12. Kapitel
Das ist kein Sommerregen mehr, das ist nun endgültig Herbst, dachte Don Chaussee, als er am anderen Morgen vom Wohnzimmerfenster aus in das trübe, rauschende Grau blickte. Die Luft war schwer und undurchsichtig. Nachts hatte es gestürmt; ein Haufen rostroter Blätter türmte sich, den Ablauf verstopfend, vom Wind hergepeitscht, vor der Brüstung hoch. Auf dem Steinboden der Terrasse war eine der Blumenampeln von der Pergola zerschellt. Nackt und verschrumpelt schwammen die Geranien in einer Lache; die Erde hatte der Regen fast schon die Stufen hinuntergeschwemmt. Seit dem frühen Morgen fiel er eintönig, bindfadengerade und so dicht, daß die Koniferen unten an der Straße nur noch wie eine schattendunkle Mauer im schattenden Grau standen. Der freie, weite Ausblick vom Hügel über die Felder, über Bormanns und Müntes Hof bis an den bewaldeten Horizont war wie abgeschnitten, wie ertrunken in dieser bedrückenden Dämmerung, auf die kein Tag mehr zu folgen schien.
Don Chaussee zog den Kopf zwischen die Schultern, schob den Sombrero weit in den Nacken und wechselte das Standbein, unbehaglich, niedergeschlagen. Marthas Mißmut schien den Raum hinter ihm zu füllen, die Luft zum Atmen dick und beschwerlich zu machen.
»O bitte, ich habe wahrhaftig nichts dagegen, daß sie bei Bormanns auf dem Feld mitarbeiten; im Gegenteil, es würde mich freuen.« Sie sprach gekränkt. »Wie oft habe ich ihnen schon gesagt, daß sie helfen sollen, und ihnen sogar erlaubt, das verdiente Geld in ihre eigenen Spardosen zu tun. Herr Ess will ja nicht, daß sie neben den Schulaufgaben zur Arbeit gezwungen werden. Nun, da ziehen sie es eben vor, nichts zu tun: genau wie das Gesindel, von dem sie abstammen! Wenn ich bedenke, welche Mühe mich der Versuch schon gekostet hat, sie zu nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu erziehen!« Seit Sonntag, seit dem Fest, hatte ihr Stimme einen wehleidigen Unterton bekommen, der einem lästig wurde.
Don Chaussee überlief es kalt: Geld für die Spardosen. Wie konnte sie nur! Was gab Leo um Geld, mit dem er nichts anfangen konnte? Oder Hubert, oder Änne? Geld verdienen, um es dann in einer Sparbüchse verschwinden zu lassen? Das war zuviel verlangt.
»Wenn man ihnen das Geld nun ließe? Ich meine, wenigstens für den Anfang, bis sie allmählich gelernt haben, daß Arbeit auch Spaß machen kann?« Er versuchte, ganz leichthin zu sprechen, so leicht, wie es in diesem düsteren Raum ging, in dem jeder Anlauf zu einem Gespräch erstickte. Er wollte sie nicht reizen. Sie war unglücklich, das spürte er deutlich. Ihre harte Festigkeit war durch irgend etwas erschüttert und ins Schwanken geraten. Er ahnte nur nicht, was es sein konnte. Die Kinder verstand er. Aber eine Frau — das war etwas anderes.
Sie ging auf seine Vorschläge nicht ein. Seine Geduld schien sie nur noch mehr zu reizen. »Tu, was du willst. Du hast ja in der Kindererziehung soviel mehr Erfahrung als ich! Verschone mich aber bitte mit deinen weisen Ratschlägen. Ich bin überzeugt, du bekommst sie auch so weit, daß sie aufs Feld gehen. Mit Vergnügen, natürlich. Du brauchst ja bloß von Gott weiß woher aufzutauchen, alles durcheinanderzubringen, dich mit meinem Chef anzubiedern, mich überflüssig zu machen, und schon läuft alles am Schnürchen!« Bitterkeit würgte sie.
Er schwieg. Was sollte er auch sagen? Der Regen trommelte eintönig auf das kleine Blechdach über der Tür, prasselte gegen die Scheiben. Als er zum fünfzehnten Mal beobachtet hatte, wie ein Tropfen von ganz oben in skurrilen Schwüngen das Glas entlangglitt, links und rechts weitere Tropfen ansaugte, zu einem fetten Rinnsal schwoll und gierig von den Rissen im Fensterbrett verschluckt wurde, zwang er seine Gedanken in eine andere Richtung. »Wir müssen nachher noch eine Ladung Birkenholz aus der Försterei holen«, sagte er über die Schulter ins Zimmer zurück.
»Au ja!«
Frau Martha, die am kalten Ofen lehnte, fuhr bei Ferdis Quietschen nervös zusammen. »Doch nicht bei dem Wetter! Die Kleider werden ja durch und durch naß!«
Ihr Mann begriff sie weniger denn je, und mehr denn je dauerte sie ihn. Er versuchte, ihr etwas Freundliches zu sagen. »Beinahe hätte ich’s vergessen: Bormanns haben gestern Judenbirnen gepflückt und uns einen Korb voll angeboten. Wenn es dir recht ist, können wir ihn gleich holen.«
»Es ist mir aber nicht recht«, sagte sie weniger scharf als mürrisch, »ich habe nie gebettelt und Geschenke angenommen, und ich will nicht, daß du es tust.«
»Mir liegt nichts daran, es ist nur für die Kinder. Und Bormanns tun es gern. Die alte Frau freute sich, uns was anbieten zu können.«
»Ach, du hast eben kein Rückgrat! Keinen Stolz!«
Das freundliche Licht in seinen Augen, die er bei ihrer ersten Antwort erstaunt auf sie gerichtet hatte, erlosch; die Falten und Furchen im hageren Gesicht vertieften sich. Um die breite Querfalte des Mundes und die Augenwinkel zuckte es dünn, in nadelfeinem Zittern.
»Das dumme Basteln im Garten, ist das vielleicht Männerarbeit? Und das bejubelte Indianerspiel mit meinem Braten?« Sie sah das Zucken, vielleicht weil es so winzig war, vielleicht auch, weil sie seit gestern diesem fremden Mann immer ins Gesicht sehen mußte. Aber sie redete weiter, gereizt und ungeduldig. »Die Kinder verkommen regelrecht. Ein Blinder sieht das ja! Du nimmst sie mir aus der Hand und gibst ihren Launen nach, verziehst sie. Und wenn sie zum Schluß nichts mehr taugen, verschwindest du wieder. Es ist unverantwortlich! Wenn du wenigstens etwas tun würdest, anstatt hier herumzustehen und querzuschießen. Ja, ja, sieh mich nur immer an, ich bin es leid!« Sie schrie fast vor Zorn. »Alles!«
Langsam drehte er sich wieder zum Fenster um. Er konnte ihr nicht einmal böse sein. Es tat nur weh. Und zurückschreien, das war ihm nicht gegeben. Merkte sie denn nicht selber, wie diese dauernde Wiederholung des Gleichen einen zur Auflehnung reizte? Er seufzte.
Da schob sich eine Kinderhand in die seine. Ferdi war vom Sofa gerutscht und stand, bis hinter die Ohren errötend, neben ihm. Den Mund trotzig geschlossen, die hellen Brauen zusammengeschoben, starrte er in den Regen, den schmalen Jungenrücken ostentativ der Redenden zugewandt.
Frau Martha schwieg. Sie hatte nicht an den Jungen gedacht, und nun ergriff er gegen sie Partei. Sie war immer gut zu ihm gewesen. Was fanden sie nur alle an diesem Schwächling von Mann? Leo, Franziska, Hubert, Schwester Monika und jetzt auch noch Ferdi — sie liefen ihm ja fast nach. Die Szene hinter dem Busch gestern fiel ihr ein, der Griff um ihren Arm. War er ein Schwächling? Sie wußte es nicht, und noch während sie darüber nachdachte, wurde es ihr wieder gleichgültig. Sie begriff nicht, weshalb sie sich gerade so hatte gehen lassen. Das hatte sie ihm doch alles schon gesagt, weshalb wiederholte sie es nur immer wieder? Sollte er doch machen, was er wollte... Es lag am Wetter, an diesem unleidlichen, stickigen, unerträglichen Tag. Und Herr Ess hatte immer noch nicht wieder angerufen.
Hubert war das Wetter egal. Einen groben Sack über Kopf und Rücken gestülpt, wie die Bauern es beim Kartoffelbuddeln machen, hockte er auf dem Weidentor. Der Sack war längst durchnäßt; die Hose klebte ihm an den Schenkeln, aus einer Tasche hing ein triefendes weißes Tuch, und bei den Stiefeln kam der Regen oben schon wieder als Überschwemmung heraus. Doch alles das merkte er kaum. Während in seinem Kopf die Pläne quirlten, blickte er unentwegt zu Ephraim hinüber, der sich schwarz und knochig vom grauen Hintergrund abhob, und beobachtete, wie er in hilfloser Geduld alle paar Minuten erneut zu grasen versuchte. Mit peinvoller Behutsamkeit näherte sich das Maul dem Boden, die Lippen schoben sich zurück, so weit es ging, und die Zähne versuchten hungrig zuzufassen. Aber das Wurzelwerk, das auf der Wiese allein noch übriggeblieben war, ließ sich so nicht packen. Es war zu kurz und zu hart, und der kantige Schädel fuhr jedesmal schmerzdurchzuckt zurück. Es ging nicht.
Hubert runzelte die Stirn. »Das dumme Biest! Verflixt!« Halb ungeduldig, halb mitleidig rutschte er vom Tor und ließ sich zum hundertstenmal alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen, an Ephraim heranzukommen. Sooft er sich ihm vorsichtig näherte, riß der Esel in blindem Entsetzen aus. Statt zu beißen, zog er Leine! Die Aufgabe, ihn zu zähmen, war nur halb gelöst.
