Dritter Teil

30

9.00 Uhr

 

Michener beobachtete die Landung des Vatikan-Helikopters vom Schlafzimmerfenster aus. Er hatte Clemens seit der schrecklichen Entdeckung keinen Moment allein gelassen und mit dem Telefon auf Clemens Nachttisch Kardinal Ngovi in Rom angerufen.

Der Afrikaner hatte ja das Amt des Camerlengos inne, des Kardinal-Kämmerers der Heiligen Römischen Kirche, und war damit die erste Person, die nach dem Tod eines Papstes zu informieren war. Nach kanonischem Recht lag die Verwaltung der Kirche während der Sedisvakanz, also der Zeit, in der der Papststuhl nicht besetzt war, in seinen Händen. Unter Ngovis Leitung würde das Heilige Kardinalskollegium in den nächsten Wochen zu Generalkongregationen zusammentreten und die Generalverwaltung des Vatikans sicherstellen. Dort würde man die Bestattung organisieren und das kommende Konklave vorbereiten. Als Camerlengo hatte Ngovi päpstliche Autorität, zwar nur als Stellvertreter, aber dennoch unbestreitbar. Michener freute sich darüber. Irgendjemand würde Alberto Valendrea schließlich im Zaum halten müssen.

Die Rotorblätter des Hubschraubers standen endlich still, und die Kabinentür glitt auf. Ngovi stieg als Erster aus, gefolgt von Valendrea. Beide trugen Purpur, die Kleidung für feierliche Anlässe. Als Kardinalstaatssekretär war Valendreas Anwesenheit erforderlich. Zwei weitere Bischöfe folgten Valendrea, zusammen mit dem Leibarzt des Papstes, den Michener eigens hatte herbitten lassen. Er hatte Ngovi nichts von den Umständen des Todes erzählt. Auch den Bediensteten in der Papstvilla hatte er nichts davon gesagt, sondern der Nonne und dem Hausdiener nur aufgetragen, dafür zu sorgen, dass keiner das Zimmer betrat.

Drei Minuten vergingen, dann öffnete sich die Tür, und die beiden Kardinäle und der Arzt traten ein. Ngovi schloss die Tür und legte den Riegel vor. Der Arzt trat zum Bett und untersuchte Clemens. Michener hatte alles genauso zurückgelassen, wie er es vorgefunden hatte. Auch Clemens Notebook lief noch, und das Modemkabel steckte noch immer in der Telefonbuchse. Auf dem Monitor leuchtete Clemens persönlicher Bildschirmschoner eine Tiara mit zwei überkreuzten Schlüsseln.

»Berichten Sie, was geschehen ist«, sagte Ngovi und legte eine schwarze Tasche auf das Bett.

Michener erklärte, wie er den Papst vorgefunden hatte, und zeigte dann auf den Nachttisch. Den beiden Kardinälen war das Tablettenfläschchen bisher entgangen. »Es ist leer.«

»Wollen Sie behaupten, der Pontifex der katholischen Kirche habe sich das Leben genommen?«, fragte Valendrea.

Michener war nicht in der Stimmung zu streiten. »Ich behaupte gar nichts. Nur, dass in diesem Fläschchen vor kurzem noch dreißig Tabletten waren.«

Valendrea wandte sich an den Arzt. »Wie sehen Sie das, Herr Doktor?«

»Er ist schon eine Weile tot. Fünf oder sechs Stunden, vielleicht länger. Es gibt keinen Hinweis auf eine Verletzung und nichts, was auf einen Herzstillstand deuten ließe. Dem ersten Anschein nach scheint er im Schlaf gestorben zu sein.«

»Könnten es die Tabletten gewesen sein?«, fragte Ngovi.

»Das lässt sich nur durch eine Autopsie feststellen.«

»Das kommt nicht in Frage«, erklärte Valendrea.

Michener widersprach dem Staatssekretär: »Wir müssen Bescheid wissen.«

»Wir müssen überhaupt nichts wissen.« Valendrea hob die Stimme. »Und es ist tatsächlich das Beste, nichts zu wissen. Vernichten Sie den Tablettenbehälter. Können Sie sich die Auswirkungen vorstellen, wenn bekannt wird, dass der Papst sich das Leben genommen hat? Allein schon ein Gerücht könnte der Kirche nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügen.«

Michener hatte sich das selbst schon überlegt, war aber fest entschlossen, seine Sache besser zu machen als die Verantwortlichen im Jahr 1978, als Johannes Paul I. nach nur dreiunddreißig Tagen im Amt plötzlich gestorben war. Die Gerüchte und Fehlinformationen im Anschluss an dieses Geschehen die eigentlich nur die Tatsache kaschieren sollten, dass eine Nonne und kein Priester die Leiche entdeckt hatte hatten zahlreiche Verschwörungstheorien über einen Papstmord geschürt.

»Einverstanden«, räumte Michener ein. »Man kann einen solchen Selbstmord nicht öffentlich machen. Aber wenigstens wir sollten die Wahrheit wissen.«

»Damit wir dann lügen können?«, fragte Valendrea. »Besser, wir wissen gar nichts.«

Dass ausgerechnet Valendrea Bedenken wegen einer Lüge hatte. Doch Michener hielt den Mund.

Ngovi wandte sich an den Arzt: »Würde eine Blutprobe genügen?«

Der Arzt nickte.

»Dann nehmen Sie eine.«

»Dazu haben Sie kein Recht«, donnerte Valendrea. »Das muss mit dem Kardinalskollegium abgestimmt werden. Sie sind nicht der Papst.«

Ngovis Miene blieb ausdruckslos. »Ich jedenfalls möchte wissen, wie dieser Mann gestorben ist. Seine unsterbliche Seele ist mir wichtig.« Ngovi sah den Arzt direkt an. »Machen Sie den Test bitte persönlich, und vernichten Sie dann die Blutprobe. Teilen Sie das Ergebnis keinem außer mir mit. Haben Sie das verstanden?«

Der Mann nickte.

»Sie nehmen sich zu viel heraus, Ngovi«, schimpfte Valendrea.

»Bringen Sie die Sache vors Kardinalskollegium.«

Valendrea stand vor einem Dilemma. Er konnte Ngovi nicht selbst ausbremsen, aber aus nahe liegenden Gründen konnte er sich auch nicht an das Kardinalskollegium wenden. Also war der Toskaner klug und hielt den Mund. Vielleicht, dachte Michener nervös, würde er es Ngovi irgendwann umso schlimmer heimzahlen.

Ngovi öffnete die schwarze Tasche, die er mitgebracht hatte, und holte einen silbernen Hammer heraus. Damit trat er ans Kopfende des Bettes. Michener wusste, dass es zu den Pflichten des Camerlengos gehörte, dieses Ritual durchzuführen, wie sinnlos es inzwischen auch sein mochte.

Ngovi klopfte Clemens leicht mit dem Hammer gegen die Stirn und stellte die Frage, die seit Jahrhunderten jeder Leiche eines Papstes gestellt wurde: »Jakob Volkner, schlafen Sie?«

Es verstrich eine ganze Minute, dann stellte Ngovi die Frage erneut. Nach einer weiteren Minute des Schweigens stellte er sie ein drittes Mal.

Dann verkündete Ngovi die rituellen Worte: »Der Papst ist tot.«

Ngovi hob Clemens rechte Hand hoch. Am Ringfinger steckte der Fischerring.

»Seltsam«, bemerkte Ngovi. »Normalerweise trug Clemens den Ring nicht.«

Das konnte Michener nur bestätigen. Der schwere Goldring war eher ein Petschaft denn ein Schmuckstück. Darauf war der Heilige Petrus als Fischer abgebildet, und den Rand entlang lief Clemens Name und der Tag seiner Papsterhebung. Er war Clemens nach dem letzten Konklave vom damaligen Camerlengo an den Finger gesteckt worden und diente zum Versiegeln päpstlicher Briefe. Wirklich getragen wurde der Papstring nur selten, und Clemens hatte seinen fast nie an der Hand gehabt.

»Vielleicht wusste er, dass wir danach suchen würden«, bemerkte Valendrea.

Michener sah es ebenso. Es wirkte geplant. Und das wiederum sah Jakob Volkner ungemein ähnlich.

Ngovi zog dem Verstorbenen den Ring vom Finger und legte ihn in einen schwarzen Samtbeutel. Später würde er vor den versammelten Kardinälen Ring und Bleisiegel des Papstes mit dem Hammer zerschmettern. So war ausgeschlossen, dass jemand vor der Wahl des nächsten Papstes noch irgendwelche Dokumente mit dem Papstsiegel versah.

»So«, sagte Ngovi.

Michener wurde klar, dass die Machtübergabe damit vollendet war. Die vierunddreißig Monate währende Papstzeit Clemens XV. 267. Nachfolger des Heiligen Petrus, erster deutscher Papst seit neunhundert Jahren, war vorüber. Und ab sofort war auch er selbst nicht mehr der Privatsekretär des Papstes. Er war nur noch ein Monsignore, der vorübergehend noch im Dienst des Camerlengos der Heiligen Römischen Kirche stand.

 

Katerina eilte durch den Leonardo Da Vinci Flughafen zum Schalter der Lufthansa. Sie hatte einen Flug um ein Uhr nach Frankfurt gebucht. Wohin es von dort aus gehen würde, wusste sie noch nicht, aber darüber würde sie sich morgen oder übermorgen Gedanken machen. Hauptsache, Tom Kealy und Colin Michener waren Vergangenheit. Es wurde Zeit, dass sie endlich etwas aus sich machte. Der Verrat an Michener belastete sie sehr, doch da sie mit Valendrea keinen Kontakt mehr gehabt und Ambrosi herzlich wenig erzählt hatte, war der Verrat vielleicht doch verzeihlich.

Sie war froh, die Zeit mit Kealy hinter sich zu haben, und sie bezweifelte, dass der Ex-Priester noch einen Gedanken an sie verschwendete. Es ging steil aufwärts mit ihm, da brauchte er niemanden, der sich an ihm festklammerte. Genau so fühlte sie sich nämlich. Gewiss, er hatte jemanden gebraucht, der die ganze Arbeit machte, für die er dann den Lohn kassierte, aber gewiss würde er irgendeine andere Frau für diese Rolle finden.

Es war ziemlich viel los im Terminal, aber irgendwann fiel ihr auf, dass sich um die Fernsehbildschirme, die an verschiedenen Stellen aus dem Gewühl herausragten, größere Menschenmengen ansammelten. Außerdem sah sie, dass einige Frauen weinten. Schließlich fiel ihr Blick auf einen dieser Bildschirme. Man sah den Petersplatz von oben. Sie schob sich näher an den Monitor heran und hörte: »Hier herrscht tiefe Trauer. Clemens XV. Tod trifft alle, die diesen Papst liebten. Er wird uns fehlen.«

»Der Papst ist tot?«, fragte sie laut.

Eine Frau im Wollmantel antwortete: »Er ist gestern Nacht in Castel Gandolfo im Schlaf gestorben. Gott sei seiner Seele gnädig.«

Sie fühlte sich überrumpelt. Ein Mann, den sie seit Jahren hasste, war nicht mehr. Sie hatte ihn nie wirklich kennen gelernt Michener hatte einmal versucht, sie einander vorzustellen, doch sie hatte das abgelehnt. Damals war Jakob Volkner Erzbischof von Köln, und sie sah alles in ihm, was sie an der organisierten Religion verabscheute ganz zu schweigen von dem Tauziehen um Colin Micheners Gewissen. Sie hatte verloren und das Volkner niemals verziehen. Sie hasste ihn nicht für das, was er getan oder unterlassen hatte, sondern weil er ein Symbol ihres Verlusts war.

Jetzt war er tot. Und Michener gewiss am Boden zerstört.

Ein Teil von ihr wollte noch immer zum Flugschalter und dann nach Deutschland. Michener würde darüber hinwegkommen. Doch bald würde ein neuer Papst gewählt werden. Neue Berufungen würden folgen. Eine frische Welle von Priestern, Bischöfen und Kardinälen würde nach Rom strömen. Sie wusste genug über die Politik im Vatikan, um klar zu sehen, dass es mit Clemens Vertrauten vorbei war. Deren Karriere war vorüber.

Nun, das war nicht ihr Problem. Doch ein anderer Teil von ihr sah das ganz anders. Vielleicht war es wirklich schwer, alte Gewohnheiten zu durchbrechen.

Sie drehte sich um, das Gepäck in Händen, und verließ den Terminal.

31

Castel Gandolfo, 14.30 Uhr

 

Valendrea betrachtete die versammelten Kardinäle. Die Stimmung war angespannt, und viele gingen ungewöhnlich nervös im Raum auf und ab. Im Salon der Papstvilla befanden sich vierzehn Männer, überwiegend Kurienkardinäle oder Kardinäle mit einem Sitz in der Umgebung von Rom. Sie waren als Erste dem Ruf gefolgt, der vor drei Stunden an alle 160 Mitglieder des Heiligen Kollegiums ergangen war: CLEMENS XV. IST TOT, KOMMEN SIE SOFORT NACH ROM. Wer sich in einem Umkreis von hundert Kilometern zum Vatikan befand, hatte außerdem die Aufforderung erhalten, sich um 14 Uhr in Castel Gandolfo einzufinden.

Das Interregnum hatte begonnen, jene Zeitspanne zwischen dem Tod eines Papstes und der Wahl seines Nachfolgers, eine Phase der Ungewissheit, in der die päpstliche Macht darniederlag. In früheren Jahrhunderten hatten Kardinäle in dieser Situation zugegriffen und sich die Stimmen der Papstwähler durch Bestechung oder Erpressung gesichert. Valendrea tat es Leid um diese Zeiten. Sieger sollte immer der Stärkste sein. Für die Schwachen gab es ganz oben keinen Platz. Heutzutage ging es bei den Papstwahlen jedoch viel gemäßigter zu. Inzwischen schlug man die Schlachten mit den Waffen der Fernsehkamera und der Meinungsumfrage. Die Beliebtheit des Papstes schien bei der Wahl eine größere Rolle zu spielen als die Fähigkeiten, die er für das Amt mitbrachte. Und das erklärte nach Valendreas Meinung besser als alles andere, warum Jakob Volkner in das Amt gelangt war.

Nun, Valendrea war mit der bisherigen Entwicklung trotz allem durchaus zufrieden. Fast alle Männer, die bis jetzt eingetroffen waren, gehörten zu seinen Unterstützern. Für einen frühen Wahlsieg im Konklave würde er eine Zweidrittelmehrheit benötigen, und dazu reichte es auch nach seiner jüngsten Berechnung noch nicht, doch ihm und Ambrosi sollte es mit Hilfe ihrer Abhörprotokolle wohl gelingen, sich die notwendige Unterstützung in den nächsten zwei Wochen zu sichern.

Valendrea wusste nicht, was Ngovi der Versammlung mitteilen würde. Seit der Diskussion in Clemens Schlafzimmer hatte er nicht mehr mit dem Camerlengo gesprochen. Er konnte nur hoffen, dass der Afrikaner seinen gesunden Menschenverstand benutzte. Ngovi stand an der Längsseite des langen Raums vor einem eleganten Kamin aus weißem Marmor. Auch die anderen Kardinäle standen.

»Eminenzen«, begann Ngovi, »ich werde noch heute meine Helfer bei der Planung der Bestattung und des Konklaves bestimmen. Ich halte es für wichtig, dass wir uns aufs Würdevollste von Clemens verabschieden. Die Menschen haben ihn geliebt und sollten Gelegenheit erhalten, ihm angemessen Lebewohl zu sagen. Daher werden wir heute auch alle der Leiche persönlich das Geleit nach Rom geben. Im Petersdom wird anschließend eine Messe gelesen.«

Viele der Kardinäle nickten.

»Weiß man, woran der Heilige Vater gestorben ist?«, fragte einer der Kardinäle.

Ngovi sah dem Fragensteller ins Gesicht: »Das wird gerade untersucht.«

»Gibt es irgendein Problem?«, fragte ein anderer.

Ngovi hielt die Stellung. »Es sieht so aus, als wäre er friedlich entschlafen. Aber ich bin kein Arzt. Sein Leibarzt wird die Todesursache untersuchen. Wir alle wissen jedoch, dass der Gesundheitszustand des Heiligen Vaters angegriffen war. Dies hier kommt also nicht völlig unerwartet.«

Valendrea war mit Ngovis Erklärungen sehr zufrieden. Andererseits beunruhigte ihn dessen Autorität. Ngovi hatte zur Zeit das Sagen, und er schien diese Tatsache zu genießen. Schon vor einigen Stunden hatte der Afrikaner den päpstlichen Zeremonienmeister und die Apostolische Kammer angewiesen, die Leitung der Kurie zu übernehmen, wie das während der Sedisvakanz traditionell vorgesehen war. Als er die Wächter angewiesen hatte, ohne seine ausdrückliche Erlaubnis niemanden, und nicht einmal die Kardinäle, einzulassen, hatte er auch in Castel Gandolfo das Kommando übernommen. Darüber hinaus hatte er die Papstwohnung im Apostolischen Palast versiegeln lassen.

Er hatte sich mit der vatikanischen Pressestelle kurzgeschlossen, die Veröffentlichung einer schon vorbereiteten Erklärung zu Clemens Tod veranlasst und drei Kardinäle als zuständige Ansprechpartner für die Medien bestimmt. Alle anderen hatten Anweisung erhalten, Interviews abzulehnen. Die diplomatischen Vertreter des Vatikans wurden aufgefordert, die Presse zu meiden, den Kontakt zu den jeweiligen Staatsoberhäuptern jedoch zu suchen. Aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Spanien waren bereits Beileidsnoten eingetroffen.

