22

Bukarest
Samstag, 11. November
6.00 Uhr

 

Katerina hatte schlecht geschlafen. Ihr Hals tat weh, weil Ambrosi sie gewürgt hatte, und sie war stocksauer auf Valendrea. Ihr erster Gedanke war, dem Kardinalstaatssekretär klar zu machen, dass ihre Zusammenarbeit beendet war, und anschließend Michener reinen Wein einzuschenken. Doch sie wusste, dass dann der wackelige Friede, den sie gestern Abend geschlossen hatten, wieder zerbrechen würde. Dass sie vor allem deshalb für Valendrea gearbeitet hatte, um einen Grund zu haben, Colin wieder näher zu kommen, würde dieser ihr niemals glauben. Er würde nur ihren Verrat sehen.

Tom Kealy hatte mit seiner Einschätzung Valendreas Recht gehabt. Er ist von Ehrgeiz zerfressen, ein richtiges Schwein. Doch Tom würde nie erfahren, wie treffend sein Urteil war. Katerina starrte an die dunkle Zimmerdecke und massierte sich den schmerzenden Hals. Noch etwas hatte Kealy richtig gesehen. Er hatte ihr einmal gesagt, es gebe zwei Sorten von Kardinälen jene, die Papst werden wollten, und jene, die wirklich Papst werden wollten. Sie fügte dem eine dritte Kategorie hinzu: jene, die nur darauf brannten, Papst zu werden.

Wie Alberto Valendrea.

Sie verabscheute sich zutiefst, Micheners Gutgläubigkeit missbraucht zu haben. Er war sich selbst und seinem Glauben treu. Vielleicht war es das, was sie zu ihm hingezogen hatte. Schade, dass die Kirche es ihren Geistlichen nicht gestattete, glücklich zu sein. Schade, dass sie bis in den privaten Bereich hinein alles kontrollierte. Diese gottverdammte römisch-katholische Kirche. Und der verdammte Alberto Valendrea.

Sie hatte in den Kleidern geschlafen und die letzten zwei Stunden geduldig gewartet. Jetzt hörte sie über sich die Fußbodendielen quietschen und wurde munter. Mit den Augen folgte sie dem Geräusch von Micheners Schritten. Sie hörte, dass Wasser ins Waschbecken lief, und wartete auf das Unvermeidliche. Gleich darauf hörte sie, dass er in Richtung Korridor ging. Über ihr öffnete und schloss sich die Zimmertür.

Sie stand auf, verließ ihr Zimmer, eilte zum Treppenhaus und hörte, wie oben im Korridor die Tür zum Badezimmer geschlossen wurde. Sie schlich die Treppe hoch, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und wartete auf das Rauschen der Dusche. Dann huschte sie über den fadenscheinigen Läufer auf dem holprigen Dielenboden zu Micheners Zimmer. Hoffentlich hatte er noch immer diese Gewohnheit, nicht abzuschließen.

Die Tür war unverschlossen!

Sie trat ein und sah sofort seine Reisetasche. Auch die Kleider, die er gestern getragen hatte, und sein Jackett lagen da. Sie suchte in den Taschen und fand Hochwürden Tibors Brief. Sie wusste von früher, dass Michener immer nur kurz duschte, und riss den Umschlag hastig auf.

 

Heiliger Vater, ich habe den Eid, den Johannes XXIII. mir abverlangte, um der Liebe Christi willen gehalten. Doch vor mehreren Monaten veranlasste mich ein Zwischenfall, neu über meine Pflichten nachzudenken. Eines der Kinder aus dem Waisenhaus starb. In den letzten Augenblicken seines Lebens fragte es mich vor Schmerz schreiend, ob Gott ihm vergeben werde. Ich konnte mir nicht vorstellen, was diesem unschuldigen Kind vergeben werden müsste, doch ich sagte ihm, dass der Herr alles vergibt. Es bat mich, das näher zu erklären, doch der Tod wartete nicht, und das Kind starb, bevor ich seine Bitte erfüllen konnte. In diesem Moment begriff ich, dass auch ich der Vergebung bedarf. Heiliger Vater, ich habe meinem Papst einen Eid geschworen, und dieser Eid war mir wichtig. Ich habe ihn mehr als vierzig Jahre gehalten, doch man soll den Himmel nicht herausfordern. Es steht mir gewiss nicht an, Ihnen, dem Vikar Christi, zu sagen, was zu tun ist. Diesen Weg kann Ihnen nur Ihr eigenes Gewissen weisen, unter Führung unseres Herrn und Erlösers. Doch ich muss fragen: Wie viel Intoleranz wird der Himmel noch dulden? Ich möchte nicht unehrerbietig sein, aber Sie selbst haben mich um meine Meinung gebeten. Daher habe ich diese in aller Demut geäußert.

 

Katerina las die Botschaft ein zweites Mal. Hochwürden Tibors Brief war genauso geheimnisvoll wie sein Bericht letzte Nacht. Hier standen nur Rätsel.

Sie faltete den Brief wieder zusammen und steckte das Blatt in einen weißen Umschlag, den sie bei ihren Sachen gefunden hatte. Er war ein bisschen größer als das Original, aber hoffentlich nicht so sehr, dass Colin Verdacht schöpfte.

Vorsichtig steckte sie den Umschlag in seine Jacketttasche zurück und verließ das Zimmer. Als sie an der Badezimmertür vorbeikam, hörte sie, dass die Dusche abgestellt wurde. Sie stellte sich vor, wie Michener sich abtrocknete. Er wusste ja nichts von ihrem letzten Verrat. Katerina zögerte einen Moment lang und ging dann die Treppe hinunter, ohne sich umzusehen. Sie fühlte sich noch schlechter als vorher.

23

Vatikanstadt, 7.15 Uhr

 

Valendrea schob sein Frühstück von sich. Kein Appetit. Er hatte kaum geschlafen und so intensiv geträumt, dass es ihm nicht aus dem Kopf ging.

Er sah sich selbst bei seiner eigenen Krönung, wie er auf der majestätischen sedia gestatoria in den Petersdom getragen wurde. Acht Monsignori hielten einen seidenen Baldachin über den geschichtsträchtigen goldenen Stuhl. Valendrea war von seinem päpstlichen Gefolge umgeben, und alle waren dem ehrwürdigen Anlass entsprechend ausstaffiert. Fächer aus Straußenfedern beschirmten ihn von drei Seiten und betonten seine herausgehobene Position als Stellvertreter Christi auf Erden. Ein Chor sang, Millionen von Menschen jubelten ihm zu, und weitere Millionen sahen ihn im Fernsehen.

Das Sonderbare an der Szene war, dass er nackt war.

Keine Kleider. Keine Krone. Vollkommen nackt, aber niemand schien es zu bemerken, obwohl er selbst sich dessen schmerzlich bewusst war. Es war ihm eigenartig unangenehm zumute, während er der Menschenmenge pausenlos zuwinkte. Er hätte seine Blöße gerne bedeckt, doch die Angst fesselte ihn auf den Thron. Wenn er aufstand, würde es vielleicht erst richtig auffallen. Würden die Leute ihn auslachen? Ihn der Lächerlichkeit preisgeben? Dann plötzlich trat ein einzelnes Gesicht aus dem Millionenheer der Zuschauer heraus.

Jakob Volkner.

Der Deutsche trug sämtliche päpstliche Insignien. Er trug die Gewänder, die Tiara, das Pallium all das, was Valendrea eigentlich anhaben sollte. Über dem Jubel der Menschenmenge, der Musik und dem Chor hörte er Volkners Worte so deutlich, als stünde er unmittelbar neben ihm.

Ich bin froh, dass Sie es sind, Alberto.

Was meinen Sie damit?

Sie werden schon sehen.

Er erwachte in kalten Schweiß gebadet, schlief aber wieder ein; doch der Traum kehrte wieder. Schließlich hatte er eine kochend heiße Dusche genommen und sich etwas entspannt. Beim Rasieren hatte er sich zweimal geschnitten, und beinahe wäre er auf dem Badezimmerboden ausgerutscht. Es machte ihn fassungslos, dass er so die Nerven verlor. Nervosität kannte er sonst gar nicht.

Ich wollte, dass Sie wissen, was Sie erwartet.

Der verdammte Deutsche war sich gestern Abend unglaublich klug vorgekommen.

Und mit einem Mal verstand Valendrea, was los war.

Jakob Volkner wusste ganz genau, was 1978 passiert war.

 

Valendrea kehrte in die Riserva zurück. Das geschah auf Anordnung Pauls, und der Papst hatte dem Archivar eigens Anweisung gegeben, seinem Beauftragten den Tresor zu öffnen und ihn dann allein zu lassen. Valendrea zog die Schublade auf und holte die Holzschatulle hervor. Er hatte Wachs, ein Feuerzeug und das Siegel Pauls VI. dabei. Genau wie Johannes XXIII. würde er das Kästchen nun versiegeln und damit klar machen, dass es nur auf päpstlichen Befehl geöffnet werden durfte.