Hubert ärgerte das. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Verbrecher kirre zu machen, koste es, was es wolle. Und dann kam jetzt ein anderes Gefühl hinzu, als er ihn so hilflos sah, etwas, das der »harte« Hubert nicht näher hätte beschreiben können.
»Mit Köpfchen geht es am besten«, hatte Don Chaussee gesagt. Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Der hatte gut reden.
Plötzlich schleuderte er den triefenden Sack weg und rannte los. Gegenüber dem Schuppen kletterte er mit einer Behendigkeit, die auf ausgiebiges Training schließen ließ, die glitschignasse Eiche hinauf, rutschte auf dem ersten starken Ast zum Schuppen hin und ließ sich aufs Dach gleiten. Die Dachpappe war ziemlich faul, und darunter konnte man an einer bestimmten Stelle nach Entfernung einiger lockerer Nägel zwei Planken hochheben und sich durchzwängen. Man landete dann genau auf dem Holzstapel, der die rechte Hälfte des Schuppens einnahm. Hubert wußte das, denn er hatte diesen »geheimen« Eingang selbst gebastelt, obwohl der Abstellraum bis zur Ankunft Don Chaussees und seines Vorhängeschlosses stets offen gewesen war.
Drinnen roch es dumpf und teerig. Das kleine Fenster an der Rückwand ließ sich nicht öffnen. Der festgestampfte Lehmboden war von den Tannennadeln, Spänen und Holzabfällen vieler Jahre mit einer weichen, mulmigen Schicht bedeckt. Wo der Regen durch das undichte Dach tropfte, bildeten sich darin kleine faulige Lachen. Auf den Borden standen Konservendosen mit eingetrockneten Farbresten, daneben, in einer brackigen, mit toten Fliegen bedeckten Flüssigkeit, ein Bündel Pinsel. An der freien linken Wand lehnten Werkzeuge und Geräte. Und irgendwo hinten unter dem Holz hatte er seinen einzigen Besitz versteckt: den Pappkarton, der ihn auf all den krummen Wegen seines Kinderlebens begleitet hatte. Hubert rumorte im Halbdunkel, stieß in seiner Ungeduld einen Kanister mit Petroleum um, begoß sich mit der Flüssigkeit aus der Pinselbüchse, trat unten so heftig auf eine Harke, daß ihm oben der Stiel gegen die Stirn fuhr, und fluchte fortwährend leise vor sich hin. Nacheinander schob er eine Schüppe, einen Hammer, Nägel, ein paar der längsten Birkenknüppel und schließlich eine Rolle mit Drahtresten aufs Dach. Nachdem er die Pappe nachlässig über die Öffnung gezogen hatte, warf er das Werkzeug hin, sprang hinterdrein und machte sich im Regen an die Arbeit.
Das Rauschen der Blätter und das Trommeln der Tropfen aufs Hausdach dämpften alle Geräusche von draußen. Als dumpfes Plop-plop-plop nur drang das Hämmern auf der Weide durch die wattige graue Regenwand, aber das genügte. Ferdi sah Don Chaussee an wie Meier den Förster, wenn der die Flinte von der Wand nahm. Er vergaß Frau Marthas unbegreifliches Schimpfen. Gegen den Regen hatte er einen Wettermantel mit Kapuze. Don Chaussee nickte. Sein Sombrero hatte schon schlimmeren Güssen standgehalten. Einträchtig gingen sie dem Klopfen nach.
Ganz hinten, im letzten Zipfel der Weide, fanden sie Hubert damit beschäftigt, die Birkenknüppel in anderthalb Meter Abstand vom Draht zu einem drei Meter langen neuen Zaunstück in die Erde zu rammen.
»Falle«, knurrte er erklärend und zerrte die Drahtrolle zum Ende der Pfahlreihe hin. Don Chaussee packte schweigend mit an. Ferdi hüpfte auf einem Bein durch den Regen, aufgeregt wie immer, seitdem er dieses Leben entdeckt hatte, in dem jeden Moment etwas Spannendes passieren konnte. »Was ist das? Wozu macht man das? Wieso ist das ‘ne Falle? Das bleibt ja auf der schmalen Seite offen. Sieht aus wie ein Gang und...«
»Halt die Schnauze!« brummte Hubert, das letzte Drahtende festwickelnd, und fügte auf einen Blick von Don Chaussee etwas milder hinzu: »Wart’s ab, wir sind gleich soweit.«
Ferdi war bis vor vierzehn Tagen keine Jungen und keine Grobheit gewohnt gewesen und seither nur Jungen und Grobheit. So glaubte er, das gehöre nun einmal zusammen, und nahm es nicht übel, schon gar nicht von Hubert, seinem bewunderten Vorbild. Mit andächtig aufgerissenen Augen verfolgte er, wie sich Hubert nun, das weiße Tuch schwenkend, Ephraim näherte und ihn, als er davonlief, geschickt in die vorbereitete und abgetrennte Wiesenecke trieb. Wie ein Irrwisch flitzte er von rechts nach links, schnitt dem Esel hier den Weg ab, lenkte ihn dort auf den Gang zu, versperrte ihm wedelnd den Ausweg zur offenen Wiese und hatte ihn im Handumdrehen genau in jenem schmalen Drahtverhau, in dem sich Ephraim zwar knapp umdrehen, aus dem er aber nicht mehr entwischen konnte.
Don Chaussee nahm Ferdi beim Ärmel und zog ihn ein Stück weit weg, während sich Hubert Ephraim näherte. Der starke Esel zitterte am ganzen Körper. Hubert hatte in der vergangenen Woche mehrfach gelesen, der Ton der menschlichen Stimme sei ein wichtiges Instrument im Umgang mit Tieren, und er bemühte sich nun redlich, der seinen einen gedämpft beruhigenden Klang zu geben. »Ääffrahim — guuter Kerl — ich tuu’ dir ja gar nichts...«, brummte er langgezogen, die Hand mit dem Tuch zentimeterweise vorstreckend. Die Eselslippen wölbten sich, als wollten die entblößten Zähne zubeißen, doch die Augen waren voll wilder Furcht auf das Tuch gerichtet, und der Kopf fuhr statt nach vorn immer weiter zurück, bis er wie ein stummer Schrei senkrecht vor dem Rücken stand. Hubert überlief es schnell heiß: daß er solche Angst vor ihm hatte! Seine Hand, die zu beruhigendem Klopfen bereit war, traf auf Schreckstarre Muskeln, hart hervortretende Rippen. Er sagte flach: »Wenn er noch ‘¿en Tag nicht frißt, ist er hin. Die Schnauze — pfui Deibel...« und zuckte erbittert die Achseln. Hatte er das vielleicht gewollt? Immer ging alles anders aus, als man vorher dachte. Und dabei hatte er so gründlich nachgedacht. Don Chaussee nickte. Verbrannt, geschwollen, abschälend — das Eselsmaul war kein schöner Anblick. »Dr. Kösters gibt dir sicher Brandsalbe, wenn du ihn bittest«, sagte er, und merkwürdigerweise tobte Hubert bei der Vorstellung, jemanden um etwas zu bitten, nicht los. Er sah auf, mit einem Blick, in dem lebenslanges Mißtrauen mit ganz neu gewonnenem Vertrauen rang.
»Ich hab’ Nivea-Creme. Aber fressen kann er dann immer noch nicht.«
»Nivea? Du großer Schreck. Stell die Dose lieber wieder in die Küche und frag den Doktor. Zum Fressen muß er was Weiches haben. Am besten eine Maische aus Hafermehl oder Kleie und warmem Wasser, einfach so zum ‘runterschlürfen. Das nährt und tut nicht weh.« Als er hinzufügen wollte: »Bring bei Große-Witte ein paar Pfund auf meine Kosten mit«, fiel ihm das Gespräch mit seiner Frau von vorhin ein. Er stoppte kurz. »Das kostet ‘n paar Mark.«
Hubert zuckte ungeduldig die Achseln. »Ach! Hab’ doch kein Geld.«
»Wieso nicht? Ihr habt doch alle eine Spardose? Vielleicht fragst du, ob du was ‘rausnehmen darfst.«
Über Huberts Gesicht flog ein breites Grinsen so voll innerstem Vergnügen, daß die beiden anderen unwillkürlich mitgrinsten. »Nee«, sagte er halb vorsichtig, halb verschmitzt, sie schräg von unten anblinzelnd, »is nich. Da sind bloß Knöppe drin.«
Es war klar, daß keine näheren Erläuterungen zu erwarten waren. Don Chaussee nahm sich vor, gelegentlich weiterzuforschen, wie die von Frau Martha gehüteten Patentverschluß-Spardosen wohl dem traurigen Geschick anheimgefallen waren, beraubt und mit Knöpfen gefüllt zu werden. Im Augenblick sagte er nur: »Tja, vielleicht erkundigst du dich dann mal, ob sie dir bei Bormanns was abgeben können?«
Hubert kaute auf seiner Unterlippe herum. »Abgeben« war gut. Als ob wohl ein Mensch auf der Welt freiwillig was abgab. Dann schob er störrisch den Schädel mit den naßdunklen roten Haaren vor: Er würde Hafermehl bekommen! Sein Esel würde nicht verhungern. Er hatte ihm das Beißen abgewöhnt, und er hatte ein Mittel entdeckt, sich ihm zu nähern, und er würde ihn auch noch völlig zähmen. Ein paar lumpige Pfund Hafermehl waren das letzte, was ihn daran hindern konnte.