All diese Maßnahmen gehörten in den Aufgabenbereich des Camerlengos, und so konnte Valendrea nichts dagegen einwenden. Aber das Letzte, was er brauchte, war ein Kardinalskollegium, das sich auf Ngovis innere Kraft stützte. Zwar waren seit Beginn der Neuzeit nur zwei Camerlengos zu Päpsten gewählt worden, so dass man diese Stellung nicht als Trittbrett für die Papstwürde betrachten konnte. Doch leider verhielt es sich mit dem Staatssekretariat nicht anders.

»Wird das Konklave pünktlich beginnen?«, fragte ein Kardinal aus Venedig.

»In fünfzehn Tagen«, antwortete Ngovi. »Wir werden rechtzeitig bereit sein.«

Nach den von Johannes Paul II. in der Apostolischen Konstitution erlassenen Regeln war dies der frühestmögliche Termin für den Beginn eines Konklaves. Der Bau des Domus Sanctae Marthae, eines geräumigen, hotelähnlichen Gebäudes, das normalerweise von Seminaristen bewohnt wurde, hatte die Last der Vorbereitungen beträchtlich verringert. Nun musste nicht mehr jeder verfügbare Winkel in ein improvisiertes Quartier umgewandelt werden, und Valendrea war froh über diese Veränderung. Die neuen Unterkünfte waren wenigstens bequem. Zum ersten Mal hatten die Kardinäle das Gebäude während des Konklaves bezogen, aus dem Clemens als Papst hervorgegangen war, und Ngovi hatte bereits angeordnet, dass die Räume für die wahlberechtigten 113 Kardinäle unter achtzig Jahren vorbereitet werden sollten.

»Kardinal Ngovi«, sprach Valendrea den Afrikaner an. »Wann wird der Totenschein ausgestellt?« Er hoffte, dass nur Ngovi die wahre Bedeutung dieser Frage verstand.

»Ich habe den Zeremonienmeister sowie die Prälaten, den Sekretär und den Kanzler der Apostolischen Kammer heute Abend in den Vatikan einbestellt. Bis dahin wird die Todesursache festgestellt sein.«

»Wird eine Autopsie durchgeführt?«, fragte einer der Kardinäle.

Valendrea wusste, dass das ein kritisches Thema war. Bisher war erst ein einziger Papst einer Autopsie unterzogen worden, und zwar um die Frage zu klären, ob er von Napoleon vergiftet worden war. Bei Johannes Pauls I. unerwartetem Tod war eine Post-mortem-Untersuchung im Gespräch gewesen, doch die Kardinäle hatten Bemühungen in diese Richtung unterdrückt. Die jetzige Situation war jedoch anders. Damals war es um Päpste gegangen, von denen der eine unter verdächtigen Umständen gestorben war und der andere unerwartet. Clemens Tod kam dagegen nicht unerwartet. Er war bei seiner Wahl vierundsiebzig gewesen und letztendlich hatten die meisten Kardinäle ihn einfach deshalb gewählt, weil er nicht mehr lange leben würde.

»Es wird keine Autopsie geben«, antwortete Ngovi schlicht.

Sein Tonfall ließ erkennen, dass er in diesem Punkt nicht mit sich reden lassen würde. Normalerweise hätte Valendrea ihm diese Anmaßung übel genommen, diesmal jedoch nicht. Er seufzte erleichtert auf. Offensichtlich hatte sein Gegner beschlossen, das Spiel mitzuspielen, und zum Glück stellte keiner der Kardinäle seine Entscheidung in Frage. Einige warfen einen Blick in Valendreas Richtung, als erwarteten sie eine Reaktion von seiner Seite. Als er schwieg, wurde es als Zeichen aufgefasst, dass der Staatssekretär mit der Entscheidung des Camerlengos einverstanden war.

Abgesehen von den theologischen Implikationen eines päpstlichen Selbstmordes war Valendrea auch nicht auf eine Welle des Mitgefühls für Clemens erpicht. Es war kein Geheimnis, dass der Papst und er sich nicht verstanden hatten. Die Presse könnte indiskrete Fragen stellen, und er wollte nicht als der Mann dastehen, der den Papst in den Tod getrieben hatte. Die um ihre Karriere besorgten Kardinäle würden dann vielleicht einen anderen wählen, Ngovi zum Beispiel, und dieser würde Valendrea mit Sicherheit aller Funktionen entheben Abhörprotokolle hin oder her. Beim letzten Konklave hatte Valendrea gelernt, die Macht einer Koalition niemals zu unterschätzen. Zum Glück hatte Ngovi das Wohl der Kirche offensichtlich höher bewertet als diese wunderbare Gelegenheit, seinen Hauptkonkurrenten auszuschalten. Valendrea war froh über diese Schwäche. Im umgekehrten Fall hätte er bestimmt keine Rücksicht genommen.

»Ich habe noch eine Mahnung an Sie«, sagte Ngovi.

Wiederum konnte Valendrea nichts dagegen einwenden. Es kam ihm so vor, als genösse der Bischof von Nairobi seine selbst auferlegte Zurückhaltung.

»In zwei Wochen wird man uns in der Sixtinischen Kapelle einschließen, und ich möchte bei dieser Gelegenheit jedem von Ihnen den Eid in Erinnerung rufen, im Vorfeld mit niemandem über das Konklave zu sprechen. Es wird keine Wahlkampagne geben, keine Interviews. Jeder von Ihnen wird sich mit seiner Meinung zurückhalten«

»Ich brauche keinen Vortrag«, stellte einer der Kardinäle klar.

»Sie vielleicht nicht. Aber einige unter uns durchaus.«

Mit diesen Worten verließ Ngovi den Saal.

32

15.00 Uhr

 

Michener saß auf einem Stuhl neben dem Schreibtisch und sah zu, wie zwei Nonnen Clemens Leiche wuschen. Der Arzt hatte seine Untersuchung vor Stunden abgeschlossen und war mit der Blutprobe nach Rom zurückgekehrt. Kardinal Ngovi hatte inzwischen angeordnet, dass keine Autopsie gemacht würde, und da Castel Gandolfo zum Vatikan gehörte, also souveränes Territorium eines unabhängigen Staates war, würde niemand diese Entscheidung in Frage stellen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen galt hier das kanonische und nicht das italienische Recht.

Es war merkwürdig, die nackte Leiche eines Mannes anzusehen, den er länger als ein Vierteljahrhundert gekannt hatte. Er dachte an die lange Zeit ihrer Freundschaft zurück. Clemens hatte ihm damals geholfen, sich darüber klar zu werden, dass sein leiblicher Vater einfach mehr an sich selbst als an sein Kind gedacht hatte. Er hatte ihm erklärt, welche Moralvorstellungen damals die irische Gesellschaft beherrscht hatten und welchem Druck seine leibliche Mutter als ledige Frau mit Sicherheit ausgesetzt gewesen war. Wie kannst du ihr einen Vorwurf machen?, hatte Volkner gefragt. Und Michener hatte es eingesehen. Wenn er ihr weiterhin grollte, trübte das nur das Andenken an all das Gute, was seine Adoptiveltern für ihn getan hatten. So hatte er schließlich seinen Zorn abgelegt und der Mutter und dem Vater vergeben, die er niemals kennen gelernt hatte.

Jetzt betrachtete er die Leiche des Mannes, der ihn das Verzeihen gelehrt hatte. Er war hier, weil das Protokoll die Anwesenheit eines Geistlichen verlangte. Normalerweise erfüllte der päpstliche Zeremonienmeister diese Pflicht, doch jener Monsignore war verhindert. Daher hatte Ngovi Michener als Ersatzmann einbestellt.

Er stand auf und ging vor der Balkontür auf und ab. Die Nonnen wuschen Clemens fertig, und die Bestattungsfachleute trafen ein. Sie waren für Roms größte Leichenhalle zuständig und balsamierten seit Paul VI. die Päpste ein. Sie hatten fünf Flaschen einer rosa Flüssigkeit dabei und stellten sie vorsichtig auf den Boden.

Einer der Bestatter trat zu Michener. »Vielleicht würden Sie lieber draußen warten, Hochwürden. Für jemanden, der nicht daran gewöhnt ist, ist das kein angenehmer Anblick.«

Kurz entschlossen trat er in den Korridor, wo er auf Kardinal Ngovi stieß.

»Sind sie da?«, fragte Ngovi.

»Das italienische Gesetz verlangt eine vierundzwanzigstündige Frist vor dem Einbalsamieren. Das wissen Sie. Wir mögen uns hier zwar auf vatikanischem Staatsgebiet befinden, wie wir schon festgestellt haben, aber die Italiener würden doch erwarten, dass wir warten.«

Ngovi nickte. »Ich verstehe, aber der Arzt hat aus Rom angerufen. Jakob war mit Schlafmitteln voll gepumpt. Das sagt die Blutanalyse. Es war also Selbstmord, Colin. Kein Zweifel. Ich kann nicht zulassen, dass ein Beweis zurückbleibt. Der Arzt hat die Blutprobe vernichtet. Er kann und will nichts mehr enthüllen.«

»Und die Kardinäle?«

»Sie werden hören, dass Clemens einen Herzstillstand erlitten hat. Das wird auch auf dem Totenschein stehen.«

Er bemerkte die Anspannung in Ngovis Gesicht. Das Lügen fiel diesem Mann nicht leicht.

»Wir haben keine Wahl, Colin. Er muss einbalsamiert werden. Das italienische Gesetz kann mir gestohlen bleiben.«

Michener fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es war ein langer Tag gewesen, und er war noch immer nicht vorbei. »Ich weiß, dass etwas ihn beunruhigt hat, aber nichts wies darauf hin, dass es so schlimm um ihn stand. Wie war er während meiner Abwesenheit?«

»Er war wieder in der Riserva. Man berichtete mir, dass Valendrea ihn dort aufgesucht hat.«

»Ich weiß.« Michener berichtete Ngovi, was Clemens ihm mitgeteilt hatte. »Er hat ihm den Inhalt von Hochwürden Tibors Brief gezeigt. Aber er wollte mir nicht sagen, was darin stand.« Dann erzählte er Ngovi mehr von Tibor und berichtete, wie der Papst auf die Nachricht vom Tod des Bulgaren reagiert hatte.

Ngovi schüttelte den Kopf. »Ich hätte niemals erwartet, dass seine Papstzeit auf diese Weise endet.«

»Wir müssen dafür sorgen, dass man seiner im Guten gedenkt.«

»Das werden wir. Und selbst Valendrea wird mitspielen.«

Ngovi zeigte zur Tür. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand die frühe Einbalsamierung in Frage stellt. Nur vier Menschen kennen die Wahrheit, und auch wenn einer von uns sich entschließt, sein Schweigen zu brechen, sind dann längst alle Beweise vernichtet. Außerdem mache ich mir da keine Sorgen. Der Arzt ist an seine gesetzliche Schweigepflicht gebunden, wir beide lieben den Verstorbenen, und Valendrea weiß, was gut für ihn ist. Das Geheimnis ist also sicher.«

Die Schlafzimmertür ging auf, und einer der Bestatter kam heraus. »Wir sind beinahe fertig.«

»Werden die Körperflüssigkeiten des Papstes verbrannt?«, fragte Ngovi.

»So halten wir es seit jeher. Unser Unternehmen ist stolz darauf, dem Heiligen Stuhl zu Diensten zu sein. Sie können sich auf uns verlassen.«

Ngovi bedankte sich, und der Mann kehrte ins Schlafzimmer zurück.

»Und jetzt?«, fragte Michener.

»Seine Papstkleidung ist aus Rom gebracht worden. Wir beide werden ihn zur Bestattung einkleiden.«

Michener verstand die Bedeutung dieser Geste und sagte: »Ich glaube, das hätte ihm gefallen.«

 

Die Wagenkolonne fuhr langsam durch die verregneten Straßen Richtung Vatikan. Sie hatten für die rund zwanzig Kilometer von Castel Gandolfo beinahe eine Stunde gebraucht, da der Weg von Tausenden von Trauernden gesäumt war. Michener fuhr mit Ngovi im dritten Fahrzeug, die anderen Kardinäle wurden in Wagen chauffiert, die man eilig aus dem Vatikan hatte kommen lassen. Voran fuhr ein Leichenwagen. Darin lag Clemens Leiche aufgebahrt, bekleidet mit den Papstgewändern und der Papstkrone und so beleuchtet, dass die Gläubigen ihn sehen konnten. Jetzt, kurz vor achtzehn Uhr, schien es, als wären alle Römer auf den Bürgersteigen versammelt, und die Polizei musste die Straßen freihalten, damit die Wagen durchkamen.

Der Petersplatz war gerammelt voll, doch zwischen einem Meer von Regenschirmen war eine Gasse freigehalten worden, die sich zwischen den Kolonnaden zum Dom durchwand. Das Weinen und Klagen tönte hinter den Wagen her. Viele der Trauernden warfen Blumen auf die Motorhauben, so viele, dass sie irgendwann fast den Blick durch die Windschutzscheibe verdeckten. Einer der Sicherheitsleute wischte den Haufen irgendwann einfach herunter, doch kurz darauf lag ein neuer da.

Die Wagen durchführen das Glockentor und ließen die Menge hinter sich zurück. Nach der Piazza dei Protomartiri umrundete die Prozession die Sakristei des Petersdoms und fuhr zu einem Hintereingang der Basilika. Hier, hinter sicheren Mauern und nach oben durch ein Überflugverbot geschützt, konnte man Clemens Leiche für die dreitägige öffentliche Zurschaustellung bereitmachen.

Ein sanfter Regen tauchte die Gärten in einen nebligen Schleier. Die Straßenlaternen leuchteten verschwommen wie die Sonne durch eine dichte Wolkendecke.

Michener versuchte sich vorzustellen, was jetzt gerade in den umliegenden Gebäuden geschah. In der Werkstatt der Sampietrini wurde ein dreifacher Sarg gefertigt innen Bronze, danach Zedernholz und als letzte Schicht Zypressenholz. Im Petersdom hatte man inzwischen schon einen Katafalk aufgebaut. Er wurde von einer einsamen Kerze beleuchtet und erwartete die Leiche, die in den nächsten Tagen auf ihm ruhen würde.

Während der langsamen Prozession über den Petersplatz hatte Michener Fernsehteams bemerkt, die Kameras auf der Balustrade anbrachten. Die besten Plätze zwischen den 162 Statuen waren gewiss schon vergeben. In der Pressestelle des Vatikans war der Belagerungszustand ausgebrochen. Michener hatte dort während der letzten Papstbestattung ausgeholfen, und er konnte sich die Tausende von Anfragen vorstellen, die dort in den nächsten Tagen eintreffen würden. Bald würden sich Staatsmänner aus aller Welt einfinden, denen man Legaten an die Seite stellen müsste. Der Heilige Stuhl war stolz darauf, das Protokoll selbst im Angesicht unbeschreiblicher Trauer strikt zu beachten. Die Verantwortung für die erfolgreiche Umsetzung dieser Aufgabe lag bei dem Kardinal mit der sanften Stimme, der an Micheners Seite saß.

Die Wagen hielten, und die Kardinäle versammelten sich um den Leichenwagen. Jeder der Kirchenführer wurde von einem Priester mit Regenschirm begleitet. Die Kardinäle trugen ihre schwarzen Soutanen mit den roten Schärpen. Am Eingang des Doms stand eine Schweizer Ehrengarde in zeremonieller Uniform. In den kommenden Tagen würde Clemens niemals unbewacht sein. Vier Gardisten trugen eine Totenbahre auf den Schultern und marschierten gemessenen Schritts auf den Leichenwagen zu. Der päpstliche Zeremonienmeister, ein rundlicher, bärtiger Geistlicher aus den Niederlanden, stand in der Nähe. Er trat vor und sagte: »Der Katafalk steht bereit.«

Ngovi nickte.

Der Zeremonienmeister trat zum Leichenwagen und half den Bestattern, Clemens umzubetten. Sobald die Leiche auf der Bahre lag, die Papstkrone auf dem Kopf, winkte der Niederländer die Bestatter beiseite. Dann arrangierte er sorgfältig das Papstgewand und legte jede einzelne Falte behutsam nach. Zwei Priester schützten die Leiche mit Regenschirmen. Ein weiterer junger Priester trat mit dem Pallium vor. Die weiße, mit sechs purpurroten Kreuzen bestickte Stola symbolisierte die Fülle des päpstlichen Amtes. Der Zeremonienmeister legte Clemens das handbreite Band um den Nacken und drapierte die Kreuze auf Brust, Schultern und Bauch. Er rückte ein wenig an den Schulterkissen und drehte schließlich den Kopf gerade. Dann kniete er sich hin, zum Zeichen, dass er fertig war.

Ngovi nickte leicht mit dem Kopf, und die Schweizergardisten hoben die Bahre an. Die Priester mit den Regenschirmen traten zurück. Die Kardinäle schlossen sich dem Zug an.

Michener gesellte sich nicht zu der Prozession. Er gehörte nicht zu den Kirchenführern, und die Zeremonie war diesen vorbehalten. Man erwartete von ihm, dass er seine Wohnung im Palast bis zum nächsten Tag räumte. Auch sie sollte wegen des Konklaves versiegelt werden. Das Büro sollte er ebenfalls räumen. Die Zeit, da er unter Clemens Schutz stand, hatte mit dessen letztem Atemzug geendet. Die ehemaligen Begünstigten räumten ihren Platz für die zukünftig Begünstigten.

