Annabella war medizinisch versorgt und schlief. Timo Lanfer hatte ihr zwei Rippen gebrochen, und ein Handgelenk war verstaucht. Durch den Sturz hatte sie eine Gehirnerschütterung erlitten und eine Platzwunde am Hinterkopf. Dazu kamen zahlreiche Prellungen und die Schnittwunden an den Armen. Vergewaltigt hatte er sie nicht. Vielleicht passte sie nicht in sein Beuteschema. Egal, es war schlimm genug, was er ihr angetan hatte.

Sie lag in einem Einzelzimmer. Ich saß neben ihrem Bett und hielt ihre Hand. Mit der Ruhe kam die Erschöpfung über mich. Ich legte meinen Kopf auf das Bett, die Schwellung in meiner Wange pochte heiß. Ich fühlte mich schuldig an Annabellas Zustand. Weder Wut noch Zynismus konnten mir jetzt helfen.

Es war, als erwachte ich aus einem Albtraum und säße wieder ängstlich mit einem Gemüsemesser in der Küche. Aber ich hatte kein Messer bei mir, und ich saß nicht in einer Küche, sondern in einem Krankenzimmer vor dem Bett der Frau, die mir all die Jahre jene Liebe gegeben hatte, die ich von meinen leiblichen Eltern nie bekommen hatte.

Vom Flur her hörte ich immer wieder Schritte, Schwestern, die sich etwas zuriefen, Besucher, die über den Gang liefen. Zwischendurch wurde ein Wagen gerollt, Kaffee und Tee wurden verteilt.

Eine Schwester kam herein.

»Sind Sie Kirstin Schwarz?«

Ich nickte.

»Wir haben einen Anruf für Sie.«

»Für mich?« Ich tastete automatisch meine Taschen ab. Anscheinend hatte ich bei dem Kampf mit Lanfer mein Handy in Annabellas Wohnung verloren. »Wer …«

»Er hat seinen Namen nicht genannt, aber er sagte, er sei ein naher Verwandter.«

Ich hatte keine nahen Verwandten. Zögernd folgte ich ihr ins Schwesternzimmer. Der Hörer lag neben dem Telefon.

»Ja?«

»Kirstin?«

Meine Knie drohten nachzugeben, als ich die Stimme erkannte. »Ja«, antwortete ich schwach.

»Wie geht es dir?«

Was wollte der Mann? Ich hatte nicht die Kraft für dieses Gespräch. »Ging schon besser.«

»Bist du gut versorgt? Kümmert man sich um dich?«

»Ja …«

»Wo ist er jetzt?«

»Wer?«

»Der Mann, der das getan hat.«

Was sollten diese Fragen? »Ich weiß es nicht.«

»Lüg mich nicht an«, kam es unerwartet scharf.

»Verdammt, ich weiß es nicht!«, blaffte ich zurück. Mein Herz begann zu rasen. Ich machte schon wieder alles falsch. Am anderen Ende war es still.

Ich seufzte erschöpft. »Ich weiß es wirklich nicht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte ich auf.

Die Schwester hielt mir ein Glas Wasser hin. »Sie sollten sich auch etwas ausruhen.«

Ich musste an Annabellas Bett eingeschlafen sein, denn ich schreckte hoch, als die Tür das nächste Mal geöffnet wurde. Draußen war es fast dunkel.

»Ciao.« Gio kam leise herein und deutete mit dem Kopf zu Annabella. »Schläft sie?«

»Ja.« Ich strich über ihre Hand. »Die Verletzungen sind nicht lebensgefährlich.«

»Sie wird es überstehen. Sie ist eine Rossnatur und hat schon Schlimmeres überlebt.«

Ich sah ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf.

»Kirstin, es tut mir so leid, dass wir nicht schneller eingreifen konnten.« Er ging vor mir in die Hocke und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Was ist mit …«

»Nicht hier.« Er griff nach meiner Hand und sah mich lange an, so, wie sein Vater mich damals im Garten angesehen hatte. Seine Wärme durchströmte meine kalten Finger, gab meiner Erschöpfung einen sanften Halt.

»Du siehst müde aus«, sagte er schließlich.