Er klappte den Deckel auf und vergewisserte sich, dass noch immer zwei Papierpäckchen darin lagen, insgesamt vier zusammengefaltete Blätter. Noch sah er vor sich, was für ein Gesicht Paul beim Lesen des oberen Päckchens gemacht hatte. Valendrea hatte Schreck in seiner Miene gelesen, und so etwas sah man bei Paul VI. äußerst selten. Doch da war noch etwas anderes gewesen, nur einen Moment lang, doch Valendrea hatte es deutlich gesehen.

Echte Angst.

Er blickte in die Schatulle. Die beiden Papierpäckchen, die das dritte Geheimnis von Fatima enthielten, lagen noch immer darin. Er wusste, dass er etwas Verbotenes tat, doch keiner würde es jemals erfahren. Und so nahm er das obere Päckchen heraus, das Paul einen solchen Schreck eingejagt hatte.

Er entfaltete die Seiten, legte das portugiesische Original aus der Hand und überflog die italienische Übersetzung.

Er erfasste die Lage sofort und wusste, was zu tun war. Hatte Paul ihn vielleicht deshalb hierher geschickt? Vielleicht hatte der alte Mann geahnt, dass er den Text lesen und dann das erledigen würde, was einem Papst unmöglich war.

Er schob die Übersetzung unter seine Soutane und ließ gleich darauf Schwester Lucias Original folgen. Dann entfaltete er das verbliebene Päckchen und las dessen Inhalt.

Der war ohne Bedeutung.

Und so nahm er diese beiden Seiten, legte sie wieder in die Schatulle und verschloss das Kästchen mit Pauls Siegel.

 

Valendrea erhob sich vom Tisch und schloss die Türen zu seiner Wohnung ab. Dann ging er in sein Schlafzimmer und holte eine kleine, bronzene Kassette aus einem Schränkchen. Sein Vater hatte ihm dieses Kästchen zu seinem siebzehnten Geburtstag geschenkt. Seitdem hob er alles Kostbare darin auf, darunter Fotos seiner Eltern, Besitzurkunden, Aktien, sein erstes Messbuch und einen Rosenkranz von Johannes Paul II.

Er griff unter sein Gewand und fand den Schlüssel, der um seinen Hals hing. Er öffnete den Deckel und ging den Inhalt bis ganz unten durch. Die zwei zusammengefalteten Seiten, die er in jener Nacht des Jahres 1978 aus der Riserva mitgenommen hatte, waren noch immer da. Die eine war auf Portugiesisch, die andere auf Italienisch verfasst. Dort lag die Hälfte des dritten Geheimnisses von Fatima.

Er nahm die beiden Seiten heraus.

Er konnte sich nicht überwinden, den Text nochmals zu lesen. Einmal war mehr als genug. Daher ging er ins Bad, zerriss beide Blätter in winzige Fetzen, warf sie in die Toilettenschüssel und spülte.

Weg waren sie.

Endlich.

Jetzt musste er nur noch in die Riserva zurückkehren und Tibors letzte Kopie vernichten. Doch damit musste er bis nach Clemens Tod warten. Außerdem musste er mit Ambrosi reden. Vor einer Stunde hatte er dessen Handy angeklingelt, aber erfolglos. Jetzt nahm er das schnurlose Telefon von der Badezimmerablage und versuchte es erneut.

Ambrosi nahm ab.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte der Staatssekretär seinen Helfer.

»Ich habe gestern Abend mit unserem Engel geredet. Viel war nicht zu erfahren. Heute muss sie mehr leisten.«

»Vergessen Sie das. Was wir ursprünglich vorhatten, ist unwichtig geworden. Ich brauche etwas anderes.«

Er musste sich vorsichtig ausdrücken, da auch ein Handy mühelos abgehört werden konnte.

»Hören Sie zu«, sagte er.

24

Bukarest, 6.45 Uhr

 

Michener zog sich an und warf dann Toilettenartikel und schmutzige Wäsche in seine Reisetasche. Er fühlte sich zerrissen, ein Teil seiner selbst wäre am liebsten nach Zlatna zurückgefahren und hätte sich um diese Kinder gekümmert. Der Winter war nicht mehr fern, und Hochwürden Tibor hatte ihnen am Vorabend erzählt, was für ein Kampf es schon war, nur die Heizung am Laufen zu halten. Im letzten Jahr hatten sie zwei Monate mit eingefrorenen Rohren durchstehen müssen und in improvisierten Öfen alles an Holz verbrannt, was sie im Wald auftreiben konnten. Dieser Winter sollte wohl besser werden, dachte Michener. Handwerker einer Hilfsorganisation hatten den ganzen Sommer über das uralte Heizungssystem repariert.

Tibor hatte gesagt, sein innigster Wunsch sei, im nächsten Vierteljahr keines der Kinder zu verlieren. Im vergangenen Jahr waren drei Kinder gestorben und auf einem Friedhof unmittelbar hinter der Mauer begraben worden. Michener fragte sich, welchen Sinn all dieses Leiden hatte. Er selbst hatte Glück gehabt. Die irischen Entbindungsheime hatten sich das Ziel gesetzt, ein Zuhause für die Kinder zu finden. Die Kehrseite war, dass die Mütter für immer von ihren Kindern getrennt worden waren. Was musste das für ein Bürokrat gewesen sein, der damals im Vatikan dieses groteske Arrangement abgesegnet hatte, ohne einen Moment lang darüber nachzudenken, wie viel Schmerz damit verbunden war. Die politische Maschinerie der römisch-katholischen Kirche konnte einen auf die Palme bringen. Zweitausend Jahre lang hatte dieses Räderwerk sich unverzagt gedreht, ohne sich von der protestantischen Reformation, den Ungläubigen, dem Schisma oder der Plünderung Napoleons erschüttern zu lassen. Warum fürchtete die Kirche sich dann vor etwas, das ein Hirtenmädchen aus Fatima zu sagen hatte? War so etwas nicht vollkommen bedeutungslos?

Anscheinend nicht.

Er warf sich die Reisetasche über die Schulter und ging nach unten zu Katerinas Zimmer. Sie waren vor seinem Aufbruch zum Flughafen zum Frühstück verabredet. Zwischen Tür und Rahmen steckte ein Zettel. Er zog ihn heraus.

 

Colin:

 

Ich hielt es für besser, dass wir uns heute Vormittag nicht mehr sehen. Ich wollte, dass wir den gestrigen Abend unverdorben in Erinnerung behalten: Zwei alte Freunde, die das Vergnügen hatten, sich noch einmal zu sehen. Ich wünsche dir viel Erfolg in Rom. Du verdienst ihn.

Immer die Deine

Kate

 

Einerseits war er erleichtert. Er hatte wirklich nicht gewusst, was er ihr sagen sollte. In Rom ließ sich ihre Freundschaft unmöglich fortführen. Um seine Karriere zu ruinieren, genügte schon die winzigste Andeutung von etwas Ungehörigem. Aber er war froh, dass sie sich im Guten trennten. Vielleicht hatten sie endlich Frieden geschlossen. Zumindest hoffte er das.

Er zerriss den Zettel und ging zur Toilette, wo er alles runterspülte. Eigentlich sonderbar, dass das sein musste. Aber es durfte nichts geben, was sie und ihn miteinander verband. Diese Botschaft musste verschwinden. Säuberlich.

Und warum?

Klarer Fall. Das Protokoll wollte es so. Und sein Image verlangte es.

Weniger klar war ihm, warum das alles ihn zunehmend wütend machte.

 

Michener öffnete die Tür zu seiner Wohnung im dritten Stock des Apostolischen Palasts. Seine Räumlichkeiten lagen neben denen des Papstes, wie es für den päpstlichen Privatsekretär seit jeher üblich war. Als er vor drei Jahren hier eingezogen war, hatte er in seiner Naivität geglaubt, der Geist all jener Menschen, die vor ihm hier gelebt hatten, könnte ihn irgendwie leiten. Aber er hatte nichts dergleichen gespürt und gelernt, dass er seinen Weg ganz allein finden musste.

Am Flughafen Rom hatte er ein Taxi genommen, statt sein Büro einen Wagen schicken zu lassen. Gemäß Clemens Befehl wollte er weiter so unauffällig wie möglich reisen. Er hatte den Vatikan über den Petersplatz betreten, in Alltagskleidung wie irgendeiner der vielen tausend Touristen.

An Samstagen war in der Kurie nicht viel los. Die meisten Angestellten hatten frei, und bis auf ein paar Büros im Staatssekretariat war alles geschlossen. Michener war in seinem Büro vorbeigegangen und hatte erfahren, dass Clemens sich nach Castel Gandolfo hatte fliegen lassen und erst Montag zurückerwartet wurde. Die Papstvilla lag achtzehn Meilen südlich von Rom und diente den Päpsten schon seit Jahrhunderten als Rückzugsmöglichkeit. Die Päpste der Neuzeit, die die Villa als Wochenendhaus nutzten oder dort im Sommer Zuflucht vor der drückenden Hitze Roms suchten, ließen sich mit dem Hubschrauber hinfliegen.