Ngovi wartete das Ende der Schlange ab. Bevor er ebenfalls in den Dom trat, drehte der Kardinal sich noch einmal um und flüsterte Michener zu: »Ich möchte, dass Sie eine Bestandsaufnahme von allem machen, was sich in der Papstwohnung befindet. Nehmen Sie Clemens persönliche Sachen mit! Clemens hätte nicht gewollt, dass jemand anderer das tut. Ich habe den Wächtern Anweisung gegeben, Sie einzulassen. Erledigen Sie das jetzt sofort.«

 

Der Wächter schloss Michener die Papstwohnung auf. Die Tür fiel hinter ihm zu, und dann war er allein. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Früher war er gerne hier gewesen, doch jetzt kam er sich vor wie ein Eindringling.

Die Räumlichkeiten waren genauso, wie Clemens sie Samstag früh zurückgelassen hatte. Das Bett war gemacht, die Vorhänge aufgezogen, die Ersatzlesebrille des Papstes lag noch immer auf dem Nachttisch. Die ledergebundene Bibel, die sonst immer auf dem Nachttisch lag, befand sich noch in Castel Gandolfo auf dem Schreibtisch neben dem Notebook. Beides würde bald nach Rom zurückgebracht werden.

Neben dem ausgeschalteten PC lagen ein paar Unterlagen. Vielleicht war es am besten, hier anzufangen, und so startete Michener den Computer und überprüfte die Ordner. Er wusste, dass Clemens mit einigen entfernten Verwandten und ein paar Kardinälen in einem regelmäßigen E-Mail-Austausch stand, doch offensichtlich hatte der Papst keine dieser Mails aufbewahrt es wurden keine angezeigt. Im Adressbuch standen etwa zwei Dutzend Namen. Er überprüfte alle Ordner auf der Festplatte. Die meisten waren Berichte aus Abteilungen der Kurie, die dem binären Code mehr vertrauten als Papier und Tinte. Mit Hilfe eines Spezialprogramms, das sämtliche Spuren von der Festplatte tilgt, löschte er alle Dateien und schaltete den Computer wieder aus. Das Gerät würde da bleiben und dem nächsten Papst zur Verfügung stehen.

Michener sah sich um. Er würde Transportkartons für Clemens Sachen finden müssen, doch vorläufig stapelte er alles in der Mitte des Zimmers. Viel war es ja nicht. Clemens hatte ein bescheidenes Leben geführt. Ein paar Möbelstücke, ein paar Bücher und einige Familienandenken, mehr besaß er nicht.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und riss Michener aus seinen Gedanken.

Die Tür ging auf, und Paolo Ambrosi trat ein.

»Warten Sie draußen«, wies Ambrosi den Wächter an, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

Michener sah ihn an. »Was haben Sie hier zu schaffen?«

Der magere Priester trat vor. »Dasselbe wie Sie, die Wohnung räumen.«

»Kardinal Ngovi hat mir diese Aufgabe übertragen.«

»Kardinal Valendrea meinte, dass Sie dabei vielleicht Hilfe brauchen.«

Anscheinend hatte der Kardinalstaatssekretär ihm einen Babysitter geschickt, doch Michener war nicht nach Diskussionen zumute. »Verschwinden Sie hier.«

Der Priester rührte sich nicht. Michener war einen Kopf größer und einen halben Zentner schwerer, doch das schien Ambrosi nicht zu beeindrucken. »Ihre Zeit ist um, Michener.«

»Kann sein. Aber da, wo ich herkomme, gibt es ein Sprichwort: Man soll sich nicht über ungelegte Eier freuen.«

Ambrosi kicherte. »Ihr amerikanischer Humor wird mir fehlen.«

Michener bemerkte, wie Ambrosi seine scharfen Augen durch den Raum wandern ließ.

»Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie verschwinden sollen. Vielleicht bin ich ein Niemand, aber Ngovi ist der Camerlengo. Valendrea kann ihn nicht einfach ignorieren.«

»Noch nicht.«

»Gehen Sie, oder ich unterbreche die Messe, um neue Instruktionen von Ngovi einzuholen.«

Ihm war klar, dass Valendrea auf gar keinen Fall eine peinliche Szene vor den Kardinälen gebrauchen konnte. Seine Unterstützer würden sich dann vielleicht fragen, warum er einen seiner Leute in die Papstwohnung geschickt hatte, wo doch diese Pflicht eindeutig dem Privatsekretär des Papstes zufiel.

Doch Ambrosi rührte sich nicht.

Also marschierte Michener um den Besucher herum zur Tür. »Wie Sie selbst sagten, Ambrosi, meine Zeit ist vorüber. Ich habe nichts mehr zu verlieren.«

Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

»Halt«, sagte Ambrosi. »Ich überlasse Sie Ihrer Aufgabe.« Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, und seine Miene war vollkommen ausdruckslos. Michener fragte sich, wie ein solcher Mann jemals hatte Priester werden können.

Michener öffnete die Tür. Die Wächter standen unmittelbar davor, und er wusste, dass sein Besucher stumm bleiben würde, um nicht ihre Neugier zu erregen. Michener setzte ein Lächeln auf und sagte: »Guten Abend, Hochwürden.«

Ambrosi rauschte an ihm vorbei, und Michener schlug die Tür hinter ihm zu, aber erst, nachdem er die Wächter angewiesen hatte, niemanden mehr hereinzulassen.

Er kehrte zum Schreibtisch zurück. Er musste weitermachen und fertig werden. Seine Wehmut darüber, den Vatikan verlassen zu müssen, wurde durch den Gedanken gelindert, dass er künftig nichts mehr mit Typen wie Paolo Ambrosi zu tun haben würde.

Er durchsuchte die Schreibtischschubladen. In den meisten lagen Briefpapier, Stifte, Bücher und ein paar Computerdisketten. Nichts Wichtiges, bis zur untersten Schublade auf der rechten Seite, wo er Clemens letzten Willen fand. Der Papst setzte sein Testament traditionsgemäß selbst auf und schrieb mit eigener Hand seine letzten Wünsche und seine Hoffnungen für die Zukunft nieder. Clemens Testament bestand aus einem einzigen, zusammengelegten Blatt. Michener schlug es auf und bemerkte sofort das Datum: zehnter Oktober. Kaum mehr als ein Monat war seitdem vergangen.

Ich, Jakob Volkner, äußere hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten meinen letzten Willen und lege mein Testament nieder. Alles, was ich zum Zeitpunkt meines Todes besitze, vererbe ich an Colin Michener. Meine Eltern sind vor langer Zeit gestorben, und meine Geschwister sind ihnen in den Jahren darauf gefolgt. Colin hat mir lang und gut gedient. Er ist mir das, was in dieser Welt einer Familie am nächsten kommt. Ich bitte ihn, mit meinem Besitz nach seinem Dafürhalten zu verfahren, mit der Weisheit und dem guten Urteilsvermögen, dem ich Zeit meines Lebens vertrauen durfte. Ich möchte um eine einfache Trauerzeremonie bitten und würde am liebsten in Bamberg, im Dom meiner Kindheit bestattet, doch ich verstehe es, wenn die Kirche anders entscheidet. Als ich die Petrusnachfolge annahm, nahm ich auch die damit verbundenen Pflichten an, einschließlich der Pflicht, an der Seite meiner Brüder unter dem Petersdom zu ruhen. Außerdem bitte ich alle, die ich durch Worte oder Taten gekränkt habe, um Vergebung. Besonders bitte ich unseren Herrn und Erlöser um Vergebung für alle Schwächen und Unzulänglichkeiten, die ich gezeigt habe. Möge er meiner Seele gnädig sein.

 

In Micheners Augen stiegen Tränen auf. Auch er hoffte, dass Gott der Seele seines lieben Freundes gnädig sein würde. Die katholische Lehre war eindeutig. Der Mensch war dazu verpflichtet, sein Leben zu ehren, weil er es von Gott bekommen hatte. Er verwaltete es nur im Namen des Allmächtigen, doch es gehörte ihm nicht. Selbstmord ließ sich mit der Selbstliebe und der Liebe zum lebendigen Gott nicht vereinbaren. Er zerriss das Band der Solidarität mit Familie und Volk. Kurz, er war eine Sünde. Doch die Erlösung derer, die sich mit eigener Hand das Leben nahmen, war nicht endgültig ausgeschlossen. Die Kirche lehrte, dass Gott auf Wegen, die nur ihm bekannt waren, eine Gelegenheit zur Buße bieten werde.

Michener hoffte, dass dem wirklich so war.

Falls es den Himmel gab, verdiente Jakob Volkner den Zutritt. Was immer ihn dazu gezwungen hatte, das Unaussprechliche zu tun, sollte seine Seele nicht zu ewiger Verdammnis verurteilen.

Michener legte das Testament aus der Hand und bemühte sich, nicht an die Ewigkeit zu denken.

In letzter Zeit hatte er festgestellt, dass er öfter über seine eigene Sterblichkeit nachdachte. Er näherte sich den fünfzig. Das war noch gar nicht so alt, doch das Leben kam ihm nicht mehr endlos vor. Mittlerweile konnte er sich eine Zeit vorstellen, in der Körper oder Geist ihm nicht mehr gestatten würden, das Leben so zu genießen, wie er es gewohnt war. Wie lange würde er noch leben? Zwanzig Jahre? Dreißig? Vierzig? Clemens war mit beinahe achtzig Jahren immer noch voller Leben gewesen und hatte regelmäßig bis zu sechzehn Stunden täglich gearbeitet. Wenn Michener nur halb so vital blieb, konnte er schon froh sein. Doch so oder so, früher oder später würde sein Leben zu Ende gehen. Er fragte sich, ob die Entbehrungen und Opfer, die seine Kirche und sein Gott ihm abverlangten, die Sache wert waren.

Würde es eine Belohnung im Leben nach dem Tod geben? Oder kam dann einfach gar nichts?

Erde zu Erde.

Er riss sich zusammen und machte sich wieder an die Arbeit.

Das Testament würde er der vatikanischen Pressestelle übergeben müssen. Es war Brauch, den letzten Willen des Papstes zu veröffentlichen, aber zunächst musste der Camerlengo dem zustimmen. Er steckte das Blatt in seine Soutane.

Michener beschloss, die Möbel anonym einem lokalen Wohltätigkeitsverein zu schenken. Die Bücher und die wenigen persönlichen Sachen würde er als Erinnerungsstücke an einen Mann aufbewahren, den er geliebt hatte. An der hinteren Zimmerwand stand die Holztruhe, die Clemens schon seit Jahren sein Eigen nannte. Michener wusste, dass sie in Oberammergau gefertigt worden war, einer bayerischen Stadt am Fuße der Alpen, die für ihre Schnitzereien berühmt war. Mit den Reliefs der Apostel, der Heiligen und der Jungfrau verziert, wirkte das makellose Objekt fast wie ein Riemenschneider.

In all ihren gemeinsamen Jahren hatte er nie erfahren, was Clemens in der Truhe aufbewahrte. Jetzt gehörte sie ihm. Er ging hinüber und versuchte, den Deckel aufzuklappen. Abgeschlossen. Es gab ein messingbeschlagenes Schloss. Er hatte aber nirgends in der Wohnung einen Schlüssel gefunden und wollte die Truhe nicht durch gewaltsames Aufbrechen beschädigen. Daher beschloss er, sie ungeöffnet mitzunehmen und sich später über den Inhalt Gedanken zu machen.

Michener trat wieder zum Schreibtisch und räumte die verbliebenen Schubladen aus. In der letzten fand er ein dreifach gefaltetes Blatt päpstliches Briefpapier. Darauf stand handschriftlich:

 

Ich, Clemens XV., habe an diesem Tag Hochwürden Colin Michener in den Rang eines Kardinals erhoben.

 

Michener traute seinen Augen kaum. Clemens hatte sein Recht ausgeübt, ihn in petto zum Kardinal zu erheben geheim. Normalerweise wurde ein Geistlicher durch eine Urkunde des amtierenden Papstes von seiner Erhebung in den Kardinalsstand informiert. Diese wurde veröffentlicht, und in einer Kardinalsversammlung wurde der neue Würdenträger feierlich eingesetzt. Doch in kommunistischen Staaten oder anderen Diktaturen, wo der Kandidat gefährdet sein mochte, waren geheime Ernennungen üblich geworden. Die Regeln für Ernennungen in petto legten fest, dass als Zeitpunkt der Erhebung die Ernennung selbst und nicht deren Veröffentlichung galt, doch es gab eine andere Regel, die Michener den Mut nahm. Starb ein Papst vor der Öffentlichmachung einer solchen Ernennung, war diese hinfällig.

Michener hielt das Dokument in der Hand. Das Datum lag zwei Monate zurück.

So nahe war er einem purpurroten Birett gekommen.

Gut möglich, dass als Nächster Alberto Valendrea in die Papstwohnung einziehen würde. Die Chance, dass der neue Papst eine In-petto-Ernennung Clemens XV. bestätigte, war minimal. Doch zum Teil machte das Michener gar nichts aus. Angesichts der Aufregungen der letzten achtzehn Stunden hatte er nicht mehr an Hochwürden Tibor gedacht, doch jetzt fiel ihm der alte Priester wieder ein. Vielleicht würde Michener in das Waisenhaus in Zlatna zurückkehren und das zu Ende bringen, was der Bulgare angefangen hatte. Irgendetwas sagte ihm, dass dieser Schritt genau richtig für ihn wäre. Sollte die Kirche sich quer stellen, würde er den ganzen Laden zum Teufel schicken, allen voran Alberto Valendrea.

Sie möchten Kardinal werden? Dann müssen Sie das Maß Ihrer Verantwortung begreifen. Wie können Sie von mir die Ernennung erwarten, wenn Sie nicht sehen, was so klar vor Augen liegt?

Das hatte Clemens ihm letzten Donnerstag in Turin gesagt. Michener hatte sich über den scharfen Tadel gewundert. Jetzt, da er wusste, dass sein Gönner ihn damals schon erhoben hatte, wunderte er sich sogar noch mehr. Wie können Sie von mir die Ernennung erwarten, wenn Sie nicht sehen, was so klar vor Augen liegt?

Was sollte er sehen?

Er steckte das Dokument in die Tasche seiner Soutane, zusammen mit dem Testament.

Keiner würde je erfahren, was Clemens entschieden hatte. Doch das spielte keine Rolle mehr. Wichtig war allein, dass sein Freund ihn für würdig befunden hatte, und das genügte ihm.

33

20.30 Uhr

 

Michener packte alles in die fünf Kartons, die die Schweizergardisten ihm gebracht hatten. Schrank, Kommode und Nachttische waren jetzt leer geräumt. Die Möbel wurden von Arbeitern hinausgekarrt und in einem Kellerraum gelagert, bis geklärt war, wer sie bekommen würde.

Er stand im Korridor, als die Tür ein letztes Mal geschlossen und mit Blei versiegelt wurde. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde er die Papstwohnung nie wieder betreten. Nur wenige in der Kirche kamen jemals so weit, und nur die allerwenigsten schafften es ein zweites Mal. Seine Zeit war um, da hatte Ambrosi Recht. Die Räume würden erst wieder geöffnet werden, wenn ein neuer Papst vor der Tür stand und das Siegel erbrochen wurde. Bei dem Gedanken, dass Alberto Valendrea dieser neue Bewohner sein könnte, überlief Michener ein Schauder.

Die Kardinäle waren noch immer im Petersdom versammelt, wo jetzt eine Totenmesse für den Verstorbenen gehalten wurde, eine von vielen, die in den nächsten neun Tagen folgen würden. Michener hatte unterdessen noch eine letzte Aufgabe, bevor sein Amt offiziell endete. Er stieg in den zweiten Stock hinunter.

 

Wie in Clemens Wohnung, so gab es auch in Micheners Büro wenig, was nicht zurückbleiben würde. Alle Möbel gehörten dem Vatikan; ebenso die Gemälde an der Wand, einschließlich eines Porträts Clemens XV. Micheners eigene Sachen würden in einen einzigen Karton passen: ein paar Kleinigkeiten von seinem Schreibtisch, eine bayerische Tischuhr und drei Fotos seiner Eltern. Als Assistent Volkners hatte er immer alles gehabt, was er an materiellen Dingen brauchte. Abgesehen von ein paar Kleidungsstücken und einem Notebook nannte er nichts sein Eigen. Im Laufe der Jahre hatte er einen großen Teil seines Gehalts gespart und besaß nun nachdem er auf ein paar kluge Ratschläge gehört und sein Geld gut investiert hatte ein paar hunderttausend Dollar in einem Bankdepot in Genf. Das war für seine Pensionierung gedacht, da die Kirche für ihre Priester schlecht vorsorgte. Eine Reform des Pensionsfonds war ausführlich diskutiert worden, und Clemens wollte diese angehen, doch diese Bemühungen mussten nun ruhen, bis der nächste Papst im Amt war.

Michener setzte sich an den Schreibtisch und schaltete ein letztes Mal seinen Computer ein. Er musste seine E-Mails abrufen und einige Anweisungen für seinen Nachfolger schreiben. In den letzten Wochen hatten seine Stellvertreter das meiste für ihn erledigt, und er sah, dass fast alle Nachrichten bis nach dem Konklave warten konnten. Je nachdem, wer Papst wurde, würde man ihn nach dem Konklave vielleicht noch für ein zwei Wochen benötigen, um den Übergang zu erleichtern. Sollte allerdings Valendrea sich den Papststuhl sichern, wäre höchstwahrscheinlich Paolo Ambrosi der nächste päpstliche Privatsekretär. Dieser würde Michener sofort von allen Aufgaben freistellen und seine Vollmachten widerrufen. Dagegen hätte er nichts einzuwenden. Er würde Ambrosi gewiss nicht helfen wollen.