»Machst du meiner Kleinen gerade einen Heiratsantrag, oder warum kniest du da auf dem Boden?«

»Annabella!« Ich drehte mich zu ihr. »Du bist wach?«

»Ihr habt mich geweckt.« Sie klang noch benommen von den Schmerzmitteln, die sie bekommen hatte, aber ihr gelang ein kleines Lächeln, als sie mich sah. »Meine Kleine.« Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge. Sie schniefte, wischte die Träne mühsam weg. »Mein Kleine. Warum bist du nur zu mir gekommen? Was hat er mit dir gemacht?«

»Nichts, Anna. Es ist alles in Ordnung.«

»Wo ist der Dreckskerl?«

»Er …« Ich sah Gio fragend an.

»Es geht ihm gerade nicht besonders gut. Meine Männer und ich haben ihm ein paar schlagkräftige Argumente aufgezählt, die ihm klargemacht haben, dass er sich besser von euch beiden fernhält. Ich denke, du siehst ihn nicht wieder.«

»Das will ich hoffen.« Sie wandte den Blick zu Gio. »Komm her, Giorgio.«

Er trat an ihr Bett.

»Noch näher.«

Zögernd beugte er sich zu ihrem Gesicht. »Du musst besser auf meine Kleine aufpassen.«

»Ich geb mein Bestes, Annabella.«

»Aber lass ihr Raum zum Leben, sonst läuft sie dir weg.«

Gio presste die Lippen zusammen, schluckte. »Ja, ich weiß.«

Annabella deutete ein zufriedenes Lächeln an. »Und jetzt geht nach Hause. Ich brauche ein bisschen Ruhe.«

Gio nickte. Annabella hob mühsam eine Hand, zog ihn noch dichter zu sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

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Zurück in Gios Wohnung duschte ich ausgiebig. Minutenlang stand ich unter dem warmen Wasserstrahl, hoffte, dass er die vergangenen Stunden von meinem Körper spülen würde. Noch immer hatte ich das Gefühl, Lanfers Hände zu spüren und seinen Atem zu riechen. Mein Rücken schmerzte, und ein Muskelkater kündigte sich an.

Meine Haut war völlig aufgeweicht, als ich endlich aus der Dusche kam. Ich schlüpfte in meinen Jogginganzug und verkroch mich auf das Sofa im Wohnzimmer.

»Ich vermute, du hast im Krankenhaus nichts gegessen?« Gio kam aus der Küche mit einem Tablett voller Bruschettas. Seit meinem morgendlichen Müsli hatte ich nichts mehr zu mir genommen. Er setzte sich neben mich und reichte mir einen Teller.

Ich verspürte keinen Hunger. Das änderte sich jedoch, als ich den ersten Bissen im Mund hatte. Die Bruschettas waren die besten, die ich je in meinem Leben gegessen hatte. Irgendwann bemerkte ich, dass Gio mir belustigt zusah.

»Die sind köstlich«, entschuldigte ich meinen Appetit.

»Ich weiß. Darum hab ich sie gemacht. Geheimrezept von meiner Mama.« Er lächelte mich liebevoll an. »Geht’s dir ein bisschen besser?«

Ich nickte. Ich fühlte mich tatsächlich besser. Ich hatte geduscht, ich hatte gegessen, wir hatten Anna befreit und Lanfer war …?

»Was ist mit Lanfer?«

»Ich denke, es geht ihm ziemlich schlecht.«

»Du hast ihn ganz schön brutal zusammengetreten.«

»Ja«, erwiderte Gio. Bei der Erinnerung huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht froh war, so die Beherrschung verloren zu haben. Ich aß den letzten Happen, leckte mir einen Klecks Tomatenmasse vom Daumen.

»Du hast ihm die Finger gebrochen.«

Gio nickte. »Das hat dich ein wenig schockiert, was?«

»Ja«, gab ich ehrlich zu.

»Ist ziemlich simpel, einfache Physik. Ein kleiner Hebel, richtig angesetzt. Schau her, die Finger sind in diese Richtung ziemlich unflexibel.« Er hob die Hand, drückte mit der anderen gegen die Fingerspitzen. Ich meinte, das Knacken von Lanfers Knochen in meinen Ohren zu hören, und stoppte Gios Vortrag mit einem energischen Kopfschütteln. »Ich will es gar nicht wissen.«

»Das ist jetzt interessant«, stellte er fest. »Darf ich dich daran erinnern, dass du Quirin Khan, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Kopfnuss verpasst und ihm damit das Nasenbein gebrochen hast?«

»Das war Notwehr«, verteidigte ich mich.