Michener wusste, dass der Papst die Villa liebte, machte sich aber dennoch Sorgen. Der Besuch war ungeplant. Er fragte einen von Clemens Assistenten, erfuhr aber nur, dass der Papst gesagt hatte, er wolle ein paar Tage auf dem Land verbringen. Also hatte man alle Termine umgelegt. Die Pressestelle hatte ein paar Anfragen bezüglich der Gesundheit des Pontifex erhalten, wie das bei Terminverschiebungen üblich war, doch man hatte sofort die Standarderklärung abgegeben: Der Heilige Vater erfreut sich bester Gesundheit, und wir wünschen ihm ein langes Leben.

Michener machte sich allerdings weiterhin Sorgen, und so ließ er den Assistenten, der Clemens begleitet hatte, ans Telefon kommen.

»Was macht er dort?«, fragte Michener.

»Er wollte einfach nur den See sehen und im Park spazieren gehen.«

»Hat er nach mir gefragt?«

»Mit keiner Silbe.«

»Sagen Sie ihm, dass ich zurück bin.«

Eine Stunde später läutete das Telefon in Micheners Wohnung.

»Der Heilige Vater möchte Sie sehen. Er meinte, eine Fahrt mit dem Auto durch die schöne Landschaft würde Ihnen gewiss gefallen. Verstehen Sie, was er damit sagen will?«

Michener lächelte und blickte auf die Uhr. Es war zwanzig nach drei. »Sagen Sie ihm, dass ich vor Einbruch der Nacht da bin.«

Clemens wollte offensichtlich nicht, dass er den Hubschrauber nahm, obgleich die Schweizergardisten diese Art des Transports vorzogen. Daher rief er beim Wagenpark an und bat, ihm einen Wagen ohne Vatikankennzeichen bereitzustellen.

 

Die Fahrt nach Südosten führte am Rand der Albaner Berge entlang durch Olivenplantagen. Die päpstliche Residenz in Castel Gandolfo bestand aus der Villa Barberini, der Villa Cybo und einem wunderschönen Park, alles am Ufer des Albaner Sees gelegen. Vom lärmenden Treiben der Stadt Rom war an dieser Zufluchtsstätte nichts zu spüren sie war ein Ort der Ruhe und Einsamkeit im endlosen Treiben der Kirchengeschäfte.

Er fand Clemens im Wintergarten. Michener sah inzwischen wieder aus wie ein richtiger päpstlicher Privatsekretär; er trug den Priesterkragen und eine schwarze Soutane mit roter Schärpe. Der Papst saß zwischen den Pflanzen auf einem Holzstuhl. Die Nachmittagssonne fiel auf die hohen Glaswände, und die warme Luft roch nach Nektar.

»Colin, ziehen Sie doch einen dieser Stühle heran.« Bei diesen Worten lächelte der Papst freundlich.

Michener tat wie geheißen. »Sie sehen gut aus.«

Clemens lächelte. »Ich dachte eigentlich, ich hätte nie schlecht ausgesehen.«

»Sie wissen, was ich meine.«

»Ich fühle mich auch gut. Und Sie werden gerne hören, dass ich heute gefrühstückt und zu Mittag gegessen habe. Und jetzt erzählen Sie mir von Rumänien. In allen Einzelheiten.«

Er berichtete alles Vorgefallene und ließ nur seine Begegnung mit Katerina aus. Dann reichte er Clemens den Umschlag, und der Papst las Hochwürden Tibors Antwort.

»Was genau hat Hochwürden Tibor Ihnen gesagt?«, fragte Clemens.

Michener berichtete und merkte dann an: »Er hat in Rätseln gesprochen. Viel hat er eigentlich nicht gesagt, aber er war nicht gut auf die Kirche zu sprechen.«

»Das verstehe ich«, murmelte Clemens.

»Er war wütend darüber, wie der Heilige Stuhl mit dem dritten Geheimnis verfahren ist. Er deutete an, die Botschaft der Jungfrau werde absichtlich missachtet. Er forderte Sie mehrmals auf, der Jungfrau zu gehorchen. Keine Diskussionen, keine Verzögerung, sondern einfach gehorchen.«

Der Blick des alten Mannes ruhte auf Michener. »Er hat Ihnen von Johannes XXIII. erzählt, nicht wahr?«

Michener nickte.

»Berichten Sie mir davon.«

Er gehorchte, und Clemens hörte fasziniert zu. »Hochwürden Tibor ist der einzige noch lebende Mensch, der an jenem Tag dabei war«, sagte der Papst, als sein Sekretär geendet hatte. »Was halten Sie von dem Priester?«

Bilder des Waisenhauses stiegen vor ihm auf. »Er wirkt aufrichtig. Aber er ist auch eigensinnig.« Er verschluckte ein paar Worte, die er gerne hinzugefügt hätte: wie Sie, Heiliger Vater. »Jakob, könnten Sie mir jetzt sagen, worum es hier geht?«

»Sie müssen noch eine Reise für mich unternehmen.«

»Noch eine?«

Clemens nickte. »Diesmal nach Medjugorje.«

»Bosnien?«, fragte er ungläubig.

»Sie müssen mit einer der Seherinnen sprechen.«

Er wusste über Medjugorje Bescheid. Am 24. Juni 1981 hatten zwei Kinder auf einem Berg im Südwesten Jugoslawiens angeblich eine wunderschöne Frau mit einem Säugling im Arm gesehen. Am nächsten Abend waren die Kinder mit vier Freunden wiedergekommen, und alle sechs hatten ähnliche Visionen gesehen. Danach hatten die sechs Kinder täglich Erscheinungen gehabt, und jedes von ihnen hatte Botschaften empfangen. Die lokalen kommunistischen Amtsträger hielten die Sache für eine konterrevolutionäre Verschwörung und versuchten, das Schauspiel zu unterbinden, doch immer mehr Menschen kamen angereist. Nach wenigen Monaten tauchten Berichte über wundersame Heilungen auf, und man hörte von Rosenkränzen, die sich in Gold verwandelt hatten. Die Erscheinungen hörten selbst während des Bürgerkriegs nicht auf, und ebenso wenig versiegten die Pilgerströme. Inzwischen waren die Kinder erwachsen, die Region hieß nun Bosnien-Herzegowina, und nur noch eine einzige Seherin hatte Visionen. Wie bei den Erscheinungen in Fatima gab es Geheimnisse. Fünf der Seher waren von Maria zehn Botschaften anvertraut worden. Die sechste Seherin hatte nur neun Botschaften empfangen. Die neun Geheimnisse waren veröffentlicht worden, doch das zehnte blieb ein Mysterium.

»Heiliger Vater, muss diese Reise wirklich sein?«

Er war nicht sonderlich erpicht darauf, sich im vom Bürgerkrieg zerrissenen Bosnien herumzutreiben. Dort waren noch immer amerikanische und NATO-Friedenstruppen stationiert, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.

»Ich muss das zehnte Geheimnis von Medjugorje erfahren«, sagte Clemens, und sein Tonfall machte deutlich, dass er keinen Widerspruch dulden würde. »Setzen Sie eine päpstliche Anweisung für die Seher auf. Sie sollen Ihnen die Botschaft mitteilen. Keinem anderen. Nur Ihnen.«

Er hätte sich gerne gewehrt, war aber nach dem Flug und der Hektik des Vortags zu müde, um sich auf eine ohnehin fruchtlose Diskussion einzulassen. Daher fragte er einfach nur: »Wann, Heiliger Vater?«

Sein alter Freund schien seine Erschöpfung zu spüren. »In einigen Tagen. Dann erregen Sie weniger Aufmerksamkeit. Und auch diesmal muss ich Sie bitten, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln.«

25

Bukarest, Rumänien
21.40 Uhr

 

Als die Gulfstream aus dem bewölkten Himmel herabsank und auf dem Otopeni-Flughafen landete, löste Valendrea den Gurt. Der Jet gehörte einem italienischen Großkonzern, der mit den Valendreas der Toskana verflochten war, und für kurzfristig geplante Flüge von Rom benutzte Valendrea dieses Flugzeug regelmäßig.

Hochwürden Ambrosi erwartete ihn auf dem Hallenvorfeld. Der hagere Mann trug Zivilkleidung und war in einen schwarzen Mantel gehüllt.

»Willkommen, Eminenz«, sagte Ambrosi.

Die Nacht war kalt in Rumänien, und Valendrea war froh, dass er einen dicken Wollmantel dabei hatte. Wie Ambrosi trug er einfache Straßenkleidung. Dies hier war kein offizieller Besuch, und er wollte auf keinen Fall erkannt werden. Es war gefährlich hierher zu kommen, aber er musste das Risiko eingehen.

»Was ist mit der Grenze?«

»Schon erledigt. Ein Vatikanpass zählt hier etwas.«

Sie stiegen in die wartende Limousine. Ambrosi fuhr, und Valendrea saß allein auf dem Rücksitz. Sie fuhren nach Norden, weg von Bukarest und über halb verfallene Straßen in Richtung der Berge. Dies war Valendreas erster Besuch in Rumänien. Er wusste, dass Clemens gerne eine offizielle Reise in dieses problembeladene Land unternommen hätte, doch jeder Besuch würde warten müssen, bis Valendrea am Ruder war.

