13. Kapitel
Der nächste Tag, ein Mittwoch, grub sich Frau Martha für alle Zeiten unauslöschlich ins Gedächtnis ein, obgleich sie sich an lange Strecken der folgenden Tage später nicht mehr erinnern konnte. Die ungewohnten Tabletten versetzten sie zeitweilig in einen Trancezustand, und wiewohl ihr übel wurde davon, griff sie gierig immer wieder nach ihnen, um zu betäuben, was mit einem Mal bedrohlich aus ihrem eigenen Innern gegen sie aufstieg. Am Mittwoch setzte jene Folge von Ereignissen ein, die wie ein Sturm über sie wegbrausten, sie schüttelten, alte Ansichten entwurzelnd und ihr den Glauben an sich selber raubend, bis alle ihre scheinbare Sicherheit sich als Ohnmacht erwies, bis sie zerschunden und bloß zurückblieb.
Sie wachte auf, und Andreas war weg.
Sein Bett war benutzt gewesen. Seine Habseligkeiten fehlten. Das Fenster stand weit offen. Noch schlaftrunken, begriff sie zunächst gar nicht, was und wieviel es bedeutete. Sie fragte die Kinder, aber niemand wußte, wo er war. Sofort befiel sie der Verdacht, daß sie es alle wüßten und es ihr nur nicht verraten wollten, doch sie versuchte nicht einmal weiterzuforschen. Sie fühlte sich schwach; ihre Knie zitterten. Sowie die Kinder auf dem Schulweg waren, lief sie mit Schwester Monika hinaus und suchte den Park ab. Er konnte nicht weit weg sein, er hatte ihr nur einen Streich spielen, sie ganz bestimmt nur ärgern wollen. Alle machten ja jetzt, was sie wollten. Durch den Nieselregen hörte man von der Treppe her das Quietschen einer Säge.
»Soll ich Ihren Mann fragen?«
Schwester Monika war schon halben Wegs, als ein wildes »Nein!« sie zurückrief. »Gehen Sie zu Müntes, ich frage bei Bormanns nach. Vielleicht ist er mit ihnen aufs Feld gefahren, um sich auch was zu verdienen, wie gestern die beiden anderen.«
Schwester Monika wäre lieber zu Don Chaussee gegangen, zumal man ja, um aufs Feld zu fahren, nicht alle seine Sachen bündelt und mitnimmt. Die seltsame Gejagtheit der Chefin ängstigte sie. »Vielleicht findet er eine Spur«, wagte sie einzuwenden.
»Spur?«
»Ja. Fußtritte und abgebrochene Zweige und Kuhmist — ich meine, den Mist fanden sie bei den Rinderherden in Texas, viell...«
Vor Frau Marthas Augen explodierte die Welt in faustgroße Stücke. »Mist! Sind Sie verrückt geworden? Einer unserer Jungen ist weg, und Sie schlagen Indianerspiele vor! Wir müssen ihn finden, ehe Herr Ess kommt, begreifen Sie das denn nicht? Rennen Sie, beeilen Sie sich, fragen Sie bei Müntes, gehen Sie doch schon!« Auf ihren Backen brannten Flecke. Schwester Monika lief davon, so schnell ihre Beine sie trugen.
Frau Martha rannte ohne Hut und Mantel hinterdrein. Sie konnte nicht rennen, und während sie am liebsten geflogen wäre, mußte sie nach wenigen Schritten innehalten und die Hände gegen die stechenden Seiten pressen. Die Benommenheit in ihrem Kopf wich für Momente, in denen ihr scharf bewußt wurde, was das bedeutete: Andreas ist weg. Aber Josef fragen? Damit er sie ansah, als bäte er sie um Verzeihung dafür, daß er überhaupt geboren war, und dann sagte: »Der ist doch da und da!«? Nein, nein. Sie war zu aufgeregt, um sich über den Widersinn klar zu werden, daß sie den Jungen fieberhaft suchte und zugleich nicht erfahren wollte, wo er war. Sie begriff nur: Er war weg, weil sie ihre Aufsichtspflicht versäumt hatte, und wenn Josef wußte, wo er war, dann hatte er besser aufgepaßt als sie. Nein, er konnte es gar nicht wissen. Diese Burschen liefen immer weg. Sie hatte es von Anfang an gewußt. Eine Zeitlang ließen sie es sich gut sein, und dann liefen sie davon. Landstreicherkinder. Gesindel. Sie hatte getan, was sie konnte.
Wenn sie nur nicht solche Kopfschmerzen gehabt hätte! Seit Sonntag schienen sie stündlich schlimmer zu werden, und sie mußte doch jetzt ihre Gedanken beisammenhalten, mehr denn je. Es war nicht ihre Schuld. Wie sollte sie denn ahnen, wann es so einem Kerl gerade paßte, davonzulaufen? Niemand konnte ihr einen Vorwurf machen. Oder doch?
Bormanns hatten ihn nicht gesehen, Müntes ebenfalls nicht. Sie rief die Polizei im Dorf an, beschrieb ihn vage: mittlere Größe, ziemlich dünn. Blaß, mit schwarzen Haaren. Man versprach, nach ihm zu suchen, sie gleich zu benachrichtigen, beruhigte sie mit ein paar allgemeinen Redensarten. Jetzt blieb ihr nur eins zu tun: Herrn Ess anzurufen. Das war ihre Pflicht. Der Gedanke zog ihr den Hals zusammen. Das war das Ende. Nicht einmal mehr anständig ausscheiden konnte sie dann, mit einem unverbindlichen Zeugnis, sondern würde fristlos entlassen werden. Pflichtversäumnis war ein ausreichender Grund dazu. Dabei hatte sie ihre Pflicht nicht versäumt.
Sie rang mit sich. Aus dem Park klang das Kreischen der Säge und das helle Fiepen von Ferdis Stimme. Es regnete stärker. Sie wollte nicht noch nasser werden; das Kleid klebte ihr ohnehin schon am Leib. Sie ging zum Telefon hinüber und nahm den Hörer ab. Ihre Hand war so schlaff, daß sie ihn zweimal wieder niederlegen mußte, ehe es ihr gelang: 53 18.
