auf die Seite warf und nickte. Man sagte mir, dass sie kaum noch etwas sah und praktisch taub war.«
»Maurice hat mich um eine Überprüfung gebeten«, berichtete der Archivar. »Valendrea und Paul VI. betraten die Riserva am 18. Mai 1978. Eine Stunde später kehrte Valendrea auf Pauls ausdrücklichen Befehl zurück und hielt sich dort etwa fünfzehn Minuten allein auf.«
Ngovi nickte. »Anscheinend hat das, was Hochwürden Tibor Clemens schickte, etwas aufgerührt, was Valendrea für längst vergessen hielt.«
»Und möglicherweise hat das Tibor das Leben gekostet.« Michener dachte nach. »Valendrea nannte das, was offensichtlich verschwunden ist, die Kopie einer Übersetzung. Was war da übersetzt worden?«
»Colin«, bemerkte Ngovi. »Das dritte Geheimnis von Fatima bedeutet offensichtlich mehr, als uns bewusst ist.«
»Und Valendrea ist der Meinung, dass ich es habe.«
»Haben Sie es denn?«, fragte Ngovi.
Michener schüttelte den Kopf. »Wenn ich das verdammte Ding hätte, würde ich es ihm geben. Ich hab die Sache satt und will einfach nur noch hier weg.«
»Haben Sie eine Ahnung, was Clemens mit der Kopie gemacht haben könnte?«
Michener hatte noch nicht wirklich über diese Frage nachgedacht. »Nicht die geringste. Ein Diebstahl sähe Clemens gar nicht ähnlich.« Ein Selbstmord übrigens auch nicht, dachte er, hielt aber lieber den Mund. Der Archivar wusste nichts davon, und so sollte es bleiben. Doch er sah Ngovi an, dass der Kenianer gerade den gleichen Gedanken hatte.
»Und was ist mit Bosnien?«, fragte Ngovi.
»Noch eigenartiger als Rumänien.«
Er zeigte den beiden Jasnas Niederschrift. Er hatte Valendrea nur eine Kopie gegeben und selbst das Original behalten.
»Allzu glaubwürdig erscheint mir das nicht«, meinte Ngovi nach der Lektüre. »Medjugorje kommt mir eher unwichtig vor, nicht wie eine echte religiöse Erfahrung. Dieses zehnte Geheimnis könnte einfach der Einbildungskraft der Seherin entsprungen sein, und angesichts seiner Tragweite muss ich diese Erklärung ernsthaft in Erwägung ziehen.«
»Genau dasselbe habe ich auch gedacht«, stimmte Michener zu. »Jasna ist von der Echtheit ihrer Erfahrung überzeugt und zu keinerlei kritischer Distanz fähig. Mich wundert allerdings, dass Valendrea auf die Lektüre der Botschaft so heftig reagierte.« Er erzählte ihnen, was gerade passiert war.
»Genau so hat er sich auch in der Riserva verhalten«, sagte der Archivar. »Er war wie wahnsinnig.«
Michener sah Ngovi aufmerksam an. »Was ist da los, Maurice?«
»Ich weiß es auch nicht. Vor Jahren, als ich noch Bischof war, brachte ich im Auftrag von Johannes Paul zusammen mit anderen Würdenträgern drei Monate mit dem Studium des dritten Geheimnisses zu. Diese Botschaft war ganz anders als die ersten beiden. Jene waren präzise und detailliert, das dritte Geheimnis dagegen hatte eher etwas von einem Gleichnis. Seine Heiligkeit war der Meinung, die Kirche müsse Anleitung zu seiner Interpretation geben. So sah auch ich es. Doch wir kamen überhaupt nicht darauf, dass die Botschaft unvollständig sein könnte.«
Ngovi deutete auf einen dicken Folianten, der auf dem Tisch lag. Es war ein uraltes Manuskript, dessen Seiten so stark bräunlich verfärbt waren, dass sie wie angesengt wirkten. Der Deckel war lateinisch beschriftet und mit bunten Miniaturen verziert, die wahrscheinlich Päpste und Kardinäle darstellen sollten. Die rote Tinte der Aufschrift LIGNUM VITAE war fast bis zur Unlesbarkeit verblichen.
Ngovi setzte sich auf einen der Stühle und fragte Michener: »Was wissen Sie über den Heiligen Malachius?«
»Genug, um an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass seine Prophezeiungen ernst zu nehmen sind. Dieser Band hier wurde 1595 von dem Dominikanermönch und Historiker Arnold Wion herausgegeben, der darin festhält, was der Heilige Malachius selbst über seine Visionen schrieb.«
»Maurice, diese Visionen ereigneten sich in der Mitte des zwölften Jahrhunderts. Wion schrieb sie erst vierhundert Jahre später nieder. Ich kenne die Geschichte. Wer kann wissen, was Malachius wirklich gesagt hat und ob er überhaupt irgendetwas gesagt hat? Seine ursprünglichen Worte sind nicht erhalten.«
»Aber im Jahr 1595 lagen Wion die Schriften von Malachius vor«, entgegnete der Archivar. »Das lässt sich unseren Verzeichnissen entnehmen. Wion muss also Zugang zu ihnen gehabt haben.«
»Wenn Wions Buch erhalten blieb, warum dann nicht auch die Schriften des Malachius?«
Ngovi zeigte auf den Band. »Ob Wions Aufzeichnungen nun eine Fälschung sind oder nicht, die Prophezeiungen an sich sind erstaunlich zutreffend. Und das hat sich nach dem, was in den letzten Tagen vorgefallen ist, sogar noch verstärkt.«
Ngovi legte ihm drei getippte Seiten vor. Michener überflog sie und stellte fest, dass es sich um eine Zusammenfassung handelte.
Malachius war 1094 in Irland geboren. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren wurde er Priester und mit dreißig Bischof. 1139 verließ er Irland und reiste nach Rom, wo er Papst Innozenz II. Bericht über seine Diözese erstattete. In Rom hatte er eine merkwürdige Vision der Zukunft; er sah eine lange Liste von Männern, die eines Tages die Kirche regieren würden. Er hielt seine Vision auf Pergament fest und schenkte das Manuskript Innozenz. Der Papst las die Seiten, versiegelte sie und deponierte sie im Archiv, wo sie bis 1595 verblieben. Zu diesem Zeitpunkt schrieb Arnold Wion die Liste der Päpste aus Malachius’ Vision ab und notierte für jeden Papst das prophezeite Motto. Er begann mit Celestinus II. im Jahr 1143 und endete hundertelf Päpste später mit dem angeblich letzten Papst.
»Es gibt keinerlei Beweis, dass Malachius überhaupt Visionen hatte«, bemerkte Michener. »Wenn ich mich recht erinnere, wurde all das im neunzehnten Jahrhundert aus unsicheren Quellen hinzugefügt.«
»Lesen Sie einmal ein paar seiner Leitsprüche«, meinte Ngovi gelassen.
Michener konzentrierte sich wieder auf die Seite in seiner Hand. Der einundachtzigste Papst erhielt in der Prophezeiung das Motto: Die Lilie und die Rose. Urban VIII. der entsprechende Papst, kam aus Florenz, das die rote Lilie im Stadtwappen führt. Außerdem war er Bischof von Spoleto, in dessen Wappen eine Rose prangt. Der vierundneunzigste Papst erhielt die Bezeichnung Rose von Umbrien. Bevor Clemens XIII. Papst wurde, war er Gouverneur von Umbrien. Apostolischer Wanderer, dieses Motto wurde dem sechsundneunzigsten Papst vorhergesagt. Pius VI. beendete seine Tage, aus Rom verbannt, als Gefangener der französischen Revolutionäre. Leo der XIII. war der hundertzweite Papst. Ein Licht am Himmel lautete sein Motto. Das Papstwappen Leos zeigte einen Kometen. Johannes XXIII. wurde Hirte und Seemann genannt, was passte, da er sein Papstamt als das eines Hirten verstand und der Stempel des von ihm einberufenen Zweiten Vatikanischen Konzils ein Kreuz und ein Schiff abbildete. Außerdem war Johannes vor seiner Papstwahl Patriarch von Venedig, was seit alters her eine Hafenstadt ist.
Michener blickte auf. »Das ist interessant, aber was hat das mit dem Rest zu tun?«
»Clemens war der hundertelfte Papst. Malachius nannte ihn Ruhm des Olivenbaums. Erinnern Sie sich an Kapitel vierundzwanzig aus dem Evangelium des Matthäus, die Zeichen der Endzeit?«
Gewiss. Als Jesus den Tempel verließ, wiesen seine Jünger ihn auf die gewaltigen Bauten des Tempels hin. Er sagte zu ihnen: Amen, das sage ich euch: Kein Stein wird hier auf dem anderen bleiben; alles wird niedergerissen werden. Als er später auf dem Ölberg saß, fragten ihn seine Jünger, wann das alles geschehen und was das Zeichen des Endes der Welt sein werde.
»In diesem Kapitel kündigte Jesus seine Wiederkunft an. Aber, Maurice, Sie sind doch nicht ernstlich der Meinung, dass das Ende der Welt bevorsteht?«
»Vielleicht keine ganz so große Katastrophe, aber jedenfalls ein Ende und ein Neuanfang. Nach der Prophezeiung ist Clemens der letzte Papst vor diesem Ereignis. Und da ist noch etwas. Nach Malachius’ Liste, die mit dem Jahr 1143 beginnt, sind wir jetzt beim hundertzwölften und damit dem letzten Papst angelangt. Malachius sagte im Jahr 1138 voraus, dass der Name dieses Papstes Petrus Romanus lauten werde.«
»Aber das ist ein Irrtum«, entgegnete Michener. »Es heißt inzwischen, dass Malachius niemals einen Petrus vorhergesagt hat. Das wurde vielmehr erst im neunzehnten Jahrhundert einer Veröffentlichung seiner Prophezeiungen hinzugefügt.«
»Ich wünschte, Sie hätten Recht«, gab Ngovi zurück. Er streifte ein paar Baumwollhandschuhe über und schlug den schweren Folianten vorsichtig auf. Das uralte Pergament knisterte leise. »Lesen Sie einmal.«
Michener betrachtete die lateinische Schrift:
Bei ihrer letzten Heimsuchung wird die Heilige Katholische Kirche von Petrus Romanus regiert werden, der seine Herde in großer Drangsal weiden wird, und danach wird in der Stadt der Sieben Hügel der schreckliche Richter alle Menschen richten.
»Valendrea«, sagte Ngovi, »hat sich von sich aus für den Namen Petrus entschieden. Verstehen Sie jetzt, warum ich so besorgt bin? Dies hier sind Wions Worte, wenn nicht sogar die Worte Malachius’, und so oder so wurden sie vor Jahrhunderten aufgeschrieben. Wer sind wir, so etwas in Frage zu stellen? Vielleicht hatte Clemens ja Recht. Wir stellen viel zu viele Fragen und handeln nach unserem eigenen Gutdünken, statt zu tun, was uns aufgetragen wurde.«
»Wie wollen Sie es erklären?«, fragte der Kardinalarchivar. »Dieses Buch hier ist beinahe fünfhundert Jahre alt, und diese Mottos wurden den Päpsten vor langer Zeit zugeordnet. Wenn nur zehn oder zwanzig zutreffend wären, müsste man es Zufall nennen. Aber neunzig Prozent ist etwas anderes, und in dieser Größenordnung bewegen wir uns hier. Nur für etwa zehn Prozent der Bezeichnungen scheint überhaupt kein Bezug auffindbar, doch die anderen sind äußerst passend. Der letzte Name aber, Petrus, findet sich genau an hundertzwölfter Stelle. Als Valendrea diesen Namen annahm, überlief mich ein Schauder.«
Die Ereignisse überschlugen sich. Erst die Enthüllung über Katerina. Nun die Möglichkeit, dass das Ende der Welt bevorstand. Und danach wird in der Stadt der sieben Hügel der schreckliche Richter alle Menschen richten. Rom wurde schon seit jeher als die Stadt der sieben Hügel bezeichnet. Michener warf einen Blick auf Ngovi. Das Gesicht des Prälaten war von Sorge gezeichnet.
»Colin, Sie müssen Tibors Kopie der Übersetzung finden. Wenn Valendrea dieses Dokument für entscheidend hält, sollten wir das nicht anders sehen. Sie kannten Jakob besser als jeder andere. Finden Sie das Versteck.« Ngovi schloss den Folianten. »Heute ist möglicherweise der letzte Tag, an dem wir das Archiv betreten können. Uns dürfte eine zermürbende Zeit bevorstehen. Valendrea schiebt alle Gegner aus Rom ab. Ich wollte, dass Sie dies hier mit eigenen Augen sehen – damit Ihnen der Ernst der Lage klar wird. Was die Seherin von Medjugorje festgehalten hat, darüber lässt sich diskutieren. Mit Schwester Lucias Niederschrift und Hochwürden Tibors Übersetzung ist es jedoch etwas ganz anderes.«
»Ich habe keine Ahnung, wo das Dokument sein könnte. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie Jakob es aus dem Vatikan entfernt haben könnte.«
»Außer mir kannte keiner die Zahlenkombination des Schließfachs«, erklärte der Archivar. »Und ich habe es nur für Clemens geöffnet.«
Michener überkam ein Gefühl der Leere, als er wieder an Katerinas Verrat dachte. Vielleicht würde es ihm gut tun, sich eine Zeit lang auf etwas anderes zu konzentrieren. »Ich will sehen, was ich tun kann, Maurice. Aber ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.«
Ngovis Miene blieb ernst. »Colin, ich will die Lage nicht unnötig dramatisieren. Aber es ist sehr gut möglich, dass das Schicksal der Kirche in Ihren Händen liegt.«
57
15.30 Uhr
Valendrea entschuldigte sich und ließ die Menschenmenge, die gekommen war, um ihm Glück zu wünschen, im Audienzsaal zurück. Die Gruppe war aus Florenz angereist, und vor seinem Aufbruch versicherte Valendrea den Versammelten, dass seine erste Reise ihn in die Toskana führen würde.
Ambrosi erwartete ihn im dritten Stock. Sein Sekretär hatte den Audienzsaal vor einer halben Stunde verlassen, und Valendrea wollte wissen warum.
»Heiliger Vater«, sagte Ambrosi. »Nach Ihrem Gespräch mit Michener hat dieser sich mit Ngovi und dem Kardinalarchivar getroffen.«
Jetzt verstand Valendrea, warum die Angelegenheit dringlich war. »Worüber haben sie gesprochen?«
»Das Gespräch fand in einem der Lesesäle hinter verschlossenen Türen statt. Der Priester, der sich im Archiv für mich umhört, konnte nur in Erfahrung bringen, dass sie einen alten Folianten bei sich hatten, eines jener Bücher, die normalerweise nur der Archivar persönlich in die Hand nehmen darf.«
»Welches?«
»Lignum Vitae.«
»Die Prophezeiungen des Malachius’? Das soll wohl ein Scherz sein. Völliger Unsinn. Aber trotzdem ist es schade, dass wir nicht wissen, was geredet wurde.«
»Ich bin dabei, die Abhörvorrichtungen wieder anzubringen. Aber das dauert seine Zeit.«
»Wann ist Ngovis Abreise geplant?«
»Sein Büro hat er schon geräumt. Wie ich höre, fliegt er in ein paar Tagen nach Afrika. Vorläufig ist er noch in seiner Wohnung.«
Und Ngovi war noch immer Camerlengo. Valendrea hatte sich noch nicht für einen Nachfolger entschieden, da er zwischen drei Kardinälen schwankte, die ihm während des Konklave unbeirrbar die Stange gehalten hatten.
»Ich habe über Clemens’ persönliche Sachen nachgedacht. Gewiss befindet sich Tibors Kopie darunter. Clemens musste davon ausgehen, dass keiner außer Michener seine Sachen durchsehen würde.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Heiliger Vater?«
»Ich glaube nicht, dass Michener uns das Gesuchte aushändigen wird. Er verachtet uns. Nein, er wird es Ngovi geben. Und das kann ich nicht zulassen.«
Er wartete auf Ambrosis Reaktion, und sein alter Freund enttäuschte ihn nicht: »Sie wollen ihm zuvorkommen?«, fragte sein Privatsekretär.
»Wir müssen Michener klar machen, wie ernst es uns ist. Aber diesmal ist das nicht Ihre Sache, Paolo. Rufen Sie unsere Freunde an. Wir brauchen ihre Dienste.«
Michener betrat die Wohnung, die er seit Clemens’ Tod benutzte. Er war ein paar Stunden durch die Straßen Roms gelaufen. Vor einer halben Stunde hatte er Kopfschmerzen bekommen. Der Arzt in Bosnien hatte ihm so etwas vorhergesagt, und so ging er direkt ins Bad und nahm zwei Aspirin. Der Arzt hatte ihm außerdem nahe gelegt, sich nach seiner Rückkehr nach Rom gründlich durchchecken zu lassen, doch im Moment hatte Michener keine Zeit dafür.
Er knöpfte seine Soutane auf und warf sie aufs Bett. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte 18.30 Uhr. Er meinte noch immer, Valendreas Hände auf sich zu spüren. Gott sei der katholischen Kirche gnädig. Ein Mann ohne Angst war gefährlich. Valendrea wirkte extrem unbeherrscht, und angesichts seiner absoluten Macht war er in seinen Entscheidungen vollkommen frei. Dann war da noch die angebliche Prophezeiung des Heiligen Malachius. Michener wusste, dass er sich über diese lächerlichen Visionen keine Gedanken machen sollte, aber dennoch überkam ihn die Angst. Es würde Probleme geben, so viel war sicher. Er zog eine Jeans und ein Hemd an, schleppte sich ins vordere Zimmer und setzte sich aufs Sofa. Das Licht ließ er absichtlich ausgeschaltet.