»Ich geh’ ins Dorf«, sagte er entschlossen, sich unverzüglich und so durchnäßt er war zum Gehen wendend. Ferdi quietschte begeistert: »Ich auch« und trottete eifrig neben ihm her. Vor einer Woche noch hätte er es für unmöglich gehalten, bei solchem Wetter bloß vor die Tür zu gehen. Gerda hielt es sicher jetzt noch für unmöglich. Beim Gedanken daran vergrößerte er unwillkürlich seine Schritte, um sich männlicher seinem Begleiter anzupassen, der, barhäuptig und ohne Mantel, sich ganz augenscheinlich den Teufel um den Regen scherte; und er war überzeugt, daß es auf der Welt nichts Wunderbareres gab, als neben einem solchen richtigen gerissenen und tollkühnen Burschen wie Hubert herzugehen, durch Wind und Wetter.
Don Chaussee zündete sich unter dem Vordach des Schuppens mit gewohnter Umständlichkeit seine Pfeife an, nickte ein paarmal versonnen und blickte den beiden ungleichen Jungengestalten nach, bis der Regen sie verschluckte.
Franziska wollte nach Tisch unbedingt mit zur Försterei, obwohl dabei die Gefahr drohte, daß sich in der feuchten Luft die sonntäglichen Krullen vollends entringelten. Sie hatten auf dem Schulweg schon beträchtlich gelitten. Trotzdem währte Franziskas innerer Kampf mit der Eitelkeit nicht lange und endete in einem Kompromiß: den Regenschirm mitzunehmen.
Leo heulte vor Wonne, als sie unter dem baumwollenen Ungetüm herangewandelt kam, das sich von irgendeinem dörflichen Ausverkauf her ins Heim verirrt hatte, wo es nun dazu diente, jeweils ein halbes Dutzend Kinder zugleich zu beschirmen. Selbst um Andreas’ Mund zuckte es, und Don Chaussee wandte sich schmunzelnd ab. Er hätte gar nicht so rücksichtsvoll zu sein brauchen. Franziska hätte seine Heiterkeit, wie die der anderen, doch nur als Kompliment aufgefaßt. Der Gedanke, man könne sich über sie — die polierte Fingernägel, gelockte Haare und notfalls ein ausgesucht feines Benehmen hatte — amüsieren, kam ihr gar nicht. Zudem war sie immer noch völlig verdattert darüber, daß sie erstmalig bei Frau Martha ihren Willen durchgesetzt hatte.
Unterwegs beschäftigte sich Andreas ausschließlich mit Habakuk. In einer alten Umhängetasche aus Segeltuch schleppte er drei Rüben mit, die er auf dem Weg zur Schule von einem Feld geklaut und während des Religionsunterrichtes mit dem neuen Messer in handliche Brocken geschnitten hatte. Nun fütterte er im Gehen seinen Esel damit. Habakuk war trotz seines Hungers nicht gierig. Er zerkaute im Dahintrotten jeden einzelnen Brocken sorgsam, ehe er den Kopf hob und den vor ihm gehenden Andreas leise mit dem Maul anstupste. Andreas fuhr bei jeder dieser Berührungen aufs neue entzückt zusammen, und nachdem ein Drittel der Tasche geleert war, spielte er mit Habakuk, indem er tat, als bemerke er das Stupsen nicht. Der alte Esel wartete dann jedesmal ein Weilchen, um nach zehn oder fünfzehn Schritten erneut die Nase vorzustrecken. Andreas hatte noch nie gespielt, und das Entzücken sprang wie ein kleiner Quell auf in der Öde seines versandeten Herzens.
Leo schüttelte verständnislos den Borstenschädel ob dieses Getues und wandte sich schnell wieder Don Chaussee und der fesselnden Unterhaltung darüber zu, wie man die neuen Gartenbänke so zimmern konnte, daß sie zur Überwinterung in verschiedene Teile zerlegbar waren und trotzdem nicht an Haltbarkeit und urwüchsigem Aussehen verloren. Es gefiel ihm mächtig, daß der Alte, der selbst so viel davon verstand, ihn um Rat fragte. Den Vorschlag Don Chaussees, gleich auch noch ein neues Kellergeländer zu zimmern, nahm er ganz sachlich auf. Von Schuldbewußtsein oder heimlichem Wissen darum, wer das alte abgesägt haben könnte, war ihm nichts anzumerken.
Franziska hatte Andreas gefragt, ob sie sich auf den leeren Wagen setzen dürfe. Nach einem Blick auf sein abweisendes Gesicht hatte sie die Frage nicht wiederholt. So blieben ihr zur Unterhaltung nur die Kletten.
Der Regen nieselte seit Mittag nur noch dünn, und als sie die Försterei erreichten, hörte er ganz auf, wenngleich der Himmel tief und grau blieb und so aussah, als könne es jeden Moment wieder losgehen. Onkel und Otto strebten gleich auf die Ziegenweide zu, die sie vom ersten Besuch her in freundlicher Erinnerung hatten. Das Aussuchen des passenden Holzes dauerte diesmal länger und hätte um ein Haar zu einer soliden Keilerei zwischen Leo und Andreas geführt. Leo wollte möglichst viel Material mitnehmen, Andreas seinem Esel möglichst wenig Last aufladen, und sie zankten sich, bis Don Chaussee vorschlug, so viel mitzunehmen, daß er und Leo am nächsten Tag zu arbeiten hatten, während Andreas den Rest allein nachholte. Damit gaben sich beide zufrieden.
Förster Kösters zog erstaunt die Brauen hoch: Der schien ja wahrhaftig recht zu behalten mit seiner »Hilfe«. Wenn ihn nicht alles täuschte, drängten die Lümmel sich geradezu zur Arbeit. Seit anderthalb Jahren hörte er nichts als Klagen über sie. Der Lehrer und Frau Martha, Schwester Monika, ja selbst sein Bruder, der sie gelegentlich verarztete, hatten über ihre störrische, sture Faulheit geschimpft. Und nun mit einemmal das!
Es freute ihn, und er wollte ihnen gern auch eine Freude machen. Als der Wagen abfahrbereit stand, fragte er schmunzelnd: »Fiabt ihr mal einen Hund gesehen, der Kopfstand machen kann?«
»Nee!« Sie waren augenblicklich alarmiert.
Auf einen Pfiff des Försters peeste Meier mit flappenden Ohren aus dem Gebüsch herbei.
»Meier, die Herrschaften wollen dich bewundern.«
Meier legte den Kopf schief und sah sie der Reihe nach offensichtlich kritisch an, als wolle er sich zunächst vergewissern, ob die Bewunderung dieser Herrschaften die Anstrengung überhaupt lohne. Die Beurteilung schien nicht allzu günstig auszufallen, denn er gähnte, zog den Schwanz ein und machte Anstalten, sich wieder zu trollen.
Leo klatschte sich amüsiert auf den fetten Oberschenkel. »Der is gut, der kann so bleiben.«
»Meier!«
Diesen Ton schien der Dackel zu kennen. Er setzte sich unverzüglich nieder und sah seinen Herrn unschuldig-gekränkt an, als wolle er sagen: »Wie kannst du mich nur so anbrüllen, wo du doch siehst, daß ich bereit bin, dir jeden Gefallen zu tun!«
»Man muß bei diesem Lümmel haarscharf aufpassen«, sagte der Förster, »er ist ebenso gerissen wie bequem und drückt sich, wo er nur kann. Dabei hat er sich seine Kunststücke alle selber beigebracht und macht sie sechsmal hintereinander freiwillig, wenn er mich weichmachen will, ihn auf die Jagd mitzunehmen.«
Meier zog den Kopf ein, wackelte eifrig mit dem Hinterteil, keuchte und warf die Hinterbeine ein paarmal zentimeterhoch, wobei der schmutzige Sand in Salven wegspritzte. Er spielte vollendet Theater, nur von Kopfstand war keine Rede. Offenkundig ermattet und außer Atem setzte er sich wieder vor seinen Herrn, ein Bild der Erschöpfung nach treuer Diensterfüllung, und ließ ergeben die Ohren hängen.
»Wenn ihr jetzt lacht«, murmelte der Förster warnend, »ist es aus. Das Luder ist natürlich frisch wie Morgentau. Alles Mache.« Und er sagte laut: »Mei-er!«
Weder die Jungen noch Don Chaussee begriffen, weshalb der Dackel nach diesen beiden Silben blitzschnell aufsprang und hart und drahtig die Hinterläufe hochschnellte, als sei er plötzlich ein anderer Hund geworden. Keine Spur von Theater mehr. Fast gerade stand er auf den krummen, kurzen Vorderbeinen, die Schnauze beinahe auf dem Boden, in vollendetem »Kopfstand«.
»Mensch, der grinst ja«, meinte Leo verblüfft, als Meier sich seine Belohnung in Form von anerkennendem Rückenklopfen holte. »Natürlich! Es macht ihm ja auch einen Mordsspaß, vor allem das Getue vorher. Mal sehen, ob er Lust hat auf eine Zugabe. Meier: Welle!«
Meier hatte Lust, und es war eine Lust für die anderen, ihm zuzusehen. Welle rückwärts — Welle seitwärts — Kopfstand: ein Pfiff, zwei Pfiffe, drei Pfiffe. Je wärmer Meier wurde, um so offenkundig vergnügter rollte er seine Wellen, schnellte er das fette Hinterteil hoch. Es sah urkomisch aus. Leo knallte sich fortwährend auf die Schenkel, und Andreas’ Augen glänzten wieder selbstvergessen wie schwarze Kirschen. Don Chaussee grinste dem Förster unter dem Sombrero hervor dankbar zu.
Ein gellender Quiekser, begleitet vom Rumpeln und Knarren schlechtgeölter Räder, ließ alle vier jäh herumfahren und brachte Meier um den wohlverdienten Schlußapplaus.