Mechanisch scrollte er die Liste seiner E-Mails weiter hinunter und überprüfte jede vor dem Löschen. Ein paar ließ er stehen und versah sie mit einer kurzen Notiz für spätere Bearbeiter. Einige waren Kondolenzschreiben befreundeter Bischöfe, und er schickte eine kurze Antwort zurück. Vielleicht würde ja einer von ihnen einen Assistenten brauchen? Doch er verwarf diesen Gedanken schnell wieder. Einmal war genug. Was hatte Katerina ihm in Bukarest gesagt? Wirst du dein Leben im Dienst von anderen verbringen? Wenn er sich einer Sache wie der Hochwürden Tibors verschrieb, würde Clemens XV. Seele vielleicht Erlösung finden. Micheners Opfer konnte als Buße für die Fehler seines Freundes dienen.

Bei diesem Gedanken fühlte er sich besser.

Auf dem Bildschirm erschien nun der Weihnachtsterminplan für den Papst. Man hatte ihn nach Castel Gandolfo gemailt, um ihn absegnen zu lassen, und Clemens hatte ihn mit seinen Initialen abgezeichnet. Der Papst sollte die traditionelle Heiligabendmesse im Petersdom zelebrieren und am ersten Weihnachtstag die Weihnachtsbotschaft vom Balkon aus verkünden. Michener überprüfte, um welche Uhrzeit die Antwort des Papstes von Castel Gandolfo an ihn abgeschickt worden war. Samstagvormittags, Viertel nach zehn. Also ungefähr zum Zeitpunkt seiner Rückkehr aus Bukarest und seiner Ankunft in Rom, lange vor seinem ersten Gespräch mit Clemens. Von Hochwürden Tibors Ermordung hatte der Papst erst viel später erfahren. Eigenartig, dass ein Papst mit Selbstmordabsichten sich die Zeit genommen hatte, einen Terminplan zu überprüfen, den er ohnehin nicht einhalten wollte.

Michener klickte die letzte Nachricht an und stellte fest, dass der Absender unbekannt war. Gelegentlich erhielt er anonyme Mails von Leuten, die irgendwie seine Adresse in Erfahrung gebracht hatten. Meistens waren es harmlose Botschaften frommer Seelen, die ihrem Papst ihre aufrichtigsten Grüße senden wollten.

Er öffnete den Eintrag und stellte fest, dass die Mail aus Castel Gandolfo kam und am Vorabend abgeschickt worden war. Und zwar um dreiundzwanzig Uhr sechs.

 

Inzwischen wissen Sie, was ich getan habe, Colin. Ich erwarte nicht, dass Sie es verstehen. Sie sollen nur wissen, dass die Jungfrau hier war und mir erklärte, dass meine Zeit gekommen sei. Hochwürden Tibor war bei ihr. Ich erwartete, dass sie mich gleich mitnehmen würde, doch sie sagte, ich müsse mein Leben mit eigener Hand beenden. Hochwürden Tibor sagte, das sei meine Pflicht und die Buße für meinen Ungehorsam. Alles werde sich später klären. Ich sorgte mich um meine Seele, doch sie sagten mir, der Herr erwarte mich. Zu lange habe ich die Wünsche des Himmels missachtet, diesmal aber werde ich gehorchen. Colin, Sie haben mich mehrfach gefragt, was mich belastet. Ich will es Ihnen jetzt sagen. Im Jahr 1978 entfernte Valendrea einen Teil des dritten Geheimnisses der Heiligen Jungfrau von Fatima. Nur fünf Menschen wussten, was sich ursprünglich in der Schatulle befunden hatte. Vier davon Schwester Lucia, Johannes XXIII. Paul VI. und Hochwürden Tibor sind tot. Als Letzter bleibt nur noch Valendrea. Natürlich wird er alles abstreiten, und was Sie hier lesen, wird man einfach als das leere Geschwätz eines Selbstmörders abtun. Aber ich sage Ihnen nun, dass Johannes Paul II. nicht das ganze dritte Geheimnis gelesen und veröffentlicht hat. Nun ist es an Ihnen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Reisen Sie nach Medjugorje. Das ist absolut entscheidend. Nicht nur für mich, sondern auch für die Kirche. Betrachten Sie das als die letzte Bitte eines Freundes.

Die Kirche bereitet jetzt mit Sicherheit schon meine Bestattung vor. Ngovi wird seines Amtes gut walten. Verfahrt mit meiner Leiche, wie es euch beliebt. Zeremonieller Pomp macht keinen Toten frommer. Meine persönliche Präferenz allerdings ist Bamberg. In dieser wunderschönen Stadt an der Regnitz und in ihrem Dom, den ich so sehr geliebt habe, würde ich gern meine letzte Ruhe finden. Ich bedaure nur, dass ich meine Heimatstadt nicht noch ein letztes Mal sehen konnte. Vielleicht könnte mein Vermächtnis immer noch dort sein. Doch ich überlasse diese Schlussfolgerung anderen. Gott sei mit Ihnen, Colin. Sie sollen wissen, dass ich Sie so innig geliebt habe, wie ein Vater seinen Sohn liebt.

 

Der Abschiedsbrief eines Selbstmörders, schlicht und ergreifend, geschrieben von einem sorgenbeladenen Mann, der offensichtlich unter Wahnvorstellungen litt. Der Pontifex Magnus der Heiligen Katholischen Kirche behauptete tatsächlich, die Heilige Jungfrau Maria habe ihn zum Selbstmord aufgefordert. Was Clemens da über Valendrea und das dritte Geheimnis geschrieben hatte, war allerdings interessant. Konnte er dieser Information Glauben schenken? Er überlegte, ob er Ngovi davon unterrichten sollte, kam aber zu dem Schluss, dass so wenige Menschen wie möglich von dieser Botschaft wissen sollten. Clemens Leiche war schon einbalsamiert und seine Körperflüssigkeiten verbrannt. Die Todesursache würde niemals bekannt werden. Die Worte, die ihm auf dem Bildschirm grell ins Auge stachen, schienen seine Vermutung, dass der verstorbene Papst psychisch krank gewesen war, zu bestätigen.

Um nicht zu sagen besessen.

Clemens hatte ihn erneut dazu gedrängt, nach Bosnien zu reisen. Michener hatte nicht die Absicht gehabt, dieser Aufforderung zu folgen. Wozu auch? Er trug zwar immer noch den von Clemens unterzeichneten Brief an einen der Seher bei sich, doch jetzt lag die Autorität beim Camerlengo und dem heiligen Kardinalskollegium. Alberto Valendrea würde ihm auf gar keinen Fall gestatten, sich auf einer kleinen Spritztour nach Mariengeheimnissen umzuschauen. Warum sollte er dem Wunsch eines verstorbenen Papstes nachkommen, den er ganz offen verachtet hatte? Für eine offizielle Erlaubnis zu dieser Reise müssten außerdem alle Kardinäle über Hochwürden Tibor, Marienerscheinungen und Clemens’ obsessive Beschäftigung mit dem dritten Geheimnis von Fatima informiert werden. Was nach diesen Enthüllungen an Fragen zu erwarten wäre, würde ihn glatt umhauen. Clemens’ guter Ruf war zu kostbar, um ihn auf diese Weise aufs Spiel zu setzen. Schlimm genug, dass vier Menschen vom Selbstmord des Papstes wussten. Er würde sich gewiss nicht dazu hergeben, das Andenken dieses großen Mannes zu beflecken. Aber vielleicht war es nun doch wichtig, dass Ngovi Clemens’ letzte Worte las. Michener rief sich in Erinnerung, was Clemens ihm in Turin so nachdrücklich eingeschärft hatte: »Wenn Sie einen Vertrauten brauchen, steht Maurice Ngovi mir näher als jeder andere. Denken Sie daran, wenn es einmal nötig ist.«

Michener druckte die E-Mail aus.

Dann löschte er sie und schaltete den Computer aus.

34

Montag, 27. November
11.00 Uhr

 

Michener betrat den Vatikan über den Petersplatz, vor dem ein ständiger Strom von Besuchern den Bussen entstieg. Vor zehn Tagen, unmittelbar vor Clemens XV. Bestattung, hatte er seine Wohnung im Apostolischen Palast geräumt. Er besaß noch immer eine Zutrittsberechtigung, doch wenn er diese letzte Verwaltungsangelegenheit erledigt hatte, würde sein Amt im Dienst des Heiligen Stuhls offiziell enden.

Kardinal Ngovi hatte ihn gebeten, bis zum Beginn des Konklaves in Rom zu bleiben. Er hatte ihm, Michener, sogar eine Stelle in der von Ngovi geleiteten Kongregation für das Katholische Bildungswesen angeboten, doch der Afrikaner konnte für die Zeit nach dem Konklave nichts Festes garantieren. Auch seine Berufung in den Vatikan war mit Clemens Tod zu Ende, und der Camerlengo hatte schon seine Absicht erklärt, nach Afrika zurückzukehren, falls Valendrea gewählt werden sollte.

Clemens Bestattung war schlicht gewesen und hatte vor dem frisch restaurierten Eingangsportal des Petersdoms stattgefunden. Eine Million Menschen hatten sich auf dem Platz gedrängt, und die Flamme der einzigen Kerze neben dem Sarg hatte heftig im Wind geflackert. Michener hatte nicht bei den Kardinälen gesessen, wie es der Fall gewesen wäre, wenn die Dinge sich ein wenig anders entwickelt hätten. Stattdessen hatte er unter den Mitarbeitern des verstorbenen Papstes Platz genommen, die diesem vierunddreißig Monate lang treu gedient hatten. Mehr als hundert Staatsoberhäupter hatten an dem Akt teilgenommen, und alles war von Fernseh- und Radiosendern aufgezeichnet und in der ganzen Welt ausgestrahlt worden.

Ngovi leitete den Abschiedsgottesdienst nicht, sondern delegierte die Ansprachen an andere Kardinäle. Ein kluger Schachzug, der dem Camerlengo gewiss die Sympathie der Auserwählten eintragen würde. Vielleicht nicht genug, um sich ihre Stimmen fürs Konklave zu sichern, aber doch immerhin so, dass sie ihm bereitwillig zuhören würden.

Es war keine Überraschung, dass Valendrea bei den Reden übergangen worden war, und es war gut zu begründen. Während der Sedisvakanz konzentrierte der Kardinalstaatssekretär sich auf die Außenbeziehungen des Heiligen Stuhls. Da er davon ganz in Anspruch genommen wurde, erging die Aufgabe, Clemens in Gedenkreden zu preisen, traditionsgemäß an andere Würdenträger. Valendrea hatte seine Pflichten ernst genommen und war in den letzten beiden Wochen eine verlässliche Anlaufstelle für die Presse gewesen. Jeder größere Nachrichtendienst der Welt hatte ihn interviewt, und der Toskaner hatte mit knappen, sorgfältig gewählten Worten geantwortet. Nach dem Ende des Gottesdienstes trugen zwölf Träger den Sarg durch die Porta della Morte und hinunter in die Krypta. Der Sarkophag, den die Steinmetze in aller Eile hergerichtet hatten, trug das Bildnis Clemens II. jenes deutschen Papstes aus dem elften Jahrhundert, den Jakob Volkner so bewundert hatte. Außerdem war er mit dem Papstwappen Clemens XV. geschmückt. Er stand in der Nähe von Johannes XXIII. letzter Ruhestätte, was Clemens gewiss ebenfalls gefallen hätte. Nun ruhte der Verstorbene mit 148 seiner Vorgänger in der Krypta.

»Colin.«

Er hörte, dass jemand ihn laut beim Namen rief, und blieb stehen. Katerina kam quer über den Petersplatz auf ihn zu. Seit ihrer Trennung in Bukarest vor beinahe drei Wochen hatte er sie nicht mehr gesehen.

»Du bist wieder in Rom?«, fragte er.

Katerina sah anders aus. Sie trug jetzt Chinos, ein schokobraunes Wildlederhemd und eine Pepita-Jacke. Ein bisschen schicker, als er sie in Erinnerung hatte, aber nichtsdestoweniger sehr attraktiv.

»Ich war gar nicht weg.«

»Du bist von Bukarest hierher geflogen?«

Sie nickte. Der Wind zerzauste ihr dunkelbraunes Haar, und sie strich sich die Strähnen aus dem Gesicht. »Ich wollte gerade abfliegen, da erfuhr ich von Clemens Tod und beschloss zu bleiben.«

»Was hast du hier gemacht?«

»Ich schreibe für ein paar Zeitungen Artikel über die Bestattung.«

»Ich hab Kealy auf CNN gesehen.« In den letzten Wochen war der Priester dort regelmäßig aufgetreten und hatte tendenziöse Einblicke in das bevorstehende Konklave geliefert.

»Ich auch. Aber ich bin Tom seit dem Tag nach Clemens Tod nicht mehr persönlich begegnet. Du hattest Recht. Das ist nicht mein Niveau.«

»Eine gute Entscheidung. Ich hab den Blödmann im Fernsehen gehört. Er hat eine Meinung zu allem und jedem, nur ist sie leider meistens falsch.«

»Vielleicht hätte CNN ja dich engagieren sollen?«

Er kicherte. »Das hätte gerade noch gefehlt.«

»Was hast du vor, Colin?«

»Ich bin gerade auf dem Weg, um Kardinal Ngovi zu sagen, dass ich nach Rumänien zurückkehre.«

»Um Hochwürden Tibor wieder zu besuchen?«

»Du weißt es noch gar nicht?«

Sie sah ihn erstaunt an. Also erzählte er ihr von Tibors Ermordung.

»Der arme Mann. Das hat er nicht verdient. Und die Kinder. Er war doch alles, was sie hatten.«

»Genau deswegen fahre ich ja dorthin. Du hattest Recht. Es wird Zeit, dass ich etwas mit meinem Leben anfange.«

»Du wirkst zufrieden mit deiner Entscheidung.«

Er sah über den Platz. Als päpstlicher Privatsekretär hatte er sich im Vatikan ungehindert bewegen können. Jetzt fühlte er sich dort wie ein Fremder. »Es ist Zeit weiterzugehen.«

»Schluss mit dem Leben im Elfenbeinturm?«

»Für mich ja. Dieses Waisenhaus in Zlatna wird jetzt eine Weile mein Zuhause sein.«

Sie verlagerte das Gewicht. »Wir sind weit gekommen. Kein Streit. Keine Wut. Endlich Freunde.«

»Nur nicht denselben Fehler wiederholen. Mehr kann man sich nicht erhoffen.« Er sah, dass sie ihm zustimmte, und war froh, dass sie sich getroffen hatten. Aber Ngovi wartete auf ihn. »Pass auf dich auf, Kate.«

»Du auch, Colin.«

Als er ging, kämpfte er gegen den Impuls an, sich ein letztes Mal nach ihr umzudrehen.

 

Er traf Ngovi in seinem Büro in der Kongregation für das katholische Bildungswesen an. Der ganze Trakt war zur Zeit der reinste Ameisenhaufen. Anscheinend arbeitete man auf Hochtouren daran, alles zu erledigen, bevor am nächsten Tag das Konklave begann.

»Ich glaube tatsächlich, dass wir es geschafft haben«, sagte Ngovi.

Die Tür wurde geschlossen, nachdem die Mitarbeiter Anweisung erhalten hatten, nicht zu stören. Michener erwartete ein weiteres Stellenangebot, da Ngovi ihn um das Gespräch gebeten hatte.

»Ich habe bis heute gewartet, um etwas mit Ihnen zu besprechen, Colin. Ab morgen bin ich in der Sixtinischen Kapelle eingeschlossen.« Ngovi richtete sich im Stuhl auf. »Ich möchte, dass Sie nach Bosnien reisen.«

Die Aufforderung überraschte Michener. »Aber wozu? Wir beide waren der Meinung, dass diese ganze Sache lächerlich ist.«

»Ich mache mir aber auch Sorgen. Clemens hatte sich in irgendetwas verbissen, und ich möchte seine Wünsche erfüllen. Das ist die Pflicht eines Camerlengos. Er wollte erfahren, wie das zehnte Geheimnis lautet. Und das will ich auch.«

Michener hatte Clemens letzte E-Mail Ngovi gegenüber bisher nicht erwähnt. Daher griff er jetzt in die Tasche und zog seinen Ausdruck hervor. »Sie sollten das hier lesen.«

Der Kardinal setzte eine Brille auf und las die Nachricht aufmerksam durch.

»Er hat diese Mail an jenem Samstag geschickt, kurz vor Mitternacht. Maurice, er hatte Wahnvorstellungen. Wenn ich jetzt durch Bosnien tappe, machen wir nur alle neugierig. Warum lassen wir die Sache nicht einfach auf sich beruhen?«

Ngovi setzte die Brille ab. »Jetzt ist es mir sogar noch wichtiger, dass Sie dorthin reisen.«

»Sie klingen wie Jakob. Was ist nur mit Ihnen los?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dies hier ihm wichtig war und dass wir zu Ende bringen sollten, was ihm so am Herzen lag. Die Information, dass Valendrea einen Teil des dritten Geheimnisses unterschlagen hat, lässt Nachforschungen dringend erforderlich erscheinen.«

Michener war nicht überzeugt. »Bisher sind keine Fragen über Clemens Tod laut geworden. Möchten Sie das Risiko eingehen, dass sich das ändert?«

»Darüber habe ich schon nachgedacht, doch ich glaube kaum, dass die Presse sich für Sie interessieren wird. Die Medien haben genug mit dem Konklave zu tun. Deswegen möchte ich, dass Sie dorthin fliegen. Haben Sie noch diesen Brief an den Seher?«

Michener nickte.

»Ich gebe Ihnen noch einen von mir unterschriebenen Brief mit. Das sollte genügen.«

Dann erzählte Michener dem Camerlengo von seinem Plan, nach Rumänien zu gehen. »Kann das in Bosnien denn kein anderer erledigen?«

Ngovi schüttelte den Kopf. »Sie kennen die Antwort.«

Er kam Michener ungewöhnlich besorgt vor.