»Er fährt jeden Samstagabend zum Beten hier heraus«, hörte er Ambrosis Stimme vom Fahrersitz. »Bei jedem Wetter. Ob heiß oder kalt. Das hält er schon seit Jahren so.«

Valendrea nahm die Information mit einem Nicken zur Kenntnis. Ambrosi war so gründlich gewesen wie immer.

Beinahe eine Stunde lang fuhren sie schweigend. Die Straße stieg immer stärker an und verlief schließlich in Haarnadelkurven einen steilen, bewaldeten Berghang hinauf. Auf der Kuppe angekommen, hielt Ambrosi behutsam auf dem holprigen Straßenrand und stellte den Motor aus.

»Dort den Pfad hinunter«, sagte Ambrosi und zeigte durch die beschlagene Seitenscheibe auf einen dunklen Weg zwischen den Bäumen.

Im Scheinwerferlicht bemerkte Valendrea einen zweiten Wagen, der vor ihnen parkte. »Warum kommt er hierher?«

»Wie ich hörte, betrachtet er diese Stelle als heilig. Im Mittelalter wurde die Kirche hier von den Einheimischen genutzt. Als die Türken einfielen, sperrten sie die Dorfbewohner darin ein und verbrannten sie bei lebendigem Leibe. Anscheinend schöpft er Kraft aus ihrem Märtyrertum.«

»Ich muss Ihnen etwas sagen«, erklärte Valendrea Ambrosi. Sein Assistent saß auf dem Fahrersitz, den Blick starr nach vorn gerichtet. »Wir werden jetzt eine Grenze überschreiten, aber das lässt sich nicht ändern. Es steht viel auf dem Spiel. Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es für die Kirche nicht von größter Bedeutung wäre.«

»Sie brauchen nichts zu erklären«, antwortete Ambrosi leise. »Es genügt, dass Sie es sagen.«

»Ich bin von Ihrem Vertrauen beeindruckt. Aber Sie sind Gottes Soldat, und ein Krieger sollte wissen, wofür er kämpft. Darum will ich Ihnen erzählen, was ich weiß.«

 

Sie stiegen aus. Ambrosi ging voran. Der Himmel war wie aus Samt, und der Mond, beinahe voll, warf ein bleiches Licht. Sie gingen in den Wald, und nach fünfzig Metern tauchten die dunklen Schemen einer Kirche vor ihnen auf. Valendrea bemerkte die alten Fensterrosetten und den Glockenturm. Die Steine zeichneten sich nicht mehr einzeln ab, sondern schienen fugenlos ineinander überzugehen. Von drinnen fiel kein Licht durch die Fenster.

»Hochwürden Tibor«, rief Valendrea auf Englisch.

In der Tür erschien eine schwarze Silhouette. »Wer ist da?«

»Ich bin Alberto Kardinal Valendrea. Ich komme aus Rom, um mich mit Ihnen zu unterhalten.«

Tibor trat aus der Kirche. »Erst der Privatsekretär des Papstes, jetzt der Kardinalstaatssekretär. Welche Ehre für einen bescheidenen Priester.«

Valendrea war sich nicht sicher, ob der respektvolle Ton ernst gemeint oder ironisch war. Er hielt ihm die Hand mit der Handfläche nach unten hin, und Tibor kniete sich vor ihm nieder und küsste den Ring, den er trug, seit Johannes Paul II. ihn zum Kardinal erhoben hatte. Er wusste den Gehorsam des Priesters zu schätzen.

»Bitte, Hochwürden, stehen Sie auf. Wir müssen miteinander reden.«

Tibor erhob sich. »Ist meine Botschaft denn schon zum Papst gelangt?«

»Jawohl, und der Papst ist Ihnen dankbar. Doch er hat mich zu Ihnen geschickt, um mehr von Ihnen zu erfahren.«

»Eminenz, leider kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Es ist ohnehin schlimm genug, dass ich meinen Eid gegenüber Johannes XXIII. verletzt und mein Schweigen gebrochen habe.«

Diese Worte gefielen Valendrea. »Sie haben darüber also noch mit keinem anderen gesprochen? Nicht einmal mit einem Beichtvater?«

»So ist es, Eminenz. Außer Papst Clemens habe ich niemandem gesagt, was ich weiß.«

»War nicht der päpstliche Privatsekretär gestern hier?«

»Gewiss. Aber ich habe die Wahrheit nur angedeutet. Er weiß nichts. Sie haben vermutlich meine schriftliche Antwort gesehen?«

»Ja«, log er.

»Dann wissen Sie, dass ich auch darin wenig gesagt habe.«

»Was hat Sie veranlasst, eine Reproduktion von Schwester Lucias Botschaft anzufertigen?«

»Schwer zu erklären. Als ich an jenem Tag von Johannes zurückkehrte, entdeckte ich den Abdruck auf meinem Schreibblock. Ich fragte im Gebet um Rat, und etwas drängte mich, die Seite zu schraffieren und die Schrift herauszuholen.«

»Und warum haben Sie den Text all die Jahre aufgehoben?«

»Das habe ich mich selbst auch schon gefragt. Ich weiß nicht warum, ich weiß nur, dass ich es getan habe.«

»Und warum haben Sie schließlich beschlossen, Kontakt zu Papst Clemens aufzunehmen?«

»Es ist nicht richtig, was mit dem dritten Geheimnis geschehen ist. Die Kirche war nicht ehrlich zu den Gläubigen. Etwas in meinem Inneren hat mich zum Reden gedrängt, ein Befehl, den ich nicht überhören konnte.«

Valendrea fing Ambrosis Blick auf und sah, dass dieser mit dem Kopf eine fast unmerkliche Bewegung nach rechts machte. Da entlang.

»Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen, Hochwürden«, sagte er und ergriff Tibor sanft beim Arm. »Können Sie mir erzählen, warum Sie diesen Ort hier aufsuchen?«

»Ich hatte mich gerade gefragt, Eminenz, wie Sie mich gefunden haben.«

»Ihre Frömmigkeit ist überall bekannt, Hochwürden. Mein Assistent hat sich einfach nur nach Ihnen erkundigt, und da erzählte man ihm von Ihrem wöchentlichen Ritual.«

»Dies hier ist ein heiliger Ort. Katholiken haben hier fünfhundert Jahre lang gebetet. Das empfinde ich als tröstlich.« Tibor stockte. »Und außerdem komme ich wegen der Jungfrau.«

Sie folgten Ambrosi auf einem schmalen Pfad. »Erklären Sie das näher, Hochwürden.«

»Die Madonna von Fatima trug den Kindern auf, dass jeden ersten Samstag im Monat ein Bußgottesdienst gefeiert werden solle. Ich komme jede Woche hierher, um für mich persönlich Buße zu tun.«

»Worum beten Sie?«

»Um den Frieden, den die Madonna vorhergesagt hat.«

»Auch ich bete darum. Und ebenso der Heilige Vater.«

Der Pfad endete vor einem jähen Abgrund. Vor ihnen lag ein Panorama aus Bergen und dichten Wäldern, das in ein bleiches, blau-graues Dämmerlicht getaucht war. Man sah kaum Lichtpunkte in der Landschaft, doch in der Ferne brannten einige Feuer. Über dem südlichen Horizont lag ein hellerer Schein, der Lichtdunst des fernen Bukarest.

»Was für eine herrliche Aussicht«, sagte Valendrea. »Wirklich bemerkenswert.«

»Ich komme oft nach dem Gebet hierher.«

Valendrea sprach nun fast flüsternd: »Das hilft Ihnen gewiss, das Waisenhaus mit all dem Quälenden zu ertragen.«

Tibor nickte. »Ich habe hier immer wieder Frieden gefunden.«

»So soll es auch sein.«

Gottesmann Valendrea gab seinem Assistenten einen Wink, und der brachte ein langes Messer zum Vorschein. Ambrosi holte aus und durchschnitt Tibor von hinten die Kehle. Die Augen quollen dem alten Priester aus dem Kopf, und er würgte am hochschießenden Blutschwall. Ambrosi ließ das Messer fallen, packte Tibor von hinten und stieß ihn in den Abgrund.

Der Körper des Geistlichen verschwand lautlos in der schwarzen Tiefe.

Gleich darauf hörte man einen Aufprall. Dann noch einen. Danach war Stille. Valendrea stand bewegungslos da, Ambrosi an seiner Seite. Er hatte die Augen auf die Schlucht geheftet. »Sind dort unten Felsen?«, fragte er ruhig.

»Viele Felsen und ein reißender Fluss. Es sollte ein paar Tage dauern, bis man die Leiche findet.«

»War es schwer, ihn zu ermorden?« Das interessierte ihn wirklich.

»Es musste getan werden.«

Er betrachtete seinen Busenfreund im Dunkeln, streckte dann die Hand aus und zeichnete ihm ein Kreuz auf Stirn, Lippen und Brust. »Ich vergebe dir im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Ambrosi senkte dankend den Kopf.

»Jede religiöse Bewegung braucht ihre Märtyrer. Gerade waren wir Zeugen des jüngsten dieser Tode.« Valendrea kniete sich nieder. »Kommen Sie, folgen Sie meinem Beispiel, und beten Sie für Hochwürden Tibors Seele.«

26

Castel Gandolfo
Sonntag, 12. November
12.00 Uhr

 

Michener stand hinter Clemens im Papamobil, als das Gefährt den Park der Papstvilla verließ und ins Dorf fuhr. Der eigens für den Papst angefertigte Wagen war ein umgebauter Mercedes-Kombi, in dem zwei Menschen in einer kugelsicheren Panzerglaskabine stehen konnten. Wenn der Papst durch größere Menschenmengen fuhr, benutzte er immer dieses Fahrzeug.

Clemens hatte einem sonntäglichen Besuch zugestimmt. Im Nachbardorf der Papstvilla wohnten nur etwa dreitausend Menschen, aber sie hingen ganz besonders an ihrem Pontifex, und solche Stippvisiten waren eine Art Dankeschön des Papstes.

Nach ihrem Gespräch am vorangegangenen Nachmittag hatte Michener den Papst erst wieder am Morgen gesehen. Clemens XV. liebte die Menschen und gute Gespräche, doch er war und blieb auch Jakob Volkner, ein zurückhaltender Mensch, der gern mit sich allein war. Daher war es nicht überraschend, dass Clemens es vorgezogen hatte, den Abend für sich alleine zu bleiben. Er hatte gebetet, gelesen und war früh zu Bett gegangen.

Vor einer Stunde hatte Michener eine päpstliche Anweisung an einen der Seher von Medjugorje aufgesetzt, in der er diesen bat, das so genannte zehnte Geheimnis aufzuschreiben, und Clemens hatte das Dokument unterzeichnet. Michener war immer noch nicht scharf auf diese Reise nach Bosnien und konnte nur hoffen, dass sie nicht lange dauern würde.

Die Fahrt ins Dorf dauerte nur ein paar Minuten. Der Dorfplatz war gerammelt voll, und die Menge jubelte, während der Papstwagen langsam vorbeirollte. Clemens schien sich in dieser Atmosphäre zu beleben und winkte zurück. Manchmal zeigte er auf ein bekanntes Gesicht und grüßte mit deutlichen Lippenbewegungen.

»Es ist gut, dass sie ihren Papst lieben«, sagte Clemens leise auf Deutsch. Seine Aufmerksamkeit galt noch immer der Menge, und er stand da, die Hand um den Haltegriff aus rostfreiem Stahl gelegt.

»Sie geben ihnen keine Veranlassung, Sie nicht zu lieben«, gab Michener zurück.

»Das sollte jedem Papst wichtig sein.«

Der Wagen fuhr eine Runde über den Platz.

»Bitten Sie den Fahrer anzuhalten«, sagte der Papst.

Michener klopfte zweimal an die Trennscheibe. Der Wagen hielt, und Clemens entriegelte die Panzerglastür. Er setzte den Fuß aufs Pflaster des Dorfplatzes, und die vier Leibwächter, die den Wagen begleiteten, waren sofort hellwach.

»Halten Sie das für klug?«, fragte Michener.

Clemens blickte auf: »Unbedingt.«

Es war nicht vorgesehen, dass der Papst das Papamobil verließ. Dieser Besuch war zwar erst am Vortag festgelegt worden, doch seitdem war genug Zeit verstrichen, um Anlass zur Sorge zu haben.

Clemens ging mit ausgestreckten Armen auf die Menge zu. Kinder griffen nach seinen welken Händen, und er umarmte sie und zog sie an sich. Michener wusste, wie sehr Clemens es bedauerte, keine eigenen Kinder zu haben. Er liebte Kinder.

Die Leibwächter umringten den Papst, doch die Dorfbewohner hielten sich ehrerbietig zurück und entschärften dadurch die Situation. Viele riefen das traditionelle Viva, Viva, mit dem die Päpste seit Jahrhunderten begrüßt wurden.

Michener sah einfach nur zu. Clemens XV. verhielt sich so wie seine Vorgänger seit zweitausend Jahren. Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein. Zweihundertsiebenundsechzig Männer bildeten die Glieder einer ununterbrochenen Kette, die bei Petrus begann und bei Clemens XV. endete. Vor sich sah Michener das perfekte Beispiel eines Oberhirten, der von seiner Herde umgeben war.

Ein Absatz des Geheimnisses von Fatima zuckte ihm durch den Kopf:

Der Heilige Vater ging durch eine große Stadt, die halb zerstört war, und halb zitternd mit wankendem Schritt, von Schmerz und Sorge gedrückt, betete er für die Seelen der Leichen, denen er auf seinem Weg begegnete. Am Berg angekommen, kniete er zu Füßen des großen Kreuzes nieder. Da wurde er von einer Gruppe von Soldaten getötet, die mit Feuerwaffen und Pfeilen auf ihn schossen.

Diese Ankündigung von Gefahr mochte erklären, warum Johannes XXIII. und seine Nachfolger die Botschaft zurückgehalten hatten. Doch 1981 hatte ein von Russland bezahlter Attentäter einen Anschlag auf Johannes Paul II. unternommen. Kurz darauf, noch in der Genesungszeit, hatte Johannes Paul das Geheimnis von Fatima zum ersten Mal gelesen. Warum aber hatte er neunzehn Jahre gewartet, bevor er die Worte der Jungfrau endlich der Öffentlichkeit preisgab? Eine gute Frage. Die konnte er der wachsenden Liste unbeantworteter Fragen hinzufügen. Er beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken. Stattdessen sah er zu, wie Clemens die Menge genoss, und all seine Ängste schwanden.

Irgendwie wusste er, dass an diesem Tag keiner seinem geliebten Freund Schaden zufügen würde.

 

Um vierzehn Uhr kehrten sie zur Papstvilla zurück. Im Wintergarten erwartete sie ein leichtes Essen, und Clemens lud Michener ein, ihm Gesellschaft zu leisten. Sie aßen schweigend und genossen die Blumen und den wunderbar sonnigen Novembernachmittag. Der Swimmingpool vor dem Wintergarten lag unberührt da. Er war so ziemlich der einzige Luxus, auf dem Johannes Paul II. bestanden hatte. Als die Kurie sich über die Kosten beschwerte, hatte er entgegnet, ein neuer Papst sei wesentlich teurer.

Das Mittagessen war eine herzhafte Rinderbrühe mit Gemüseeinlage, eins von Clemens Lieblingsessen. Dazu gab es Schwarzbrot. Michener hatte eine Schwäche für dieses Brot. Es erinnerte ihn an Katerina. Damals hatten sie solches Brot oft zum Kaffee oder zum Abendbrot gegessen. Wo sie wohl jetzt sein mochte? Und warum sie das Bedürfnis gehabt hatte, Bukarest zu verlassen, ohne sich von ihm zu verabschieden? Er hoffte, dass er sie eines Tages Wiedersehen würde, vielleicht nach dem Ende seiner Zeit im Vatikan. Dann wäre er vielleicht an einem Ort, wo es keine Männer wie Alberto Valendrea gab und keiner sich darum kümmerte, was er so trieb. Vielleicht könnte er dann seinem Herzen folgen.

»Erzähl mir von ihr«, sagte Clemens.

»Woher wussten Sie, dass ich an sie gedacht habe?«

»Das war nicht schwer zu erraten.«

Er wollte tatsächlich über sie reden. »Sie ist anders. Vertraut, aber auf eine schwer definierbare Art.«

Clemens trank Wein aus seinem Kelchglas.

»Ich kann mich einfach des Gedankens nicht erwehren«, fuhr Michener fort, »dass ich ein besserer Priester wäre und ein besserer Mensch, wenn ich meine Gefühle nicht unterdrücken müsste.«

Der Papst setzte sein Glas auf den Tisch. »Ihre Verwirrung ist verständlich. Der Zölibat ist falsch.«

Michener hörte auf zu essen. »Ich hoffe, dass Sie diese Schlussfolgerung sonst keinem mitgeteilt haben.«

»Wenn ich nicht einmal Ihnen gegenüber ehrlich sein kann, wem gegenüber denn dann?«

»Wann haben Sie dieses Fazit denn gezogen?«

»Das Konzil von Trient liegt lange zurück. Und doch halten wir heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, an einer Lehre aus dem sechzehnten Jahrhundert fest.«

»Das ist die katholische Art.«

»Das Konzil von Trient wurde als Reaktion auf die protestantische Reformation einberufen. Diese Schlacht haben wir verloren, Colin. Die Protestanten sind hier und werden hier bleiben.«

Er verstand, was Clemens damit sagen wollte. Das Konzil von Trient hatte den Zölibat bestätigt, da er für die Glaubensverkündigung unabdingbar sei, göttlichen Ursprung hatte man ihm jedoch nicht zugeschrieben. Was hieß, dass die Kirche diese Vorschrift nach Gutdünken ändern konnte. Die beiden einzigen Konzile nach Trient, das Erste und das Zweite Vatikanische Konzil, hatten diese Frage jedoch ausgeklammert. Jetzt stellte der Pontifex Maximus, der einzige Mann, der wirklich etwas ändern konnte, diese Zurückhaltung in Frage.

»Was wollen Sie damit sagen, Jakob?«

»Ich sage gar nichts. Ich unterhalte mich nur mit einem alten Freund. Warum dürfen Priester nicht heiraten? Warum müssen sie keusch leben? Warum soll das, was anderen Menschen gestattet ist, den Geistlichen verboten sein?«

»Ich persönlich stimme Ihnen vollkommen zu. Aber die Kurie würde das wohl anders sehen.«

Clemens schob den leeren Suppenteller beiseite und stützte sich auf den Tisch. »Genau das ist das Problem. Die Kurie wird immer alles bekämpfen, was ihr Weiterbestehen bedroht. Wissen Sie, was einer dieser Bürokraten mir vor ein paar Wochen gesagt hat?«

Michener schüttelte den Kopf.

»Er erklärte, der Zölibat müsse weiterbestehen, weil sonst die Kosten für die Priester explodieren würden. Wir müssten zig Millionen für höhere Gehälter aufwenden, weil Priester dann Frau und Kind zu ernähren hätten. Können Sie sich das vorstellen? Das ist die Logik der Kirche.«

Michener war zwar einer Meinung mit dem Papst, fühlte sich aber zu einem Einwand genötigt: »Wenn Sie den Zölibat auch nur andeutungsweise antasten, liefern Sie Valendrea einen willkommenen Vorwand, die Kardinäle gegen Sie aufzuhetzen. Vielleicht würde offener Widerstand ausbrechen.«

»Aber das ist ja gerade der Vorteil des Papsttums. Ich kann eine Lehrmeinung mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit verkünden. Ich habe immer das letzte Wort. Ich brauche niemandes Zustimmung und kann auch nicht abgewählt werden.«

»Auch die Unfehlbarkeitslehre wurde von der Kirche geschaffen«, rief Michener Clemens in Erinnerung. »Der nächste Papst könnte sie aufheben, genauso wie alles, was Sie jetzt tun.«

Der Papst zwickte sich in den Handballen, eine nervöse Angewohnheit, die Michener schon früher bei ihm gesehen hatte. »Ich hatte eine Vision, Colin.«

Die Worte waren kaum zu hören, und Michener brauchte einen Moment, um sie wirklich zu kapieren. »Was hatten Sie

»Die Jungfrau hat mit mir gesprochen.«

»Wann?«

»Vor vielen Wochen, unmittelbar nach Hochwürden Tibors erstem Brief. Deshalb ging ich in die Riserva. Sie hat es mir auf getragen.«

Erst hatte der Papst darüber geredet, ein seit fünfhundert Jahren gültiges Dogma auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern. Nun verkündete er Marienvisionen. Michener begriff, dass dieses Gespräch unbedingt unter vier Augen bleiben musste, doch dann hatte er wieder Clemens Worte in Turin im Ohr: Denken Sie denn auch nur einen Moment lang, dass wir im Vatikan unbelauscht sind?

»Ob es klug ist, davon zu reden?« Michener hoffte, ihm durch seinen Tonfall eine Warnung zu übermitteln. Doch Clemens schien ihn nicht zu hören.

»Gestern ist sie mir in der Kapelle erschienen. Ich sah auf, und da schwebte sie vor mir, umstrahlt von blauem und goldenem Licht, das einen Heiligenschein bildete.« Der Papst stockte. »Sie sagte mir, ihr Herz sei von einem Dornenkranz umschlossen. Es werde von den Gotteslästerungen und der Undankbarkeit der Menschen durchbohrt.«

»Hat sie das wirklich gesagt?«, fragte Michener.

Clemens nickte. »Sie hat sich deutlich ausgedrückt. Ich bin nicht senil, Colin. Es war eine Erscheinung, dessen bin ich mir sicher.« Der Papst hielt inne. »Johannes Paul II. hatte dasselbe Erlebnis.«

Michener wusste davon, erwiderte aber nichts.

»Wir sind unwissende, dumme Menschen«, sagte Clemens.

Michener hatte die Rätsel satt.

»Die Jungfrau trug mir auf, nach Medjugorje zu gehen.«

»Deshalb muss ich dorthin reisen?«

Clemens nickte. »Dann werde sich alles klären, sagte sie.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. Michener wusste nicht, was er sagen sollte. Man konnte schlecht mit dem Himmel diskutieren.

»Ich habe Valendrea das Dokument in der Fatima-Schatulle lesen lassen«, flüsterte Clemens.

Michener war verwirrt. »Was ist es?«

»Ein Teil dessen, was Hochwürden Tibor mir geschickt hat.«

»Sagen Sie mir jetzt, was es ist?«

»Das darf ich nicht.«

»Warum haben Sie es dann Valendrea lesen lassen?«

»Um seine Reaktion zu testen. Er hatte sogar Druck auf den Archivar gemacht, um die Schatulle öffnen zu können. Nun weiß er genauso viel wie ich.«

Michener wollte nachhaken, doch da klopfte es ganz leicht an die Tür des Wintergartens. Einer der Hausdiener trat ein, ein zusammengefaltetes Blatt Papier in der Hand. »Das hier ist gerade eben per Fax aus Rom eingetroffen, Monsignore Michener. Das Deckblatt trägt das Kennzeichen DRINGEND

Michener nahm das Blatt entgegen und dankte dem Hausdiener, der gleich darauf den Raum verließ. Er faltete die Seite auf und las die Nachricht. Dann blickte er Clemens an und sagte: »Der Nuntius in Bukarest hat vor kurzem einen Anruf erhalten. Hochwürden Tibor ist tot. Die Leiche wurde heute Vormittag aufgefunden. Sie trieb in einem Fluss nördlich der Stadt. Man hat ihm die Kehle durchschnitten, und er ist offensichtlich von einem Felsen in den Fluss gestürzt worden. Sein Wagen wurde in der Nähe einer alten, aufgegebenen Kirche gefunden, die er regelmäßig besuchte. Die Polizei tippt auf einen Raubmord. Dort wimmelt es nur so von Gangstern. Man hat mich informiert, da eine der Nonnen im Waisenhaus dem Nuntius von meinem Besuch erzählte. Nun fragt dieser sich, warum ich unangemeldet bei Tibor hereinschneite.«

Aus Clemens Gesicht wich alle Farbe. Der Papst bekreuzigte sich und faltete die Hände zum Gebet. Michener beobachtete, wie der alte Mann die Augen zusammenkniff und lautlos die Lippen bewegte.

Dann liefen Clemens Tränen übers Gesicht.

27

16.00 Uhr

 

Michener hatte während des ganzen Nachmittags über Hochwürden Tibor nachgedacht. Er war im Park der Papstvilla spazieren gegangen und hatte sich bemüht, das Bild, wie die blutige Leiche des alten Bulgaren aus dem Fluss gefischt wurde, aus seinen Gedanken zu verbannen. Schließlich ging er zur Kapelle, vor deren Altar die Päpste und Kardinäle schon seit Jahrhunderten traten. Länger als ein Jahrzehnt hatte er keine Messe mehr gelesen. Er war einfach zu sehr mit den weltlichen Bürden beschäftigt gewesen, die man ihm auflud. Jetzt aber verspürte er den Drang, eine Totenmesse zu Ehren des alten Priesters zu zelebrieren.

Schweigend legte er die Gewänder an. Dann wählte er eine schwarze Stola, legte sie über die Schultern und ging zum Altar. Unter normalen Umständen stünde jetzt der Sarg vor dem Altar und in den Kirchenbänken säßen die Freunde und Verwandten. Es ging darum, die Gemeinschaft mit Christus zu festigen, die letztendlich die Gemeinschaft der Heiligen war. Am Tag des Jüngsten Gerichts würden alle sich wiedersehen und für immer im Haus des Herrn wohnen.

So verkündete es zumindest die Kirche.

Doch während Michener die vorgeschriebenen Gebete sprach, konnte er sich der Frage nicht erwehren, ob nicht alles umsonst war. Gab es wirklich ein höheres Wesen, das die ewige Erlösung im Angebot hatte? Und konnte man sich diesen Lohn einfach durch treue Befolgung der Kirchengebote verdienen? Genügten ein paar Sekunden Reue, um die Missetaten eines ganzen Lebens zu vergeben? Erwartete Gott da nicht mehr? Erwartete er nicht ein Leben voller Opfer? Keiner war vollkommen, Ausrutscher würde es immer geben, aber für die Erlösung war sicherlich mehr nötig als ein paar Reuerituale.

Er wusste nicht recht, wann seine Zweifel begonnen hatten. Vielleicht damals vor vielen Jahren, als er mit Katerina zusammen war. Oder hatten vielleicht all die ehrgeizigen Prälaten, mit denen er ständig zusammen war, seinen Glauben erschüttert, die Art, wie sie öffentlich ihre Liebe zu Gott erklärten, sich insgeheim jedoch vor Machtgier und Neid verzehrten? Wieso sollte man eigentlich auf die Knie niederfallen und den Papstring küssen? Jesus hatte seine Überlegenheit niemals zur Schau gestellt. Warum war dann seinen Nachfolgern dieses Privileg gestattet?

Oder waren seine Zweifel vielleicht einfach Ausdruck der Zeit, in der er lebte?