»Hilfe — Hilfe!«
Knüppel rutschten zu Boden. Andreas sauste in langen Sätzen hinter der in Bewegung geratenen Holzkarre her und wurde von Onkel, dem das Beispiel seines davongaloppierenden Kameraden in die mürben Knochen gefahren war, kurz über den Haufen gerannt. Otto schrie von der Ziegenweide her durchdringend: »Ii-aa!« Meier bellte empört und beleidigt. Die Kletten waren käseweiß vor Sorge um ihre eben noch friedlich grasenden Reittiere. Leo brüllte: »Habakuk« und hielt sich gleichzeitig die Seiten vor Lachen. Und Franziska gellte, nun schon gedämpfter und von den Büschen verschluckt, ihr »Hilfe — Hilfe!« weiter.
Mit einemmal rannten alle los; selbst Meier und der Förster schlossen sich an.
Auch wenn Habakuk nicht die Richtung Heimat eingeschlagen hätte, wäre der Weg nicht zu verfehlen gewesen: Die eben erst sorglich geschichteten Birkenknüppel waren in Furchen und Pfützen gerollt, und hinter der dritten Biegung des Waldpfades war — in eine besonders große Pfütze — Franziska selbst gerollt. Bis hierher hatte sie sich krampfhaft an den vordersten Hölzern festgehalten und sich erst mit ihnen zugleich und unter einem letzten schrillen Protest von der stuckernden Karre getrennt, den baumwollenen Regenschirm fest unter den Arm gepreßt. Beiden war das Ausharren schlecht bekommen: Ihm war im Purzeln die Krücke geknickt, sie war bis an die Hüften durchnäßt. Daß das Lachen der Umstehenden diesmal nicht als reines Kompliment gedacht war, ging selbst Franziska auf.
Trotz des Zusammenpralls mit Onkel war Andreas als erster bei Habakuk. Halb von der Karre verdeckt, die ihn ein Stück überrollt hatte, lag der alte Esel pumpend auf der Erde. Der Weg führte hier durch hochragende Tannen, deren Wurzelwerk glitschig den Boden überknorpelte. Halb schlitternd, halb springend eilte Andreas auf den Gestürzten zu. Habakuk hob den Kopf, um zu sehen, wer sich da an ihm zu schaffen machte, schnaufte beruhigt und lag ganz still beim Losschirren. Andreas hatte den Schnaufer gehört, und er spürte, wie die verkrampften Muskeln sich lösten, als ihn der Esel erkannte. Er sah sich um: Die anderen waren noch ein Stück weit weg. Schnell beugte er sich tief hinab, so tief, daß er mit seiner Stirn die wulstige Eselsstirn berührte. »Armer Kerl«, flüsterte er hastig, »brauchst nicht zu ziehen, wenn du nicht kannst. Geh bloß nicht tot!« Und er streichelte einmal unbeholfen über das weiche Eselsmaul.
»Haha, so ‘n Schlappschwanz!« wieherte Leo. »Umgekippt — glatt aus den Pantoffeln gekegelt, hahaha!«
Andreas warf ihm einen finsteren Blick zu und führte Habakuk, der sich im Stürzen ein Knie aufgeschlagen hatte, behutsam abseits.
Don Chaussee rettete die Ehre des Beschimpften. »Der ist nicht gefallen, sondern einfach ausgerutscht. Kein Wunder bei der Glätte.«
Leo bückte sich über das Wurzelwerk. »Man sieht aber nichts, nicht die blasse Spur.«
Da es jeden Moment wieder anfangen konnte zu regnen, fand Don Chaussee das Aufsammeln der Hölzer wichtiger als eine längere Diskussion dieses Themas. »Den Wagen kann Otto ziehen. Wir spannen ihn hier an, fahren langsam zur Försterei zurück und laden unterwegs auf. Die Spuren«, fügte er freundlich beruhigend hinzu, »ach, die hat er wahrscheinlich mit seinem eigenen Bauch wieder verwischt.«
»Wahrscheinlich!« grinste Leo betont, Andreas anfeixend. Es war nicht böser gemeint als sonst; in Leos Welt galt es als Staatsvergnügen, einander ohne überflüssige Rücksicht auf Gefühle anzupflaumen.
Doch während Leo den ganzen Vorfall im Umdrehen vergaß und längst Franziska anrempelte, die wieder und wieder heulend beteuerte, sie hätte nur einmal in einer Eselskutsche fahren wollen, bohrte sich das zweifelnde »wahrscheinlich« tief in Andreas’ Herz ein. Wenn es nun doch Schwäche gewesen war? Wenn Habakuk alle war, erledigt, verbraucht? Krepierte, wie die anderen drei, die er selbst mit begraben hatte? Andreas bückte sich abwesend nach den schillernden Birkenhölzern, schichtete sie abwesend auf den Karren, folgte abwesend dem Trüppchen heimwärts. Die ganze Zeit über klopfte ihm das Herz merkwürdig gegen die Rippen, langsam und schwer, und er mußte ein paarmal grundlos tief Luft schöpfen, während in seinem Kopf immer dieselbe Überlegung kreiste, verschwommen, aber beharrlich: Wenn Habakuk nicht mehr da war, gab es niemanden mehr, der ihn brauchte. Er hatte nie viel nachgedacht; wozu auch? Das änderte ja doch nichts. Auch über Habakuk nachzudenken änderte nichts, und doch konnte er es nicht lassen. Der Gedanke ging einfach nicht fort: Wenn Habakuk nicht mehr da war, brauchte ihn keiner mehr. Und er wollte, daß ihn einer brauchte. Er wollte Habakuks Maul auf seiner Hand fühlen; er wollte spüren, wie sich Habakuks knochige Kruppe schutzsuchend gegen seine Hüfte preßte, der dicke Schädel ihm mahnend in den Rücken stupste. Er wollte wieder und wieder erleben, wie sich aus der Schar der Esel einer löste und auf den Zaun zustuckerte, wenn er »Habakuk« rief. Und gerade Habakuk mußte es sein, der ihn brauchte: ein alter, klappriger Bursche, der sonst keinen einzigen Freund hatte auf der Welt, der genauso verlassen war wie er selbst.
Der Gedanke wurde ihm lästig, und er verstärkte das Herzklopfen. So versuchte er ihn abzuschütteln. Schließlich war auch das egal. Alles war schließlich egal — bis sich im Gehen seine Hand in die struppige Mähne verirrte und ihm vom mageren Halskamm her eine nie erlebte Wärme in die Finger rann, den Arm entlang, genau dahin, wo das Herz so unsinnig klopfte. Da war es dann doch nicht egal. Nein, Habakuk durfte nicht sterben.
»Die Chefin ist böse! Seit vier Uhr warten wir mit dem Kaffee, und jetzt ist es fast dunkel. Ich würde es ja nicht wagen, so unpünktlich zu sein!« Schwester Monika flüsterte es aus dem Schlafzimmer, wo sie Wache gehalten hatte, Don Chaussee zu. Ihre Miene schwankte zwischen Ängstlichkeit und Bewunderung. Erst gestern hatte sie Herrn Müller auseinandergesetzt, daß der Mann ihrer Chefin gar nicht, aber auch schon gar nicht ihr Typ sei und daß er in puncto Frische und Stattlichkeit überhaupt nicht mit ihm, Herrn Müller, konkurrieren könne, nur habe er dabei so ein gewisses Etwas: Zum Beispiel grinse er bloß, wenn sie alle in der Aufregung fast ertränken, und er sei so einfallsreich in seinen Komplimenten und habe sowohl für die lümmeligen Jungen wie auch für sie, Schwester Monika, und ihre zarteren Seelenregungen ein so feines Verständnis, und man merke ihm an, daß er weit in der Welt herumgekommen sei. Und die Sache mit dem komischen Hut und den alten Hosen sei sicher nur eine kleine Schrulle, über die man nach einiger Gewöhnung bald hinwegsehe, und dann sei eben unverkennbar, daß es im Heim bei weitem nicht mehr so langweilig sei wie früher. Herr Müller hatte diesen und einer längeren Reihe ähnlicher Ausführungen mißtrauisch gelauscht und schließlich gefunden, daß Schwester Monika dafür, daß Don Chaussee nicht ihr Typ war, ganz ordentlich für ihn schwärmte, was sie aber entrüstet von sich gewiesen hatte.
Wie dem auch sein mochte: Der Einstieg durchs Schlafzimmerfenster und in die bürstenbewaffneten Hände von Schwester Monika erwies sich für die Kinder immer häufiger als letzte Rettung, und die Schwester wurde von den ehemals so feindlichen Zöglingen nach und nach mit beinahe freundlichen Augen angesehen. Und da sie tatsächlich ein netter, braver Mensch war, gefiel ihr dieser Zustand viel besser, und am besten gefiel es ihr, vor Don Chaussee stets neue Proben ihres mütterlichen Herzens ablegen zu können.
Als er jedoch heute der albern giggelnden, triefenden und über ihre eigenen plumpen Knochen stolpernden Franziska allzu galant über die Fährnisse der Fensterbrüstung half, wäre das Maß des Erträglichen um ein Haar voll gewesen. Mit dem ihn auszeichnenden sechsten Sinn erkannte Don Chaussee die Gefahr im letzten Moment und murmelte, Schwester Monikas Eifersucht beschwichtigend, ausreichend deutlich: »Unser aller immerwährende Hilfe und Rettung aus täglicher Not!«
Dem gleichzeitig bestrickenden Lächeln konnte die so Gepriesene schon gar nicht widerstehen, und so saß Franziska Minuten später, frisch gewaschen und gekämmt, im frischen Rock am Kaffeetisch, wo ihre Dankbarkeit sich in so alarmierenden Blicken kundtat, daß Frau Martha sie gereizt fragte: »Ist dir nicht gut? Oder weshalb machst du Augen wie ein gestochenes Kalb?«
Franziska ließ im allgemeinen Fragen dieser Art an ihrer dicken Haut abgleiten. Daß man jedoch ihren »seidigen« Blick, die »aparte« Note ihrer Augen so gemein heruntermachte, war mehr, als selbst sie ertragen konnte. Seit sechs Monaten pflegte sie diese Augen hingegeben mit Spucke und Wimperntusche, welch letztere sie in einem eigens dafür in die Matratze gebohrten Loch aufbewahrte, und nahm um der im Prospekt verheißenen Schönheit willen selbst Ännes boshaften Spott in Kauf. Tatsächlich sah sie auch bei jedem ihrer weiß Gott nicht seltenen Blicke in den Spiegel die Wimpern förmlich wachsen, und vor ihren inneren Blicken wuchsen dabei die Chancen, einen der so heiß begehrten Posten in einem Schönheitssalon, einem schicken Modeatelier oder doch wenigstens bei einem Friseur zu bekommen.
Frau Marthas »herzlose« Bemerkung traf also Franziskas wundesten Punkt, und Don Chaussee sah zu seinem Schrecken, wie sie plötzlich nicht nur nasse, sondern schwarze Augen bekam und schwarze Tränen ihrem Gesicht eine Kriegsbemalung gaben, die seiner Frau im Interesse des ohnehin angekratzten Friedens besser verborgen blieb. So erkundigte er sich hastig ablenkend, ob Herr Ess während seiner Abwesenheit angerufen habe.
»Nein — ja — das heißt, seine Sekretärin.« Frau Marthas Stimme flackerte nervös. »Er selbst war unterwegs, aber er hat bestellen lassen, daß morgen die Kommission für die Esel kommt. Sie hat noch was vom Tierschutzverein gesagt, ich kenne mich da nicht so aus. Wenn ich recht verstanden habe, wollen sie die Esel untersuchen und die nicht mehr lebensfähigen beseitigen. Das scheint mir nur vernünftig zu sein. Kein Mensch kann es ja mit ansehen, wie diese morschen Geschöpfe Stück um Stück umkommen. Ich habe es ja schon immer gesagt. So geht es auch wirklich nicht weiter. Ein Glück, daß selbst der Tierschutzverein es einsieht. Alles gerät aus dem Leim hier, die Hausordnung wird nicht mehr eingehalten und...« Sie redete in nervöser, konfuser Hast. Es waren die alten Worte, doch es war nicht mehr der alte selbstbewußte, selbstgefällige Ton. Die Stimme war höher, und die Hände zupften fahrig am Wachstuch des Tisches. Auf den Wangen zeichneten sich hellrote Flecken ab.
Don Chaussee unterbrach sie nicht. Der Vorwurf ging diesmal an ihm vorbei. Sie glaubt selbst nicht mehr daran, dachte er flüchtig, es klingt so leer und ausgeleiert. Zum tausendstenmal dachte er: Ich muß mit ihr reden, muß das alles wegräumen, damit die richtige Martha zum Vorschein kommt. Und er wußte zugleich resigniert: Sie läßt ja nicht mit sich reden.
Sein bekümmerter Blick streifte über die Kinder hin, Franziska schmierte sich mit dem Taschentuch das Schwarze nun übers ganze Gesicht, was Änne und Leo zu kaum noch unterdrücktem Prusten veranlaßte. Die Kletten tuschelten leise und erregt miteinander über Esel. Schwester Monika fütterte Uwe. Sie allein hörte der Chefin zu, aber ihr rundes, hübsches Gesicht trug einen deutlich gelangweilten Zug, den sie sich vor wenigen Tagen noch nicht erlaubt haben würde. Wie schwer es doch ist, mit vierundzwanzig Jahren immer auf Autorität und Würde bedacht zu sein, erwog er schmunzelnd; sicher würde sie lieber lauthals über Franziskas mißglückte Schminkerei lachen.
Sein Schmunzeln verflüchtigte sich unvermittelt, als sein Blick auf Andreas fiel, aus dessen schmalem, eckigem Gesicht mit den hohen Backenknochen jeder Blutstropfen gewichen war. Wachsweiß sah er aus und ebenso unbewegt und fühllos, kaum daß sich beim Schlucken der Adamsapfel bewegte. Es beunruhigt^ ihn, den Jungen so zu sehen und nicht zu wissen, was mit ihm los war, wie man ihm helfen konnte. Er brauchte Hilfe. Alle diese Kinder brauchten unentwegt Hilfe, aber für jedes mußte die Hilfe anders sein. Grübelnd sah er Andreas an. Blaß war er immer, eben wie einer, der sein Leben lang in dumpfen Hinterzimmern gehockt und nur altes Brot und kalte Kartoffeln gegessen hat. Doch diese Blässe war nun anders. »Fühlst du dich nicht gut?« murmelte er besorgt, was sofort die Jungenmienen wieder zum üblichen Gletscher abweisender Gleichgültigkeit gefrieren ließ, hinter der ihn die Bowle oder das selbstvergessene Graben auf kurze Augenblicke hervorgelockt hatten.
»Ich hab’ nichts«, sagte er flach.
Geduld bewahren, wenn man helfen möchte, das ist das Schwerste, dachte Don Chaussee. Es geht eben nicht in einer Woche, nicht in einem Monat. Wenn sie doch nur ein bißchen Vertrauen hätten! Fühlten sie denn nicht, daß er sie alle mochte, jung und armselig, wie sie waren? Nein, sie fühlten es wohl noch nicht richtig, sie brauchten Zeit. Zeit, um Vertrauen zu fassen: zu sich selbst zuerst, dann vielleicht zu ihm. Jedes weitere Wort würde jetzt und heute nur feindlich aufgenommen werden, würde die Mauer der Abwehr verhärten. So schwieg er vorläufig, obwohl die Unruhe blieb.
»Wo stecken denn Hubert und Ferdi? Wieso erscheinen sie nicht zum Kaffeetrinken? Hast du sie irgendwo hingeschickt?«
Don Chaussee sah verwundert auf. »Nein, ich hab’ sie auch seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen. Vielleicht sind sie bei Ephraim? Hubert bemüht sich, das wunde Maul zu kurieren und ihn zum Fressen zu bewegen.«
Die roten Flecken auf ihren Wangen vertieften sich, als er den Esel erwähnte. Sie antwortete nicht, aber ihre Haltung sprach für sich. Das kommt eben von deinem Einmischen. Ich wußte immer, wo die Kinder waren: hier, im Heim nämlich. Jetzt entwickeln sie sich zu Herumtreibern. Die Esel sind ja eine so einfache und sichere Entschuldigung.
»Hach«, warf Gerda, in Bademantel und Pantoffeln, spöttisch ein, »ich weiß, wo sie sind.« Sie genoß die neugierigen Blicke, und am meisten genoß sie es, daß Frau Martha sie trotz sichtbarer Ungeduld nicht zu drängen wagte. Das hätte sie auch nur mal versuchen sollen! So kaute sie in aller Seelenruhe, schluckte, ließ sich neuen Kaffee einschenken und nahm sich vor, die Tasse erst langsam auszutrinken, ehe sie ihr kostbares Wissen von sich gab.
Don Chaussee vergaß für. den Moment seine Sorgen. Er durchschaute ihre Absicht und grinste. »Na, dann ist ja alles in Ordnung«, meinte er, »solange du weißt, wo sie stecken, sind sie zumindest nicht unter die Räuber gefallen.«
Selbst Frau Martha verzog den Mund beifällig zu dieser Abfuhr. Die anderen lachten lauthals, während Gerda zornig errötete. Sie wäre diesem Menschen, der sie ständig blamierte, am liebsten ins Gesicht gesprungen, doch blieb ihr keine Zeit zu dieser oder einer anderen Reaktion, denn von draußen erscholl Ferdis helles Krähen, der Türkratzer knarrte unter dem Schuffeln und Trampeln von zwei Paar sicherlich dreckigen Stiefeln, und die beiden Verlorenen tauchten auf, durchnäßt, sandverkrustet und augenscheinlich hundemüde. Ferdis blonde Haare klebten genauso naß und dunkel auf der Stirn wie Huberts rote. Er sah ganz verändert aus, und natürlich war er trotz seiner Müdigkeit noch aufgeregter als sonst. Schwester Monika, die sich gleich mit einem Schrei des Entsetzens auf ihn stürzte, um seinen hübschen grauen Anzug wild mit der Bürste zu bearbeiten, mußte ihn mit einer Hand am Kragen festhalten, damit er nicht ganz so verrückt zappelte und sie, auf einem Bein herumhüpfend, quer durch die Küche hinter sich herzog.
»Wir brauchen keinen Kaffee mehr«, quiekte er, »wir haben schon welchen getrunken, auf dem Feld, aus einer ulkigen Blechflasche mit so Filz drumrum zum Warmhalten, fabelhaft praktisch. Der schmeckte vielleicht! Kalten Speckpfannkuchen haben sie uns auch gebracht und Krautbrote, und wir haben alle zusammen im Regen gesessen, mit Säcken überm Kopf, und wie richtige Bauern gegessen. Aus meiner ganzen Klasse hat bestimmt noch keiner auf dem Feld gegessen, ich werd’s ihnen erzählen, und die werden sich wundern. Aber am liebsten blieb’ ich ganz hier und würde immerzu Kartoffeln ausbuddeln mit Hubert. Einmal bin ich mit Hubert auf dem Karren nach Hause gefahren, und Bauer Bormann hat gesagt, Hubert ist der geborene Kutscher, weil die dicke Meta sofort auf ihn gehört hat. Und wir hätten auch noch mitkommen und Milchsuppe essen können, mit Birnen drin. Ich wollte ja, aber Hubert wollte lieber nicht, und Frau Bormann hat gesagt, wir können morgen wiederkommen, und dann gibt’s Grießsuppe und Bratkartoffeln, und sie hebt mir ein paar Birnen auf, weil es nämlich getrocknete sind, die ich noch niemals gegessen habe, und Hubert sagt...«
Es ging fröhlich immer so weiter, fast ohne Punkt und Komma und nur mit kurzen Pausen zum Atemholen, ein Wasserfall aus lauter Quietschen und hellen Tönen, in zappeliger Fröhlichkeit.