»Hier dreiundfünfzig-achtundzwanzig. Hallo...?«
»Ja — ich wollte, ich möchte — Herrn Ess bitte!« Sie glaubte zu brüllen.
»Hallo — hallo! Ich verstehe nichts. Können Sie nicht lauter sprechen?«
Sie riß sich zusammen und sagte heiser: »Herrn Ess bitte!« Nun war es entschieden. Ihr Mund war trocken.
»Ach.« Unwillig sagte die Stimme am anderen Ende: »Hier dreiundfünfzig-achtundzwanzig — wen wollen Sie sprechen? Ess? Kenne ich nicht.«
»Verzeihung...« Der Hörer rollte ihr aus der Hand. Drüben machte es »klick«. Sie sank auf den Küchenstuhl und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Falsch verbunden. Die Erleichterung war so groß, daß sie ganz sinnlos lachte. Sie würde Josef fragen. Wie hatte sie nur so unüberlegt sein können! Wieder lief sie durch den Regen auf die Stelle zu, von der nun das »Plop-plop-plop« des Holzhammers kam. »Plop, plop«, ganz sicher und gelassen. Zornig dachte sie: Wie kann er nur so eintönig daherhämmern, wenn jeden Moment Herr Ess mit der Kommission eintrifft und erfährt, daß einer der Jungen weggelaufen ist? Um schneller zur Treppe zu gelangen, lief sie querfeldein. Ginster schlug ihr naß um die Beine; eine Trauerbirke streifte sie wie ein triefendnasser Lappen. Sie leckte achtlos die Tropfen von der Oberlippe. »Wie konnte das nur passieren?« würde der Chef fragen. »Haben Sie ihn geschlagen, ihn schlecht behandelt? War er gestern anders als sonst?« Nein, nein, nichts von alledem. Oder war er anders gewesen? Mit gefurchter Stirn versuchte sie sich vorzustellen, wie er gewesen war, wie er überhaupt war. Es gelang ihr nicht. Sie zuckte die Achseln: eben wie Andreas.
Schmerzte bei dem Gedanken etwas? Bah, das waren die Seitenstiche vom Laufen. Sie mußte langsamer gehen, in ihrem Alter rannte man nicht mehr ungestraft. O nein, in ihrem Alter wurde man nur auf die Straße gesetzt, weil man versagt hatte auf dem Posten, für den man sich zeitlebens abgeschuftet hatte. Weil man sich nicht erinnern konnte, wie so ein Junge gestern oder vorgestern ausgesehen hatte.
»Plop-plop-plop.« Sie preßte im Laufen die Hände vor die Ohren. »Aufhören!« schrie sie, beinahe über einen Eichenstubben stolpernd, und sah in erschreckte Gesichter.
Ihr Mann ließ den schweren Holzhammer, mit dem er die Treppenpfosten einrammte, zu Boden sinken und war mit zwei Schritten neben ihr. »Aber Martha, Martha, was ist denn los?« Den Arm um sie gelegt, schüttelte er sie sanft.
Die Füße versagten ihr den Dienst; sie wäre zusammengesackt, wenn er sie nicht gehalten hätte. Ihr Kopf sank gegen seine Schulter. Ein ungekanntes Gefühl durchströmte sie, als sie den Arm um ihren Rücken fühlte. Jetzt einfach alles vergessen, einfach sagen können: »Mach du weiter, ich kann nicht mehr!« Und dann nicht mehr sich wehren müssen und nur wissen: Es wird gut. Wie das sein müßte... Sie rang nach Luft: »Andreas ist weg.«
»Großer Gott!« sagte er, seinen Griff lockernd, und schon war der Moment des Ausruhens an seiner Schulter ausgelöscht. Sein Ausruf verriet kein Erschrecken, sondern Schuldbewußtsein, und in seinen Augen war das um Verzeihung bittende Lächeln, das sie nicht ausstehen konnte. Also doch!
Mit einem Ruck machte sie sich frei. »Wo?« Daß sie ihn fragen mußte, diesen Landstreicher, dieses Nichts, das bei ihr untergekrochen war. »Wo — wo?« Es fehlte nicht viel, und sie hätte mit den Füßen aufgestampft.
»Martha, so beruhige dich doch. Er ist heil und gesund. Ich hätte ihn gleich zurückgeholt. Er schlief ganz erschöpft, als ich um neun nach ihm gesehen habe; da wollte ich ihn noch ein bißchen schlafen lassen. Komm, gehen wir hin.«
Sie schüttelte seine Hand von ihrem Arm, als sei sie Feuer. »Rühr mich nicht an!« brauste sie auf.
Ferdi kroch rückwärts in den Eichenaufschlag. Die waren so komisch. Frau Martha sah krank aus. Erst zankten sie sich, und gleich darauf lagen sie sich in den Armen, und dann zankten sie wieder. Dabei war er gerade dabei gewesen zu lernen, wie man die Knüppel so zurechthaut, daß sie zum Geländer ineinandergefügt werden konnten. Er wollte Hubert damit überraschen und ihm zeigen, daß er sich auch für Männerarbeit eignete. Aus dem Gelenk muß man schlagen, hatte Don Chaussee gesagt, ganz locker. Die Frau sollte verschwinden, sie störte hier. Er schob die Schultern, die magere Brust vor und ging auf die Axt zu: Er fing jetzt einfach an, mochten die Großen tun, was sie wollten. Aber er kam nicht mehr dazu. »Tüt-tüt«, kurz hintereinander und nur leicht angetippt, das war Großvaters Hupe. In schlacksigen Sätzen fegte er auf die Straße zu.
»Bei Müntes in der alten Feldscheune liegt er«, sagte Don Chaussee hastig.
Seine Frau hörte ihn kaum. Was hatte es jetzt noch für einen Zweck? Herr Ess war da, und sie mußte ihm berichten, und sie wußte nicht, weshalb Andreas weggelaufen war. Die Gedanken, die sich mühsam darauf konzentriert hatten, seinen Aufenthalt zu erfahren, liefen nun wieder wirr durcheinander. Sie wußte nicht, was sie tun sollte; sie mußte doch wissen, weshalb ausgerechnet Andreas davongelaufen war, ohne daß sie ihm etwas getan hatte. Was sollte sie sonst zu Herrn Ess sagen?