»Lanfer hat dich verletzt. Er hat dich beleidigt. Und er hatte offensichtlich noch nicht kapiert, dass er in einer denkbar schlechten Position für eine große Klappe war.«

Ich nickte stumm. Warum war ich so schockiert? Ich wusste, dass Gio hart durchgreifen konnte. Ich erinnerte mich an unseren kurzen Zweikampf, als ich damals aus dem Hinterzimmer der Kneipe vor ihm und seinen Leuten flüchten wollte. Da hatte ich ansatzweise eine Idee seiner Gefährlichkeit zu spüren bekommen. Und auch bei der Leibesvisitation in seinem Auto war er nicht zimperlich mit mir umgegangen.

»Es passiert einfach zu viel, seit ich dich kenne«, versuchte ich eine Erklärung. »Warum habt ihr vorhin englisch gesprochen?«

»Selbstschutz. Das machen wir häufig bei direkten Konfrontationen. So weiß unser Gegner nicht gleich, mit wem er es zu tun hat.«

»Gar nicht mal so dumm.« Ich nickte anerkennend. »Und warum habt ihr Lanfer nicht direkt in Annabellas Wohnung verhaften lassen?«

»Wir wollten ihn noch ein bisschen in die Mangel nehmen, und außerdem denke ich, dass Annabella diese Publicity sicher nicht besonders gefallen hätte. Polizei vertreibt ihr die Kundschaft.«

»Was habt ihr mit ihm gemacht?«

Gio verzog bei der Erinnerung das Gesicht. »Ich glaube, das willst du auch nicht wissen.«

Ich beschloss, nicht weiter nachzufragen.

»Er hat Diego hochprozentiges Kokain untergejubelt«, fuhr er ungefragt fort. »Feiner Stoff. Aber too much für unseren kleinen Prinzen.«

»Ohne Beweise wird das aber nicht für eine Mordanklage reichen.«

»Ja«, stimmte Gio mir bedauernd zu. »Vielleicht hilft die Aussage von Wenners Mitarbeiter.«

»Wo ist Lanfer jetzt?«

»Er sitzt in der Ausnüchterungszelle. Wir haben ihn ziemlich zugedröhnt mit Alkohol und Drogen. Kevin setzt gerade alle Hebel in Bewegung, damit er morgen dem Haftrichter vorgeführt wird, allerdings ist es nicht sicher, ob wir damit durchkommen. Aber wenn, wird die Polizei sicher ihre Techniker zur Spurensicherung in seine Wohnung schicken. Und da werden sie zumindest den Schmuck finden. Dominik nimmt sich gerade noch die Kopie von Lanfers Rechner vor. Vielleicht können wir der Polizei noch den einen oder anderen Hinweis geben.«

»Dominik schläft nie, oder?«

»Doch, hin und wieder schon.« Gio stand auf, schenkte sich an seiner kleinen Bar einen Macallan ein. »Du hast heute einen guten Job gemacht.« Er trank einen Schluck Whisky.

Ein guter Job. Das Ganze einfach nur als Job zu betrachten, verursachte mir noch immer Unbehagen. »Ich habe die Waffe auf seinen Kopf gerichtet«, erinnerte ich Gio.

»Aber du wolltest nicht schießen.«

Ich fuhr mir mit den Händen durch die Haare, die Erinnerung hinterließ eine Gänsehaut in meinem Nacken. »Ich wollte die Angst in seinen Augen sehen. Die Angst, die Lucy und Vivian hatten, die Anna hatte, die ich hatte.«

»Aber du wolltest nicht schießen«, wiederholte Gio.

»Ja.« Es stimmte. Ich wollte nicht schießen. Es hätte mir nicht geholfen. Es hätte niemandem geholfen. Diese seltsame, verzweifelte Traurigkeit, die mich überkommen hatte, als ich die Waffe auf Timo Lanfer gerichtet hatte, stieg erneut in mir hoch. Ich rieb mir über die Augenwinkel, sah zu Gio. »Du hattest recht. Mord ist keine Lösung.«

Ich hatte ein selbstgefälliges »Ich weiß« erwartet, aber stattdessen sah Gio mich lediglich eine Weile nachdenklich an. Schließlich streckte er mir seine Hand entgegen. »Komm mit.«