»Sie sollten noch etwas wissen, Colin.« Ngovi zeigte auf die E-Mail. »Es hat damit zu tun. Sie sagten mir, dass Valendrea mit dem Papst in der Riserva war. Ich habe das Besucherprotokoll überprüft. Am letzten Freitagabend vor Clemens Tod ist dieser Besuch tatsächlich eingetragen. Allerdings gibt es noch etwas, was Sie nicht wissen. Samstagabend hat Valendrea den Vatikan verlassen. Die Reise war nicht geplant. Er hat sogar alle Termine abgesagt, um Zeit dafür zu haben. Er war bis Sonntagmorgen weg.«

Michener war von Ngovis Informationsnetzwerk beeindruckt. »Ich wusste nicht, dass Sie alles so genau im Blick haben.«

»Der Toskaner ist hier nicht der Einzige, der über Spione verfügt.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo er war?«

»Ich weiß nur, dass er mit einem Privatflugzeug vor Einbruch der Dunkelheit vom Flughafen Rom abgeflogen ist und am nächsten Morgen mit demselben Flugzeug zurückkam.«

Michener erinnerte sich, was für ein unbehagliches Gefühl er damals im Café beim Gespräch mit Katerina und Tibor gehabt hatte. Wusste Valendrea über Hochwürden Tibor Bescheid? War er selbst vielleicht beschattet worden? »Samstagabend ist Tibor gestorben. Was wollen Sie damit sagen, Maurice?«

Ngovi beschwichtigte ihn mit einer Handbewegung. »Ich zähle nur die Tatsachen auf. Freitag zeigte Clemens Valendrea in der Riserva das, was Hochwürden Tibor ihm geschickt hatte was das war, wissen wir nicht. In der Nacht darauf wurde Tibor ermordet. Ob Valendreas überstürzte Reise mit Tibors Ermordung zusammenhängt, weiß ich nicht. Aber der Priester hat zu einem äußerst merkwürdigen Zeitpunkt das Zeitliche gesegnet, finden Sie nicht auch?«

»Und Sie meinen, in Bosnien wäre eine Antwort auf dieses Rätsel zu finden?«

»Clemens war dieser Überzeugung.«

Allmählich verstand Michener Ngovis wahre Beweggründe. Aber er wollte noch etwas wissen. »Was ist mit den Kardinälen? Müssten sie nicht über meine Reise informiert werden?«

»Sie sind nicht in offizieller Mission unterwegs, Colin. Das hier ist eine Sache zwischen Ihnen und mir. Eine Verneigung vor unserem verstorbenen Freund. Außerdem werden die Kardinäle und ich ab morgen im Konklave sein. Eingeschlossen. Da kann man niemanden informieren.«

Jetzt verstand er, warum Ngovi mit diesem Auftrag so lange gewartet hatte. Doch er erinnerte sich auch an Clemens Warnung vor Alberto Valendrea. Dass es unmöglich sei, etwas vor ihm geheim zu halten. Er ließ die Augen über die jahrhundertealten Wände wandern. War es möglich, dass jemand sie belauschte? Nun, letzten Endes spielte das keine Rolle. »Einverstanden, Maurice. Ich mache es. Aber nur, weil Sie mich darum bitten und Jakob es so wollte. Danach wars das aber.«

Er hoffte, dass Valendrea das gehört hatte.

35

16.30 Uhr

 

Valendrea war überwältigt von der Informationsfülle, die die Abhörvorrichtungen ihm verschafft hatten. Ambrosi hatte in den letzten zwei Wochen das Material nächtelang bearbeitet, alles Triviale aussortiert und das Gold herausgewaschen. Die gekürzten Versionen, die er Valendrea auf Mikrokassetten übergab, ließen die Ansichten und Haltungen der Kardinäle deutlich erkennen, und der Staatssekretär stellte zu seiner Freude fest, dass er allmählich in den Augen vieler Würdenträger durchaus papabile war, auch wenn er sich die Stimmen einiger unentschiedener Kollegiumsmitglieder noch endgültig sichern musste.

Seine bewusste Zurückhaltung machte sich bezahlt. Diesmal hatte er, anders als beim letzten Konklave, seinem Vorgänger die Ehrerbietung erwiesen, die man von einem Prälaten der katholischen Kirche erwartete. In den Medien wurde er inzwischen zusammen mit Maurice Ngovi und vier anderen Kardinälen als aussichtsreicher Kandidat gehandelt.

Gestern, als Valendrea für sich noch einmal seine Unterstützer gezählt hatte, war er auf achtundvierzig sichere Stimmen gekommen. Falls alle hundertdreizehn wahlberechtigten Kandidaten nach Rom kamen, was zu erwarten war, wenn nicht irgendjemand in letzter Minute schwer erkrankte, brauchte er sechsundsiebzig Stimmen, um den Sieg gleich in einem der ersten Wahlgänge davonzutragen. Zum Glück sahen die von Johannes Paul II. eingeführten Reformen nach dem dritten Wahltag eine Änderung des Prozedere vor. Wenn bis dahin kein Papst gewählt war, würden mehrere Wahlgänge rasch hintereinander folgen und im Anschluss daran ein Tag des Gebets und Gesprächs. Falls nach einem zwölftägigen Konklave noch immer kein Papst bestimmt war, konnte der Pontifex auch mit nur der absoluten Mehrheit der Stimmen gewählt werden. Anders gesagt, die Zeit arbeitete für Valendrea, denn er besaß eine klare Mehrheit und damit gleichzeitig mehr als genug Stimmen, um die frühzeitige Wahl eines anderen Kandidaten zu blockieren. Gegebenenfalls war eine Verzögerungstaktik die beste Strategie vorausgesetzt natürlich, er konnte seinen Stimmenblock zwölf Tage lang halten.

Einige Kardinäle erwiesen sich als Problem. Sie hatten ihm ihre Unterstützung zugesichert, sich dann aber hinter seinem Rücken, wenn sie sich unbelauscht glaubten, ganz anders geäußert. Valendrea war dem nachgegangen und hatte festgestellt, dass Ambrosi über mehrere dieser Verräter äußerst interessante Informationen zusammengetragen hatte. Genug, um sie von ihrem Irrweg abzubringen, und er hatte vor, seinen Helfer noch in dieser Nacht zu ihnen zu schicken. Ab morgen würde es schwierig sein, Druck zu machen. Er konnte einiges unternehmen, um seine Anhänger bei der Stange zu halten, doch während des Konklaves waren die Räumlichkeiten einfach zu beengt und ein Gespräch unter vier Augen schwierig zu arrangieren. Zudem übte die Sixtinische Kapelle ihre Wirkung auf die Kardinäle aus. Manche nannten es das Wirken des Heiligen Geistes, andere einfach Ehrgeiz. Jedenfalls wusste er, dass er sich seine Stimmen umgehend sichern musste. Die bevorstehende Versammlung war dann nur die Bestätigung, dass jeder willens war, seinen Teil der Übereinkunft einzuhalten.

Natürlich konnte man sich mit Erpressung nur eine begrenzte Zahl von Stimmen verschaffen. Die Mehrheit seiner Unterstützer hielt ihm die Treue, weil er einen guten Stand in der Kirche hatte und sein Hintergrund ihn unter den Favoriten als besonders papabile auszeichnete. Er war stolz darauf, in den letzten Tagen alles vermieden zu haben, was ihm diese natürlichen Verbündeten hätte entfremden können.

Er war noch immer erschüttert von Clemens Selbstmord. Niemals hätte er erwartet, dass der Deutsche seine Seele derart gefährden würde. Aber etwas, was Clemens vor beinahe drei Wochen in der Papstwohnung zu ihm gesagt hatte, ging ihm nach wie vor durch den Kopf: Ich hoffe wirklich, dass Sie mein Nachfolger werden. Sie werden feststellen, dass die Realität durchaus nicht Ihren Erwartungen entspricht. Vielleicht sollte es wirklich Sie treffen. Hinzu kam, was der Papst in jener Freitagnacht nach dem Besuch in der Riserva zu ihm gesagt hatte: Ich wollte, dass Sie wissen, was Sie erwartet. Und warum hatte Clemens ihn nicht daran gehindert, die Übersetzung zu verbrennen? Sie werden sehen.

»Zum Teufel mit dir, Jakob«, murmelte er.

Es klopfte an die Bürotür. Ambrosi trat ein und kam zum Schreibtisch. In der Hand hielt er ein kleines Diktiergerät. »Hören Sie sich das an. Das habe ich gerade vom Tonband überspielt. Michener und Ngovi vor etwa vier Stunden in Ngovis Büro.«

Die Aufzeichnung dauerte etwa zehn Minuten. Dann schaltete Valendrea das Gerät aus. »Erst Rumänien, jetzt Bosnien. Sie finden einfach kein Ende.«

»Offensichtlich hat Clemens Michener einen Abschiedsbrief per E-Mail geschickt.«

Ambrosi wusste über Clemens Selbstmord Bescheid. Valendrea hatte ihm unter anderem auch davon erzählt. Ambrosi hatte ebenfalls von der Begegnung mit Clemens in der Riserva erfahren. »Ich muss diese E-Mail lesen.«

Ambrosi stand kerzengerade vor dem Schreibtisch. »Ich sehe nicht, wie man das anstellen könnte.«

»Wir könnten wieder Micheners Freundin vorschicken.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Aber wozu sollte das gut sein? Das Konklave beginnt morgen. Bis zum Sonnenuntergang sind Sie Papst. Oder spätestens übermorgen.«

Möglich. Aber vielleicht wurde es auch eng, und die Wahl zog sich viele Tage hin. »Es beunruhigt mich, dass unser afrikanischer Freund offensichtlich sein eigenes Informationsnetzwerk hat. Ich wusste nicht, dass er mich beobachten lässt.« Es beunruhigte ihn außerdem, dass Ngovi seine Reise nach Rumänien sofort mit Tibors Ermordung in Verbindung gebracht hatte. Das konnte zum Problem werden. »Ich möchte, dass Sie Katerina Lew suchen.«

Er hatte die Journalistin nach Rumänien absichtlich nicht mehr kontaktiert, da es schlichtweg unnötig geworden war. Clemens hatte ihm ja schon alles verraten, was er wissen musste. Doch es ärgerte ihn, dass Ngovi Leute mit Privataufträgen losschickte. Umso mehr, wenn es um Dinge ging, die ihn berührten. Doch er konnte wenig daran ändern, denn es wäre zu riskant gewesen, das Kardinalskollegium einzuschalten. Man würde ihm zu viele Fragen stellen, auf die er zu viele Antworten schuldig bleiben müsste. Außerdem könnte Ngovi die Gelegenheit beim Schopf packen, eine Untersuchung seiner eigenen Reise nach Rumänien zu erzwingen, und eine solche Steilvorlage würde er dem Afrikaner auf keinen Fall liefern.

Valendrea war der einzige noch lebende Mensch, der wusste, was die Heilige Jungfrau gesagt hatte. Drei Päpste waren seitdem gestorben. Er hatte einen Teil von Tibors verfluchter Reproduktion vernichtet, den Priester selbst eliminiert und die handschriftliche Aufzeichnung Schwester Lucias in den Orkus gespült. Nun existierte nur noch die Kopie der Übersetzung. Sie lag in der Riserva. Er durfte nicht zulassen, dass irgendjemand diese Worte las. Doch um Zugang zur Schatulle zu erhalten, musste er Papst werden.

Er starrte Ambrosi an.

»Unglückseligerweise müssen Sie in den nächsten Tagen vor Ort bleiben, Paolo. Ich brauche Sie hier. Aber wir müssen wissen, was Michener in Bosnien unternimmt, und Katerina Lew ist unser bester Informationskanal. Sie müssen sie also finden und sich noch einmal ihrer Hilfe versichern.«

»Woher wissen Sie, dass sie in Rom ist?«

»Wo sollte sie sonst sein?«

36

18.15 Uhr

 

Katerina richtete ihre Aufmerksamkeit auf eine Tribüne von CNN, die unmittelbar vor der südlichen Kolonnade des Petersplatzes stand. Sie hatte Tom Kealy, der dort unter den hellen Scheinwerfern vor drei Kameras stand, über den Platz hinweg erkannt. Der Platz war mit den improvisierten Aufnahmesets verschiedener Fernsehsender übersät. Die Tausende von Stühlen und Absperrungen von Clemens Bestattung waren verschwunden, und jetzt belegten Souvenirjäger, Demonstranten und Pilger den Platz, sowie all die Journalisten, die in Scharen nach Rom geströmt waren, um für das am nächsten Tag beginnende Konklave vor Ort zu sein. Die Kameras waren auf den Metallschornstein der Sixtinischen Kapelle gerichtet, aus dem irgendwann zum Zeichen der erfolgreichen Wahl weißer Rauch emporsteigen würde.

Katerina näherte sich dem Ring von Schaulustigen um die CNN-Tribüne, auf der Kealy gerade in die Kameras sprach. In seiner schwarzen Wollsoutane und dem Priesterkragen sah er sehr wie ein Priester aus. Für jemanden, der so wenig Achtung vor dem Priesterstand hatte, schien er sich in der Tracht erstaunlich wohl zu fühlen.

»… richtig, früher wurden die Stimmzettel nach der Wahl entweder mit trockenem oder mit feuchtem Stroh verbrannt, um weißen oder schwarzen Rauch zu erzeugen. Jetzt wird für die Farbe eine Chemikalie zugesetzt, weil der Rauch bei den letzten Konklaven immer wieder Verwirrung stiftete. Offensichtlich gesteht selbst die katholische Kirche es sich gelegentlich zu, sich das Leben durch die Wissenschaft erleichtern zu lassen.«

»Was haben Sie über den morgigen Tag gehört?«, fragte die Korrespondentin an Kealys Seite.

Kealy wandte sich wieder zur Kamera. »Nach meiner Einschätzung gibt es zwei Favoriten. Kardinal Ngovi und Valendrea. Ngovi wäre der erste afrikanische Papst, den es je gegeben hat, und er könnte eine Menge für seinen Heimatkontinent tun. Sehen Sie doch nur, was Johannes Paul II. für Polen und Osteuropa bewirkt hat. Afrika könnte gleichfalls von einem Kirchenführer aus den eigenen Reihen profitieren.«

»Aber sind die Katholiken reif für einen schwarzen Papst?«

Kealy zuckte mit den Schultern. »Was spielt das noch für eine Rolle? Heutzutage leben die meisten Katholiken in Süd- und Mittelamerika und in Asien. Die europäischen Kardinäle sind nicht mehr in der Überzahl. Alle Päpste seit Johannes XXIII. haben dieser Tatsache Rechnung getragen, das Kardinalskollegium erweitert und zahlreiche Nicht-Italiener berufen. Nach meiner Ansicht wäre der Kirche mit Ngovi besser gedient als mit Valendrea.«

Katerina lächelte. Kealy rächte sich offensichtlich an dem selbstgerechten Alberto Valendrea. Er hatte den Spieß umgedreht. Vor neunzehn Tagen hatte Kealy von Valendrea eine Breitseite kassiert und war auf dem besten Wege zur Exkommunikation gewesen. Doch während der Sedisvakanz konnte der Gerichtshof, genau wie alle anderen Institutionen der Kurie, keine Entscheidungen treffen. Nun stand also der Beschuldigte vor einer Fernsehkamera, die sein Bild in die ganze Welt übertrug, und machte seinen Hauptankläger schlecht, einen sehr ernst zu nehmenden Kandidaten der bevorstehenden Wahl.

»Warum sind Sie der Meinung, dass die Kirche mit Ngovi besser fahren würde?«, fragte die Korrespondentin.

»Valendrea ist Italiener. Die Kirche bewegt sich aber seit Jahrzehnten stetig von der italienischen Vorherrschaft weg. Valendreas Wahl wäre ein Rückschritt. Außerdem ist er zu konservativ für die Katholiken des einundzwanzigsten Jahrhunderts.«

»Man könnte einwenden, dass eine Rückkehr zu den Wurzeln und zur Tradition der Kirche gut tun würde.«

Kealy schüttelte den Kopf. »Seit vierzig Jahren, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, wird die Kirche modernisiert und so ist es gelungen, sie zu einer weltweiten Institution zu machen. Soll man das alles plötzlich aufgeben? Der Papst ist nicht länger einfach nur der Bischof von Rom. Er ist das Oberhaupt einer Milliarde von Gläubigen, die mehrheitlich weder Italiener noch Europäer noch auch nur europäischer Abstammung sind. Da wäre es Selbstmord, Valendrea zu wählen. Umso mehr, wenn es jemanden wie Ngovi gibt, der ebenfalls papabile ist, aber weit attraktiver in den Augen der Welt.«

Plötzlich spürte Katerina eine Hand auf der Schulter und schrak zusammen. Sie fuhr herum und blickte in die schwarzen Augen Paolo Ambrosis. Der unangenehme kleine Priester stand ganz dicht neben ihr. Sie spürte, wie Ärger in ihr hochkochte, doch sie blieb ruhig.

»Anscheinend mag er Kardinal Valendrea nicht besonders«, flüsterte der Priester.

»Nehmen Sie Ihre Pfoten von meiner Schulter!«

Ein Lächeln spielte um Ambrosis Mundwinkel, und er nahm die Hand weg. »Dachte ichs mir doch, dass Sie hier sein könnten.« Er deutete auf Kealy. »Mit Ihrem Geliebten.«

Katerinas Magen zog sich zusammen, doch sie zwang sich, sich keine Angst anmerken zu lassen. »Was wollen Sie von mir?«

»Sie wollen doch sicher nicht hier mit mir reden? Sollte Ihr Genosse den Kopf zu Ihnen drehen, würde er sich vielleicht wundern, warum Sie sich mit einem Freund seines Erzfeindes unterhalten. Er könnte vielleicht sogar eifersüchtig werden und einen Wutanfall bekommen.«

»Ich bezweifle, dass er von Ihnen irgendwas zu befürchten hat. Und ich selbst pinkele im Sitzen, da bin ich wohl kaum Ihr Typ.«

Ambrosi erwiderte nichts, doch vielleicht hatte er ja Recht. Was immer er zu sagen hatte, sollte besser unter vier Augen bleiben. Daher führte sie ihn durch die Kolonnaden, vorbei an Budenreihen, wo Briefmarken und Münzen verhökert wurden.