Hubert, dachte Änne böse, Hubert, Hubert. Dieser kleine Fatzke aus der Stadt nahm Hubert so sehr in Beschlag, daß er für sie keine Zeit mehr hatte. Sie kaute verdrossen auf ihrer Unterlippe herum und sah aus schrägen grünen Augen haßerfüllt auf den plappernden Eindringling. Es paßte ihr nicht mehr hier. Sie ließ sich nicht beiseite schieben. Und es wurde langweilig. Der Plan, auszureißen, nahm hinter ihrer gelben Stirn feste Formen an.
Hubert hatte zwei große Tüten auf die Anrichte gestellt und war verschwunden, um sich zu waschen. Ganz schlimm konnte es zwar nicht werden, da Ferdi Ess dabei gewesen war, doch er hatte heute noch zuviel vor, um auch nur einen Hausarrest zu riskieren. So setzte er sich nach kurzer Zeit ungewöhnlich bescheiden ans untere Tischende und verputzte mit gutem Appetit den Rest der Kaffeebrote.
Don Chaussee vermied es, seine Frau anzusehen. Seine Augen zwinkerten allzu vergnügt, wenn er an die Unterhaltung vom Morgen dachte, und er mochte doch keinen Triumph zeigen. Sie hatte es ohnehin schwer genug. Aber freuen tat es ihn doch, daß Hubert nicht nur sinnlos, sondern auch sinnvoll dickköpfig sein konnte und sich das Futter tatsächlich erarbeitet hatte. Der Bursche machte ihm zunehmend Spaß. Der war aus dem richtigen Holz geschnitzt.
»Ich habe nichts dagegen, daß ihr eure Freizeit mit nützlicher Tätigkeit verbringt«, sagte Frau Martha mürrisch, »nur möchte ich, daß ihr erstens um Erlaubnis fragt und zweitens nicht unbedingt am schmutzigsten Tag des Jahres geht. Heute jedenfalls habt ihr mehr an Anzügen verdorben, als die Arbeit wert gewesen ist.« Ferdi sah sie vorwurfsvoll an. »Das bißchen Dreck kann man wieder ‘rausmachen, oder sonst kann ich auch ‘nen neuen Anzug kaufen, aber auf schieben ging doch nicht! Wir mußten doch das Zeugs für Ephraim haben, weil er mit seinem kaputten Maul sonst nichts fressen kann. Was meinen Sie, was der ‘nen Hunger hat! Doll, sag’ ich Ihnen! Und die eine Tüte hab’ ich ganz allein verdient. Das schreib’ ich meinem Vater, der sagt immer, es ist so schwer, Geld zu verdienen. Mir macht es Spaß! Ich geh’ morgen wieder.« Damit war die Angelegenheit in seinen Augen geklärt, und er hüpfte vergnügt zu Hubert hinüber und würgte, dem Beispiel seines Vorbildes folgend, auch noch ein Brot hinunter, obwohl er schon auf dem Feld zuviel gegessen hatte. Er war wild entschlossen, genauso ein Kerl zu werden wie Hubert. Ein paar Butterbrote sollten ihm dabei nicht im Weg stehen.
Frau Marthas Widerstandskraft war erschöpft. Sie hatte keine Lust mehr. Ihr Kopf schmerzte, und bleierne Müdigkeit ergriff ihren Körper. Morgen kam die Kommission, und morgen kam Herr Ess. Morgen kam das Ende. Sie begriff nicht, wie es dazu hatte kommen können, sie wußte nur, daß nichts mehr zu ändern war. In dieser hoffnungslosen, grauen Erbärmlichkeit tat sie etwas, das sie bei sich nie für möglich gehalten, bei anderen nie geduldet hätte: Sie nahm, wiewohl nicht wirklich krank, drei Schlaftabletten auf einmal und legte sich an einem normalen Wochentag nachmittags um halb sechs zu Bett, um alle Nöte eine Nacht lang in dumpfem Schlaf zu vergessen.
Schwester Monika hätte eigentlich Uwe zu Bett bringen müssen, doch entwickelte sich gleich nach dem Fortgang der Chefin in der Küche ein so interessantes Durcheinander, daß sie ihn vorerst noch auf ihrem Arm dösen ließ. Leo holte einen leeren Marmeladeneimer aus dem Keller, und Ferdi bewaffnete sich mit einem hölzernen Rührlöffel. Hubert schüttete einen Teil der Haferkleie in den Eimer und forderte Änne auf, aus dem Kessel heißes Wasser dazuzugießen. Änne nahm den Kessel, und Hubert, der ungeduldig aufblickte, sah, wie sie ihn gerade so senkte, daß der heiße Strahl Ferdis Arm treffen mußte. Blitzschnell stieß er sie mit dem Ellenbogen beiseite, und ehe einer der anderen begriff, was vorgefallen war, schrie Änne schon wimmernd auf. Das kochende Wasser hatte mit breitem Schwall ihr eigenes Bein getroffen, während sie gleichzeitig von Hubert eine Ohrfeige bezog.
Schwester Monika stürzte davon, ihren Verbandkasten zu holen. Don Chaussee sah Hubert an und wußte, daß er ihm den Grund für die Ohrfeige doch nicht mitteilen würde. So fragte er gar nicht erst. Als er sich Ännes Wunde ansehen wollte, fauchte sie ihn unter Wimmern an: »Sie dreckiger Leisetreter! Rühren Sie mich bloß nicht an! Lieber krepier’ ich! Mit mir machen Sie das nicht, so doofe Sprüche, und dann um den Finger wickeln!« Ihre linke Backe war knallrot, und in ihren Augen standen Tränen der Wut und des Schmerzes, aber sie biß die Zähne aufeinander, als Schwester Monika das Bein dick mit Brandsalbe bestrich und einen Verband anlegte.
Hubert kümmerte sich nicht um sie. Er goß das Wasser selbst in den Eimer. Ferdi rührte erschreckt, bis der Brei genau richtig dünn, lau und glatt geriet.
Die Aufregung um Änne hielt nicht lange vor. Sie war unbeliebt. Die anderen hatten zu oft schon unter ihrer Bosheit zu leiden gehabt und gönnten ihr im Herzen das Unglück. Hinkend ging sie dennoch mit zur Wiese. Hubert durfte sie schlagen, und daß sie auf Ferdi eifersüchtig war, zeigte ihm jedenfalls, was er selber ihr wert war. Ihr ganzer Grimm richtete sich nach wie vor auf den kleinen blonden Jungen, der ihr Hubert wegnahm.
Schwester Monika warf einen zögernden Blick auf Don Chaussee. Er schlenderte hinter den Kindern her, ohne sich nach ihr umzusehen. Da nahm sie Uwe wieder auf den Arm und ging entschlossen mit. Schließlich wollte sie gern wissen, ob Hubert den wilden Esel nach Belieben in eine Ecke treiben und sich ihm ganz einfach nähern konnte oder ob er doch biß. Er biß nicht. Er kannte sogar seine Ecke schon und zitterte nicht mehr so arg, als Hubert mit dem Marmeladeneimer nahte. Die Salbe von Dr. Kösters schien seinem Maul gut getan zu haben.
»Verduftet! Ab mit euch ins Gebüsch, sonst geht er nicht ‘ran. Und quasselt nicht so viel, so Tiere haben ‘n verdammt feines Gehör.« Hubert kommandierte mit der etwas gelangweilten Stimme eines siegverwöhnten Feldherrn, der weiß, daß seine Leute nur präzisen Befehlen gehorchen, weil sie für Erklärungen zu dusselig sind. Er hatte es als einziger fertiggebracht, den Esel kirre zu machen. Wenn sie nun zugucken wollten, sollten sie gefälligst tun, was er anordnete. Maßvoll knurrend fügten sie sich, weil sie gespannt waren, wie es weiterging.
Der Esel war im Zwielicht kaum noch zu erkennen; kaum sah man, wie die dicke, flauschige Masse des Kopfes sich mißtrauisch und zugleich begehrlich der runden glatten Masse des Marmeladeneimers näherte, immer wieder furchtsam schnaubend zurückfuhr, doch stets dem verlockenden Duft wieder nachgab. Und mit einemmal hörten sie es alle: Schlürfen und Schmatzen, immer gieriger, immer heftiger.
Don Chaussee ging ins Haus zurück, seinen Tabaksbeutel zu füllen. Lautlos über den Pfad trottend, sah er die Kinder im regennassen Gebüsch hocken, den seltsamen Tönen lauschend, ganz ineinandergekrochen, ein bißchen schuddernd im kühlen Abendwind, ganz hingegeben dem Geschehen im Wiesenzipfel. Die feinen Runzeln um seine Augen zogen sich zusammen zu einem beinahe stolzen Lächeln. Wie prachtvoll sie waren, diese Rabauken, diese schwierigen Kinder. Gestern hatten sie sich, unter den gleichen Zweigen hockend, mit Hubert mutig und gerissen gefühlt, als er den Esel erledigte. Jetzt waren sie wenige Herzschläge lang großmütig und nobel mit ihm, als er den Erledigten fütterte. Durfte man sie abschließen vom Leben, von solchem Erleben? Sie in eine harte Ordnung pressen, damit sie sich nicht zankten, prügelten, keinen Radau machten? Nein, man mußte es wagen. Man muß es immer wieder wagen, junge Menschen freizugeben, loszulassen, sich selbst zu überlassen, dachte er und fühlte erstaunt, wie ihm aus dem Zögern und Tasten der letzten Woche, aus all den bestürzenden Geschehnissen und Erkenntnissen eine ganz neue Sicherheit zuwuchs, wie er, der es doch im Leben zu nichts gebracht, der nichts gelernt und wenig geleistet hatte, plötzlich das Leben dieser fremden Kinder verstand.
Und als unterm Stopfen der Pfeife tatsächlich von der Wiese her verworrener Tumult bis in sein Zimmer drang: Leos Grölen und Franziskas leeres, schepperndes Gelächter, Ferdis Fiepen, Huberts herrische dünne Stimme und die Klageschreie der Kletten, da grinste er nur vor sich hin. Und er grinste auch Schwester Monika entgegen, die bald darauf, den schlafschweren Uwe auf dem Arm, die müden Kletten an den beiden Schürzenzipfeln hinter sich her ziehend, auf das Haus zukam und bei seinem Anblick losjammerte: »Da zanken sie sich schon wieder! Früher durften sie das nicht, da kriegten sie für so ‘nen Radau schwere Strafarbeiten auf, und dann nahmen sie sich zusammen, das kann ich Ihnen sagen! Aber ich will ja auch nichts sagen, wenn Sie meinen, es ist psüchelogisch. Bloß: Müssen sie denn dabei so schreien? Sie können ihnen doch alles beibringen; könnten Sie da nicht mal machen, daß sie Manieren kriegen?«
Don Chaussee sah in ihre Augen, die in einer rührenden Mischung von Vertrauen und hoffnungsloser Begriffsstutzigkeit auf ihn gerichtet waren, und sagte (»im Ernst«, wie sie später Herrn Müller versicherte) mit einer kleinen Verbeugung: »Ihr Vertrauen ehrt mich ungemein, liebe Schwester Monika. Sie haben es schwer! Diese Kinder sind Flegel, aber Sie müssen zugeben, daß diese Flegel allmählich anfangen, wieder Kinder zu werden. Vielleicht müssen sie dazu wirklich schreien. Das gibt Selbstbewußtsein. Und starke Lungen. So haben Sie es doch schon im Säuglingsunterricht gelernt, nicht wahr? Immer brüllen lassen, bis sie sich ausgebrüllt haben, sie werden es dann schneller leid.«
Auf Schwester Monikas apfelrundem Gesicht ging die Sonne des Verstehens auf. Natürlich, genauso hatte die Oberschwester es ihnen eingepaukt; sie hatte nur nicht gewußt, daß es bei großen Jungen die gleiche Wirkung hat. Aber wenn Don Chaussee es sagte, stimmte es sicher. Ihr war noch kein Mensch begegnet, der so oft bei den unmöglichsten Geschehnissen richtig prophezeite.
Dann kamen ihr Bedenken. Mit sozusagen händeringender Stimme klagte sie: »Ja, aber wenn Sie wüßten, was sie reden! Immer so häßliche Sachen: von der Kommissjohn morgen, und welche Esel umgebracht werden, und Hubert protzt natürlich mit seinem und sagt, die blöden Heinis sollen bloß kommen, an den Ephraim wagen sie sich doch nicht ‘ran. Und Leo sagt, dem Andreas seiner hat schon schlappgemacht heute mittag, und der ist verrottet, und Andreas soll nicht soviel Wind machen mit ihm, und Änne sagt, von ihr aus sollen sie nur alle den Kopp abkriegen, und Sie — Sie —«I Der Bericht verlor etwas von seinem Nachdruck, geriet in errötendes Gestottere ob solcher Schlechtigkeit: »Sie sollen man bald verduften, sagt sie, sonst passiert Ihnen was, aber richtig, nicht mehr nur so ‘n Schreckschuß mit ‘nem harmlosen Geländer. Das ist doch empörend, so was von Undankbarkeit, nicht? Hubert hat ihr noch eine geknallt, und jetzt sind ihre beiden Backen rot, und die eine ist schon angeschwollen, und mit dem Bein müßte sie überhaupt im Bett liegen.« Sie glühte abwechselnd vor Entrüstung und Befriedi- gung.
Don Chaussee hatte es kurz durchzuckt: Also doch Änne! Änne hatte das Geländer angesägt als »Schreckschuß«. Er hatte es gewußt, und doch traf es ihn nun. Welch eine Unordnung in diesem Kinderkopf, welch eine Verwirrung der Begriffe! Ob es ihm gelingen würde, diesen Wust an Ererbtem und Erlebtem, an schlechten Charakterzügen, bösem Willen, Widerspenstigkeit und Haß beiseite zu schaffen? Und wie?
Schwester Monika mißverstand seine Betroffenheit. »Sehen Sie, jetzt finden Sie es auch schrecklich! Dabei ist es noch nicht mal alles. Leo, der faule Klotz, fährt immer mit dem Finger vor dem Hals her und macht »kchchchcln, als ob die Kommission mit meterlangen Messern käme, und der Andreas boxt ihn, und Franziska heult, weil Änne aus Wut über Hubert zu ihr gesagt hat, sie ist ‘ne olle Schlampe, und sie soll sich man bloß nicht einbilden, ‘n feiner Laden nähm’ so was Dreckiges, wo sie immer unter den lackierten Fingernägeln Trauerränder hat. Und dann hat Gerda gesagt, sie sind alle ganz gewöhnliches Pack, und nun verdreschen sie zusammen Gerda, und Ferdi hilft ihnen dabei!«
»Großartig!« sagte Don Chaussee spontan. Er vergaß Änne und grinste so breit, daß beinahe noch die Ohren in der Querfalte verschwanden. Schwester Monika sah ihn verdutzt und noch außer Atem vom langen Bericht an, und dann setzte sie Uwe schlankweg auf den Boden und lachte mit, bis sie sich beide die Seiten hielten vor Lachen und Don Chaussee noch einmal sagte: »Großartig, was, Schwesterchen? Diese Rabauken, diese flegeligen, lümmeligen, pfiffigen, sturen, einfallsreichen Rabauken! Wenn wir die nicht hinkriegten, wir beide, mit vereinten Kräften, na, das wär’ doch gelacht! Wir sind doch auch mal jung gewesen, was?«
Schwester Monika, die ein ganz ungewöhnlich braves, ordentliches kleines Mädchen gewesen war, kam sich vor, als hätte sie ebenfalls eine rabaukenhafte Vergangenheit hinter sich und dabei einen großen Sack voll Erfahrung gesammelt, den sie nun, unter Don Chaussees Anleitung, mit Schwung und blitzenden Augen zu verwerten gedachte. »Natürlich«, sagte sie begeistert, »die kriegen wir hin!« Und Gerdas durchdringendes Wehgeheul schien ihnen beiden gar kein unpassender Punkt unter diesen Pakt zu sein.
Mit hereinbrechender Nacht wurde es windiger. Die Blätter der Kastanien raschelten trocken. Don Chaussee, der wie jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Zeitlang am offenen Fenster des Gästezimmers stand, dachte: Man riecht förmlich, wie sie gelber werden. Sehen konnte er nichts. Es war Neumond und finster. So sog er nur die volle, bedrängte Luft des Oktobers ein, mit dem Hauch der gilbenden Blätter. Die Luft nach Gerüchen abzuschmecken war noch so eine Gewohnheit aus den vielen Nächten unter freiem Himmel; und der Geruch dieser Herbstnacht erinnerte ihn an die Unruhe, die ihn um diese Zeit stets ergriffen hatte, an das Gefühl des Verlorenseins, der Heimatlosigkeit. Immer war es der Herbst gewesen, der ihn rastlos umhertrieb, die warmen, regenschweren Böen, die lodernden Farben, die Ernten, die er für Fremde erntete.
Im leichten, gleichmäßigen Einatmen der feuchten Luft stellte er fest, daß alle diese Ängste ihn hier nicht mehr quälten. In fremden Gärten hatte er gegraben und war weitergezogen; auf fremden Feldern hatte er gesät und war fortgegangen; und geerntet hatte er, wo er nie zuvor gewesen war. Jetzt würde er bleiben. Martha, Herr Ess, die Frage nach der Beschäftigung, die ihm ein Bleiben ermöglichte, alles das versank vor der fraglosen Gewißheit, daß er bleiben würde. Wie wäre es sonst möglich, daß er im Herbst so gelassen war, daß nichts an ihm zerrte?
Die Kinder hielten ihn. Fremde Kinder, und doch dachte er nun mit leisem Grauen an die langen Jahre ohne sie zurück. Und auch das Grauen verging. Nur die Gewißheit blieb, daß er nie mehr wandern mußte.
Leise beugte er sich hinaus, um die Windriegel vor die offenen Laden zu schieben, ehe er sich niederlegte. Er brauchte so viel Luft, wie er nur bekommen konnte, und manchmal hätte er sich am liebsten unter einem Baum in seine Decken eingerollt zum Schlafen. Mitten in der Bewegung hielt er inne, lauschte. Ein Ton, anders als die Geräusche der Nacht, hatte sein scharfes Ohr getroffen. Es war wieder still. Der Wind rieb die Blätter sacht aneinander. Eine Täuschung also? Nein, er hatte das gedämpfte Klappen eines Ladens gegen die Holzwand des Hauses gehört, und zwar von rechts, von der Rückseite, von den Kinderschlafzimmern her. Der Wind war nicht stärker geworden und der Aufschlag zu schwach, um überhaupt von einem Windstoß verursacht zu sein.
Was war da los?