»Wohin?«

»Komm einfach mit.« Er wandte sich um und ging Richtung Wohnungstür. Ich schlüpfte in meine Schuhe und stieg zögernd hinter ihm die Stufen in die mittlere Etage hinunter. Er schloss die Tür auf und betrat den Flur. Unter dem Türschlitz zum Konferenzraum schimmerte schwaches Licht hervor. Dominik, vermutete ich. Gio schritt auf das Zimmer zu, in dem ich vor wenigen Tagen die Unterlagen und den Tresor entdeckt hatte. Ich begann, nervös an meiner Lippe zu nagen. Was hatte er vor? Gio stand bereits vor dem Tresor, tippte einen Code ein und öffnete die schwere Tür. Er nahm die Tüten mit meinen Fläschchen heraus. »Was ist das alles?«

»Gift …«, stammelte ich verwirrt. »Verschiedene Pflanzengifte, Schlangengift …«

Er atmete tief durch, sah auf die Fläschchen, dann wieder zu mir. »Das brauchst du nicht mehr, oder?«

»Ähm …« Ich schüttelte leicht den Kopf.

Er nahm die Tüten, deutete mir an, ihm zu folgen und ging durch den Flur ins Bad.

»Die giftige Konzentration verringert sich, wenn man es mit Wasser verdünnt, oder?«

»Ja.«

Er zog zwei Paar Einweghandschuhe aus einer Schachtel, reichte eines davon mir, dann drehte er den Wasserhahn auf, öffnete die erste Tüte und hielt mir das Fläschchen hin.

Zögernd nahm ich es heraus und öffnete den Verschluss.

»Irgendetwas dabei, was wir besser nicht in die Kanalisation kippen sollten?«, vergewisserte sich Gio noch einmal.

»Keine Sorge, die Fische werden morgen nicht bäuchlings im Neckar treiben.«

Ich sah noch einmal zu ihm, dann schüttete ich den Inhalt des Fläschchens langsam in den Ausguss. Eins nach dem anderen verlor auf diesem Weg seinen Inhalt. Gio spülte die Behälter aus und verstaute sie in einer Tüte.

»Das entsorgen wir morgen.«

Er verließ das Bad, kehrte in das Tresorzimmer zurück, holte meine Waffe aus dem Schrank und nahm sie aus der Tüte.

»Das ist deine Waffe«, erklärte er überflüssigerweise. »Wir werden sie reinigen, auseinandernehmen und verschwinden lassen.«

»Willst du sie im Klo runterspülen?«, fragte ich skeptisch.

Er grinste. »Nein, ich denke, dafür finden wir bessere Plätze.« Er begann, die Waffe zu zerlegen.

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Ein lauter Fluch drang aus der Küche in mein Zimmer. Müde schielte ich auf den Wecker. Halb zwölf! Ich hatte mehr als dreizehn Stunden geschlafen. Kurz fragte ich mich, ob Gio mir irgendetwas von Tonys Beruhigungsmitteln in meinen Wein gegeben hatte, nachdem wir wieder in seine Wohnung zurückgekehrt waren. Mein Kopf schmerzte und auch dem Rest meines Körpers ging es nicht viel besser. Die Begegnung mit Lanfer forderte ihren Tribut. Hinter den Vorhängen ahnte ich einen wolkenverhangenen, grauen Himmel. Noch immer drangen laute Männerstimmen aus der Küche zu mir rüber. Gio, Dominik und Kevin meinte ich zu erkennen. Worüber regten sie sich so auf?

Die Entsorgung der Beweismittel gegen mich, ging es mir durch den Kopf. Vielleicht hatte Gio das ohne Zustimmung der anderen gemacht? Ich strich mir durch Gesicht und Haare, zog T-Shirt und Jogginghose an und schlurfte in die Küche.

»Was ist denn hier los?«, fragte ich verschlafen.

Ich hatte richtig vermutet. Gio stand gegen die Küchenzeile gelehnt, Kevin und Dominik saßen am Tisch. Kevin trug seine Uniform. Die Männer tauschten Blicke miteinander.

»Cappuccino?«, fragte Gio statt einer Antwort.

»Was ist los?«, wiederholte ich meine Frage.

»Lanfer wurde heute Morgen dem Haftrichter vorgeführt und in U-Haft genommen, eine Wohnungsdurchsuchung wurde angeordnet«, begann Gio.