Die Welt war nicht mehr dieselbe wie vor hundert Jahren. Alle schienen mit allen verbunden zu sein. Man kommunizierte in Sekundenschnelle über riesige Entfernungen. Man wurde mit Informationen überschwemmt. Gott schien da einfach nicht mehr hineinzupassen. Vielleicht kam man einfach zur Welt, lebte und starb, und dann zerfiel der Körper wieder zu Staub. Erde zu Erde, Staub zu Staub, wie es in der Liturgie hieß. Mehr nicht. In diesem Fall gäbe es vielleicht keinen anderen Lohn als das erfüllte Leben selbst und nur in der Erinnerung an das gelebte Leben läge Heil.

Michener hatte sich ausführlich genug mit der römischkatholischen Kirche beschäftigt, um zu wissen, dass der Großteil ihrer Lehren weniger den Gläubigen diente als vielmehr den unmittelbaren Interessen der Kirche selbst. Die Grenze zwischen nützlich und gottgefällig war im Laufe der Zeit verwischt worden. Was Menschen sich überlegt hatten, war irgendwann zum himmlischen Gesetz geworden. Priester lebten zölibatär, weil Gott es so befohlen hatte. Nur Männer wurden zu Priestern, weil Jesus ein Mann gewesen war. Adam und Eva waren ein Mann und eine Frau gewesen, also konnte es nur zwischengeschlechtliche Liebe geben. Woher kamen diese Dogmen? Warum bestanden sie fort?

Und warum zweifelte er sie jetzt an?

Er versuchte, das Gedankenkarussell anzuhalten und sich wieder auf die Messfeier zu konzentrieren, doch das war unmöglich. Vielleicht war die Begegnung mit Katerina schuld daran, dass er nun wieder zweifelte. Oder hatte der sinnlose Tod eines alten Mannes in Rumänien ihm wieder vor Augen geführt, dass er inzwischen siebenundvierzig war und in seinem Leben bisher kaum mehr geleistet hatte, als sich huckepack von einem deutschen Bischof in den Apostolischen Palast tragen zu lassen?

Er musste mehr aus seinem Leben machen. Produktiv werden. Etwas tun, was nicht nur ihm selbst zugute kam.

Eine Bewegung bei der Tür ließ ihn aufschauen. Er erblickte Clemens, der in die Kapelle trat und sich in einer der Bankreihen niederkniete.

»Bitte, fahren Sie fort. Auch mich drängt es«, sagte der Papst und senkte den Kopf zum Gebet.

Michener kehrte an den Altar zurück und vollzog die heilige Wandlung. Er hatte nur eine Hostie mitgebracht, und so brach er die ungesäuerte Brotoblate in zwei Teile.

Er trat zu Clemens hin.

Der alte Mann blickte aus seinem Gebet auf, die Augen vom Weinen gerötet, das Gesicht von Trauer verschleiert. Michener staunte, wie tief der Kummer Jakob Volkner überwältigt hatte. Hochwürden Tibors Tod hatte ihn furchtbar mitgenommen. Er hielt ihm die Hostie hin, und der Papst öffnete den Mund.

»Der Leib Jesu«, flüsterte Michener und legte die Kommunion auf Clemens Zunge.

Clemens bekreuzigte sich und senkte den Kopf zum Gebet. Michener kehrte zum Altar zurück und beendete die Messe.

Doch es fiel ihm schwer.

Das Schluchzen Clemens XV. hallte durch die Kirche und zerriss ihm schier das Herz.

28

Rom, 20.30 Uhr

 

Katerina nahm es sich übel, dass sie sich wieder mit Tom Kealy verabredet hatte, doch seit ihrer Rückkehr nach Rom am Vortag hatte Valendrea sich noch nicht bei ihr gemeldet. Man hatte sie angewiesen, nicht von sich aus anzurufen, was sinnvoll war, da sie abgesehen von dem, was Ambrosi ohnehin schon wusste, wenig zu berichten hatte.

Sie hatte gelesen, dass der Papst sich übers Wochenende in Castel Gandolfo aufhielt, und nahm daher an, dass auch Michener dort war. Gestern hatte Kealy sie auf unangenehme Art damit aufgezogen, dass in Rumänien wohl mehr vorgefallen sei, als sie zugeben wolle. Sie hatte absichtlich vieles von dem, was Hochwürden Tibor gesagt hatte, ausgelassen. Michener hatte ganz Recht. Kealy war nicht vertrauenswürdig. Daher hatte sie ihm nur eine gekürzte Version erzählt, doch immerhin so viel, dass er wusste, worum es ging.

Sie und Kealy saßen in einer gemütlichen Osteria. Kealy trug einen hellen Anzug mit Krawatte. Vielleicht gewöhnte er sich allmählich daran, keinen Priesterkragen mehr zu tragen.

»Ich verstehe die ganze Aufregung nicht«, sagte sie. »Die Katholiken haben die Mariengeheimnisse doch institutionalisiert. Warum ist nun gerade dieses dritte Geheimnis von Fatima so wichtig?«

Kealy schenkte Wein ein. Es war ein teurer Tropfen. »Selbst die Kirche war davon fasziniert. Man hatte eine Botschaft erhalten, angeblich direkt vom Himmel, und doch wurde sie von einem Papst nach dem anderen geheim gehalten, bis schließlich Johannes Paul II. sie im Jahr 2000 enthüllte.«

Sie rührte in ihrer Suppe und wartete auf nähere Erläuterungen.

»Die Erscheinungen von Fatima wurden 1930 von der Kirche anerkannt. Das heißt nicht mehr, als dass es jedem Katholiken freisteht, daran zu glauben.« Er ließ ein Lächeln aufblitzen. »Die übliche Heuchelei. Reden und Handeln stimmen wieder einmal nicht überein. Rom hatte nichts dagegen einzuwenden, dass die Menschen in Scharen nach Fatima pilgern und Millionenbeträge spenden. Aber man konnte sich nicht dazu durchringen, deutlich auszusprechen, dass es sich um ein reales Ereignis handelte, und man wollte die Gläubigen erst recht nicht wissen lassen, was die Jungfrau gesagt hatte.«

»Aber wozu dieses Versteckspiel?«

Er trank einen Schluck Burgunder und drehte den Stil seines Glases zwischen den Fingern hin und her. »Hat der Vatikan sich jemals vernünftig verhalten? Die Typen denken doch, sie sind immer noch im fünfzehnten Jahrhundert und die Leute schlucken einfach fraglos, was sie von sich geben. Wenn damals einer widersprochen hatte, wurde er vom Papst exkommuniziert. Aber die Zeiten haben sich geändert, und das haut keinen mehr vom Hocker.« Kealy winkte dem Kellner und bat mit einer Geste um mehr Brot. »Vergiss nicht, dass der Papst in Fragen des Glaubens und der Moral unfehlbar spricht. Dieses kleine Goldstück haben wir dem Ersten Vatikanischen Konzil zu verdanken. Das war 1870. Was nun, wenn die Worte der Jungfrau einem Dogma widersprochen hätten? Wäre das nicht ein Ding?«

Kealy schien ungemein zufrieden mit seinem Gedanken. »Vielleicht haben wir da ein perfektes Thema für ein neues Buch. Alles über das dritte Geheimnis von Fatima. Wir könnten die Heuchelei anprangern, die Päpste unter die Lupe nehmen und uns einige der Kardinäle vorknöpfen. Vielleicht sogar Valendrea selbst.«

»Wie steht es denn mit dir als Priester? Ist das nicht mehr wichtig?«

»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich auch nur die winzigste Chance habe, das Tribunal zu überstehen?«

»Vielleicht gibt man sich mit einer Verwarnung zufrieden. So könntest du im Schoß der Kirche bleiben, immer unter Kontrolle, und deinen Priesterkragen retten.«

Er lachte. »Mein Priesterkragen scheint dir ja ziemlich am Herzen zu liegen. Seltsam, wo du doch Atheistin bist.«

»Fick dich ins Knie, Tom.« Sie hatte diesem Mann ganz entschieden zu viel von sich erzählt.

»Ein richtiger Wildfang. Das gefällt mir so an dir, Katerina.« Er nahm noch einen Schluck. »Gestern hat CNN bei mir angerufen. Sie wollen mich für das nächste Konklave engagieren.«

»Das freut mich für dich. Das ist wunderbar.« Sie fragte sich, ob ihre Rolle damit beendet war.

»Keine Sorge, ich will dieses Buch immer noch schreiben. Mein Agent ist mit einigen Verlagen im Gespräch, und es ist außerdem noch von einem Roman die Rede. Wir beide werden ein großartiges Team bilden.«

Sie fasste ihren Entschluss so plötzlich, dass es sie selbst überraschte. Es würde kein Team geben. Die Beziehung zu Kealy hatte vielversprechend begonnen, war aber hohl geworden. Zum Glück blieben ihr von Valendreas Geld noch ein paar tausend Euro, genug, um nach Frankreich oder Deutschland zurückzukehren und sich eine Stelle bei einer Zeitung oder Zeitschrift zu suchen. Diesmal würde sie sich zusammenreißen und sich an die Regeln halten.

»Katerina, huhu, aufwachen!«

Sie sah ihn an.

»Du warst eben völlig geistesabwesend.«

»Stimmt. Es wird kein Buch geben, Tom. Morgen verlasse ich Rom. Du musst dir einen anderen Ghostwriter suchen.«

Der Kellner stellte einen Korb mit dampfend heißem Brot auf den Tisch.

»Das wird nicht schwierig sein«, stellte er klar.

»Das hatte ich auch nicht erwartet.«

Er griff nach einem Stück Brot. »Ich finde, du solltest nicht abspringen. In deinem eigenen Interesse. Ich werde es noch weit bringen.«

Sie stand auf. »Aber ohne mich.«

»Du fährst noch immer auf ihn ab, oder?«

»Ich fahre auf gar niemanden ab. Ich hab dich einfach nur satt. Mein Vater hat mir mal gesagt, je höher der Affe im Zirkus auf den Pfahl klettert, desto besser sieht man seinen nackten Arsch. Das ist mir eben wieder eingefallen.«

Damit marschierte sie davon. Seit Wochen hatte sie sich nicht besser gefühlt.

29

Castel Gandolfo
Montag, 13. November
6.00 Uhr

 

Michener wachte auf. Seit jeher brauchte er keinen Wecker, da er mit einer ausgezeichneten inneren Uhr gesegnet war und immer pünktlich erwachte, wenn er es sich vor dem Einschlafen vornahm. Jakob Volkner, der als Erzbischof und später als Kardinal in der ganzen Welt unterwegs gewesen war und in einer Kommission nach der anderen gesessen hatte, hatte sich immer darauf verlassen können, dass Michener schon dafür sorgen würde, den jeweiligen Zeitplan einzuhalten. Pünktlichkeit gehörte nicht zu den besonderen Stärken des Papstes.

Wie in Rom schlief Michener auch hier im selben Stockwerk wie Clemens. Ihre Schlafzimmer lagen im selben Flur und waren durch ein Haustelefon miteinander verbunden. In zwei Stunden war der Rückflug mit dem Hubschrauber geplant. Der Papst hatte noch genug Zeit für Morgengebet, Frühstück und einen kurzen Blick auf die dringenden Angelegenheiten, die in den letzten beiden arbeitsfreien Tagen angefallen waren. Am Vorabend waren mehrere Faxe eingetroffen, die Michener für eine kurze Besprechung nach dem Frühstück bereithielt. Er wusste, dass der Rest des Tages hektisch verlaufen würde, denn für den Nachmittag war bis in den Abend hinein eine Papstaudienz nach der anderen geplant. Und für den Vormittag hatte Kardinal Valendrea um eine volle Stunde gebeten, um den Papst über diplomatische Angelegenheiten zu unterrichten.

Die gestrige Totenmesse beunruhigte Michener noch immer. Clemens hatte eine halbe Stunde lang geweint und dann die Kapelle verlassen. Sie hatten nicht miteinander geredet. Was immer seinem alten Freund so zu Herzen ging, er wollte offensichtlich nicht darüber sprechen. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit bieten. Hoffentlich würden die Rückkehr in den Vatikan und die Arbeit dort ihn von dem Problem ablenken. Aber es hatte Michener verstört, Zeuge solch überwältigender Emotionen zu werden.

Er duschte ausgiebig, zog sich eine frische schwarze Soutane an und trat aus dem Schlafzimmer. Zielstrebig ging er durch den Flur zu den Räumlichkeiten des Papstes. Vor der Tür standen ein Hausdiener und eine der für den Haushalt verantwortlichen Nonnen. Michener warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel vor sieben. Er zeigte auf die Tür. »Er ist noch nicht auf?«

Der Kammerdiener schüttelte den Kopf. »Es ist nichts zu hören.«

Michener wusste, dass jeden Morgen ein Hausdiener vor der Tür wartete, bis Clemens sich zu rühren begann, was normalerweise zwischen sechs und halb sieben der Fall war. Sobald die ersten Geräusche zu hören waren, klopfte der Diener leise an die Tür, und die Morgenroutine mit Duschen, Rasieren und Ankleiden begann. Im Badezimmer wollte Clemens ungestört sein. Während er duschte, machte der Hausdiener das Bett und legte seine Kleider zurecht. Die Nonne hatte die Aufgabe, das Zimmer aufzuräumen und Frühstück zu bringen.

»Vielleicht schläft er einfach länger«, sagte Michener. »Selbst ein Papst kann hin und wieder mal faul sein.«

Seine beiden Zuhörer lächelten.

»Ich gehe wieder in mein Zimmer. Holen Sie mich, wenn Sie ihn hören.«

Eine halbe Stunde später klopfte es an der Tür. Draußen stand der Hausdiener.

»Noch immer kein Laut, Monsignore«, sagte er. Sein Gesicht war sehr besorgt.

Michener wusste, dass außer ihm selbst keiner das Schlafzimmer ohne Clemens Erlaubnis betreten würde. Schließlich sollte ein Papst sich zumindest hier seiner Privatsphäre sicher fühlen. Doch nun war es schon fast halb acht, und Michener wusste, was der Hausdiener von ihm erwartete.

»Einverstanden«, sagte er. »Ich werde nachsehen.«

Er folgte dem Mann zur Tür, wo die Nonne noch wartete. Sie bedeutete ihnen mit einer Geste, dass drinnen noch immer Stille herrschte. Er klopfte leise an und wartete. Dann klopfte er wieder, diesmal ein wenig lauter. Noch immer nichts. Er drückte die Türklinke nach unten. Die Tür ging auf. Er öffnete sie ganz, trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Das Schlafzimmer war sehr groß; auf einer Seite führten hohe Türen auf einen Balkon, der zum Park hinausging. Alle Möbel waren uralt. Im Gegensatz zur Wohnung im Apostolischen Palast, die jeder Papst nach seinem Geschmack einrichtete, blieben diese Räume hier immer gleich und verströmten die Atmosphäre einer Zeit, als die Päpste noch Könige von Kriegern waren.

Alle Lampen waren aus, doch die Morgensonne schien durch die vorgezogenen Vorhänge und badete den Raum in gedämpftem Licht.

Clemens war zugedeckt und lag auf der Seite. Michener trat zu ihm und sagte leise: »Heiliger Vater.«

Clemens antwortete nicht.

»Jakob.«

Noch immer nichts.

Der Papst lag von ihm abgewandt da, sein gebrechlicher Körper war zur Hälfte zugedeckt. Michener streckte die Hand aus und schüttelte den Papst ganz leicht. Er bemerkte sofort, dass er kalt war. Eilig ging er auf die andere Seite des Bettes und sah Clemens ins Gesicht. Die Haut war aschfahl, der Mund stand offen, und auf dem Bettlaken war etwas Speichel eingetrocknet. Er wälzte den Papst auf den Rücken und riss die Bettdecke zurück. Beide Arme lagen leblos, und die Brust bewegte sich nicht.

Michener fühlte nach dem Puls.

Er fand ihn nicht.

Zunächst dachte er daran, Hilfe zu rufen oder mit Mund-zu-Mund-Beatmung zu beginnen; wie alle im Haushalt war er dazu ausgebildet worden. Doch er wusste, dass es sinnlos war.

Clemens XV. war tot.

Michener schloss die Augen und sprach ein Gebet, von tiefer Trauer erfüllt. Es war ihm, als würde er Mutter und Vater noch einmal verlieren.

Er betete für die Seele seines Freundes und schob seine Gefühle dann etwas beiseite. Es war viel zu erledigen. Es galt, ein bestimmtes Protokoll einzuhalten. Uralte Traditionen, und er hatte die Verantwortung für ihre strikte Befolgung.

Dann fiel ihm etwas ins Auge.

Auf dem Nachttisch stand ein kleines, karamellbraunes Fläschchen. Vor einigen Monaten hatte der Leibarzt des Papstes Clemens ein Schlafmittel verschrieben. Michener hatte das Medikament persönlich bestellt und das Fläschchen eigenhändig im Schlafzimmer des Papstes deponiert. Es waren dreißig Tabletten gewesen, und als Michener sie kürzlich zählte, waren es immer noch dreißig. Clemens verabscheute Arzneimittel. Es war schon ein Kampf, ihn auch nur dazu zu bringen, eine Aspirin zu nehmen, und so überraschte es Michener, den kleinen Behälter hier auf dem Nachttisch vorzufinden.

Er warf einen Blick in das Fläschchen.

Leer.

In einem Wasserglas, das daneben stand, waren nur noch ein paar Tropfen.

Die sich aufdrängende Schlussfolgerung war so erdrückend, dass Michener sich erschüttert bekreuzigte.

Er starrte Jakob Volkner an und grübelte über die Seele seines lieben Freundes nach. Falls es einen Himmel gab, hoffte er mit jeder Faser seines Seins, dass der alte Deutsche den Weg dorthin gefunden hatte. Der Priester in ihm wollte Clemens die Tat vergeben, doch das stand jetzt nur noch in Gottes Macht falls Gott denn existierte.

Es waren schon Päpste totgeprügelt worden. Päpste waren erwürgt, vergiftet und erstickt worden. Manche hatte man verhungern lassen, andere waren von gehörnten Ehemännern ermordet worden.

Doch noch nie hatte einer sich selbst das Leben genommen.

Bis heute.