»Abscheulich«, bemerkte Ambrosi mit einer Geste zu den Händlern. »Die tun so, als wäre Karneval. Einfach nur eine Gelegenheit zum Geldverdienen.«

»Die Opferstöcke im Petersdom sind nach Clemens Tod bestimmt sofort verschlossen worden.«

»Sie Klugschwätzerin.«

»Was haben Sie denn? Tut die Wahrheit Ihnen weh?«

Sie hatten den Vatikan inzwischen hinter sich gelassen und befanden sich auf einer typischen Straße Roms, einer von einem Gewirr schicker Wohnungen gesäumten Via. Ihre Nerven vibrierten vor Anspannung. Sie blieb stehen. »Was wollen Sie?«

»Colin Michener reist nach Bosnien. Seine Eminenz möchte, dass Sie ihn begleiten und berichten, was er tut.«

»Sie haben sich nicht einmal für Rumänien interessiert. Bis eben habe ich kein Wort von Ihnen gehört.«

»Das war unwichtig geworden. Dies hier ist wichtiger.«

»Ich habe kein Interesse. Außerdem reist Colin nach Rumänien.«

»Nicht jetzt. Erst fliegt er nach Bosnien. Zum Schrein von Medjugorje.«

Sie war verwirrt. Warum sollte Michener sich zu einer solchen Pilgerfahrt veranlasst sehen, umso mehr nach dem, was er zuvor gesagt hatte?

»Seine Eminenz trug mir auf, Ihnen auszurichten, dass Sie noch immer einen Freund im Vatikan haben. Einmal abgesehen von den zehntausend bereits bezahlten Euro.«

»Er sagte, das Geld gehöre mir. Ohne Auflagen.«

»Interessant. Anscheinend sind Sie keine billige Hure.«

Sie schlug ihm ins Gesicht.

Ambrosi zeigte keine Überraschung. Er starrte sie einfach nur mit seinem stechenden Blick an. »Sie werden mich kein zweites Mal schlagen.« Seine Stimme hatte etwas Schneidendes, einen Tonfall, der ihr nicht gefiel.

»Ich habe keine Lust mehr, die Spionin für Sie zu machen.«

»Sie sind ein unverschämtes Miststück. Ich hoffe nur, dass Seine Eminenz bald genug von Ihnen hat. Dann werde ich Ihnen vielleicht noch einmal einen Besuch abstatten.«

Sie trat zurück. »Warum reist Colin nach Bosnien?«

»Um die Seher von Medjugorje aufzusuchen.«

»Was soll das eigentlich mit diesen ewigen Sehern und der Jungfrau Maria?«

»Dann wissen Sie also über die Erscheinungen in Bosnien Bescheid?«

»Das ist Unsinn. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die Jungfrau diesen Kindern jahrelang täglich erschienen ist und einem von ihnen immer noch erscheint?«

»Die Kirche hat die Visionen noch nicht anerkannt.«

»Und mit dem Echtheitszertifikat der Kirche versehen sind sie dann wahr?«

»Ihr Sarkasmus wird langsam langweilig.«

»Sie auch.«

Doch irgendwie war ihr Interesse geweckt. Sie wollte nichts mehr für Ambrosi oder Valendrea tun und war nur wegen Michener in Rom geblieben. Sie hatte erfahren, dass er aus dem Vatikan ausgezogen war Kealy hatte das nach dem Tod des Papstes in einer seiner Sendungen erwähnt –, doch sie hatte keinen Versuch unternommen, seine neue Adresse herauszubekommen. Nach der Begegnung von eben hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihm nach Rumänien zu folgen. Doch jetzt ergab sich eine neue Möglichkeit. Bosnien.

»Wann bricht er auf?«, fragte sie, wütend auf sich selbst, weil es so interessiert klang.

Ambrosis Augen leuchteten zufrieden auf. »Ich weiß es nicht.« Der Priester fuhr mit der Hand in die Soutane und brachte einen Zettel zum Vorschein. »Das ist seine Adresse. Die Wohnung liegt nicht weit von hier. Sie könnten ihn trösten. Sein Mentor ist tot, sein Leben liegt in Scherben. Sein Feind wird bald Papst sein …«

»Valendrea ist ja ziemlich von sich eingenommen.«

»Genau wie Sie.«

Sie ging nicht darauf ein. »Und worum geht es?«

»Das lassen Sie unsere Sorge sein.«

»Halten Sie Colin für so dumm? Denken Sie etwa, er wird sich mir öffnen und mich sogar zur Begleitung mitnehmen?«

»So hatte ich mir das vorgestellt.«

»So schwach ist er nicht.«

Ambrosi lächelte. »Und ob. Jede Wette.«

37

Rom, 19.00 Uhr

 

Michener schlenderte über die Via Giotto zu seiner Wohnung. Das Viertel, in dem er sich befand, hatte sich zu einem Mittelpunkt der Theaterszene entwickelt, und die Straßen waren von gut besuchten Cafés gesäumt, in denen sich seit jeher die Intellektuellen und Vertreter radikaler politischer Ansichten tummelten. Er wusste, dass Mussolinis Aufstieg zur Macht hier in der Nähe angebahnt worden war. Zum Glück hatten die meisten Gebäude die architektonischen Säuberungen des Duce überstanden, so dass noch immer viel von der Atmosphäre des neunzehnten Jahrhunderts geblieben war.

Er hatte sich mit Mussolini befasst und nach seinem Einzug in den Apostolischen Palast einige Biografien gelesen. Mussolini hatte in seiner Maßlosigkeit davon geträumt, alle Italiener in Uniform zu stecken und Roms alte Häuser mit ihren Terrakotta-Dächern durch schimmernde Marmorfassaden zu ersetzen, einschließlich zahlreicher Obelisken, die an seine großen militärischen Siege erinnern sollten. Doch der Duce endete mit einer Kugel im Kopf, und seine Leiche wurde kopfüber aufgehängt und zur Schau gestellt. Von seinem grandiosen Plan war nichts geblieben. Michener machte sich Sorgen, dass die Kirche unter einem Papst Valendrea vielleicht ein ähnliches Schicksal erleiden könnte.

Größenwahn war eine Geisteskrankheit, die vor allem auf Arroganz gründete. Valendrea litt ganz eindeutig daran. Dass der Staatssekretär das Zweite Vatikanische Konzil und alle späteren Kirchenreformen ablehnte, war kein Geheimnis. Wurde Valendrea sehr rasch gewählt, ließ sich das als ein Mandat für eine radikale reaktionäre Umkehr deuten. Am schlimmsten daran war, dass der Toskaner ohne weiteres zwanzig Jahre oder länger an der Macht bleiben konnte. Das bedeutete, dass er das Heilige Kardinalskollegium ganz nach seinen Wünschen ummodeln konnte, genau wie Johannes Paul II. es während seiner langen Papstzeit getan hatte. Doch Johannes Paul II. war ein gütiger Papst gewesen, ein Mann mit Visionen. Valendrea dagegen war ein Teufel. Michener hatte also umso mehr Grund, sich in die Karpaten zurückzuziehen. Ob es Gott und das Paradies nun gab oder nicht, diese Kinder brauchten ihn.

Michener war an seinem Wohnhaus angekommen und stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Ein Bischof und ehemaliger Freund des Papstes hatte ihm die möblierte Dreizimmerwohnung für ein paar Wochen mietfrei überlassen, und Michener wusste diese Geste zu schätzen. Vor einigen Tagen hatte er Clemens Möbel abholen lassen. Die fünf Kartons mit Clemens persönlichen Sachen und seine Holztruhe standen oben in der Wohnung. Ursprünglich hatte Michener beabsichtigt, Rom Ende der Woche zu verlassen. Nun war die Reise nach Bosnien dazwischengekommen. Ngovi hatte ihm einen Flugschein gegeben, also würde Michener morgen fliegen. Nächste Woche aber würde er nach Rumänien weiterreisen und ein neues Leben beginnen.

Zum Teil grollte er Clemens wegen seiner Entscheidung. Die Geschichte war voll von Päpsten, die nur wegen ihres erhofften und in Bälde erwarteten Todes gewählt worden waren, doch sie hatten allen ein Schnippchen geschlagen und ein Jahrzehnt oder länger durchgehalten. Jakob Volkner hätte einer dieser Oberhirten sein können. Er war ein Papst gewesen, der etwas hätte bewirken können. Doch mit seinem Freitod hatte er allen Hoffnungen ein Ende bereitet.

Michener kam alles wie ein Traum vor. Die Wochen seit jenem schrecklichen Montag erschienen ihm unwirklich. Sein vorher so genau durchgeplantes Leben schien plötzlich vollkommen planlos.

Er brauchte Ordnung.

Doch als er den Treppenabsatz im zweiten Stock erreichte, wusste er, dass ihm noch mehr Chaos bevorstand. Vor seiner Wohnungstür saß Katerina Lew auf dem Boden und erwartete ihn.

»Warum bin ich nicht überrascht, dich hier anzutreffen?«, fragte er. »Wie hast du das diesmal denn wieder geschafft?«

»Noch mehr offene Geheimnisse.«

Eilig stand sie auf und klopfte sich die Hosen ab. Sie war genauso gekleidet wie am Vormittag und sah noch immer reizend aus.

Er machte die Wohnungstür auf.

»Hast du noch immer vor, nach Rumänien zu gehen?«, fragte sie.

Er warf den Schlüssel auf den Tisch. »Hast du vor, mir nachzukommen?«

»Vielleicht.«

»Ich würde erst mal noch keinen Flug buchen.«

Er erzählte ihr von Medjugorje und Ngovis Bitte, ließ aber Clemens E-Mail aus. Er freute sich nicht auf die Reise und sagte Katerina auch das.

»Der Krieg ist vorbei, Colin«, beruhigte sie ihn. »Dort herrscht jetzt schon seit Jahren wieder Ruhe.«

»Dank der dort stationierten amerikanischen und NATO-Truppen. Nicht gerade das, was man ein Urlaubsziel nennt.«

»Warum machst du die Reise dann?«

»Das bin ich Clemens und Ngovi schuldig.«

»Findest du nicht, dass du deine Schulden allmählich bezahlt hast?«

»Ich weiß, was du jetzt gleich sagen willst. Aber ich habe letzthin mit dem Gedanken gespielt, aus dem Priesterstand auszutreten. Eigentlich spielt das alles jetzt keine Rolle mehr.«

Er sah ihrem Gesicht an, dass sie geschockt war. »Warum?«

»Mir reichts. Keiner schert sich um Gott oder das gute Leben oder die ewige Seligkeit. Es geht nur um Politik, Ehrgeiz und Gier. Jedes Mal, wenn ich über die Umstände meiner Geburt nachdenke, dreht sich mir der Magen um. Wie konnten sie nur glauben, sie täten da etwas Gutes? Es gab Wege, diesen Müttern viel besser zu helfen, aber keiner hat es auch nur versucht. Sie haben uns Kinder einfach ins Ausland verschifft.«

Er merkte, dass er zu Boden starrte. »Und diese Kinder in Rumänien? Ich glaube, die hat selbst Gott vergessen.«

»So kenne ich dich gar nicht.«

Er trat zum Fenster. »Höchstwahrscheinlich ist Valendrea bald Papst. Dann wird es sehr viele Veränderungen geben. Vielleicht hat Tom Kealy die Sache doch richtig gesehen.«

»Kealy ist ein Arschloch.«

Etwas an ihrem Ton ließ ihn aufhorchen. »Bisher haben wir nur über mich geredet. Was hast denn du seit Bukarest so getrieben?«

»Wie schon gesagt, ein paar Artikel über das Begräbnis für eine polnische Zeitschrift geschrieben. Außerdem habe ich über das Konklave recherchiert. Die Zeitschrift hat mir den Auftrag für ein Feature gegeben.«

»Dann hast du doch gar keine Zeit für Rumänien.«

Ihre Züge wurden weicher. »Stimmt. Wäre halt schön gewesen. Aber wenigstens weiß ich, wo ich dich finde.«

Der Gedanke war tröstlich. Er wusste, dass er traurig wäre, wenn er diese Frau nie wieder sehen würde. Michener erinnerte sich an das letzte Mal vor all den Jahren, als sie allein zusammen gewesen waren. Das war in München gewesen, kurz vorm Abschluss seines Jurastudiums und seiner Rückkehr in Jakob Volkners Dienste. Sie hatte damals ganz ähnlich ausgesehen. Das Haar war ein bisschen länger gewesen und das Gesicht eine Spur jünger, ihr Lächeln jedoch ebenso reizend. Zwei Jahre lang hatte er sie geliebt und gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem er sich entscheiden musste. Jetzt erkannte er, was für einen Fehler er damals gemacht hatte. Ihm fiel etwas ein, was sie ihm vorhin auf dem Petersplatz gesagt hatte: Nur nicht denselben Fehler wiederholen. Mehr kann man sich nicht erhoffen.

Das war verdammt richtig.

Er ging durchs Zimmer und nahm sie in den Arm.

Sie wehrte sich nicht.

 

Michener schlug die Augen auf und sah auf den Nachttischwecker. Zweiundzwanzig Uhr dreiundvierzig. Katerina lag neben ihm. Sie hatten fast zwei Stunden geschlafen. Er hatte keine Schuldgefühle, dass er mit ihr im Bett war. Er liebte sie, und wenn Gott ein Problem damit hatte, dann konnte er ihm auch nicht helfen. So war es eben, und es war ihm egal.

»Du bist wach?«, fragte sie im Dunkeln.

Er hatte geglaubt, sie schliefe. »Ich bin nicht daran gewöhnt, mit einer Frau im Bett aufzuwachen.«

Sie schmiegte den Kopf an seine Brust. »Könntest du dich denn daran gewöhnen?«

»Das habe ich mich auch gerade gefragt.«

»Ich möchte diesmal nicht wieder weg von dir, Colin.«

Er küsste sie auf den Scheitel. »Wer hat denn behauptet, dass du das sollst?«

»Ich möchte mit dir nach Bosnien fliegen.«

»Was ist denn mit deinem Auftrag?«

»Das war gelogen. Ich habe gar keinen. Ich bin deinetwegen in Rom.«

Er zögerte keine Sekunde lang: »Dann würde ein Urlaub in Bosnien vielleicht uns beiden gut tun.«

Er war aus der öffentlichen Welt des Apostolischen Palasts in ein Reich übergewechselt, wo es nur noch ihn gab. Clemens XV. lag von einem dreifachen Sarg umschlossen unter dem Petersdom, und er selbst lag mit einer Frau, die er liebte, nackt im Bett.

Wohin das alles führen würde, wusste er nicht.

Er wusste nur, dass er endlich zufrieden war.

38

Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
Dienstag, 28. November
13.00 Uhr

 

Michener sah aus dem Busfenster. Die felsige Küste flog draußen vorbei, das Adriatische Meer war stürmisch und aufgewühlt. Er und Katerina hatten einen Kurzflug nach Split genommen. An den Ausgängen des Flughafens hatten schon Touristenbusse gewartet, deren Fahrer freie Plätze nach Medjugorje ausriefen. Einer der Männer erklärte, jetzt sei Nebensaison. Im Sommer kämen drei- bis fünftausend Pilger täglich, aber von November bis März wären es nur noch ein paar hundert pro Tag.

In den letzten beiden Stunden hatte eine Führerin den etwa fünfzig Buspassagieren erklärt, dass Medjugorje im südlichen Teil der Herzegowina in der Nähe der Küste liege und ein Gebirgszug im Norden die Region sowohl klimatisch als auch politisch isoliere. Der Name Medjugorje bedeute »Land zwischen den Bergen«. Die Bevölkerung bestehe mehrheitlich aus Kroaten und sei sehr katholisch. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems Anfang der Neunzigerjahre hatten die Kroaten sofort nach Unabhängigkeit gestrebt, doch die Serben die mächtigste Volksgruppe im ehemaligen Jugoslawien hatten ein Großserbien gründen wollen und Bosnien angegriffen. Jahrelang tobte ein blutiger Bürgerkrieg. Zweihunderttausend Menschen kamen ums Leben, bevor endlich die internationale Gemeinschaft dem Genozid Einhalt gebot. Ein Anschlusskrieg zwischen Kroaten und Moslems endete, als UN-Friedenstruppen eintrafen.

Medjugorje selbst war von Kriegshandlungen verschont geblieben. Die meisten Kämpfe hatten weiter im Norden und Westen stattgefunden. In dem Städtchen wohnten nur etwa fünfhundert Familien, doch die riesige Kirche der Gemeinde bot Raum für zweitausend Gläubige, und die Führerin erklärte, dass eine Infrastruktur von Hotels, Gästehäusern, Essensverkäufern und Souvenirläden den Ort mehr und mehr in ein katholisches Mekka verwandelte. Bisher waren zwanzig Millionen Pilger aus aller Welt hier gewesen. Insgesamt habe es bisher an die zweitausend Erscheinungen gegeben, was in der Geschichte der Marienvisionen unerhört sei.