Hatte Valendrea wirklich vor Jahrzehnten etwas aus der Riserva entwendet? Hatte Clemens kürzlich dasselbe getan? Was war hier eigentlich los? Konnte er sich auf nichts und niemanden mehr verlassen? Und um das Chaos komplett zu machen, hatte möglicherweise ein irischer Bischof, der vor neunhundert Jahren lebte, das Ende der Welt für die Amtszeit eines Papstes namens Petrus prophezeit.
Michener rieb sich die Schläfen, um den Schmerz zu lindern. Durch die Fenster fiel hin und wieder das Streulicht eines Scheinwerfers. Im Schatten, den die Fensterbank warf, stand Jakob Volkners Eichentruhe. Michener erinnerte sich daran, dass sie an dem Tag, als er alles vom Vatikan hatte herbringen lassen, verschlossen gewesen war. Die Truhe wirkte durchaus so, als könnte Clemens dort etwas Wichtiges versteckt haben. Zu seinen Lebzeiten hätte keiner gewagt, sie zu öffnen und hineinzuschauen.
Michener krabbelte auf allen vieren zur Truhe.
Er streckte die Hand aus, schaltete eine der Lampen an und betrachtete das Schloss. Er wollte die Truhe nicht durch Aufbrechen des Schlosses beschädigen, und so setzte er sich hin und dachte darüber nach, wie er vorgehen sollte.
Der Karton, den er am Tag nach Clemens’ Tod aus der Papstwohnung mitgenommen hatte, stand ganz in seiner Nähe. Darin lag Clemens’ sämtliche Habe. Er zog den Karton heran und wühlte in den Sachen, die früher Clemens’ Räume verschönert hatten. Es handelte sich vorwiegend um Erinnerungsstücke – eine Schwarzwalduhr, einige besonders schöne Stifte, ein gerahmtes Foto von Clemens’ Eltern.
In einem grauen Papierumschlag lag Clemens’ Bibel. Am Tag der Bestattung hatte man sie von Castel Gandolfo aus an Michener geschickt. Er hatte das Buch nicht aufgeschlagen, sondern nur mit in die Wohnung genommen und in die Kiste gelegt.
Jetzt bewunderte er den weißen Ledereinband. Die Kanten waren vergoldet, das Gold an manchen Stellen abgeblättert. Ehrfürchtig schlug er den Buchdeckel auf. In der Innenseite stand auf Deutsch: ZU DEINER PRIESTERWEIHE VON DEINEN ELTERN, DIE DICH SEHR LIEBEN.
Clemens hatte oft von seinen Eltern erzählt. Die Volkners hatten seit den Tagen Ludwigs I. zum bayerischen Adel gehört. Die Familie war von Anfang an gegen den Nationalsozialismus gewesen und hatte Hitler nie unterstützt. Man hatte diese Haltung jedoch klugerweise für sich behalten und in aller Stille versucht, den Bamberger Juden zu helfen. Volkners Vater hatte die Ersparnisse zweier jüdischer Bamberger Familien zu treuen Händen übernommen und bis zum Ende des Kriegs aufbewahrt. Leider war niemand zurückgekommen, um das Geld abzuholen. So hatte er später alles bis auf die letzte Mark dem Staat Israel übergeben. Eine Gabe aus der Vergangenheit in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Die Vision von Medjugorje schoss Michener erneut durch den Kopf.
Jakob Volkners Gesicht.
»Missachte die Wünsche des Himmels nicht länger. Führe aus, worum ich dich gebeten habe. Vergiss nicht, ein treuer Diener ist nicht zu verachten.«
»Was ist meine Bestimmung, Jakob?«
Doch er hatte Hochwürden Tibor gesehen, als er die Antwort hörte:
»Ein Zeichen für die Welt zu sein. Ein Leuchtturm der Reue. Der Bote, der verkündet, dass Gott lebendig ist.«
Was hatte das alles zu bedeuten? War es real? Oder hatte er einfach aufgrund des Blitzschlags halluziniert?
Langsam blätterte er durch die Bibel. Die Seiten fühlten sich an wie aus Stoff. Hier und da waren Zeilen unterstrichen. Er lenkte sein Augenmerk auf die unterstrichenen Passagen.
Apostelgeschichte 5,29: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Jakobus 1,27: Ein reiner und makelloser Dienst vor Gott, dem Vater, besteht darin: für Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind, und sich vor jeder Befleckung durch die Welt zu bewahren.
Matthäus 15,3.6: Warum missachtet denn ihr Gottes Gebot um eurer Überlieferung willen? Damit habt ihr Gottes Wort um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt.
Matthäus 5,19: Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Größte sein.
Daniel 4,23: Deine Herrschaft bleibt dir erhalten, sobald du anerkennst, dass der Himmel die Macht hat.
Johannes 8,28: Ihr werdet erkennen, dass ich nichts im eigenen Namen tue, sondern nur das sage, was mich der Vater gelehrt hat.
Interessante Stellen hatte Clemens da ausgewählt. Weitere Botschaften eines gequälten Papstes oder einfach eine zufällige Auswahl?
Unten lugten vier bunte Seidenfäden aus dem Buch heraus, die im oberen Viertel zu einem Strang zusammengefasst waren. Er griff danach und klappte das Buch auf der entsprechenden Seite auf.
Ein schmaler Silberschlüssel war in den Strang eingeschnürt.
Hatte Clemens den Schlüssel absichtlich dort versteckt? Die Bibel hatte in Castel Gandolfo auf dem Nachttisch neben Clemens’ Bett gelegen. Der Papst hatte davon ausgehen können, dass außer Michener keiner das Buch aufschlagen würde.
Michener wusste, zu welchem Schloss dieser Schlüssel passte, und löste ihn aus der Verschnürung.
Dann schob er ihn ins Schloss der Truhe. Die Riegel gaben nach, und der Deckel ließ sich aufklappen.
Drinnen lagen Briefumschläge. Hundert oder mehr, alle in einer weiblichen Handschrift an Clemens adressiert. Die Adressen des Empfängers änderten sich. München, Köln, Dublin, Kairo, Kapstadt, Warschau, Rom. In all diesen Städten hatte Clemens der Kirche gedient. Doch die Adresse der Absenderin war immer dieselbe. Da Michener sich stets um Volkners Post gekümmert hatte, waren ihm diese Briefe seit mehr als zwei Dutzend Jahren vertraut. Die Schreiberin hieß Irma Rahn und war eine Schulfreundin. Michener hatte nicht nach ihr gefragt, und Clemens hatte von sich aus nur erzählt, dass sie in Bamberg zusammen aufgewachsen waren.
Clemens hatte einige alte Freunde, mit denen er regelmäßig korrespondierte, doch alle Briefe in der Truhe stammten von Irma Rahn. Warum hatte Clemens diese Briefe hinterlassen? Warum hatte er sie nicht einfach vernichtet? Sie ließen sich schließlich mühelos fehldeuten, insbesondere von Feinden wie Valendrea. Doch offensichtlich war Clemens bereit gewesen, dieses Risiko einzugehen.
Da die Briefe nun ihm gehörten, zog Michener einen davon aus seinem Umschlag und fing an zu lesen.
58
Jakob,
wie sehr schmerzten mich die Nachrichten aus Warschau. Ich las, dass du zu denen gehörtest, die beim Ausbruch der Unruhen mitten in der Menge waren. Die Kommunisten wären dich und die anderen Bischöfe bestimmt liebend gerne auf diese Weise losgeworden. Als ich deinen Brief erhielt, war ich sehr erleichtert und froh, dass du unverletzt geblieben bist. Ich wünschte, Seine Heiligkeit würde dich nach Rom berufen, wo ich dich in Sicherheit wüsste. Ich weiß, dass du niemals um so etwas bitten würdest, doch ich bete darum zum Herrn. Ich hoffe, dass du über Weihnachten nach Hause kommen kannst. Es wäre schön, die Feiertage mit dir zusammen zu verbringen. Gib mir Bescheid, ob sich das einrichten lässt. Ich warte wie immer auf deinen nächsten Brief, und vergiss nicht, Jakob, wie sehr ich dich liebe.
Jakob,
heute war ich am Grab deiner Eltern. Ich habe gejätet und den Stein abgewischt. Ich habe ihnen auch einen Strauß Lilien hingestellt, in deinem Namen. Wie schade, dass sie deine Berufung nicht mehr miterlebt haben. Nun bist du Erzbischof und wer weiß, vielleicht wirst du eines Tages sogar Kardinal. Mit dem, was du erreichst, legst du Zeugnis für sie ab. Unsere Eltern mussten so viel durchmachen. Viel zu viel. Ich bete täglich für die Freiheit Deutschlands. Vielleicht kann unsere Generation durch gute Menschen wie dich ein positives Vermächtnis hinterlassen. Ich hoffe, du bist wohlauf. Mir geht es gesundheitlich bestens. Ich habe anscheinend eine robuste Konstitution. In den nächsten drei Wochen komme ich vielleicht nach München. In diesem Fall rufe ich dich vorher an. Ich sehne mich danach, dich wiederzusehen. Dein letzter Brief hat mir das Herz erwärmt. Pass auf dich auf, mein lieber Jakob. Für immer in Liebe.
Jakob,
Kardinal. Eminenz, du hast diesen Titel vollauf verdient. Gott segne Johannes Paul, dass er dich schließlich erhoben hat. Nochmals vielen Dank, dass ich am Konsistorium teilnehmen durfte. Gewiss wusste keiner, wer ich bin. Ich saß am Rand und behielt meine Gedanken für mich. Dein Colin Michener war da und wirkte so stolz. Er ist genau, wie du ihn beschrieben hast, ein gut aussehender junger Mann. Mach ihn zu dem Sohn, den wir so gerne gehabt hätten. Gib dich an ihn weiter, wie dein Vater sich an dich weitergegeben hat. Hinterlasse in ihm ein Vermächtnis, Jakob. Daran ist nichts Verkehrtes. Es verstößt nicht gegen dein Gelübde, und dein Gott verbietet es dir nicht. Mir treten noch immer die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke, wie der Papst dir das rote Birett aufgesetzt hat. Nie im Leben war ich so stolz wie in diesem Moment. Ich liebe dich, Jakob, und hoffe nur, dass unsere Verbindung für dich eine Quelle der Kraft bedeutet. Pass auf dich auf, mein Liebster, und schreibe mir bald.
Jakob,
vor ein paar Tagen ist Karl Haigl gestorben. Bei der Beerdigung dachte ich daran, wie wir drei an heißen Sommertagen gemeinsam am Fluss gespielt haben. Er war so ein freundlicher Mann, und wärest du nicht gewesen, hätte ich ihn vielleicht geliebt. Aber das weißt du wahrscheinlich. Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben, und seitdem lebte er allein. Seine Kinder sind ein undankbarer, selbstsüchtiger Haufen. Was ist nur mit unserer Jugend passiert? Wissen die jungen Leute ihre Herkunft denn gar nicht mehr zu schätzen? Ich habe ihm oft abends etwas zu essen gebracht, und dann haben wir beisammen gesessen und uns unterhalten. Er hat dich enorm, bewundert. Der kleine, dünne Jakob, und jetzt ist er Kardinal der katholischen Kirche. Und nun also Staatssekretär. Nur eine Stufe vor dem Papst. Er hätte dich gerne wieder gesehen, und es ist eine Schande, dass das nicht möglich war. Bamberg hat seinen Bischof nicht vergessen, und ich weiß, dass der Bischof seine Heimatstadt nicht vergessen hat. In den letzten Tagen habe ich oft für dich gebetet, Jakob. Der Papst ist nicht gesund. Bald wird man einen neuen Papst wählen. Ich habe den Herrn gebeten, seine Hand über dich zu halten. Vielleicht hört er ja auf die Gebete einer alten Frau, die ihren Gott und ihren Kardinal innig liebt. Pass auf dich auf.
Jakob,
ich habe dich im Fernsehen auf den Balkon des Petersdoms treten sehen. Das Gefühl von Stolz und Liebe, das da in mir aufstieg, war unbeschreiblich. Mein Jakob heißt jetzt Clemens. Was für eine weise Namenswahl. Als ich deinen Namen hörte, dachte ich daran, wie wir früher manchmal in den Dom gingen und das Grab besuchten. Ich erinnerte mich, wie du dir Clemens II. vorgestellt hast. Ein Deutscher, der zum Papst aufgestiegen war. Schon damals hattest du eine Vision vor Augen. Er war ein Teil deiner selbst. Nun bist du Clemens XV. und Papst. Sei weise, mein lieber Jakob, aber sei tapfer. Die Kirche ist nun auf Biegen oder Brechen dir anheim gegeben. Sorge dafür, dass man sich dereinst an Clemens XV. mit Stolz erinnert. Es wäre wunderbar, wenn du eine Pilgerfahrt nach Bamberg unternehmen könntest. Versuche doch, das irgendwann einmal in die Wege zu leiten. Ich habe dich so lange nicht mehr gesehen. Ein paar Augenblicke, selbst in der Öffentlichkeit, würden mir schon genügen. Bis dahin lass dir von dem, was unser ist, das Herz erwärmen. Weide deine Herde mit Würde und Kraft, und wisse immer, dass ich im Herzen bei dir bin.
59
21.00 Uhr
Katerina näherte sich dem Gebäude, in dem Micheners Wohnung lag. Die dunkle Straße war menschenleer, und am Straßenrand parkten Autos. Aus den geöffneten Fenstern drangen Stimmen, Kindergeschrei und Musikfetzen. Fünfzig Meter hinter ihr rauschte der Verkehr über einen Boulevard.
In Micheners Wohnung brannte nur ein einziges Licht, und sie verzog sich in einen Hauseingang auf der Straßenseite gegenüber, wo Schatten sie verbargen, und sah zum zweiten Stock hinauf.
Sie mussten miteinander reden. Sie musste ihm erklären, wie alles gekommen war. Sie hatte ihn nicht verraten. Sie hatte Valendrea überhaupt nichts gesagt. Aber sie hatte tatsächlich Micheners Vertrauen missbraucht. Er war nicht so wütend gewesen, wie sie erwartet hatte, eher verletzt, und darum fühlte sie sich jetzt umso elender. Wann würde sie es jemals lernen? Warum machte sie immer dieselben Fehler? Konnte sie nicht ein einziges Mal das Richtige aus den richtigen Gründen tun? Sie konnte es doch eigentlich besser, aber irgendetwas schien sie immer davon abzuhalten.
Sie stand im Dunkeln. Sie empfand ihre Einsamkeit als tröstlich und war fest entschlossen zu tun, was getan werden musste. Im Fenster des zweiten Stocks war keinerlei Bewegung zu erkennen, und sie fragte sich, ob Michener überhaupt da war.
Sie nahm gerade all ihren Mut zusammen und wollte die Straße überqueren, als sie sah, wie ein Auto aus dem Boulevard einbog und auffallend langsam auf das Gebäude zufuhr. Die Scheinwerfer erleuchteten die Straße, und Katerina schob sich tiefer in den Eingang, bis sie mit der Dunkelheit verschmolz.
Die Scheinwerfer erloschen, und der Wagen hielt an.
Ein dunkles Mercedes Coupé.
Die hintere Tür wurde geöffnet, dann stieg jemand aus. Im Licht der Innenbeleuchtung erkannte sie einen hoch gewachsenen Mann mit einer langen, scharfen Nase in einem schmalen Gesicht. Er trug einen legeren grauen Anzug, und der Glanz in seinen dunklen Augen gefiel ihr nicht. Sie kannte diese Sorte Mann. Im Auto saßen zwei weitere Männer. Der eine war der Fahrer, der andere saß auf dem Rücksitz. In Katerinas Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Bestimmt hatte Ambrosi diese Leute geschickt.
Der Lange betrat das Gebäude, in dem Micheners Wohnung lag.
Der Mercedes rollte langsam davon. Das Licht in Micheners Wohnung brannte noch immer.
Katerina hatte keine Zeit, die Polizei zu rufen.
Sie trat aus dem Hauseingang und lief über die Straße.
Michener las den letzten Brief zu Ende und betrachtete die rundum verstreuten Umschläge. In den zurückliegenden zwei Stunden hatte er jedes einzelne Wort gelesen, das Irma Rahn geschrieben hatte. Diese Truhe enthielt gewiss nicht die gesamte Korrespondenz. Vielleicht hatte Volkner nur die Briefe aufbewahrt, die ihm besonders viel bedeuteten. Das Datum des letzten Briefes lag zwei Monate zurück – ein weiteres rührendes Schreiben, in dem Irma Clemens’ Gesundheitszustand beklagte, den sie besorgt im Fernsehen verfolgte, und ihn ermahnte, auf sich Acht zu geben.
Michener dachte an die gemeinsamen Jahre mit Volkner zurück und verstand jetzt einige der Bemerkungen, die sein Freund über seine Beziehung zu Katerina gemacht hatte.
Glauben Sie etwa, Sie seien als einziger Priester der Versuchung erlegen? Außerdem, war es denn wirklich eine so große Sünde? Hat es sich wie eine Sünde angefühlt? Hat Ihr Herz Ihnen gesagt, dass es falsch ist?
Und dann kurz vor seinem Tod. Diese sonderbare Bemerkung Clemens’, als dieser sich nach dem Tribunal und nach Katerina erkundigt hatte. Es ist gut, dass sie Ihnen nicht gleichgültig ist, Colin. Sie ist ein Teil Ihrer Vergangenheit. Ein Teil, den Sie niemals vergessen sollten.
Michener hatte das einfach für ein paar tröstliche, beruhigende Worte gehalten. Nun begriff er, dass es mehr gewesen war.
Aber das bedeutet nicht, dass Sie einander keine Freunde sein könnten. Teilen Sie sich einander mit. Dann werden Sie sehen, wie nahe man sich kommen kann, wenn man sich wirklich füreinander interessiert. Diese Freude verbietet die Kirche uns ja nun nicht.
Er erinnerte sich an die Fragen, die Clemens ihm nur wenige Stunden vor seinem Tod in Castel Gandolfo gestellt hatte: Warum dürfen Priester nicht heiraten? Warum müssen sie keusch leben? Warum soll das, was anderen Menschen gestattet ist, den Geistlichen verboten sein?
Michener konnte sich der Frage nicht erwehren, wie weit Clemens’ Beziehung zu Irma Rahn wohl gegangen war. Hatte der Papst sein eigenes Keuschheitsgelübde verletzt? Hatte er dasselbe getan, weswegen Thomas Kealy nun angeklagt wurde? Nichts in den Briefen wies auf eine sexuelle Beziehung hin, doch das hieß noch nicht viel. Schließlich würde man so etwas wohl kaum schriftlich festhalten.
Er ließ sich aufs Sofa sinken und rieb sich die Augen.
Hochwürden Tibors Übersetzung war nicht in der Truhe gewesen. Michener hatte jeden einzelnen Umschlag durchsucht und jeden Brief gelesen, um sicherzugehen, dass Clemens das Dokument nicht vielleicht auf diese Weise getarnt hatte. Doch in den Briefen wurde Fatima noch nicht einmal andeutungsweise erwähnt. Anscheinend war er auch hier in eine Sackgasse geraten. Er stand wieder ganz am Anfang. Nur, dass er jetzt über Irma Rahn Bescheid wusste.
Vergessen Sie Bamberg nicht.
Das waren Jasnas Worte gewesen. Und was hatte Clemens in seiner Abschiedsmail geschrieben? Meine persönliche Präferenz allerdings ist Bamberg. In dieser wunderschönen Stadt an der Regnitz und in ihrem Dom, den ich so sehr geliebt habe, würde ich gern meine letzte Ruhe finden. Ich bedaure nur, dass ich meine Heimatstadt nicht noch ein letztes Mal sehen konnte. Vielleicht könnte mein Vermächtnis immer noch dort sein.
Dann der Nachmittag im Wintergarten von Castel Gandolfo und Clemens’ geflüsterte Worte:
Ich habe Valendrea das Dokument in der Fatima-Schatulle lesen lassen.
»Was ist es?«
»Ein Teil dessen, was Hochwürden Tibor mir geschickt hat.«
Ein Teil? Erst jetzt kapierte Michener diesen Hinweis.
Die Reise nach Turin ging ihm durch den Sinn. Clemens’ aufgebrachte Bemerkungen über seine Loyalität und seine Fähigkeiten. Und der Umschlag. Würden Sie dies hier bitte für mich zur Post bringen? Der Brief war an Irma Rahn adressiert gewesen. Michener hatte sich damals nichts dabei gedacht. Er hatte im Laufe der Jahre viele Briefe an sie aufgegeben. Aber warum diese eigenartige Aufforderung, den Brief unbedingt in Turin aufzugeben, und zwar persönlich?
Am Vorabend jenes Tages war Clemens in der Riserva gewesen. Michener und Ngovi hatten draußen gewartet, während der Papst die Schatulle öffnete. Das wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit gewesen, etwas aus dem Kästchen zu entfernen. Was bedeutete, dass die Reproduktion der Übersetzung Tage später, als Clemens und Valendrea sich in der Riserva trafen, schon nicht mehr da war. Was hatte Michener Valendrea vorhin gefragt?
Woher wissen Sie denn, dass es überhaupt in der Schatulle lag?
Das weiß ich nicht. Aber nach jenem Freitagabend war niemand mehr im Archiv, und zwei Tage darauf war Clemens tot.
Die Wohnungstür flog krachend auf.
Das Zimmer war nur von einer einzigen Lampe erleuchtet, und Michener sah, wie sich ein großer, dünner Mann aus dem Halbdunkel auf ihn stürzte. Der Eindringling riss ihn vom Boden hoch und hieb ihm die Faust in den Unterleib.
Ihm blieb die Luft weg.
Der Angreifer verpasste ihm einen weiteren Schlag gegen die Brust, und Michener stürzte taumelnd auf sein Schlafzimmer zu. Er war wie gelähmt vor Schreck. Noch nie hatte er sich mit jemandem geschlagen, noch nie! Instinktiv riss er schützend die Arme hoch, doch der Mann hieb ihm wieder in den Bauch. Michener brach auf seinem Bett zusammen.
Keuchend starrte er zu der dunklen Gestalt hinauf und fragte sich, was als Nächstes kommen würde. Der Mann zog etwas Schwarzes, Rechteckiges aus seiner Tasche, das etwa fünfzehn Zentimeter lang war. Auf der einen Seite standen zwei glänzende Metallspitzen hervor wie die Arme einer Pinzette. Dazwischen blitzte plötzlich ein Lichtstrahl auf.
Eine Betäubungspistole.
Die Schweizergardisten benutzten sie, um den Papst auch ohne Kugeln beschützen zu können. Man hatte Michener und Clemens die Waffen gezeigt und ihnen erklärt, wie die Ladung der 9-V-Batterie sich in einen Stromstoß von 200000 Volt umwandeln ließ, der den Getroffenen sofort außer Gefecht setzte. Michener beobachtete, wie ein blauweißer Strahl knisternd von der einen Elektrode zur anderen sprang.
Ein Lächeln legte sich auf die Lippen des Dünnen. »Jetzt werden wir ein wenig Spaß miteinander haben«, sagte er auf Italienisch.
Michener nahm alle Kraft zusammen, schnellte hoch und trat mit dem Bein gegen den ausgestreckten Arm des Fremden. Die Betäubungspistole flog durch die Luft und landete in der offen stehenden Tür.
Micheners Gegenwehr hatte den Angreifer verblüfft, doch er fasste sich rasch, verpasste Michener eine Ohrfeige mit dem Handrücken und schleuderte ihn flach aufs Bett.
Wieder steckte der Mann die Hand in eine seiner Taschen. Ein Schnappen, und eine Messerklinge blitzte auf. Das Messer mit der erhobenen Hand umklammernd, stürzte der Fremde sich vor. Michener rechnete mit dem Schlimmsten und fragte sich, was für ein Gefühl es sein mochte, erstochen zu werden.
Doch es kam nicht so weit.
Statt dessen hörte man einen leisen Knall, und der Mann zuckte zusammen. Er verdrehte die Augen, ließ die Arme sinken, zuckte konvulsivisch, ließ das Messer fallen und brach auf dem Boden zusammen.
Michener setzte sich auf.
Hinter dem Angreifer stand Katerina. Sie warf die Betäubungspistole aus der Hand und eilte auf Michener zu. »Alles in Ordnung mit dir?«
Er hatte die Hände auf den Bauch gepresst und rang um Atem.
»Colin, bist du in Ordnung?«
»Was zum Teufel war … das?«
»Wir haben keine Zeit. Unten warten noch zwei.«
»Was weißt du … was ich nicht weiß?«
»Das erkläre ich dir später. Wir müssen los.«
Allmählich kam er zu sich. »Nimm meine Reisetasche. Da drüben. Ich hab sie nach Bosnien nicht ausgeräumt.«
»Willst du fort?«
Er antwortete nicht, und sie schien sein Schweigen zu verstehen.
»Du willst es mir nicht sagen«, bemerkte sie.
»Warum bist du … hier?«
»Ich wollte mit dir reden, wollte versuchen, dir alles zu erklären. Aber dieser Mann und noch zwei weitere fuhren bei dir vor.«
Er versuchte aufzustehen, doch ein stechender Schmerz zwang ihn nieder.
»Du bist verletzt«, sagte sie.
Er hustete. »Wusstest du, dass dieser Typ kommt?«
»Das meinst du nicht ernst, oder?«
»Antworte mir.«
»Ich kam her, um mit dir zu reden, und hörte die Betäubungspistole. Ich sah, dass du sie ihm aus der Hand tratst, und dann sah ich das Messer. Also hob ich das Ding auf und gab mein Bestes. Ich dachte, du würdest mir dankbar sein.«
»Das bin ich auch. Und jetzt erzähl mir, was du weißt.«
»Ambrosi griff mich in der Nacht nach unserem Treffen mit Hochwürden Tibor in Bukarest an. Er machte mir klar, dass ich es schwer bereuen würde, wenn ich nicht kooperierte.« Sie zeigte auf den am Boden Hingestreckten. »Ich nehme an, dass dieser Mann hier irgendwie mit ihm in Verbindung steht. Aber ich weiß nicht, warum er dich überfallen hat.«
»Vermutlich war Valendrea mit unserer heutigen Unterredung nicht zufrieden und beschloss, die Sache mit mehr Nachdruck zu betreiben. Er hatte mir schon angekündigt, dass sein nächster Bote mir nicht gefallen würde.«
»Wir müssen hier weg«, wiederholte sie.
Er ging zur Reisetasche und zog ein Paar Turnschuhe an. Der Schmerz im Magen trieb ihm die Tränen in die Augen.
»Ich liebe dich, Colin. Was ich getan habe, war falsch, doch ich habe es aus den richtigen Gründen getan.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Sie musste sie loswerden.
Er starrte sie an. »Es lässt sich schwer mit jemandem streiten, der einem gerade das Leben gerettet hat.«
»Ich möchte mich nicht mit dir streiten.«
Er auch nicht mit ihr. Vielleicht sollte er nicht so selbstgerecht sein. Er war ja auch selbst nicht völlig ehrlich mit ihr gewesen. Er bückte sich und fühlte den Puls seines Angreifers. »Mit dem ist gewiss nicht gut Kirschen essen, wenn er aufwacht. Dann möchte ich lieber nicht mehr hier sein.«
Als er zur Wohnungstür ging, sah er die auf dem Boden verstreuten Briefe und Umschläge. Die Briefe mussten vernichtet werden. Er bückte sich.
»Colin, wir müssen hier raus, bevor die anderen beiden hochkommen.«
»Ich muss das hier mitnehmen …« Aus dem Treppenhaus hallten von ganz unten schwere Schritte herauf.
»Colin, wir haben keine Zeit.«
Er fing an, Briefe aufzusammeln, und steckte einen Packen in seine Reisetasche, konnte aber in der Eile nur etwa die Hälfte aufraffen. Dann stand er mühsam auf, und sie schlüpften hinaus. Er zeigte nach oben, und sie huschten auf Zehenspitzen ein Stockwerk höher, während die Schritte von unten immer näher kamen. Michener konnte vor Schmerzen kaum gehen, doch das Adrenalin in seinem Blut trieb ihn weiter.
»Wie kommen wir hier raus?«, flüsterte Katerina.
»Weiter hinten gibt es noch ein Treppenhaus. Dort führt die Treppe in den Hof hinunter. Komm mit.«
Vorsichtig schlichen sie den Korridor entlang, vorbei an geschlossenen Wohnungstüren, und kamen so in den rückwärtigen Teil des Gebäudes. Michener erreichte das hintere Treppenhaus gerade in dem Moment, als zwanzig Meter hinter ihnen zwei Männer auftauchten.
Er nahm drei Stufen auf einmal, und es war, als führen ihm Elektroschocks durch den Bauch. Die Reisetasche voller Briefe, die über seiner Schulter hing und bei jedem Schritt gegen seine Rippen stieß, verschlimmerte die Schmerzen noch. Sie erreichten den ersten Stock, dann das Erdgeschoss und rasten nach draußen.
Der Hof unten war mit Autos zugeparkt, und sie liefen im Slalom zwischen ihnen hindurch. Michener führte Katerina durch einen Torbogen auf den belebten Boulevard hinaus. Autos schossen vorüber, und auf dem Bürgersteig wimmelte es von Fußgängern. Zum Glück waren die Römer Nachtschwärmer.
Zwanzig Meter vor ihnen hielt ein Taxi am Straßenrand.
Michener ergriff Katerina bei der Hand und hastete mit ihr auf das Fahrzeug zu. Er warf einen Blick über die Schulter und sah zwei Männer aus dem Hof kommen.
Sie erblickten ihn und rannten hinter ihm her.
Er schaffte es zum Taxi und riss die hintere Tür auf. Sie sprangen hinein. »Fahren Sie los«, schrie er auf Italienisch.
Der Wagen fuhr mit einem Ruck an. Durch die Heckscheibe sah Michener, dass seine Verfolger stehen blieben.
»Wohin fahren wir?«, fragte Katerina.
»Hast du deinen Reisepass dabei?«
»In meiner Handtasche.«
»Fahren Sie zum Flughafen«, wies er den Fahrer an.
60
23.40 Uhr
Valendrea kniete vor dem Altar einer Kapelle, die sein geliebter Papst Paul VI. damals für sich persönlich hatte ausbauen lassen. Clemens hatte diese Kapelle gemieden und einen kleineren Raum im selben Stockwerk genutzt, doch Valendrea hatte die Absicht, diesen reich dekorierten Raum für eine allmorgendliche Messe zu nutzen, zu der er an die vierzig Gäste einladen konnte. Danach würde er ihnen noch ein paar Minuten schenken und sich mit einem Gruppenfoto ihre Loyalität sichern. Clemens hatte sich der Insignien der Macht nie wirklich bedient – noch einer seiner zahlreichen Fehlgriffe! –, doch Valendrea beabsichtigte, all das, was andere Päpste in Jahrhunderten erarbeitet hatten, nach besten Kräften zu nutzen.
Das Dienstpersonal hatte sich für die Nacht verabschiedet, und Ambrosi hatte mit Colin Michener zu tun. Valendrea war froh, allein zu sein, denn er brauchte Zeit zum Beten. Gott hörte ihm zu, wie er genau wusste.
Ob er wohl das Vaterunser oder ein anderes altehrwürdiges Gebet sprechen sollte? Nein, ein offenes Gespräch erschien ihm angemessener. Schließlich war er ja das Oberhaupt der apostolischen Kirche Gottes. Wenn er nicht das Recht besaß, sich frei heraus mit dem Herrn zu unterhalten, wer dann?
Dass er durch Michener die Gelegenheit erhalten hatte, das zehnte Geheimnis von Medjugorje zu lesen, hielt er für ein Zeichen des Himmels. Es musste einen Grund dafür geben, dass er sowohl die Botschaft von Medjugorje als auch die von Fatima hatte lesen dürfen. Hochwürden Tibors Ermordung war ohne jeden Zweifel berechtigt gewesen. Das fünfte Gebot verbot zwar das Töten, doch die Päpste hatten über Jahrhunderte hinweg Millionen von Menschen im Namen des Herrn niedergemetzelt. Die jetzige Zeit bildete da keine Ausnahme. Die Heilige Katholische Kirche schien wirklich in Gefahr. Clemens XV. war zwar inzwischen gestorben, doch sein Schützling lebte noch, und Clemens hatte ein gefährliches Vermächtnis hinterlassen. Valendrea konnte nicht zulassen, dass die Situation eskalierte. Die Angelegenheit verlangte eine endgültige Lösung. Valendrea würde sich nun mit Colin Michener befassen müssen wie zuvor mit Hochwürden Tibor.
Der Papst faltete die Hände und sah zu dem gequälten Gesicht Jesu am Kreuz auf. Ehrfürchtig flehte er den Sohn Gottes um Führung an. Valendrea war offensichtlich aus einem ganz bestimmten Grund zum Papst auserwählt worden. Auch bei seiner Entscheidung für den Namen Petrus II. war er einer Art Eingebung gefolgt. Vor dem heutigen Tag hatte er all das seinem eigenen Ehrgeiz zugute gehalten. Doch inzwischen wusste er es besser. Er war die ausführende Hand Gottes: Petrus II. Ihm stand nur eine Möglichkeit des Handelns offen, und er dankte dem Allmächtigen, dass er die Kraft besaß zu tun, was getan werden musste.
»Heiliger Vater.«
Valendrea bekreuzigte sich und erhob sich vom Betschemel. Im Eingang der nur schwach erleuchteten Kapelle stand Ambrosi. Sorge zeichnete das Gesicht des Papstassistenten.
»Was ist mit Michener?«
»Verschwunden. Zusammen mit Frau Lew. Aber wir haben etwas gefunden.«
Valendrea sah den Berg von Briefen durch und staunte über diese letzte Überraschung. Clemens XV. hatte eine Geliebte gehabt. Auf eine Todsünde war zwar nicht eindeutig zu schließen – für einen Priester stellte die Verletzung des heiligen Gelübdes unbedingt eine Todsünde dar –, doch die Bedeutung dieser Briefe war unbestreitbar.
»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte er zu Ambrosi aufblickend.
Sie saßen in jenem Raum der Bibliothek, in dem der Papst sich mittags mit Michener unterhalten hatte. Valendrea fiel eine Bemerkung ein, die Clemens vor einem Monat gemacht hatte, als er erfuhr, dass Father Kealy dem Tribunal praktisch keine Wahl gelassen hatte. Vielleicht sollten wir uns einfach einmal eine gegensätzliche Meinung anhören. Jetzt verstand er, warum Volkner Kealy so wohlwollend gegenübergestanden hatte. Dem Deutschen war es mit dem Zölibat anscheinend auch nicht so ernst gewesen. Valendrea sah Ambrosi an. »Das hier ist ebenso weitreichend wie Clemens’ Selbstmord. Ich wusste wirklich nicht, was für einen vielschichtigen Charakter mein Vorgänger hatte.«
»Und offensichtlich war er auch weitblickend«, bemerkte Ambrosi. »Er hat Tibors Schreiben aus der Riserva entfernt, da er sich im Voraus dachte, wie Sie reagieren würden.«
Dieser Hinweis auf seine Berechenbarkeit gefiel Valendrea nicht besonders, doch er sah darüber hinweg. Stattdessen forderte er: »Vernichten Sie diese Briefe.«
»Sollten wir sie nicht besser aufbewahren?«
»Wir können sie niemals verwenden, so Leid mir das auch tut. Wir dürfen Clemens’ Andenken nicht besudeln. Wenn wir ihn in ein schlechtes Licht stellen, fällt das auf das Papstamt zurück, und das kann ich mir nicht leisten. Wir würden uns nur selbst schaden, wenn wir einen Toten angreifen. Jagen Sie das Zeug durch den Schredder.« Dann stellte er die Frage, die ihm wirklich auf dem Herzen lag: »Wohin sind Michener und Frau Lew verschwunden?«
»Unsere Freunde überprüfen das gerade beim Taxiunternehmen. Wir sollten bald Bescheid wissen.«
Bisher hatte Valendrea Clemens’ Privattruhe für das Versteck gehalten. Doch nach den Informationen, die er inzwischen über die Persönlichkeit seines ehemaligen Feindes hatte, musste er davon ausgehen, dass der Deutsche dafür zu clever gewesen war. Der Papst nahm einen der Briefumschläge in die Hand und las den Absender: IRMA RAHN, HINTERHOLZ 19, BAMBERG, DEUTSCHLAND.
Er hörte ein leises Klingeln, und Ambrosi zog sein Handy aus der Soutane. Ein kurzes Gespräch, dann beendete Ambrosi den Empfang.
Valendrea betrachtete noch immer den Umschlag. »Lassen Sie mich raten. Die beiden haben sich am Flughafen absetzen lassen.«
Ambrosi nickte.
Valendrea reichte den Umschlag an seinen Freund weiter. »Suchen Sie diese Frau auf, Paolo. Dort werden wir alles finden, was wir suchen. Michener und Frau Lew werden ebenfalls dort sein. Die beiden befinden sich jetzt auf dem Weg dorthin.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Sicher ist man nie, aber die Vermutung ist doch recht nahe liegend. Kümmern Sie sich persönlich um die Angelegenheit.«
»Ist das nicht etwas riskant?«
»Dieses Risiko müssen wir eingehen. Sie können gewiss dafür sorgen, dass keiner Sie erkennt.«
»Natürlich, Heiliger Vater.«
»Ich möchte, dass Sie Tibors Übersetzung vernichten, sobald Sie sie in Händen halten. Wie Sie das tun, ist mir vollkommen egal, nur tun Sie es. Paolo, ich zähle auf Sie! Sollte irgendjemand, und das meine ich genau, wie ich es sage, irgendjemand – Clemens’ Freundin, Michener, die Lew, wer auch immer – diese Worte lesen oder von ihnen erfahren, muss er sterben. Töten Sie ihn, ohne zu zögern!«
Im Gesicht des päpstlichen Privatsekretärs zuckte kein Muskel. Doch Ambrosis Augen glänzten, er sah aus wie ein Raubvogel auf der Jagd. Valendrea wusste über Ambrosis und Micheners Meinungsverschiedenheiten Bescheid – er hatte sie sogar ermutigt, denn ein gemeinsamer Feind schmiedet Freundschaften noch fester zusammen. Die nächsten Stunden mochten seinem Freund durchaus enorme Befriedigung verschaffen.
»Ich werde Sie nicht enttäuschen, Heiliger Vater«, sagte Ambrosi leise.
»Nicht um mich soll es Ihnen hier zu tun sein. Wir handeln im Auftrag des Herrn, und es steht viel auf dem Spiel. Ungeheuer viel.«
61
Bamberg, Deutschland
Freitag,1. Dezember
10.00 Uhr
Michener schlenderte durch die gepflasterten Straßen und verstand rasch, wieso Jakob Volkner Bamberg so geliebt hatte. Er selbst war bisher nie in Bamberg gewesen. Volkner war einige wenige Male heimgereist, aber immer allein. Für das kommende Jahr hatten sie eine Papstreise durch mehrere deutsche Städte geplant. Volkner hatte Michener erzählt, wie sehr er sich darauf freute, das Grab seiner Eltern zu besuchen, eine Messe im Dom zu lesen und alte Freunde wiederzusehen. Seine Vorfreude auf diese Reise ließ seinen Selbstmord noch rätselhafter erscheinen, denn die Reiseplanung war zum Zeitpunkt von Clemens’ Tod schon recht weit fortgeschritten gewesen.
Bei Bamberg mündete die rasch fließende Regnitz in den gewundenen Main. Auf der kirchlich dominierten Seite der Regnitz thronten die königliche Residenz, das Kloster und der Dom weithin sichtbar auf den Hügeln. Auf den bewaldeten Hügelkuppen hatten früher einmal die Fürstbischöfe residiert. Am Fuße der Hügel und am anderen Ufer der Regnitz erstreckten sich die eher weltlichen Stadtteile Bambergs; hier hatten schon immer Handel und Finanzen den Ton angegeben. Die symbolische Begegnung dieser beiden Teile Bambergs fand im Fluss statt, wo einfallsreiche Stadtväter vor Jahrhunderten ein Rathaus errichtet hatten, einen mit bunten Fresken geschmückten Fachwerkbau. Das Bamberger Rathaus stand auf einer Insel zwischen den beiden städtischen Bereichen, und die steinerne Brücke, die den Fluss überspannte, teilte das Gebäude und verband die Welten.
Katerina und Michener waren von Rom nach München geflogen und hatten die Nacht in der Nähe des Flughafens verbracht. Früh am Morgen hatten sie einen Leihwagen genommen und waren gute zwei Stunden lang durch Oberbayern und das bergige Franken gefahren. Jetzt standen sie auf dem Maxplatz, wo gerade Wochenmarkt war. An weiteren Ständen waren Vorbereitungen für den Weihnachtsmarkt im Gange, der am Nachmittag öffnen würde. Micheners Lippen waren rissig von der Kälte. Hin und wieder kam die Sonne durch, und der Wind fegte Schnee über den Bürgersteig. Katerina und er waren nicht auf die Kälte vorbereitet gewesen und hatten eben in einem Geschäft Mäntel, Handschuhe und Lederstiefel gekauft. Zu seiner Linken warf die Martinskirche einen langen Schatten über das Gedränge auf dem Platz. Michener hatte sich dafür entschieden, den dortigen Pfarrer nach Irma Rahn zu fragen. Dieser konnte ihnen auf Anhieb weiterhelfen und meinte, die Gesuchte sei vielleicht in der Gangolfskirche zu finden, die einige Straßen weiter nördlich jenseits eines Kanals läge.
Dort trafen sie Irma Rahn tatsächlich an. Unter dem klagenden Blick eines Christus am Kreuz machte sie sich in einer der Seitenkapellen zu schaffen. Es roch nach Weihrauch und einem Hauch von Bienenwachs. Irma Rahn war eine zierliche, kleine Frau mit blassem Teint und feinen Gesichtszügen, die noch immer mühelos erkennen ließen, wie schön sie in jungen Jahren gewesen sein musste. Hätte er nicht gewusst, dass sie auf die achtzig zuging, hätte er geschworen, sie könne nicht älter als Mitte sechzig sein.
Sie sahen der alten Frau zu, die jedes Mal das Knie beugte, wenn sie vor dem Kruzifix vorbeikam. Michener trat vor und passierte ein geöffnetes Türgitter. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn. Mischte er sich in etwas ein, was ihn eigentlich nichts anging? Doch er verwarf diesen Gedanken rasch wieder. Schließlich hatte Clemens selbst ihn hierher geführt.
»Sind Sie Irma Rahn?«, fragte er auf Deutsch.
Sie wandte sich ihm zu. Das silbrige Haar fiel ihr auf die Schultern. Ihre Wangenknochen und die blasse Haut waren frei von Make-up. Das runzlige Kinn war fein und rund, der Blick warm und mitfühlend.
Sie trat auf ihn zu und sagte: »Endlich sind Sie da. Ich habe schon auf Sie gewartet.«
»Woher wissen Sie denn, wer ich bin? Wir sind uns doch nie persönlich begegnet!«
»Aber ich kenne Sie trotzdem.«
»Sie haben mich erwartet?«
»O ja. Jakob hat gesagt, Sie würden kommen. Und er hatte immer Recht … insbesondere, wenn es um Sie ging.«
Plötzlich war es ihm klar. »In seinem Brief. Der Brief, der aus Turin hier eintraf. Darin hat er mich erwähnt?«
Sie nickte.
»Sie haben das, weswegen ich hier bin, oder?«
»Das kommt darauf an. Suchen Sie es für sich selbst oder für jemand anderen?«
Eine sonderbare Frage, und er wägte seine Antwort ab. »Ich komme um meiner Kirche willen.«
Wieder lächelte sie. »Genau diese Antwort hat Jakob vorhergesagt. Er kannte Sie gut.«
Er winkte Katerina herbei und stellte sie vor. Die alte Frau lächelte ihr herzlich zu, und die beiden gaben einander die Hand. »Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen. Jakob sagte, dass Sie vielleicht auch kommen würden.«
62
Vatikanstadt, 10.30 Uhr
Valendrea blätterte das LIGNUM VITAE durch. Der Archivar stand vor ihm. Der Papst hatte den betagten Kardinal aufgefordert, in den dritten Stock zu kommen und den Folianten mitzubringen. Valendrea wollte mit eigenen Augen sehen, was Ngovi und Michener so interessant gefunden hatten.
Er fand den Abschnitt der Prophezeiungen des Malachius, die sich mit Petrus Romanus befassten, am Ende von Arnold Wions achtzehnhundertseitigem Bericht.
Bei ihrer letzten Heimsuchung wird die Heilige Katholische Kirche von Petrus Romanus regiert werden, der seine Herde in großer Drangsal weiden wird, und danach wird in der Stadt der Sieben Hügel der schreckliche Richter alle Menschen richten.
»Glauben Sie wirklich an diesen Quatsch?«, fragte Valendrea den Archivar.
»Sie sind der hundertzwölfte Papst nach Malachius’ Liste. Der letzte von ihm erwähnte Papst, und er hat vorhergesagt, dass Sie den Namen Petrus wählen würden.«
»Dann sieht sich die Kirche also der Apokalypse gegenüber? Danach wird in der Stadt der Sieben Hügel der schreckliche Richter alle Menschen richten. Glauben Sie das etwa? So dumm können Sie doch nicht sein.«
»Rom ist die Stadt der sieben Hügel. Diese Bezeichnung trägt sie von alters her. Übrigens gefällt mir Ihr Ton nicht.«
»Das ist mir vollkommen gleichgültig. Ich möchte einfach nur wissen, was Sie, Ngovi und Michener besprochen haben.«
»Von mir erfahren Sie gar nichts.«
Valendrea deutete auf den Folianten. »Dann sagen Sie mir, warum Sie an diese Prophezeiung glauben.«
»Als wenn meine Meinung irgendetwas zählte.«
Valendrea erhob sich vom Schreibtisch. »Sie zählt viel, Eminenz. Betrachten Sie es als eine letzte Tat für die Kirche. Heute ist doch Ihr letzter Tag, nicht wahr?«
Das Gesicht des alten Mannes ließ nichts von dem Schmerz erkennen, den er ohne Zweifel empfand. Der alte Kardinal hatte Rom fast fünf Jahrzehnte gedient und gewiss seinen Anteil an Freud und Leid erlebt. Doch genau dieser Kardinal hatte die Unterstützung Ngovis im Konklave organisiert – das war gestern offenkundig geworden, als die Kardinäle endlich zu reden begannen –, und er hatte seine Sache wirklich meisterhaft gemacht. Schade, dass er sich nicht für die Seite des Siegers entschieden hatte.
Ähnlich beunruhigend war allerdings die Diskussion der Malachius-Prophezeiungen, die in den letzten Tagen in den Medien aufgekommen war. Valendrea hatte den Archivar im Verdacht, die Information an die Presse gegeben zu haben, obwohl die Reporter keine Namen genannt, sondern nur auf die üblichen gut informierten vatikanischen Kreise verwiesen hatten. Die Prophezeiungen des Malachius waren nichts Neues – Weltuntergangspropheten hatten sich ihrer schon immer bedient –, doch nun begannen auch die Journalisten, Fragen zu stellen. Der hundertzwölfte Papst hatte tatsächlich den Namen Petrus II. angenommen. Wie konnte ein Mönch im elften Jahrhundert oder ein Chronist im sechzehnten Jahrhundert so etwas vorhergesehen haben? Zufall? Vielleicht, doch es war wirklich seltsam.
Das fand auch Valendrea. Manch einer würde behaupten, der Papst hätte sich in Kenntnis von Wions Aufzeichnungen für diesen Namen entschieden. Doch Valendrea hatte von Anfang an zu Petrus tendiert, schon damals, als er sich entschlossen hatte, die Papstwürde anzustreben. Er hatte nie jemandem davon erzählt, nicht einmal Ambrosi. Und er hatte die Prophezeiungen des Malachius niemals gelesen.
Er starrte den Archivar an und erwartete die Antwort auf seine Frage. Schließlich erklärte der Kardinal: »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Dann sollten Sie sich vielleicht einmal Gedanken darüber machen, wo das fehlende Dokument zu finden sein könnte.«
»Ich weiß von keinem fehlenden Dokument. Alles, was verzeichnet ist, ist auch da.«
»Dieses Dokument findet sich nicht in Ihrem Verzeichnis. Clemens hat es in die Riserva gebracht.«
»Ich trage keine Verantwortung für Dinge, von deren Existenz ich nichts weiß.«
»Wirklich? Dann sagen Sie mir doch einmal, was Sie wissen. Was wurde bei Ihrem Treffen mit Kardinal Ngovi und Monsignore Michener besprochen?«
Der Archivar schwieg.
»Aus Ihrem Schweigen muss ich schließen, dass es um das abhanden gekommene Dokument ging und dass Sie mit seinem Verschwinden zu tun haben.«
Der Papst wusste, dass dieser Vorstoß den alten Mann tief treffen musste. Als Archivar hatte er die Pflicht, die Schriften der Kirche zu bewahren. Wenn eine davon abhanden gekommen war, würde das seine Amtszeit für immer beflecken.
»Ich habe nie etwas anderes getan, als die Riserva auf Befehl Seiner Heiligkeit, Clemens XV., zu öffnen.«
»Das glaube ich Ihnen auch, Eminenz. Ich glaube, dass Clemens das Dokument selbst entfernt hat. Heimlich. Und ich möchte es einfach wiederfinden.« Er schlug einen versöhnlicheren Ton an, um zu zeigen, dass er die Erklärung des Archivars akzeptierte.
»Auch ich möchte …«, begann der Archivar, stockte aber dann, als könnte er zu viel sagen.
»Fahren Sie fort, Eminenz.«
»Falls wirklich etwas fehlt, bin ich nicht weniger schockiert als Sie. Aber ich habe keine Ahnung, wann der Verlust eingetreten ist oder wo das gesuchte Dokument sich befinden könnte.« Sein Tonfall machte deutlich, dass er bei dieser Erklärung bleiben würde.
»Wo ist Michener?« Die Antwort auf diese Frage meinte Valendrea schon zu kennen. Doch es konnte nicht schaden, wenn er sich noch einmal vergewisserte, dass Ambrosi nicht auf der falschen Fährte war.
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Archivar, ein leises Beben in der Stimme.
Jetzt stellte Valendrea ihm die Frage, um die es ihm wirklich ging: »Und was ist mit Ngovi? Was hat er vor?«
Dem Archivar schien etwas klar zu werden: »Sie fürchten ihn, nicht wahr?«
Valendrea blieb ungerührt. »Ich fürchte niemanden, Eminenz. Ich habe mich nur gefragt, warum der Camerlengo sich derart für Fatima interessiert.«
»Das habe ich niemals behauptet.«
»Aber Sie haben gestern bei Ihrem Treffen darüber gesprochen, oder?«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
Valendrea ließ seinen Blick scheinbar gleichgültig über den Folianten wandern. »Eminenz, ich habe Sie des Amtes enthoben. Ich könnte Sie aber mühelos wieder einsetzen. Würden Sie nicht gerne bis zu Ihrem Tode als Kardinal-Archivar der katholischen Kirche hier im Vatikan bleiben? Möchten Sie nicht miterleben, wie das abhanden gekommene Dokument wieder hierher zurückfindet? Sind Ihre Pflichten Ihnen nicht wichtiger als Ihre persönliche Meinung über mich?«
Der alte Mann scharrte mit den Füßen, sein Schweigen mochte ein Hinweis darauf sein, dass er über den Vorschlag des Papstes nachdachte.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er schließlich.
»Sagen Sie mir, wohin Hochwürden Michener aufgebrochen ist.«
»Man teilte mir heute Morgen mit, er sei nach Bamberg abgereist.« Die Stimme des Archivars klang resigniert.
»Dann haben Sie mich also angelogen?«
»Sie fragten, ob ich weiß, wo Monsignore Michener sich befindet. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was man mir gesagt hat.«
»Und was bezweckt er mit seiner Reise?«
»Das gesuchte Dokument könnte sich dort befinden.«
Valendrea wollte noch etwas wissen. »Und Ngovi?«
»Er wartet auf Hochwürden Micheners Anruf.« Valendreas bloße Hand krallte sich in die Seiten des Folianten. Er trug keine Handschuhe, doch was spielte das noch für eine Rolle? Morgen schon würde von dem Buch nur noch Asche übrig sein. Jetzt kam er zum entscheidenden Punkt: »Ngovi erwartet eine Antwort darauf, was in dem verschwundenen Dokument steht?«
Der alte Mann nickte, als schmerze es ihn, ehrlich zu sein. »Die beiden wollen wissen, was Ihnen anscheinend längst bekannt ist.«