Mit gespannten Sinnen horchte er in die Finsternis hinaus. Den ganzen Tag über war er von irgend etwas leicht beunruhigt gewesen, und sein Instinkt brachte nun dieses eine kurze Klappen sofort damit zusammen. Leise schwang er sich über die niedrige Brüstung nach draußen und schob, mit der Hand rasch und sicher die Mauer abtastend, den kleinen eisernen Riegel vor den Laden, ehe er mit ein paar geräuschlosen Sätzen zur Hausecke sprang. Keine fünf Sekunden waren seitdem vergangen; Denken und Handeln waren in solchen Fällen längst eins bei ihm.
Nichts regte sich. Über seinem Kopf raschelten die großen Fächerblätter der Kastanien im Wind. Er hielt den Atem an.
Da — ein Schatten. Eine Gestalt, mehr spürbar als sichtbar, löste sich von der Wand vorm Jungenschlafzimmer und huschte quer über den Weg auf die Pumpe zu, keinen halben Meter entfernt von der Stelle, an der er sich eng gegen die Hauswand drückte. Er hätte sie halten können, ließ sie aber laufen, ohne nachzudenken, einfach der Eingebung vertrauend. Nicht das Brechen eines trockenen Halms verriet ihn, als er die Verfolgung aufnahm.
Vorn aber knackten Äste; ein unterdrückter Laut, halb Unwillen, halb Erschrecken, drang zu ihm, als ein Stiefel den Haufen Birkenknüppel vor dem Schuppen in Bewegung brachte. Don Chaussee schmunzelte in der Dunkelheit. Ein sehr geübter Nachtvogel war das nicht gerade. Seine erregte Spannung lockerte sich, machte der Neugierde Platz. Die Finsternis kümmerte ihn nicht sonderlich; sein Körper bewegte sich mit achtloser Behendigkeit, mühelos der Umgebung, dem Düster der Nacht sich anpassend; die Füße schienen zu wissen, wo ein rollender Stein sie verraten konnte. Kein Jota Überlegung verschwendete er mehr darauf. Seine Augen, in den Neumondnächten eines halben Lebens scharf geworden, folgten dem Schatten, der nun übers Wiesentor stieg, sich den Eseln näherte.
Wer war es? Und was wollte er?
Die Herde überrann das Erschrecken, das in jede Herde, wie zahm auch immer, fährt, die nachts aufgestöbert wird. Don Chaussee blähte unwillkürlich die Nasenflügel, sog die vertraute Unruhe mit dem Wind ein, spürte sie in den Fingerspitzen. Tausende von Rindern — Nachtwind über den Savannen — unaufhörliche, leise Rastlosigkeit; Schnobern und Prusten, Aneinanderscharren lehmiglederner Flanken, mahlendes Kauen, Aufspringen, helles, ärgerliches Bellen der Präriehunde, das klagende Heulen der Coyoten, und ewig der Wind im schilfharten Gras. Wie es einem nachging, einem in den Knochen saß!
Einmal zog er den Atem scharf durch die Zähne, schüttelte sich dann. Keine Träume mehr! Zehn alte Esel und er selbst als elfter — das war hier und jetzt. Er grinste breit.
Ephraim flüchtete gleich verscheucht ins Brombeergerank, und die Herde folgte ihm. Davor stand der Schatten. Er war nicht zu erkennen. Nun sprach er, flüsternd zuerst, dann dringlicher und lauter: »Habakuk, Habakuk, komm!« Schmeichelnd zuerst, schließlich angstvoll: »Habakuk, komm doch zu mir, komm!«
Andreas!
Was wollte er mitten in der Nacht bei seinem Esel?
Und dann, gerade als die Jungenstimme, glücklich diesmal, wieder »Habakuk« sagte und das Knurpsen kauender Zähne anzeigte, daß der kümmerliche kleine Esel tatsächlich zu seinem neuen Freund, dem einzigen vermutlich, den er je gehabt, hingetrottet war und die Rübenschnitzel nahm, ging Don Chaussee in der Finsternis ein großes Licht auf.
Er tippte sich an die Stirn. Da glaubte er nun die Jungen allmählich zu kennen und übersah an einem einzigen Tag gleich ein halbes Dutzend schreiend deutlicher Zeichen: Andreas’ Spiel mit dem Esel auf dem Weg zur Försterei, den Schimmer aufblühender Lebensfreude in den stumpfen Augen; Andreas’ Sorge um den Gestürzten, das zornige Aufblitzen der Augen bei Leos borstigem Spott; Andreas’ kalkweißes Gesicht bei der Ankündigung der Kommission, die feindselige Furcht in seinen Augen; Schwester Monikas Bericht über Leos Prophezeiung für morgen und Andreas’ Prügelei mit ihm. »Don Jose, wenn Sie nicht aufpassen, werden Sie alt, amigo mio!«, und damit hätte er dann recht.
Wieder kamen sie dicht an ihm vorbei. Das Tor knarrte ein wenig in den ungeölten Angeln. Er folgte unbemerkt. Der Esel stuckerte eifriger als sonst über den Schotter des Feldwegs; vielleicht zog Andreas ihn, vielleicht spürte er das Ungewöhnliche des Marsches. Als sie bei Bormanns vorbeikamen, fuhr Fanny heiser rasselnd den Draht entlang und heulte. Andreas begann zu laufen, den Esel fortzerrend: »Komm, komm, Habakuk!« Seine Stimme klang so verängstigt, daß sich Don Chaussee versucht fühlte, ihn zu beschwichtigen: »Nicht bange werden, das ist die Nacht, die jeden Laut verschärft. Du wirst doch keine Angst vor Fanny haben!« Doch er schwieg und folgte lautlos weiter: über den Feldweg zu Müntes, am Hof vorbei, schräg über einen Acker, bis zur alten Feldscheune am Busch. Sie war zur wetterabgewandten Seite offen und halb mit Strohballen, halb mit Heu gefüllt. Es raschelte, als Andreas sich einen Weg hinein bahnte, und er keuchte, als er die Ballen verschob.
Don Chaussee stand zehn Schritte entfernt auf dem offenen Feld. Andreas hätte ihn sehen müssen, aber so verkümmert waren seine Sinne durch ein Leben in Hinterhöfen und muffigen Wohn-löchern, so abgestumpft und unentwickelt, daß er ihn wohl nur für einen Wolkenschatten hielt, wenn er überhaupt hinsah. Don Chaussee fühlte sich vor eine Entscheidung gestellt: Mußte er jetzt nicht Schluß machen mit diesem Bubenabenteuer und den Jungen ins Bett zurückbefördern? Martha würde außer sich sein, wenn sie nur ahnte, welche Disziplinlosigkeit hier vor sich ging. Und der Junge selber, Andreas, welch eine Nacht stand ihm bevor! Mit welch bebender Angst würde er im Heu hocken, den Esel festhalten und vor der Entdeckung bangen! Andreas war nicht Hubert. Hubert würde frohlocken, mit vor Widerspenstigkeit knisternden roten Haaren, und sich ins Fäustchen lachen über seine Pfiffigkeit. Andreas hatte nur Angst, das wußte er so sicher, als säße er selber an seiner Statt dort in der Scheune. Er mußte ihn herausholen, ihm hoch und heilig versprechen, daß dem Esel nichts geschehen würde, ihn beruhigen und es morgen vor Herrn Ess verantworten. Nichts anderes kam in Frage. Er gab sich einen Ruck und ging los.
Weit auf dem Rückweg erst, volle fünf Minuten später, wurde ihm klar, daß er sich unbewußt abermals gegen den Verstand entschieden hatte. Anstatt zur Scheune ging er heimwärts, ohne den Jungen. Es war warm. Am Himmel jagten schwere, schwarze Wolken. Gegen Morgen würde es wieder regnen. Eine unrastige, bedrängende Nacht. Andreas würde mehr Angst haben, als er ahnte, und andere Angst, als er je gekannt hatte. Sicher fürchtete er sich kaum vor Mäusen und knarrenden Brettern und dem Pfeifen des Windes im Scheunengebälk. Aber sein Herz würde ihm hoch im Hals schlagen, die Zunge würde trocken werden, der Pulsschlag stocken oder jagen, und er würde Habakuk festhalten wollen, eine lange Stunde nach der anderen. Don Chaussee, allein mit dem Herbstgewölk und der Nacht und seinem mitleidsvollen Herzen, seufzte bekümmert auf. Er hätte ihm diese schwere Nacht so gern erspart, und doch entfernte er sich stetig weiter, ließ ihn zurück. Schon tauchten die Mauern des Bormannhofes auf; schon heulte Fanny heiser und erbost.
Mit jedem Schritt wurde es ihm gewisser: Andreas brauchte diese Angst. Andreas brauchte sie vor allen anderen. Ein zarter, empfindsamer Junge, der nahe daran war, in Stumpfheit zu ersticken, den die Teilnahmslosigkeit seiner Umgebung teilnahmslos zu machen drohte, steinern fast. Ein kindliches Herz, zugeschüttet vom Müll menschlicher Dumpfheit, hin und her geschubst wie ein Ding, wie eine lästige Sache, heimatlos, wurzellos. Wenn er ihm nun diese einzige Angst, die sein Herz noch berührte, nahm, ehe sie ihn aufrüttelte und den Schutt beiseite schob, würde die Kruste vielleicht endgültig verhärten. Nein, nein, Andreas brauchte das. Don Chaussee blieb stehen; die Finger tasteten nach Pfeife, Tabaksbeutel, Streichholz, schlossen sich aufatmend um das vertraute Rund des Pfeifenkopfes. Er zog hastiger als sonst, zuinnerst erregt von dieser plötzlichen Einsicht: daß das Schicksal vielleicht einen kümmerlichen alten Esel ausersehen hatte, ein erstarrendes Jungenherz ins warme Leben zurückzuführen. Einen alten Esel auf dem Weg zur Wurstfabrik.