»Glaubst du auch nur ein Wort davon?«, flüsterte Katerina Michener zu. »Ich finde das ein bisschen weit hergeholt, dass die Madonna jeden Tag zur Erde herabsteigt, um sich mit einer Frau in einem bosnischen Dorf zu unterhalten.«

»Die Seher glauben daran, und Clemens tat es auch. Versuche doch, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen, okay?«

»Ich werde mich bemühen. Aber an welchen Seher wenden wir uns denn?«

Diese Frage hatte er sich auch schon gestellt. Daher erkundigte er sich bei der Führerin nach näheren Einzelheiten und erfuhr, dass eine der Frauen inzwischen fünfunddreißig war, geheiratet hatte und mit Mann und Sohn in Italien lebte. Eine andere Frau war sechsunddreißig, ebenfalls verheiratet, hatte drei Kinder und wohnte noch immer in Medjugorje. Sie lebte aber sehr zurückgezogen und empfing nur äußerst selten Pilger. Einer der Männer, inzwischen Anfang dreißig, hatte versucht, Priester zu werden, war aber zweimal im Examen gescheitert und hoffte noch immer, eines Tages die Priesterweihe zu erlangen. Er war ständig auf Reisen und verkündete die Botschaft von Medjugorje in der ganzen Welt. Daher traf man ihn selten an. Der letzte Mann, der jüngste der sechs Kinder von damals, war verheiratet, hatte zwei Kinder und redete selten mit Besuchern. Eine weitere Frau, inzwischen beinahe vierzig, war verheiratet und lebte nicht mehr in Bosnien. Dann blieb noch die letzte Frau, nämlich diejenige, die bis heute Marienerscheinungen hatte. Sie hieß Jasna, war zweiunddreißig, alleinstehend und lebte in Medjugorje. Die Erscheinungen, die ihr täglich widerfuhren, wurden immer wieder von Tausenden Gläubigen in der St. Jakobskirche bezeugt. Die Führerin erklärte, Jasna sei eine introvertierte, schweigsame Frau, nehme sich aber die Zeit, Besucher zu empfangen.

Michener warf Katerina einen Blick zu und sagte: »Sieht so aus, als wäre die Auswahl begrenzt. Wir fangen mit Jasna an.«

»Jasna kennt allerdings nicht alle zehn Geheimnisse, die die Madonna den anderen enthüllt hat«, fuhr die Führerin fort, und Michener wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihren Erklärungen zu.

»Die fünf anderen kennen alle zehn Geheimnisse. Wenn auch die sechste Seherin das Geheimnis erfährt, werden die Visionen, so heißt es, enden, und die Heilige Jungfrau wird für alle Atheisten ein sichtbares Zeichen ihres Willens zurücklassen. Doch die Gläubigen dürfen mit ihrer Umkehr nicht auf dieses Zeichen warten. Jetzt ist die Zeit der Gnade. Eine Zeit der Glaubensvertiefung. Eine Zeit der Bekehrung. Denn wenn das Zeichen erscheint, wird es für viele zu spät sein. So lauten die Worte der Jungfrau. Sie sagen die Zukunft voraus.«

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Katerina ihm ins Ohr.

»Ich würde sagen, wir suchen sie trotzdem auf. Egal was dabei herauskommt, ich bin jedenfalls neugierig. Außerdem habe ich einen ganzen Sack voll Fragen, und wenn jemand die beantworten kann, dann sie.«

Die Führerin zeigte durch die Windschutzscheibe auf den Erscheinungsberg.

»Hier hatten die ersten beiden Seherinnen im Juni 1981 die erste Erscheinung in einem strahlenden Lichtkranz stand eine wunderschöne Frau, ein Kleinkind im Arm. Am nächsten Abend kamen die beiden Kinder mit vier Freunden und Freundinnen zurück, und wieder erschien die Frau, diesmal mit einer zwölfsternigen Krone gekrönt und in einem perlgrauen Kleid. Die Kinder empfanden es so, als habe die Frau sich in die Sonne gewandet.«

Die Führerin zeigte auf einen steilen Pfad, der vom Dorf Podbrdo zu einem Gipfelkreuz führte. Obwohl vom Meer dichte Wolken aufzogen, wanderten Pilger den Pfad entlang.

Gleich darauf war der ganze Kreuzberg zu sehen. Er lag etwa einen Kilometer von Medjugorje entfernt; sein abgerundeter Gipfel war über fünfhundert Meter hoch.

»Das Kreuz auf dem Gipfel wurde in den Dreißigerjahren von der Kirchengemeinde errichtet und steht nicht mit den Erscheinungen in Zusammenhang. Allerdings haben viele Pilger von Lichterscheinungen im Kreuz oder im Umkreis des Kreuzes berichtet. Daher gehört der Gipfel nun ebenfalls mit zur Wallfahrt. Es lohnt die Mühe, bis ganz nach oben zu wandern.«

Der Bus wurde langsamer und fuhr nach Medjugorje hinein. Das Dorf unterschied sich deutlich von den ärmlichen Gemeinden, durch die sie auf dem Weg von Split gekommen waren. Niedrige Steinhäuser in verschiedenen Farbtönen von Rosa, Grün und Ocker wichen höheren Gebäuden Hotels, die, wie die Führerin erklärte, vor kurzem eröffnet worden waren, um der Pilgerströme Herr zu werden. Dazwischen wimmelte es von Duty-free-Shops, Mietwagenagenturen und Reisebüros. Zwischen Kleinlastern fuhren glänzende Mercedes-Taxis.

Der Bus hielt vor den Doppeltürmen der St. Jakobskirche. Auf einer Anschlagtafel stand zu lesen, dass die Messe den ganzen Tag über in verschiedenen Sprachen gehalten wurde. Vor der Kirche erstreckte sich ein betonierter Platz, und die Führerin erklärte, die freie Fläche werde abends zum Versammlungsort für die Gläubigen. Michener, der in der Ferne Donner grollen hörte, fragte sich, ob die Gläubigen sich vom Wetter abhalten lassen würden.

Eine Patrouille marschierte über den Platz.

»Die Soldaten gehören zu den spanischen Blauhelmen, die in dieser Region stationiert sind«, erklärte die Führerin.

Michener und Katerina hängten sich ihre Schultertaschen um und stiegen aus dem Bus. Michener trat zu der Führerin. »Entschuldigen Sie, wo können wir Jasna finden?«

Die Frau zeigte eine der Straßen hinunter. »Sie wohnt in dieser Richtung, ungefähr vier Kreuzungen weiter. Aber sie kommt jeden Nachmittag um drei in die Kirche, und manchmal auch abends zum Gebet. Sie wird in Bälde hier sein.«

»Und die Erscheinungen, wo hat sie die?«

»Meistens in der Kirche. Darum kommt sie dorthin. Ich muss Ihnen aber sagen, dass sie wahrscheinlich nicht bereit ist, Sie unangekündigt zu empfangen.«

Er verstand den Wink. Wahrscheinlich wollte jeder Pilger mit einem der Seher persönlich sprechen. Die Führerin zeigte auf ein Besucherzentrum auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Dort kann man eine Begegnung für Sie arrangieren. Normalerweise finden diese Zusammenkünfte am späten Nachmittag statt. Reden Sie mit den Leuten über Jasna, um mehr zu erfahren. Man wird dort einfühlsam auf Ihre Wünsche eingehen.«

Michener bedankte sich und ging dann mit Katerina weg. »Wir müssen irgendwo anfangen, und diese Jasna bietet sich am ehesten an. Ich möchte aber nicht in Gegenwart einer Gruppe mit ihr sprechen, und ich brauche auch niemanden, der einfühlsam auf meine Wünsche eingeht. Los, gehen wir und suchen die Frau auf eigene Faust.«

39

Vatikanstadt, 14.00 Uhr

 

In langer Prozession wandelten die Kardinäle aus der Pauluskapelle, wobei sie die Refrains von Vera Creator Spiritus sangen. Sie hatten die Hände zum Gebet gefaltet und die Köpfe gesenkt. Valendrea ging unmittelbar hinter Maurice Ngovi, der die Gruppe zur Sixtinischen Kapelle führte.

Alles war bereit. Eine der letzten Aufgaben war vor einer Stunde noch unter Valendreas Aufsicht erledigt worden: Die Hofschneiderei Gammarelli war mit fünf Kartons voller weißer Leinensoutanen, roter Seidenschuhe, Rochetts, Mozzettas, Baumwollstrümpfen und Schädelkappen unterschiedlicher Größen im Vatikan eingetroffen. Die Rücken waren noch nicht zusammengenäht, die Säume noch offen, die Ärmel unfertig. Alle Änderungen würde Gammarelli persönlich vornehmen, unmittelbar vor dem ersten Auftritt des neugewählten Papstes auf dem Balkon des Petersdoms.

Unter dem Vorwand, alles zu inspizieren, hatte Valendrea dafür gesorgt, dass eine für ihn passende Garnitur dabei war – Kleidergröße 42 bis 44 um die Brust und 38 in der Taille, Schuhgröße 43 –, die mit wenigen Änderungen sitzen würde. Danach würde er Gammarelli ein Sortiment traditioneller weißer Leinengarnituren in Auftrag geben und außerdem ein paar neue Entwürfe, über die er in den letzten Jahren nachgedacht hatte. Er hatte vor, einer der bestgekleideten Päpste der Geschichte zu werden.

Hundertdreizehn Kardinäle hatten die Reise nach Rom unternommen. Jeder dieser Männer trug eine purpurrote Soutane und hatte eine Mozzetta über die Schultern gelegt. Sie trugen rote Biretts und goldene oder silberne Pektoralkreuze. Als sie sich in einer langen Reihe langsam auf ein hohes Tor zubewegten, fingen Fernsehkameras die Szene für Milliarden Zuschauer auf der ganzen Welt ein. Valendrea bemerkte, wie ernst die Kardinäle aussahen. Vielleicht hatten sie sich Ngovis Predigt bei der vorangegangenen Messe zu Herzen genommen, als der Camerlengo sie aufgefordert hatte, sich beim Eintritt in die Sixtinische Kapelle von allen weltlichen Erwägungen freizumachen und mit Hilfe des Heiligen Geistes einen fähigen Hirten für die Mutter Kirche zu wählen.

Dieses Wort Hirte pastor stellte ein Problem dar. Selten waren die Päpste des zwanzigsten Jahrhunderts pastoral gewesen. Die meisten waren Karriereintellektuelle oder Diplomaten des Vatikans. In den letzten Tagen hatte man die pastorale Erfahrung in der Presse als ein Kriterium diskutiert, das dem Heiligen Kardinalskollegium wichtig sein sollte. Mit Sicherheit war ein Kardinal, der jahrzehntelang als Hirte im Dienst der Gläubigen gewirkt hatte, für die Öffentlichkeit attraktiver als ein Verwaltungsfachmann. Valendrea hatte sogar den Abhörprotokollen entnommen, wie viele der Kardinäle sich Gedanken darüber machten, dass es ein Pluspunkt für einen Papst wäre, wenn er schon einmal einer Diözese vorgestanden hätte. Unglückseligerweise war Valendrea ein Produkt der Kurie, ein geborener Verwaltungsmann ohne pastorale Erfahrung im Gegensatz zu Ngovi, der vom Priester in der Mission zum Erzbischof und dann zum Kardinal aufgestiegen war. Daher nahm er dem Camerlengo diese Formulierung übel und betrachtete sie als einen hinterhältigen Angriff auf seine Kandidatur eine ganz subtile Stichelei, aber auch als einen weiteren Hinweis dafür, dass Ngovi sich in den nächsten Stunden als gefährlicher Gegner erweisen mochte.

Die Prozession kam vor der Sixtinischen Kapelle zum Stehen.

Aus dem Inneren schallte der Gesang eines Chors heraus.

Ngovi zögerte einen Moment lang und durchschritt dann die Flügeltür.

Auf Fotos erscheint die Sixtinische Kapelle als ein riesiger Raum, doch die Unterbringung von hundertdreizehn Kardinälen in ihrem Inneren war tatsächlich schwierig. Vor fünfhundert Jahren war sie als Privatkapelle des Papstes errichtet worden. Elegante Pilaster unterteilten die Wände, deren Freskenschmuck Geschichten aus der Bibel erzählte. Links war das Leben Moses dargestellt, rechts das Leben Christi. Der eine hatte Israel befreit, der andere die ganze Menschheit. Die Schöpfung an der Decke stellte das Schicksal der Menschheit dar, das mit einem unabwendbaren Sturz endete: Das Letzte Gericht über dem Altar war eine schreckliche Vision göttlichen Zorns, die Valendrea schon seit langem bewunderte.

Neben dem Mittelgang erstreckten sich zwei Reihen erhöhter Sitztribünen. Namenskarten kennzeichneten die Sitzplätze nach der gültigen Rangordnung. Die Stühle hatten steile Rückenlehnen, und Valendrea fand die Aussicht, lange darauf sitzen zu müssen, nicht erfreulich. Vor jedem Stuhl stand ein Tischlein mit einem Stift, Notizpapier und einem einzigen Wahlzettel.

Jeder Kardinal trat zu dem für ihn gekennzeichneten Platz. Bisher hatte noch keiner ein Wort gesagt. Der Chor hatte nicht aufgehört zu singen.

Valendreas Blick fiel auf den Ofen. Er stand in einer abgelegenen Ecke auf einem Metallgestell, das ihn vom Mosaikboden abhob. Ein Ofenrohr mündete in einen Rauchfang, der aus einem der Fenster führte. Dort würde das berühmte Rauchsignal Erfolg oder Misslingen des Wahlgangs melden. Er hoffte, dass nicht zu viele Feuer in dem Ofen brennen würden. Je öfter gewählt wurde, desto kleiner wurde seine Chance.

Ngovi stand vorn in der Kapelle, die Hände unter der Soutane gefaltet. Valendrea bemerkte den strengen Ausdruck im Gesicht des Afrikaners und hoffte, dass der Camerlengo den Moment genoss.

»Extra omnes«, sagte Ngovi mit lauter Stimme. Alle hinaus.

Chor, Hilfskräfte und Fernsehteams zogen sich zurück. Nur den Kardinälen, zweiunddreißig Priestern, Nonnen und Technikern war es gestattet, jetzt noch zu bleiben.

Im Raum herrschte ein unbehagliches Schweigen, als zwei Überwachungstechniker den Mittelgang überprüften. Sie hatten dafür zu sorgen, dass die Kapelle frei von Abhörvorrichtungen war. Am Eisengitter blieben die beiden stehen und zeigten an, dass alles in Ordnung sei.

Valendrea nickte, und die beiden zogen sich zurück. Dieses Ritual würde jeden Tag vor und nach den Wahlgängen wiederholt werden.

Ngovi verließ den Altar und ging zwischen den versammelten Kardinälen durch den Mittelgang. Er passierte eine marmorne Zwischenwand und blieb vor einer bronzenen Flügeltür stehen, die jetzt von Helfern geschlossen wurde. Vollkommenes Schweigen legte sich über den Saal. Wo zuvor Musik und das Schlurfen von Schritten auf den Matten zu hören gewesen war, die den Mosaikboden schützten, herrschte jetzt tiefe Stille. Von draußen erklang das Geräusch eines Schlüssels, der ins Schloss gesteckt und umgedreht wurde.

Ngovi überprüfte den Türgriff.

Verschlossen.

»Extra omnes«, rief er erneut.

Keine Antwort. So sollte es auch sein. Dieses Schweigen war das Zeichen, dass das Konklave begonnen hatte. Valendrea wusste, dass die Tür draußen mit einem Bleisiegel versehen wurde, um symbolisch Abgeschlossenheit zu garantieren. Es gab noch einen zweiten Weg in die Sixtinische Kapelle auf diesem würden die Kardinäle täglich zum Domus Sanctae Marthae gehen –, doch das Versiegeln der Tür kennzeichnete traditionell den Beginn des Wahlvorgangs.

Ngovi kehrte zum Altar zurück, wandte sich zu den Kardinälen und sagte dasselbe, was Valendrea am selben Ort vor vierunddreißig Monaten aus dem Mund des damaligen Camerlengos gehört hatte:

»Der Herr segne Sie. Lassen Sie uns beginnen.«

40

Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
14.30 Uhr

 

Michener betrachtete das einstöckige, moosfarbene Steinhaus. Blattloser Wein umrankte einen Laubengang, und das einzig Fröhliche an dem Haus waren die verschnörkelten Holzarbeiten über den Fenstern. Im Garten schien ein Gemüsebeet gierig auf den Regen zu warten, der schon heranzog. In der Ferne ragten Berge empor.

Sie hatten sich zweimal nach dem Weg erkundigen müssen, bevor sie das Haus fanden. Beide Male hatten die Angesprochenen mit ihrer Antwort gezögert, bis Michener deutlich machte, dass er Priester war und mit Jasna reden musste.

Er führte Katerina zur Haustür und klopfte.

Eine hochgewachsene Frau mit hellbraunem Teint und dunklem Haar öffnete. Sie war sehr schlank, hatte ein sympathisches Gesicht und warme, haselnussbraune Augen. Sie betrachtete Michener so lange und aufmerksam, dass er sich unwohl zu fühlen begann. Die Frau war um die dreißig, und um ihren Hals hing ein Rosenkranz.

»Ich muss in die Kirche und habe jetzt wirklich keine Zeit für ein Gespräch«, sagte sie. »Wir können uns aber gerne nach dem Gottesdienst unterhalten.« Sie sprach Englisch.

»Wir sind aus einem anderen Grund hier, als Sie meinen«, erklärte er. Er berichtete, wer er war und warum er sie aufsuchte.

Sie zeigte keinerlei Reaktion, so als wäre es nichts Außergewöhnliches für sie, dass ein Gesandter des Vatikans vor ihrer Tür stand. Schließlich bat sie die beiden herein.