Beim Auto angekommen, wußte sie es immer noch nicht. Sie sah mehrere Herren aussteigen, hörte durch graue Wände die Stimme ihres Chefs: »Ich habe den ganzen Vorstand gleich mitgebracht... Tierarzt... Herrn Bennekamp von der Bahn kennen Sie ja, Polizeileutnant Lensing, Herr Alfs... Hekers... Spediteur Brüning.« Namen, Gesichter, Händeschütteln. »Gehen wir am besten zuerst zur Weide. Ganz rechts, dort am Haus vorbei. Ein Wetter ist das mal wieder! Na, machen Sie sich nur auf was gefaßt. Zehn Stück sind’s doch. Jämmerlicher Anblick, obwohl Schönheiten im Vergleich zu voriger Woche.«
Herr Ess sprach mit der ihm eigenen ungeduldigen Liebenswürdigkeit. Er dominierte selbstverständlich auch in diesem Kreis. Mit ein paar schnellen, fast eleganten Bewegungen dirigierte er die Gruppe auf die Wiese zu.
Es gelang Frau Martha nicht, ihn beiseite zu nehmen, um ihm den neuerlichen Beweis ihrer Unfähigkeit zu gestehen. Vor den anderen wollte es ihr nicht über die Lippen. Sie glaubte ohnehin, jedermann müsse es ihr ansehen, ihr, die zeitlebens so nachdrücklich auf ihre makellose Pflichterfüllung hingewiesen hatte. Versagt, versagt: Nur das faßte sie noch. Wie ein Fels, der sie zu zerschmettern drohte, türmte sich das Bewußtsein ihres Versagens vor ihr hoch, eine immer undurchsichtigere Wand bildend zwischen den einfachen Vorgängen und ihrer verworrenen Reflexion.
Gerda übersah die Situation mit einem Blick. Auf ihren Großvater zustürzend, rief sie in schrillem Jubel: »Der Andreas ist weggelaufen! Sie suchen ihn schon den ganzen Morgen, und die Polizei weiß auch Bescheid! Er hat’s nicht mehr ausgehalten hier. Ich halte es auch nicht aus. Nimm mich wieder mit nach Hause, ja?« Schmeichelnd hing sie an seinem Hals, einen schrägen Blick voll Schadenfreude auf Frau Martha werfend, über welcher der Fels sich stets bedrohlicher niedersenkte.
»Weggelaufen?« Herr Ess sah automatisch nicht Frau Martha, sondern ihren Mann an, dessen Falten sich zu beruhigendem Grinsen verzogen.
»Liegt in Müntes Scheune und schläft.«
»Also bitte, Gerda, nimm dich zusammen! Ich muß mich um die Esel kümmern. Geh ins Haus und stör mich jetzt nicht. Über das andere reden wir später.« Ärgerlich schob er sie beiseite. Höchste Zeit, daß sie in ein Pensionat kam, so ging es nicht weiter. Ihn so zu erschrecken. Er konnte Hysterie nicht ausstehen.
»Neun«, sagte der Tierarzt auf der Weide. »Ich habe sie zweimal gezählt.« Er fügte kopfschüttelnd hinzu: »Soll mich wundern, was von de.nen am Leben bleibt! Die Untersuchung wird ein Weilchen dauern. Ich fang’ gleich an. Bring mir mal den ersten ‘ran, Ferdi.« Ferdi lief los. Seine Ohren waren knallrot geworden vor Stolz. Ziemlich geschickt holte er Hannibal aus der Herde, die sich hinter den Brombeeren zusammendrückte.
»Der Junge macht sich ja tadellos«, hörte er den Tierarzt zu seinem Großvater sagen, »erinnern Sie sich noch an das Theater mit Ihrem Jagdhund, als er nicht mal das Halsband halten wollte, damit ich den Dorn aus dem Fuß ziehen konnte? Ein richtiges Muttersöhnchen, quengelig und verpimpelt.«
Und sein Großvater sagte: »Ah, ich behaupte ja immer, das Kroppzeug gehört auf die Weide, an die frische Luft, was, Ferdi?« Ferdi nickte begeistert.
Als Frau Martha mit Herrn Ess und ihrem Mann auf die Feldscheune zuging, wogten die Gedankenfetzen hinter ihrer Stirn wieder schwerfällig durcheinander. Andreas’ Esel, die nächtliche Flucht... wieso wußte Josef das alles? Herr Ess lachte auf. Sie fuhr zusammen: Machten sie sich über sie lustig? Bormanns, Müntes, die Kommission, alle mußten sich ja über sie lustig machen, über eine alte Frau, die einfach losrannte und die Nachbarn mit Fragen nach einem durchgebrannten Jungen belästigte, der keine zweihundert Meter weiter schlief. Dazu noch unter Josefs Obhut. Es war lächerlich, lächerlich.
Sie stolperte über eine ausgefahrene Furche, und wieder verhinderte, wie vorhin an der Treppe, der feste Arm ihr Fallen. »Völlig überarbeitet«, hörte sie ihren Mann sagen. Überarbeitet! So wenig verstand er sie, dieser... Die Gedanken liefen im Kreis. Weshalb war Andreas weggelaufen? Hatte er gestern anders ausgesehen? Es fiel ihr nicht ein, sie konnte sich nicht auf ihn besinnen. Statt dessen sah sie deutlich und schrecklich Malwine vor sich, die gar nichts mit Andreas zu tun hatte. Männer sind grausam, dachte sie. Weshalb sagte er denn nicht einfach: »Sie sind entlassen«? Dann wäre es vorbei.
In der Scheune stand der Esel vor einem Ballen Heu und fraß. Beim bloßen Anblick wurde es ihr dunkel vor den Augen. Diese Esel! Als das Wogen hinter der Stirn wieder aussetzte, sah sie, wie ihr Mann sich zu einem ineinandergerollten Bündel Kleider hinunterbeugte, das halb vom Stroh verdeckt war, und es leise schüttelte. Der Junge warf sich herum und wachte mit einem erstickten Laut auf: »Habak...«, bis seine Blicke den Esel fanden. Er seufzte und sah hoch. Frau Martha hielt den Atem an, als sie in das emporgewandte Gesicht sah, in dem die Lippen zuckten von verhaltenem Weinen, wie bei einem Kind. Ein Kindergesicht mit verquollenen Augen und weichen Backen, auf denen die Manchesterstreifen des Ärmels im Schlaf kreuz und quer Muster eingedrückt hatten. War das Andreas’ Gesicht? Es ähnelte ihm zwar, aber so hatte es gestern bestimmt nicht ausgesehen, das wußte sie sicher. Nicht so jung, so erbarmungswürdig jung und — und verscheucht. Er war doch immer ein stummer, unangenehmer Bursche gewesen, den man antreiben mußte, weil er sich stumpf widersetzte. Sie hörte die anderen reden, ohne die Worte in sich aufzunehmen. Eine ungeheure Erkenntnis überfiel sie, ließ ihr das Herz sekundenlang stocken: daß er ja noch ein Kind war, ein kleiner einsamer Bursche von dreizehn Jahren.
Mit einemmal streckte sie die Hand aus und zog die dünnen Jungenschultern an sich und sah über seinen Kopf weg die beiden Männer mit einem Anflug innerster Erbitterung an: Merkten sie denn nicht, daß er sich fürchtete, der kleine Junge? Sie hatte es gespürt, als sie in das weiße, verweinte Gesicht sah. Sie hätte nicht erklären können, wieso sie es spürte, denn so etwas war ihr nie zuvor widerfahren, aber sie wußte es ganz sicher.
Jetzt drangen auch die Worte zu ihr.
»Was willst du denn mit ihm? Du kannst doch nichts mit ihm anfangen.« Herr Ess sagte es leicht nervös.
Das Hochziehen der mageren Schultern drang ihr durch die Hände bis ins Herz, füllte sie mit fremder Wärme. »Haben«, sagte er hilflos-störrisch. Sie wußte nicht, worum es ging, aber sie sollten es ihm geben. Ihre Hände drückten beruhigend zu. Die Handflächen umschlossen die Schlüsselbeine und die Kugeln der Schultern. Hatte sie jemals so magere Schultern unter ihren Händen gefühlt?
Herr Ess blickte ihren Mann an, murmelte: »Wenn nun der Doktor anders befindet? Man kann nichts versprechen. Möchte mich nicht einmischen.«
Josef erwiderte mit der begütigenden Stimme, die sie stets zum Widerspruch reizte, weil sie so unmännlich war: »Er hat eben noch nie etwas für sich besessen.«
Die Schultern unter ihren Händen strafften sich trotzig. »Doch«, widersprach der neue Andreas, »‘nen Goldhamster.« Es füllte sie kurz mit Befriedigung, daß er offensichtlich das weiche Mitleid auch nicht wollte.
»So?« fragte Herr Ess interessiert. »Was ist denn aus ihm geworden?«
»Weggenommen.« Die Schultern versuchten gleichgültig hochzugehen, doch die Bewegung brach in der Mitte ab, und die Schultern sackten nach vorn; die Stimme klang belegt. Es verwunderte sie, daß diese Winzigkeiten ihr weh tun konnten. Es ging sie ja nichts an. »Als meine Oma tot war.« Jetzt senkte sich auch der Kopf, und durch die beiden Handflächen rann das leise Beben der Schultern erneut bis in ihr Herz. Als seine Oma starb. Sie überflog im Geist seine Karteikarte, die Stationen seines Kinderlebens — Heim, Waisenhaus, Pflegemutter, noch eine Pflegemutter, Großmutter. Herrgott, zehn Jahre war das her. So lange dachte er an einen Goldhamster, trauerte er ihm nach. Das ahnte man ja nicht. Wieder fiel ihr zusammenhanglos Malwine ein.
»Ach, das ist dumm«, sagte Herr Ess etwas ungeschickt. Er sah zu Don Chaussee, damit er ihm zu Hilfe komme. Er fühlte sich der Situation nicht gewachsen. Als niemand etwas sagte, räusperte er sich und fuhr überredend fort: »Goldhamster, so, so! Feine Sache. Weißt du was, hier hast du zehn Mark. Damit kaufst du dir ein Goldhamsterpärchen und fängst eine Zucht an. Alle paar Wochen eine Handvoll Goldhamsterchen zum Verkaufen, das wäre doch was, wie? Ist das nicht besser als so ein...«, er brach unvermittelt ab und räusperte sich wieder. »Bleibt’s dabei?«
Andreas sah von dem Zehnmarkschein, der ihm gehören sollte, auf Habakuk. Mit einer hastigen Gebärde entzog er sich den Händen auf seiner Schulter und trat einen Schritt zurück. Alle drei sahen sie jetzt in das vom Weinen aufgedunsene Jungengesicht mit dem über Nacht gelösten Mund und den zuckenden Lippen. Die rechte Hand griff tastend nach hinten, in Habakuks Mähnenrest; und der Griff gab ihm Halt. Seine schwarzen Augen sahen auf Herrn Ess, dann zu Don Chaussee hin. Langsam schüttelte er den Kopf. »Was zum Haben kann man nicht kaufen.« Und mit einem zugleich scheuen und trotzigen Blick auf Frau Martha murmelte er: »Es braucht auch nicht nützlich zu sein.«
Herr Ess sah die peinliche Bestürzung auf ihrem Gesicht und versuchte sie wegzulachen. »Na, na, mein Junge, das sind große Worte. Nicht käuflich, nicht nützlich — was soll es denn sein?«
In die schwarzen Augen kam ein sehnsüchtiger Zug. Sie sahen durch den Frager hindurch. »Es soll da sein«, sagte er.
So simpel war das. Weshalb traf es sie dann wie ein Stoß vor die Brust? Sie legte die Hände an die pochenden Schläfen, wie um zurückzuhalten, was bei diesen Worten aus dem Unterbewußtsein aufstieg, aus der entferntesten Ecke ihres Herzens, in der sie es, von ihrem starken Willen dahin verbannt, für immer begraben wähnte: nur da sein. Sie war so alt gewesen wie Andreas, als sie erkannt hatte, daß niemand da war für sie, und es hatte geschmerzt, aber nun war es doch schon so lange her. Sie wollte nicht daran denken. Weshalb mußte Andreas es sagen? Sie hatte ihm helfen wollen; weshalb überließ er sie da der Erinnerung? Ihre Hände kamen ihr seltsam leer vor ohne die dünnen Knochen, die sie eben noch durch das Tuch des Anzugs gefühlt hatte. Er beachtete sie gar nicht; er ging auf ihren Mann zu, sah ihn an, und auf dem traurigen Kindergesicht blühte ein Lächeln auf, ein Abglanz des zuversichtlichen, landstreicherhaften Grinsens auf dem Männergesicht. Sie war allein, wie vorgestern bei Huberts Tollkühnheit mit dem Braten. Da hatte es sie erbost; jetzt tat es weh.
Gegen das breite, stummberedte Grinsen da kam man nicht auf. Man konnte es zerschlagen, wenn jemand etwas Hartes hinein- sagte; sie hatte es ausprobiert. Es konnte verlöschen, doch es kam wieder, und jedesmal wurde es sicherer, breiter, gewisser. Oh, sie hatte es gespürt. Und sie spürte auch, wie die Kinder es nachahmten. Als sie, wieder umdüstert, ins Haus zurückeilte, kam es ihr wie ein Wall vor, der alle umschloß und nur sie draußen ließ.
Auf der Wiese war so viel los, daß die Ankunft von Habakuk und seinem Gefolge gar nicht beachtet wurde. Aus der einen Ecke übertönte Bennekamps Stimme laut das Stimmengewirr der ihn umgebenden Vorstandsmitglieder des Tierschutzvereins. »Zu wenig, sage ich Ihnen zum letztenmal, das ist ja lächerlich, das deckt die Unkosten nicht halb! Wissen Sie, was die Sache ist? Mein Ruin! Jawohl! Dieser Müller! Bis auf den letzten Pfennig bezahlt er das ab, da kennen Sie mich aber schlecht, oha!«
Hände klopften ihm beruhigend den Rücken, begütigende Stimmen brummten Unverständliches, aber Stationsvorsteher Bennekamp hatte nicht alle Tage Gelegenheit, einem so erlesenen städtischen Zuhörerkreis gründlich seine Meinung zu sagen, und beabsichtigte nicht, sich diesen Genuß schmälern zu lassen. Mit einem »Ah«, das aus befreiten Seelentiefen kam, stürzte er Herrn Ess entgegen und ging am mittleren Mantelknopf vor Anker. »Denken Sie — zwei!« blubberte er erregt. »Das deckt die Unkosten bei weitem nicht. Alle! Alle! Was soll ich denn sonst machen? Wie stellen Sie sich das überhaupt vor?«
Seine Rechte schoß fragend nach oben, Herrn Ess so dicht vor die Nase, daß er konsterniert zurücksprang und der Mantelknopf in’ der Linken des Stationsvorstehers blieb. »Um Himmels willen, worum handelt es sich denn?«
Im Nu war Herr Ess der Mittelpunkt des stimmenschwirrenden Kreises, und es dauerte infolge des Übereifers aller Erklärer eine Weile, ehe er herausfand, daß der Doktor nur zwei der Esel für lebensuntauglich hielt, während Bennekamp strikt forderte, daß die gesamte Herde getötet werden müsse.
»Sie gehören zu einem Durchgangstransport von Schlachtvieh, und die Absendefirma schreibt, wir sollten sie hier töten und an den Abdecker verkaufen und davon die entstandenen Unkosten bezahlen, aber wenn sie weder getötet noch weiterbefördert werden, sind sie Einfuhrgut und müssen verzollt werden, und die Frachtkosten von der Grenze bis hier erhöhen sich entsprechend, und wenn Sie doch nur Abdeckerpreise bezahlen wollen, kommen wir nie und nimmer mit den Kosten hin und...«
An dieser Stelle überließ Don Chaussee die streitenden Parteien sich selbst und wandte sich den übrigen Vorgängen zu. Herr Ess sah ganz so aus, als werde er mit Bahn und Zoll allein fertig.
In der entgegengesetzten Ecke der Weide versuchte der Tierarzt vergebens, sich Ephraim zu nähern, der die Lippen hochzog und mit gespannten Muskeln sprungbereit stand. Am Draht feixten die Kinder, die soeben aus der Schule gekommen waren.
»Der beißt!« quiekte Ferdi warnend, und der Doktor trat vorsichtshalber einen weiteren Schritt zurück. Er rief den sich erhitzenden Tierschützern zu: »Helfen Sie mir doch bitte mal eben, ja? Der Satan hier beißt. Wir müssen ihn in die Ecke drängen und ihn irgendwie von hinten zu packen kriegen, und dann müssen ihm zwei Mann den Kopf hochhalten, damit ich untersuchen kann. Er sieht zwar gesund genug aus, aber untersucht werden muß er doch.«
Die Kinder sahen mit Spannung zu, und als das Experiment dem Scheitern nahe war, stießen sie sich unterdrückt kichernd an. Leo knallte sich wiehernd auf den Schenkel; selbst die Kletten zappelten vergnügt, als sie begriffen, daß die Männer all das Hin- und Herlaufen und Rufen und Schimpfen vollführten, um an Ephraim heranzukommen, der jedesmal, wenn ihm einer zu nahe kam, mit schrecklichem Schnauben auf ihn losfuhr. Don Chaussee freute sich ganz unpädagogisch für Hubert, und er drückte in der Hosentasche den Daumen, daß sie ihn nicht kriegten.
Schwitzend gab der Doktor es auf. »Satan!«
Hubert lümmelte sich frech an ihn heran. »Soll ich mal?« fragte er mit einer Kopfbewegung auf den Esel hin. Don Chaussee war sich durchaus bewußt, daß der Bengel für ein so offenkundig unverschämtes Benehmen eine Ohrfeige verdient hatte, beruhigte sich aber damit, daß er ihn später schon noch erziehen werde.
Hubert zog mit weiter Geste ein Taschentuch aus der Hose, das nur ein Esel noch für weiß ansehen konnte, und schritt, die Erwachsenen mit einer Handbewegung zurückwedelnd, geradeswegs auf Ephraim zu, drängte ihn in seine Ecke, hielt ihm das Tuch unter die Nase und ergriff den Halsstrick.
»Bleiben Sie nur da!« rief er dem Doktor großmütig zu. »Ich bring’ ihn ‘rüber.«
Ephraim ließ sich die Untersuchung zwar zitternd, jedoch infolge des dunkelweißen Taschentuches ohne Beißen gefallen, indes Ferdi stolz die Geschichte seiner Zähmung zum besten gab. Der Doktor klopfte Hubert anerkennend den Rücken und vergaß seine Niederlage. Um auch den letzten Rest von Peinlichkeit zu beseitigen, begann er unverzüglich, einen Vortrag über die Schwierigkeiten des Umgangs mit Beißern zu halten, der bewirkte, sowohl ihn vom Vorwurf der Feigheit zu befreien wie Huberts Leistung um so glänzender herauszustellen.
Herr Ess wußte persönlichen Mut plus Nachdenken zu schätzen. Er sagte spontan: »Mein Junge, du darfst dir was wünschen.«
Der Satz hatte eine unerwartete Wirkung auf Hubert, den Großmäuligen. Er schuffelte mit den Füßen vor Verlegenheit und wand sich kläglich. Zweimal setzte er zum Sprechen an, hörte seufzend wieder auf und machte sein verdrossenstes Gesicht, was die Umstehenden nicht eben angenehm berührte.
»Undankbarer Flegel!« stand deutlich in einigen Mienen zu lesen. Huberts Backen brannten röter als seine Haare. So was Blödes! Wie sollte er denn wissen, was der sich unter einem Wunsch vorstellte? Nachher war’s zuviel, und dann hatte man seinen Anraunzer weg, weil man unverschämt gewesen war.
»Na?« Herr Ess wollte dem Jungen eine Freude machen, ohne dafür länger im Regen stehen zu müssen.
Ferdi flitzte zu Hubert hin und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin Hubert krampfhaft nickte und die Blicke in den Boden bohrte, als wolle er sie für alle Zeiten dort festschrauben.
»Ich weiß es, Großvater«, gellte Ferdi triumphierend, »so ‘nen — so ‘nen kleinen von Bormanns, so ‘nen...«
»Spitz«, sagte Don Chaussee.
»Hund«, vollendete Ferdi fiepend.
Hubert stand wie angefroren inmitten der gespannt schweigenden Kinder. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, wenn er daran dachte, was man mit einem intelligenten jungen Hund alles anfangen konnte, wenn — ja, wenn!
»Einen Hund wünscht er sich! Haben Sie das gehört?«
Die Stimme klang alles andere als entrüstet. Hubert wagte einen knappen Blick nach oben. Was er sah, brachte ihm erneut die Unberechenbarkeit von Erwachsenen zu Bewußtsein. Herr Ess strahlte wie ein Weihnachtsbaum, die Tierschutzvereinsvorsteher strahlten wie ein Wald von Weihnachtsbäumen, und ein Hagel zustimmender Püffe und Ausrufe ging auf ihn nieder. »Ein Hund, jawohl, das ist richtig, so sollten Jungen sein! Weiß gar nicht, wieso man immer davon spricht, daß sich die Jugend nur für Technik interessiert. Gerede, nichts als Gerede, sage ich! Man sieht’s ja, wenn man sie fragt, wollen sie Tiere. Ist immer dasselbe, meine sind genauso! Junge Hunde gehören zusammen, was?« Noch ein Klaps auf die Schulter, Gelächter über die letzten Worte, einhellige Zufriedenheit.
Total verrückt, dachte Hubert. Freilich beschäftigte ihn der Gedanke nur Sekunden, ehe er mitten durch die nassen Büsche am Wiesenrand sauste, Ferdi mit hängender Zunge hinter sich, und am Ende eines in beachtlicher Zeit heruntergespurteten 300-m-Laufs Oma Bormann in der Tür des Hühnerstalls so erschreckte, daß sie fast die Tagesration an Eiern aus der Schürze fallen ließ.
»Ist noch ‘n junger Hund da?«
»So ‘n Spitz?« quiekte Ferdi erläuternd und machte einen Satz nach hinten, als die einzige Sorte Hund, die es auf dem Hof gab, herbeigerast kam — teils am Draht, teils frei hinterdrein hoppelnd — und sich begrüßend Hubert entgegenwarf.
»Alle Mann noch«, mümmelte Oma konsterniert, »woso?«
»Einer gehört jetzt mir«, sagte Hubert, tief Luft schöpfend, »und ich brauch’ den besten.«
»Ja nu, ja nu, denn such ‘n dich man aus. Sind alle gut, sind alle gut«, brummte Oma, kopfschüttelnd und mit wackeligen Beinen auf der Tenne verschwindend. »So ‘ne komischen Kinder, die ausser Filla. Ein’n so zu verschrecken wegen ‘nen kleinen Hund. Nee also!«
Die beiden draußen hatten das bißchen Rennerei längst vergessen und wählten selig in den regennassen, schmutzigen Fellchen, um kaum vorhandene Muskeln abzutasten, spitze Schnäuzchen zu messen und am Herzklopfen das Temperament abzuhorchen. So fand sie Bauer Bormann, der die Schwere der Entscheidung sofort begriff.
»Nehmt sie der Reihe nach einen Tag zur Probe mit«, schlug er lachend vor, »weil ihr es seid. Und helft uns bald wieder bei den Kartoffeln.«
Ferdi und Hubert grinsten zustimmend, ehe sie davongaloppierten. Auf der Weide war niemand mehr außer einem einzelnen Jungen, der auf einen Esel starrte.
Ferdi gab ihm einen Schubs. »Mensch, Andreas, wir haben ‘nen Hund. Guck nicht so ernst. Freu dich lieber!«
»Tu’ ich ja«, sagte Andreas aus Herzensgrund, »tu’ ich ja! Habakuk ist kerngesund, hat der Doktor gesagt.«
»Prima«, fiepte Ferdi, »Mensch, prima, was?« Und gellte, davonsausend: »Großvater! Großvater!«
»So ‘n Affe!« grinste Hubert erheitert.
Andreas sah ihm nach. »Hm.«
»Der könnte meinetwegen hier bleiben.«
»Bleibt auch hier. Hat der Alte gesagt. Zu Don Chaussee eben. Bis er aufs Gymnasium geht.«
Hubert sah den stummen Andreas, der da mit einemmal freiwillig vier richtige Sätze hintereinander sprach, von der Seite an. Seine schlauen Augen strichen flink über das verheulte Gesicht. Hat endlich die Bremsen losgemacht, dachte er befriedigt. Mit der Hand das nasse, weiche Wollknäuel an sich drückend, puffte er den Ellenbogen Andreas in die Rippen. »Komm«, sagte er, »geh mit ‘rein. Ich zeig’ dir meinen Hund.«
Die Wohnzimmerfenster waren beschlagen vom Schwaden der Anzüge, die in der Hitze trockneten. Unter der Decke hing dicker blauer Rauch. Uwe hustete und wurde von Schwester Monika, die mit rotgeränderten, verquollenen Augen auf ihren Todfeind Bennekamp sah, hinausgetragen. Die Kletten drückten sich gegen Don Chaussees Knie, verständnislos, aber zufrieden in die roten Männergesichter um den Tisch schauend. Aus dem Jungenschlafzimmer tönte, die Wand mühelos durchdringend, Ferdis Stimme: »Hii! Paß auf, der geht auf den Igel los. Da! Jetzt blutet seine Schnauze!«
Das lebhafte Gespräch um den Sofatisch verstummte einen Augenblick und wandte sich dann von den Eseln den Tieren im Haus zu. »Sie spielen mit dem Hund.«
»Ja, ja, so was beschäftigt die Bande immer.«
»Ich hatte als Junge mal ‘nen Boxer, den ich so mannscharf dressiert hatte, daß selbst mein Vater Angst hatte vor ihm.«
»Wollen hoffen, daß sich hier solche Sitten nicht einbürgern. Da wäre man ja seines Lebens nicht mehr sicher!«
Leo saß am Fenstertischchen und kaute, anstatt seine Schularbeiten zu erledigen, mißmutig an seinem Bleistift herum, der von vorhergegangenen Behandlungen dieser Art schon ganz fransig geworden war. So was Blödes, sich wegen so einem Vieh so anzustellen. Kleiner Dachschaden, zu so einem Mops zu sagen: »Na, wo is denn der kleine Kerl?« und auf allen vieren ‘rumzukriechen, wie Ferdi und Hubert und Andreas. Und die Männer drüben, unter denen sogar ein richtiger Blauer war, stellten sich an, als ob’s Fünfmarkstücke regnete. Doof! Sein Alter würde dem Vieh ‘nen Tritt gegeben haben. Der war nicht für so was Winselndes, Stiefelleckendes gewesen, nee, der nicht. Und Schmuggel-Willy schon gar nicht. Fraß Hunde, hatte er mal erzählt. Es gab welche, die klauten sie von der Straße weg, möglichst fette Möpse von reichen Leuten, wo auch ordentlich was dransaß, und dann drehten sie ihnen den Hals um. Solche Kerle waren das!
Bei aller Bewunderung lief ihm ein leiser Schauer über den Rücken. Gebratene Hunde waren durchaus nicht sein Geschmack. Im Grunde hatte er nicht mal etwas gegen Tiere, es paßte ihm nur nicht, daß die Erwachsenen so ein Geschrei darum machten. Er packte die doch alle in die Tasche, wenn es darauf ankam: das Würstchen Andreas und die falsche Katze Änne und den zappeligen Strich Ferdi. Na, und mit Hubert nahm er’s auch noch auf. Jawohl. Konnte sein, daß der Rote schlauer war, aber stärker war er. Darauf kam es im Leben an. Der Stärkere hatte immer recht. Trübe Tassen, alle zusammen! Er kratzte wütend mit dem Bleistiftstummel auf seinem Borstenkopf herum, als ein paar Gesprächsfetzen ihn aufhorchen ließen.
»...der geht ins Pastorat.«
»Macht immer noch sieben.«
»...doch keinen Platz...«
»Zu Bormanns geben...«
»Habe ich schon mit gesprochen; der hat selbst in diesem Jahr zuviel Jungvieh.«
Aha, sie wußten nicht, wo sie im Winter mit den Eseln hin sollten. Leo hörte auf zu kratzen und polierte statt dessen mit seinem dicken Po unruhig den Stuhl. Er hatte längst darüber nachgedacht, aber ihn fragte ja niemand. Pöh, denn nicht!
Don Chaussee hatte Leo wie eine mürrische Bulldogge in der Ecke sitzen sehen und das eifersüchtige Knurren gehört. Jetzt sah er, wie Leo sich die wulstigen Lippen leckte wie eine Bulldogge, der ein Knochen, vor der Nase baumelt, und sich abwechselnd mit den Händen über die Schenkel rieb. Dabei schielten seine kleinen Schweinsaugen verlangend zum Tisch hin. Er rieb mit dem Zeigefinger die Nase entlang, bohrte ihn in die Nase, kratzte sich die Borsten, daß man es richtig schaben hörte — kurz, er hatte offenkundig etwas auf dem Herzen.
»Leo, komm doch mal ‘rüber.«
Leo rollte eilig heran, die Unterlippe vorgeschoben und die Hände diesmal am Po reibend. Halb verlegen, halb mißtrauisch. »Wegen dem Stall, mein’ ich«, grunzte er, nur Don Chaussee verständlich. »Du meinst, du weißt einen Stall?«
»Hm.«
»Wo?«
Leo zuckte mit Kopf und Achseln in die gleiche Richtung. »Hinter der Pumpe, im Büschchen.«
»Da kann doch nichts mehr stehen.« Herr Ess erklärte: »Früher hatte meine Frau mal vor, ein kleines Gewächshaus dort zu bauen, aber die Fundamente standen kaum, als uns schon klar wurde,, daß es mit der Beheizung nicht recht klappen würde. Da blieb das Ganze dann liegen und verwilderte. Schon zu meiner Zeit konnte man vor Brombeerranken und Gras nichts mehr sehen.«
Nichts mehr sehen ist gut, dachte Leo. So ‘n halbes Haus mit dreißig Zentimeter hohen Mauern und festem Boden soll unsereins nicht am ersten Tag schon finden? Als ob die paar Brombeeren einem das verbergen könnten. Wo käme der Mensch denn hin, wenn er sich nicht gründlich umsähe? Aber da hatte man es mal wieder: reiche Leute. Die hatten’s nicht nötig, die Augen aufzusperren. Er schnaubte verächtlich.
»Gehen wir hin«, entschied Herr Ess, der ohnedies schon zu lange gesessen hatte. Er sprang auf, und ehe es sich die anderen recht versahen, standen sie schon wieder im Regen auf der Terrasse und folgten dem gar nicht mehr mißmutigen Leo durch das nasse Gestrüpp. Leo riß mit den bloßen Händen die Brombeerranken von den Steinen, so daß die Anlage in den Umrissen erkennbar wurde. Don Chaussee sog nachdenklich an der Pfeife. »Gut«, nickte er, »das geht. Sechs Meter lang und etwa drei Meter breit sind die Fundamente. Da ziehen wir die Mauern hoch, sparen Platz für fertige Eisenfenster aus und zimmern eine Tür. Für das Dach muß uns Förster Kösters ein paar Stämmchen als Querbalken geben, und auf die nageln wir Kistenbretter. Sie haben doch sicher einen Haufen dicker Kisten in der Fabrik?«
Herr Ess, der Don Chaussees Taktik noch nicht kannte, wiederholte konsterniert: »Kisten? Ja, schon, aber das ist bezahltes Leergut.«
»Macht nichts«, versicherte Don Chaussee freundlich. »Wir streichen Karbolineum darauf und decken es mit Pappe ab. Das mach’ ich schon, da rede ich mal mit Große-Witte, der hat genug davon herumliegen. Eine Lage Teer noch, und schon ist der Stall fertig. Für sieben kleine Esel reicht er.«
Herr Ess blickte etwas hilflos rundum.
»Für Esel reicht er«, bestätigte der Tierarzt, der seinen Gesichtsausdruck mißverstand.
Der Zuhörerkreis war um einige gespannte Teilnehmer gewachsen. Hubert, Andreas, Ferdi und Franziska hatten die Debatte vom Schlafzimmerfenster aus verfolgt und kamen nun herausgesprungen, um die Entscheidung in der Nähe abzuwarten.
Herr Ess sah es. Unmerklich zwinkernd wehrte er ab: »Mein bester Don Chaussee, so viel sind mir die Esel nun wieder nicht wert. Rechnen Sie mal aus, was das kosten wird: Maurer, Schreiner, Dachdecker, Anstreicher — nein, da geben wir sie lieber den Winter über zu Müntes.«
»Ich kann mauern. Mit dem Lot. Und elektrische Leitungen mach’ ich aus dem Effeff.« Leo sah Don Chaussee flehend an.
»Au ja, und wir streichen an, nicht, Hubert? O Großvater, prima!« fiepte Ferdi hüpfend.
»Mit so vielen großen Jungens! Ich erinnere mich, daß wir früher unseren Ziegenstall auch selbst gemacht haben. In dem Alter kann man doch alles!« Der Tierschutzverein wurde zusehends jünger, und auf einigen Gesichtern spiegelte sich sehnsuchtsvoller Neid. Sich mal wieder einmal so richtig dreckig machen und blaue Nägel vom Hämmern haben, das müßte herrlich sein.
»Tja«, sagte Herr Ess bedauernd, »trotzdem geht es nicht. Wer soll die Arbeit denn überwachen? Wenn unser guter Don Chaussee nicht fortginge, hätte ich nichts dagegen gehabt, aber der ist ja nur zu Besuch hier. So wird also wohl nichts draus. Tut mir leid, Kinder!«
Enttäuschung und Betroffenheit spiegelten sich auf den Gesichtern. Andreas wurde kreideweiß. Was würde aus Habakuk werden, wenn Don Chaussee wegging? Die Kletten hielten sich bei den Händen und ahnten mehr, als sie verstanden. Leo knurrte vernehmlich: »Scheiße!«
»Pöh, denn eben nicht!« sagte Hubert ungezogen. Seine Miene war augenblicklich wieder mißmutig und stur. So war das eben: Mal durfte man was, mal wurde es einem wieder verboten. Warum, weshalb, das erzählte einem niemand. Das mußte man sich einfach gefallen lassen.
Ferdis Augen standen voller Tränen: »Och, warum gehen Sie denn weg? Kann er nicht hier bleiben, Großvater? Und die Esel?«
Hubert lachte häßlich. »Flennliese!« Als ob es Zweck hätte, die Leute um was zu bitten! Die kamen und gingen doch, wie es ihnen paßte. Biederten sich mit einem an, hielten lange Vorträge und hauten dann wieder ab. Pff. Bloß gut, daß der ihn noch nicht restlos schlapp gemacht hatte mit seinen blöden Mätzchen, der Hammel.
Don Chaussee strich Ferdi beruhigend über den Schopf. »Der Großvater wird schon wissen, was er will«, sagte er, der selber nicht recht wußte, worauf Herr Ess abzielte. Er kannte ihn gut genug, um zu ahnen, daß er etwas im Schild führte. Irrte er sich, oder war, als er zu sprechen begann, in den Augen vor ihm ein erwartungsvoller Schimmer aufgeblitzt? Nach seinen Worten jedenfalls blickten sie alle wieder kalt an ihm vorbei.
Hubert und Leo wandten sich schulterzuckend zum Haus, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Leo pfiff laut und frech. Hubert schleuderte mit dem Fuß einen Stein in die Küche. Andreas ging zur Eselsweide. Franziska zerrte die Kletten grob hinter sich her.
»Tja«, sagte Herr Ess gedankenvoll hinter ihnen dreinschauend, »tja, so sieht das aus, wenn man ihnen einen Herzenswunsch abschlägt. Keiner revoltiert. Ein paar rüde Bemerkungen, aber kein leiser Versuch, einen umzustimmen. Ich bezahle Essen und Trinken, und dann kann ich mit ihnen machen, was ich will.« Er schlug Don Chaussee leicht auf die Schulter. »Kommen Sie«, bestimmte er, »hier draußen regnet es, und drinnen kriegt man vor lauter Kinder kein Bein an den Boden. Nehmen Sie Ihre Zahnbürste unter den Arm und fahren Sie mit uns in die Stadt zurück. Ich habe das Gefühl, als hätten wir beide mal in aller Ruhe eine Menge miteinander zu besprechen.«