»Das ist doch gut«, überlegte ich. Wohnungsdurchsuchung. Hatten die vielleicht Spuren von Dominiks und meinem nächtlichen Einbruch entdeckt?

»Aber noch bevor die Wohnungsdurchsuchung beginnen konnte, kam irgend so ein Nobelanwalt und hat alles gestoppt und Lanfer per Eilantrag rausgeholt.«

»Scheiße«, entfuhr es mir. Kevin schob mir einen Stuhl hin, auf den ich dankbar niedersank. »Wer … wo … Wissen wir, wo …?«

»He is dead«, beendete Dominik mein Gestammel.

»Wir haben Lanfers Leiche vor knapp zwei Stunden auf einem Waldparkplatz oben auf den Fildern gefunden. Zunge rausgeschnitten. Kopfschuss«, ergänzte Kevin.

Unwillkürlich verzog ich angewidert das Gesicht, schluckte trocken. Timo Lanfer war tot. Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, was das für mich bedeutete: Ich hatte nichts mehr von ihm zu befürchten. Ungewollt machte sich Erleichterung in mir bemerkbar.

»Und jetzt?« Ich sah reihum in die Gesichter der Männer. »Weiß man schon, wer ihn umgebracht hat?«

»Nein«, erfuhr ich von Gio.

»Es war zumindest keiner von Wenners Anwälten, der Lanfer rausgeholt hat«, wusste Kevin.

Dominik rieb sich nachdenklich über die Schläfe. »So exekutiert man Verräter oder Lügner.«

Der Anruf. Ich hatte das Gefühl, dass der Stuhl unter mir wegrutschte. Ich schloss die Augen.

»Was?«, fragte Gio. Ich meinte, einen drohenden Unterton in seiner Stimme zu hören.

Ich öffnete die Augen wieder und sah zu ihm. »Im Krankenhaus … ich bekam einen Anruf …«

»Wer hat dich angerufen?« Jetzt war der drohende Ton ganz deutlich zu hören.

»Louis Khan …«

»What? Louis Khan persönlich ruft dich an?«, fragte Dominik überrascht.

»Ja.«

»Well « Er verbarg sein Erstaunen wieder hinter der gewohnten Coolness. »Das erklärt einiges.«

»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, kam es fassungslos von Gio.

»Weil … weil …« Ich fand keine Antwort. »Ich weiß es nicht. Ich hab’s vergessen.« Verdrängt wäre vielleicht das passendere Wort gewesen. Zu spät. Gio war bereits auf hundertachtzig.

»Vergessen? Du hast vergessen, dass Louis Khan dich im Krankenhaus angerufen hat? Das ist doch wohl nicht wahr!«

»Ich hätte es dir bestimmt noch gesagt.«

»Ach ja, und wann? Du hattest gestern Abend alle Zeit der Welt, es mir zu sagen!«

»Gio, sie hatte einen harten Tag«, ergriff Dominik Partei für mich.

»Den hatte ich auch!« Gio hatte Mühe, nicht völlig die Kontrolle zu verlieren, gleichzeitig zeichnete sich die Enttäuschung auf seinem Gesicht ab.

Wir hatten geredet, hatten uns langsam wieder aufeinander zu bewegt. Er hatte das Beweismaterial gegen mich entsorgt, und ich hatte nicht mit einer Silbe Khans Anruf erwähnt. »Ich brauche jetzt ganz dringend frische Luft.« Die Tür fiel krachend ins Schloss.

»See you later«, kommentierte Dominik Gios Abgang und wandte sich mir wieder zu. »Well, darling, was habt ihr denn gestern Nettes geplaudert, du und dein Freund Louis?«

»Er ist nicht mein Freund!«

Dominik wartete schweigend auf eine Antwort. Seine grauen Augen taxierten mich durchdringend. Er würde mich nicht gehen lassen, bevor er eine Antwort von mir hatte. Ich wiederholte das kurze Gespräch Wort für Wort.

»Und du hast nicht zufällig so etwas gesagt wie: ›Ich hoffe, er verreckt in der Hölle‹ oder ›Die Ratte soll krepieren‹ oder so etwas in der Art?«, hakte er nach.

»Nein, habe ich nicht.«

Eine Weile unterzog er mich noch seinem eindringlichen Scan. Ich konnte seinen Blick nur stumm erwidern und hoffen, dass er mir glaubte. Schließlich entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. »Okay, dann sehe ich kein Problem.« Fragend sah er zu Kevin. »Siehst du eines?«

Kevin schüttelte den Kopf. »Nein, sie kann nichts dafür, dass ein Gangsterboss einen Narren an ihr gefressen hat und sich Sorgen um sie macht.«

»Ich denke, wir können den Fall an dieser Stelle als abgeschlossen betrachten. Lanfer ist tot. Khan wird ihn Zachewskij als Mörder seines Sohnes präsentieren und unsere Killerlady haben wir auf den rechten Weg gebracht. Das haben wir doch, oder?«

»Ja«, wisperte ich. Meine Stimme wollte mir nach Dominiks Verhör noch nicht wieder richtig gehorchen.

»She is so cute.« Er sah mich an, als wäre ich ein niedliches, kleines Kätzchen. »I couldn’t hear you, darling.«

Ich räusperte mich, sprach deutlicher: »Ja, das habt ihr.«

»Allright. Falls Khan dich mal wieder anrufen sollte …«

»Dann stell ich ihn sofort zu dir durch.«

»I really like your sense of humor.« Dominik griff mir unters Kinn. »Wenn Khan dich wieder anrufen sollte, wirst du dich nicht bei ihm bedanken, für das, was er getan hat. Hast du das verstanden? Du wirst dich nicht bedanken! Sonst würdest du dich damit in seine Schuld stellen. Es hat nichts mit dir zu tun. Ist das klar?«

»Ja.«

»Wirklich?«

»Ja-a. Ich werde mich nicht bedanken. Dafür gibt es auch keinen Grund.«

Dominik nickte zufrieden. »I guess, that’s it.« Er erhob sich. »Dann kann ich meine Zelte ja wieder abbauen und mich um meinen Lebensunterhalt kümmern. Miss Kirstin, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Er streckte mir seine Hand entgegen.

Ich sah zu ihm auf. Es ging ihm nicht darum, dass sich unsere Wege zufällig einmal wieder kreuzten und wir bei einer Tasse Kaffee gemütlich über die guten alten Zeiten plauderten. Er wollte, dass ich in die Organisation einstieg, dass ich mit ihm zusammenarbeitete. Und mit diesem Handschlag würden wir meine Entscheidung besiegeln. Es war wohl das Mindeste, was er erwarten konnte, nach allem, was Gio und er für mich getan hatten.

Es gab kein Zurück. Ich schlug ein.

Kevin machte sich wieder auf den Weg zum Dienst und Dominik weiß Gott wohin. Ich blieb in Gios Wohnung, tauschte die Jogginghose gegen meine Jeans und packte meine Tasche. Dann setzte ich mich in die Küche und wartete auf Gio. Ich wollte nicht einfach ohne ein Wort von hier verschwinden. Fast vier Stunden musste ich auf seine Rückkehr warten. Er wirkte verlegen und gleichzeitig erfreut, als er mich am Tisch sitzen sah.

»Entschuldige, ich …« Er kratzte sich unsicher im Nacken. »Ich war wohl mal wieder etwas voreilig darin, dich zu verurteilen.«

»Ja.« Ich fragte mich, ob Dominik oder Kevin mit ihm gesprochen hatten.

Sein Blick fiel auf meine Tasche.

»Du willst nach Hause?«

Ich nickte.

»Okay.« Er nahm meine Tasche. »Ich fahr dich.«

Wir sprachen kein Wort, bis er den Wagen am Straßenrand vor meinem Wohnblock parkte.

»Kirstin, ich …« Er drehte sich zu mir. »Es tut mir leid … Ich … ich muss wohl erst wieder lernen, einer Frau zu vertrauen.«

Ich hörte die Unsicherheit aus seiner Stimme, die Anstrengung, die ihn dieses Geständnis kostete. Und ich sehnte mich danach, dass er mich in seine Arme schloss und wir einfach die ganze Geschichte hinter uns ließen. Aber gleichzeitig wusste ich, dass es zu früh war, dass wir beide etwas Abstand brauchten. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Richtige dafür bin.«

Ich meinte, Verzweiflung in seinen Augen zu sehen. Er biss sich auf die Lippen, wandte den Blick ab und sah zur Frontscheibe hinaus.

»Ich … ähm …« Ich legte die Hand auf den Türgriff. »Danke für alles, was du für mich getan hast.«

Ich stieg aus.

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