Das Haus war sparsam und aufs Geratewohl möbliert. Durch ein halb geöffnetes Fenster fiel Sonnenlicht, einige Scheiben hatten lange Risse. Flackernde Kerzen standen um ein Marienbild, das über dem Kamin hing. In einer Ecke gab es eine weitere Statue der Jungfrau. Die Holzmadonna trug ein graues, hellblau umsäumtes Kleid. Ein weißer Schleier verhüllte ihr Gesicht und betonte das dunkelbraune Lockenhaar. Die blauen Augen blickten ausdrucksvoll und herzlich. Unsere Liebe Frau von Fatima, wenn er sich nicht irrte.

»Warum Fatima?«, fragte er, auf die Statue deutend.

»Ein Pilger hat sie mir geschenkt. Sie gefällt mir. Sie wirkt so lebendig.«

Michener bemerkte, dass Jasnas rechtes Augenlid leicht zitterte, doch ihr Gesichtsausdruck und der Ton ihrer Stimme waren seltsam ausdruckslos. Er fragte sich, was sie vorhatte.

»Sie haben Ihren Glauben verloren, nicht wahr?«, fragte sie leise.

Diese Bemerkung überrumpelte ihn. »Was spielt das für eine Rolle?«

Sie sah nachdrücklich zu Katerina hinüber. »Sie verwirrt Sie.«

»Warum sagen Sie das?«

»Priester erscheinen hier selten in Begleitung von Frauen. Dazu noch ein Priester ohne Priesterkragen.«

Er hatte nicht die Absicht, auf ihre Frage einzugehen. Sie standen noch immer, ihre Gastgeberin hatte sie nicht gebeten sich zu setzen. Die Sache fing schlecht an.

Jasna wandte sich an Katerina. »Sie sind gänzlich ungläubig. Und zwar schon seit vielen Jahren. Wie sehr das Ihre Seele quälen muss.«

»Sollen wir jetzt von Ihrer Hellsicht beeindruckt sein?« Falls Jasnas Bemerkung Katerina getroffen hatte, würde diese es sich offensichtlich nicht anmerken lassen.

»Für Sie«, fuhr Jasna fort, »besteht die Realität nur aus dem, was Sie anfassen können. Aber es gibt noch so viel mehr. So vieles, was Sie sich gar nicht vorstellen können. Und obgleich es sich nicht anfassen lässt, ist es dennoch wahr.«

»Wir sind im Auftrag des Papstes hier«, sagte Michener.

»Clemens ist bei der Jungfrau.«

»Das hoffe ich.«

»Aber Sie erweisen ihm mit Ihrem Unglauben einen schlechten Dienst.«

»Jasna, ich komme zu Ihnen, um von Ihnen das zehnte Geheimnis zu erfahren. Papst Clemens und der Camerlengo haben mir beide eine schriftliche Anweisung mitgegeben, es zu enthüllen.«

Sie wandte sich wieder an Michener. »Ich kenne es nicht, und ich möchte es auch nicht kennen lernen. Denn danach wird die Jungfrau nicht mehr zu mir kommen. Ihre Botschaften sind wichtig. Die Welt braucht sie.«

Er kannte die täglichen Botschaften aus Medjugorje, die per Fax und E-Mail in die ganze Welt versandt wurden. Meistens waren es einfache Bitten um Glauben und den Weltfrieden, die durch Fasten und Gebete erreicht werden sollten. Gestern hatte er in der vatikanischen Bibliothek einige der jüngeren Botschaften nachgelesen. Es gab gebührenpflichtige Websites, die an den Himmelsbotschaften gut verdienten, was ihn an Jasnas Motiven zweifeln ließ. Doch angesichts ihres schlichten Zuhauses und der einfachen Kleidung strich sie offensichtlich persönlich keinen Gewinn ein. »Wir wissen, dass Sie das Geheimnis nicht kennen, aber können Sie uns sagen, von welchem der anderen Seher wir es erfahren können?«

»Alle haben den Auftrag, das zehnte Geheimnis zu bewahren, bis die Jungfrau ihnen die Zunge löst.«

»Würde die Autorität des Heiligen Vaters dazu nicht genügen?«

»Der Heilige Vater ist tot.«

Allmählich fing sie an, ihn zu nerven. »Warum machen Sie es so kompliziert?«

»Diese Frage stellt auch der Himmel immer wieder.«

Das klang ganz ähnlich wie Clemens Lamento in den Wochen vor seinem Tod.

»Ich habe für den Papst gebetet«, sagte sie. »Seine Seele braucht unser Gebet.«

Er wollte sie gerade fragen, was sie damit meinte, als sie plötzlich vor die Statue in der Ecke huschte. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, und sie kniete schweigend auf einem Betschemel.

»Was macht sie?«, flüsterte Katerina.

Er zuckte mit den Schultern.

Irgendwo läutete dreimal eine Glocke, und Michener fiel ein, dass die Jungfrau Jasna angeblich immer um drei Uhr nachmittags erschien. Eine von Jasnas Händen wanderte zum Rosenkranz, der um ihren Hals lag. Sie umklammerte die Perlen und begann, Worte zu murmeln, die Michener nicht verstand. Er beugte sich näher und folgte ihrem Blick, der nach oben auf die Statue gerichtet war, doch er sah nur das stoische Holzgesicht der Jungfrau Maria.

Er hatte bei seinen Recherchen gelesen, dass Zeugen in Fatima von einem Kribbeln und Wärmegefühl während der Erscheinungen berichtet hatten, doch das schien ihm Teil einer Massenhysterie. Naive, ungebildete Menschen, die unbedingt glauben wollten, wurden von so etwas befallen. Er fragte sich, ob er im Moment wirklich Zeuge einer Marienerscheinung wurde oder nur eine Frau beobachtete, die unter einer Wahnvorstellung litt.

Er trat etwas näher.

Jasnas Blick schien auf etwas jenseits der Wand gerichtet zu sein. Sie bemerkte Michener nicht und murmelte weiter vor sich hin. Einen Moment lang meinte er, ein Licht in ihren Pupillen aufzucken zu sehen das kurze Aufblitzen eines Spiegelbildes ein Wirbel von Blau und Gold. Er fuhr herum, um den Ursprung dieser Lichtquelle auszumachen, doch da war nichts. Nur die sonnenbeschienene Ecke und die stumme, starre Statue. Was auch immer geschah, offensichtlich wurde nur Jasna davon berührt.

Schließlich ließ sie den Kopf sinken und sagte: »Die Jungfrau ist weg.«

Sie stand auf, trat zu einem Tisch und schrieb etwas auf einen Block. Als sie fertig war, reichte sie das Blatt Michener.

 

Meine Kinder, die Liebe Gottes ist groß. Verschließet eure Augen nicht, und verschließet eure Ohren nicht. Groß ist Seine Liebe. Nehmet an meinen Ruf, und höret meine Bitte, die ich euch anvertraue. Weiht euer Herz, und schafft darin einen Ort für Gott. Möge er für immer darin wohnen. Meine Augen und mein Herz werden hier sein, auch wenn ich nicht mehr erscheine. Tut in allem, was ich von euch verlange, denn ich führe euch zum Herrn. Weiset Gottes Namen nicht zurück, damit ihr nicht zurückgewiesen werdet. Nehmet meine Botschaft an, damit ihr angenommen werdet. Die Zeit zur Entscheidung ist da, meine Kinder. Seid gerechten und unschuldigen Herzens, auf dass ich euch zu eurem Vater führe. Denn dass ich hier bin, kommt aus Seiner großen Liebe.

 

»Das waren die Worte der Jungfrau«, sagte Jasna.

Er las die Botschaft noch einmal durch. »Ist das für mich bestimmt?«

»Das können nur Sie entscheiden.«

Er reichte das Blatt an Katerina weiter. »Sie haben meine Frage noch immer nicht beantwortet. Wer kann uns das zehnte Geheimnis verraten?«

»Niemand.«

»Die anderen fünf Seher wissen Bescheid. Einer von ihnen kann es uns sagen.«

»Nur wenn die Jungfrau zustimmt, und ich bin die Letzte, der ihre Erscheinungen noch täglich widerfahren. Die anderen müssten auf die Erlaubnis warten.«

»Aber Sie kennen das Geheimnis nicht«, sagte Katerina. »Es macht also nichts, dass Sie als Einzige nicht eingeweiht sind. Wir brauchen nicht die Jungfrau, wir brauchen das zehnte Geheimnis.«

»Das geht Hand in Hand.«

Er kam nicht dahinter, ob er es mit einer religiösen Fanatikerin zu tun hatte oder mit einer Frau, die vom Himmel gesegnet war. Ihre unverschämte Haltung half ihm nicht weiter, sie machte ihn eher misstrauisch. Er beschloss, mit Katerina vor Ort zu bleiben und, wenn möglich, mit den anderen Sehern zu reden, die noch in der Nähe wohnten. Falls er hier nichts erfuhr, konnte er immer noch nach Italien zurückkehren und die Seherin suchen, die dorthin ausgewandert war.

Er bedankte sich bei Jasna und ging zur Tür, Katerina im Schlepptau.

Ihre Gastgeberin blieb im Stuhl sitzen, das Gesicht so ausdruckslos wie bei ihrer Ankunft. »Vergessen Sie Bamberg nicht«, sagte Jasna.

Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter. Er blieb stehen und drehte sich um. »Warum haben Sie das gesagt?«

»Ich erhielt den Auftrag.«

»Was wissen Sie über Bamberg?«

»Nichts. Ich weiß nicht einmal, was es ist.«

»Warum haben Sie das dann gesagt?«

»Ich stelle keine Fragen. Ich tue, was ich tun soll. Vielleicht spricht die Jungfrau deswegen mit mir. Eine treue Dienerin ist nicht zu verachten.«

41

Vatikanstadt, 17.00 Uhr

 

Valendrea wurde zunehmend ungeduldig. Seine Sorge wegen der steilen Rückenlehnen der Stühle erwies sich als berechtigt, nachdem er nun schon zwei quälende Stunden lang steif und aufrecht in der strengen Sixtinischen Kapelle saß. Unterdessen war jeder der Kardinäle zum Altar gegangen und hatte vor Ngovi und Gott geschworen, keine Beeinflussung der Wahl durch weltliche Autoritäten zu dulden und, falls man sie ins munus Petrinum ins Amt des Hirten der Weltkirche wählte, die spirituellen und säkularen Rechte des Heiligen Stuhls zu verteidigen. Auch er hatte vor Ngovi gestanden, und der Blick des Afrikaners hatte ihn nicht losgelassen, als er seinen Schwur ablegte.

Eine weitere halbe Stunde verging damit, dem Personal, das beim Konklave Dienst tat, einen Schweigeeid abzunehmen. Dann befahl Ngovi allen außer den Kardinälen, die Kapelle zu verlassen, und die zweite Flügeltür wurde ebenfalls geschlossen. Er wandte sich den Versammelten zu und sagte: »Wünschen Sie, dass jetzt gewählt wird?«

Die Apostolische Konstitution Johannes Pauls II. ließ einen sofortigen ersten Wahlgang zu, wenn das Konklave es wünschte. Einer der französischen Kardinäle stand auf und äußerte den diesbezüglichen Wunsch. Valendrea war erfreut. Der Franzose war einer der seinen.

»Falls jemand dagegen ist, möge er sich jetzt melden«, sagte Ngovi.

Es blieb still. Früher war zu diesem Zeitpunkt die Wahl durch Akklamation möglich gewesen, die als direkte Intervention des Heiligen Geistes gegolten hatte. Jemand nannte spontan einen Namen, und alle stimmten überein, ihn zum Papst zu bestimmen. Aber dieser Option hatte Johannes Paul II. ein Ende bereitet.

»So wollen wir denn beginnen«, sagte Ngovi.

Der rangniedrigste Kardinaldiakon, ein dicker, dunkelhäutiger Mann aus Brasilien, watschelte nach vorn und zog drei Namen aus einem Silberkelch. Damit waren die Wahlprüfer bestimmt, die die Aufgabe hatten, die Namen der Gewählten in Listen zu schreiben und die Stimmen zusammenzuzählen. Falls der Wahlgang ergebnislos endete, würden sie die Stimmzettel im Ofen verbrennen. Dann wurden drei weitere Namen aus dem Kelch gezogen, die Revisoren. Ihre Aufgabe bestand darin, die Wahlprüfer zu kontrollieren. Schließlich wurden drei infirmarii gewählt, denen es oblag, die Stimmzettel etwaiger erkrankter Kardinäle abzuholen. Von den neun mit Ämtern betrauten Kardinälen konnte Valendrea nur vier als sichere Anhänger betrachten. Besonders ärgerlich war die Wahl des Kardinalarchivisten als Revisor. Vielleicht würde der alte Sack sich jetzt rächen.

Vor jedem Kardinal lag neben dem Schreibblock und dem Stift eine vier Zentimeter breite, rechteckige Karte. Oben waren die Worte ELIGO IN SUMMUM PONTIFICEM aufgedruckt: Ich wähle zum obersten Pontifex. Darunter war freier Platz für den Namen. Valendrea mochte diese Wahlzettel sehr gerne, da sie von seinem geliebten Paul VI. entworfen worden waren.

Am Altar, unter den schmerzlichen Bildern von Michelangelos Letztem Gericht, leerte Ngovi die verbliebenen Namen aus dem Silberkelch. Man würde sie mit den Zetteln des ersten Wahlgangs verbrennen. Dann wandte sich der Afrikaner in lateinischer Sprache an die Kardinäle und wiederholte die Wahlvorschriften. Danach verließ er den Altar und setzte sich zu den Kardinälen. Seine Aufgabe als Camerlengo näherte sich dem Ende, und in den kommenden Stunden würde er kaum noch aktiv werden müssen. Die Wahl stand jetzt bis zu ihrem Abschluss unter der Aufsicht der Wahlprüfer.

Einer der Wahlprüfer, ein Kardinal aus Argentinien, sagte: »Bitte, schreiben Sie einen Namen auf den Wahlzettel. Steht mehr als ein Name auf dem Wahlzettel, ist die Stimme ungültig. Wenn Sie fertig sind, falten Sie bitte den Stimmzettel und treten Sie zum Altar.«

Valendrea sah sich in der Kapelle um. Die hundertdreizehn Kardinäle saßen dicht gedrängt. Er wollte schnell gewinnen und das Ganze hinter sich bringen, doch er wusste, dass kaum je ein Papst schon im ersten Wahlgang gewonnen hatte. Normalerweise gaben die Kardinäle ihre erste Stimme jemandem, der ihnen besonders nahe stand: einem Lieblingskardinal, einem engen Freund, einem Vertreter des eigenen Erdteils oder der eigenen Region, oder sie wählten sogar sich selbst, was allerdings keiner jemals zugeben würde. So konnten sie ihre wahren Absichten verschleiern und den Preis für ihre künftige Unterstützung hochschrauben. Schließlich machte nichts einen Favoriten großzügiger als eine unvorhersehbare Zukunft.

Valendrea malte seinen eigenen Namen auf den Wahlzettel, wobei er seine Schrift gründlich verstellte, faltete den Zettel anschließend zweimal zusammen und wartete dann, bis er vor den Altar treten durfte.

Die Abgabe der Stimmzettel geschah nach einer strengen Rangfolge. Kardinalbischöfe kamen vor Kardinalpriestern und Kardinaldiakonen; innerhalb der jeweiligen Gruppen bestimmte der Zeitpunkt der Kardinalserhebung die Reihenfolge. Valendrea sah zu, wie der ranghöchste Kardinalbischof, ein silberhaariger Italiener aus Venedig, die vier Marmorstufen zum Altar hochstieg, den gefalteten Stimmzettel für jedermann sichtbar in der erhobenen Hand.

Als es auch für ihn so weit war, trat Valendrea zum Altar. Er wusste, dass die anderen Kardinäle ihn beobachteten, und so kniete er sich wie zum Gebet hin, sprach aber nicht mit Gott. Er wartete einfach nur eine angemessene Zeitspanne ab und stand wieder auf. Dann wiederholte er laut die Worte, die jeder Kardinal sprechen musste:

»Ich rufe Christus, der mein Richter sein wird, zum Zeugen an, dass ich den gewählt habe, von dem ich glaube, dass er nach Gottes Willen gewählt werden sollte.«

Er legte seinen Stimmzettel auf die Patene, hob den schimmernden Teller hoch und ließ den Zettel in den Kelch gleiten. Mit dieser ungewöhnlichen Methode wurde sichergestellt, dass jeder Kardinal nur einen einzigen Stimmzettel abgab. Er stellte den Hostienteller sanft wieder ab, faltete die Hände zum Gebet und zog sich zu seinem Platz zurück.

Der Wahlgang dauerte beinahe eine Stunde. Nachdem die letzte Stimme eingeworfen war, wurde das Gefäß zu einem anderen Tisch getragen. Dort wurde der Inhalt durchgeschüttelt, und dann wurden die Stimmen von den drei Wahlprüfern gezählt. Die Revisoren beobachteten alles und wandten ihre Augen keine Sekunde vom Tisch ab. Beim Entfalten jedes Stimmzettels wurde der darauf notierte Name laut vorgelesen. Jeder Kardinal machte seine eigene Strichliste. Die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen musste sich auf hundertdreizehn belaufen. Andernfalls würde man die Zettel vernichten, und der Wahlgang würde für ungültig erklärt.

Nach dem Verlesen des letzten Namens sah Valendrea sich das Ergebnis an. Er selbst hatte zweiunddreißig Stimmen erhalten. Nicht schlecht für einen ersten Wahlgang. Aber Ngovi hatte vierundzwanzig Stimmen auf sich versammelt. Die verbliebenen siebenundfünfzig Stimmen verteilten sich auf zwei Dutzend Kandidaten.

Valendrea starrte die Versammlung an.

Offensichtlich dachten alle dasselbe wie er.

Das würde ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden.