Ich stieg in die U-Bahn, um zurück zu Annabellas Wohnung zu fahren. Die Wagen waren voll. Pendler kamen von der Arbeit, Jugendliche machten sich auf den Weg zu ihren Verabredungen. Ich hätte mich gern hingesetzt. Die wenigen Stunden Schlaf, die ich in der Nacht bekommen hatte, forderten ihren Tribut. Aber ich fand keinen freien Platz. Müde lehnte ich mich an eine Trennwand, schloss die Augen.
Ich hörte den Beat aus einem MP3-Player, ein paar Teenies unterhielten sich angeregt über irgendeine Talentshow. Ein älteres Ehepaar diskutierte über das Angebot eines Reiseanbieters. Die Geräusche vermischten sich zu einer breiigen Tonkollage, wurden durch ein Unwirsches »Ey, pass doch auf, Mann!«, unterbrochen.
Ich öffnete halb die Augen und erstarrte. In der nächsten Sekunde schnellte mein Adrenalinhaushalt in gigantische Höhen. Ich sah zur Tür. Wie weit war es bis zum nächsten Halt? Ich musste raus hier. Raus. Ganz schnell. Er hatte mich entdeckt, kam direkt auf mich zu. Seine Augen fixierten mich. Ich machte einen Schritt Richtung Gang, wich vor ihm zurück. Kalter Schweiß brach mir aus allen Poren. Er kam näher, starrte mich mit unbarmherzigen Blick an. Ich wich weiter zurück. Wann kam denn endlich der nächste Halt? Ich stolperte über eine Tasche, fing mich. Lanfer packte meinen Arm, schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht.
»Hanoi, so ebbes …«, fiepte eine Frauenstimme neben mir entsetzt.
Ich versuchte, meinen Arm zu befreien. Er schlug mich erneut. Ich meinte, Genugtuung in seinen Augen zu sehen. Schau her, zig Menschen sitzen um dich herum und keiner hilft dir. Regungslos starrten sie auf das Geschehen. Warum griff denn keiner ein?
Ich rang nach Atem. Meine Finger waren eisig, die Handflächen feucht.
»Lass mich in Ruhe«, kam es viel zu schwach aus mir heraus. Was war los mit mir? Wie ein verängstigtes Kind ließ ich mich von dem Kerl schlagen. Wehr dich. Wehr dich endlich!
»Du feige Nutte.« Er holte erneut aus.
»Lassen Sie die Frau in Ruhe«, erbarmte sich ein Reisender aus sicherer Entfernung. Lanfer wandte sich zornig um. Ich nutzte meine Chance, trat mit aller Kraft gegen sein Knie, riss meinen Arm los. Ein Ruckeln ging durch die Bahn, als sie bremste. Ich stieß Lanfer vor die Brust. Die U-Bahn hielt, und er verlor das Gleichgewicht. In blinder Panik stürmte ich zur geöffneten Tür.
»Ich krieg dich, du Hure!«, brüllte Lanfer hinter mir.
Ich zwang mich weiterzurennen. Nicht umsehen. Ich war mir sicher, dass er mich verfolgte. Lucys Bilder wirbelten in meinem Kopf herum. Der Abdruck seines Handrückens auf meiner Wange brannte. Ich stürmte durch die Menschenmenge. Ignorierte die Flüche und Beschimpfungen. Lauf! Verdammt noch mal, lauf!
Vielleicht hatte er mich in der Menge aus den Augen verloren, vielleicht hatte er die Verfolgung gar nicht erst aufgenommen. Zu viele Menschen. Zu viele Zeugen. Er war nicht hinter mir, als ich einen Blick zurück riskierte. Keuchend verlangsamte ich meinen Schritt, suchte die Umgebung ab. Meine Knie waren wachsweich, und meine Lungen schmerzten. Ich trottete weiter und verfluchte meine Dummheit. Warum hatte ich nicht aufgepasst? Er suchte nach mir, das wusste ich doch! Da konnte ich doch nicht einfach mit geschlossenen Augen U-Bahn fahren.
Wahrscheinlich war es Zufall, dass er mich in der Bahn gesehen hatte. Ich rieb mir über die schmerzende Wange, fühlte Kratzer auf der Haut. Inmitten einer Menschenmenge hatte er mich geschlagen, und niemand war dazwischengegangen. Erinnerungen kamen hoch. Eine Panikattacke stieg in mir auf. Ich sah meinen Vater über mir, wie er mich auf den Tisch drückte. Wie er mich schlug. Wie er mein T-Shirt zerriss. Alles kam wieder hoch. Die Angst, die Ohnmacht, der Gestank nach Schweiß und Alkohol, das Rauschen in meinen Ohren. Ich wollte mich zusammenkauern, mich klein machen, ganz klein, irgendwo verkriechen.
Energisch schüttelte ich den Kopf. Das war vorbei. Ich war nicht mehr das hilflose Mädchen. Ich war eine starke Frau. Ich konnte mich wehren. Ich biss die Zähne zusammen, verbot mir die aufsteigenden Tränen.
Über Umwege gelangte ich zurück zu Annabellas Wohnung. Ich hoffte, dass Gio nicht den ganzen Tag bei ihr geblieben war, um auf mich zu warten. Aber spätestens die dritte Tasse von Annabellas Spezialkaffee hätte ihn vertrieben, versuchte ich mir Mut zuzureden.
»Um Gottes willen, wie siehst du denn aus?«, begrüßte mich Annabella entsetzt, als ich durch den Hintereingang hereinkam.
Ich fiel auf das Sofa. Schweiß lief mir über Stirn und Nacken, meine Haare hingen strähnig auf meinen Schultern, und ich hatte Kratzer im Gesicht. Bei der Flucht hatte ich mir einen Riss in den Oberschenkel meiner Jeans eingehandelt. Ich schloss wortlos die Augen, wollte nichts erklären.
»Was ist passiert?« Annabella stellte ein Glas Wasser vor mir auf den Tisch. Sie nahm ein Taschentuch und rieb mir vorsichtig über das Gesicht. »Wer hat dich geschlagen?«
»Lanfer«, brachte ich mühsam hervor.
Annabella gab mir ein paar Atemzüge Zeit, zur Ruhe zu kommen. »Meine Kleine, ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich. Was ist gerade los in deinem Leben?«, hakte sie schließlich nach.
»Ich … Anna, ich kann jetzt nicht darüber reden.«
Schweigend sah sie mich eine Weile an. Ich sah die Enttäuschung in ihren Augen, aber mehr noch die Angst um mich, weil sie nicht verstand, was mit mir los war.
Ich presste die Lippen zusammen. Annabella war der einzige Mensch, auf den ich mich mein Leben lang hundertprozentig verlassen konnte. Aber ich wollte sie in diese Sache nicht mit reinziehen.
»Kirstin, egal, was du getan hast. Du kannst immer zu mir kommen. Das weißt du hoffentlich?«
Es war selten, dass sie mich bei meinem Vornamen nannte. Ich war ihre Kleine. Ihr Engelchen. Aber wäre ich das immer noch, wenn sie wüsste, was ich getan hatte? Ich sah ihr enttäuschtes Gesicht vor mir. Sie hatte alles für mich getan, um mir ein normales Leben zu ermöglichen.
»Giorgio sagt, du bist in Schwierigkeiten. In großen Schwierigkeiten. Er macht sich Sorgen um dich.« Sie starrte einen Moment lang gedankenverloren vor sich hin. »Ein ganz schön hartnäckiger Bursche, dein Giorgio.«
»Er ist nicht mein Giorgio.«
»Was hat er dir getan? Warum läufst du vor ihm davon?«
Welche Erklärung konnte ich ihr geben? Ich suchte nach einer Antwort, die der Wahrheit nahe kam, ich wollte Annabella nicht noch mehr anschwindeln.
»Er … er hat mich angelogen«, sagte ich schließlich leise.
Sie zog die Stirn in Falten und nahm einen Umschlag vom Tisch. »Er hat eine Nachricht für dich hinterlassen und mich gebeten, dafür zu sorgen, dass du sie liest.«
Ich nahm den Brief, hielt ihn unschlüssig in der Hand.
»Na los, lies schon. Damit vergibst du dir nichts.«
Ich öffnete den Umschlag. Er enthielt eine kurze Notiz: »Kirstin, ich kann dir alles erklären. Du hast nichts zu befürchten. Vertrau mir, G.«
Ich biss mir auf die Lippe, schluckte den harten Kloß in meiner Kehle herunter.
»Er sagt, er kann dir helfen.«
»Seit wann bist du auf seiner Seite?«, fauchte ich Annabella aufgebracht an.
Sie ließ sich von meiner Wut nicht beeindrucken. »Ich kenne dich nun schon so lange, meine Kleine. Du haust gern mal ab, wenn es dir zu eng wird.«
»Ich trau ihm nicht.«
Annabella seufzte ein wenig ratlos, aber sie kannte mich gut genug, um mich nicht weiter zu bedrängen. »Du kannst gern eine Weile bei mir bleiben. Aber wenn du meinen Rat haben willst, ruf ihn wenigstens an. Manchmal hilft ein offenes Gespräch.« Sie kniff mir leicht in die Wange. »Ich muss jetzt in die Bar.«
Ich hatte sie doch gar nicht um ihren Rat gefragt! Wütend knüllte ich den Zettel zusammen und warf ihn in eine Ecke. Eine Minute später stand ich auf, nahm die Papierkugel und strich sie wieder glatt. Ich starrte auf Gios Handschrift. Ich sah seine Hände vor mir, die mich sanft berührten, sehnte mich nach ihm, seiner Nähe, seiner Zärtlichkeit und seiner Zuversicht. Was sollte ich nur tun?
Ich ging ins Bad, betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Zwei frische rote Kratzer zogen sich über meine rechte Wange. Welche Chance hatte ich gegen Timo Lanfer? Ich hatte seine Augen gesehen, diesen kalten, menschenverachtenden Blick. Und was das Schlimmste war: Ich hatte Angst vor ihm. Noch immer war diese hilflose Wut in mir, weil ich mich von ihm hatte schlagen lassen.
Ich zog mich aus und stieg unter die Dusche. Minutenlang ließ ich das warme Wasser über meinen Rücken laufen, wünschte mir, dass es all meine Ängste und Zweifel einfach davonspülte. Zu eng geworden. Hatte Annabella recht? Nein! Er hatte mich belogen! Er hatte meine Waffe aufbewahrt und konnte mich damit jederzeit ans Messer liefern.
Ich sollte einfach verschwinden, abhauen. Irgendwohin, wo mich niemand kannte, wo viel Platz war, wo ich mich verstecken konnte, wo mich niemand fand.
Ich stellte den Duschhahn ab, wickelte mich in ein Handtuch. Immer auf der Flucht, ständig das ungute Gefühl, niemandem trauen zu können. Nie wieder Annabellas ungenießbaren Kaffee trinken und in ihr gutmütiges Gesicht schauen. Keine Freunde, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Ich schnaufte verbittert. Wollte ich so ein Leben?
Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Der Zettel lag noch auf dem Tisch. Ich strich mir durch die nassen Haare und fasste einen Entschluss. Mein Handy piepte einige Male, als ich es einschaltete, um mir mitzuteilen, dass mehrere unbeantwortete Anrufe eingegangen waren. Allesamt von Gio. Ich atmete tief durch und wählte seine Nummer. Er nahm sofort nach dem ersten Klingeln ab.
»Kirstin, wo bist du?«
Ich schloss die Augen. Mein Herzschlag war beim Klang seiner Stimme rasant gestiegen. »Können wir uns treffen?« Es sollte sachlich und distanziert klingen, aber meine Stimme zitterte.
»Natürlich, wo bist du? Ich hol dich ab.«
»Nein, kennst du das Café Künstlerbund am Schlossplatz?«
Gio schwieg einen Augenblick. »Ja«, sagte er schließlich, so ruhig, wie ich ihn kannte.
»Gut. Geh nicht rein. Setz dich an einen der Tische vor dem Café.«
Ich wollte mir jede schnelle Fluchtmöglichkeit offen halten, und dieses Café schien mir ideal dafür zu sein. Der Schlossplatz und die Königstraße waren bei dem sonnigen Wetter voller Menschen. Ich kannte mich in der Umgebung gut aus und konnte im Notfall leicht in der Menge untertauchen.
»Okay. Wann soll ich da sein?«
»In einer Stunde. Sei pünktlich.«
»Kirstin …«
Ich legte auf und betete, dass ich keinen Fehler gemacht hatte. Nur langsam beruhigte sich mein Pulsschlag wieder. Ich zog mich an, schrieb eine kurze Notiz für Annabella und machte mich auf den Weg. Ich wollte vor Gio am Treffpunkt sein und mir ein Versteck suchen, von dem aus ich das Café gut einsehen konnte.
Er kam zwanzig Minuten vor dem verabredeten Zeitpunkt, und er war allein. Das musste nicht bedeuten, dass er es auch war. Er konnte über ein Mikro mit seinen Leuten verbunden sein. Ich ließ ihn warten, beobachtete, ob er zu irgendjemandem sprach.
Er suchte sich einen Platz am Rand des Cafés, die Bedienung brachte ihm einen Espresso. Wie viele Espressi hatten wir schon gemeinsam getrunken? Er lehnte sich zurück, die Hände locker verschränkt im Schoß, sah dem Treiben vor ihm auf dem Platz zu. Äußerlich wirkte er völlig entspannt. Ein Mann, der am späten Nachmittag gemütlich in der frühsommerlichen Sonne saß und einen Espresso trank. Einen schwachen Moment lang wäre ich am liebsten zu ihm gerannt. Ich bremste mich, ging langsam auf ihn zu, scannte die Umgebung um uns herum. Ich brauchte jetzt einen klaren Kopf.
Er beugte sich vor, griff über den Tisch nach meiner Hand, als ich mich zu ihm setzte, aber ich entzog sie ihm sofort. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, und die Schlägerei mit Kai hatte eine leichte Schwellung auf der rechten Schläfe hinterlassen.
»Wer war das?«, fragte er bestürzt, als er die Verletzung in meinem Gesicht entdeckte.
»Wer ist Georg Zake?«, ignorierte ich seine Frage. Ich fixierte seine Augen. Seine Pupillen würden ihn verraten, wenn er log. Er wich mit seinem Oberkörper zurück, hob die Handflächen zum Himmel. »Kirstin, bitte!«
»Was wollt ihr von mir?«, fragte ich weiter.
»Nicht hier«, blockte Gio ab.
»Gut, dann brauchen wir gar nicht weiterzureden.« Ich machte Anstalten aufzustehen.
»Kirstin!« Er richtete sich alarmiert wieder auf, hielt meinen Arm fest. »Perché non ti fidi di me?«
»Red deutsch mit mir!«
»Scusa.«
Ich starrte ihn zornig an. Eine Kellnerin stellte einen Cappuccino vor mich auf den Tisch. Ich hatte noch keine Bestellung aufgegeben.
»Den hatte ich für dich bestellt«, wechselte Gio zurück in meine Muttersprache und gab meinen Arm wieder frei.
Er fing genau da an, wo wir aufgehört hatten. Er beantwortete einfach meine Fragen nicht. Ich sollte ihm schlicht die heiße Mischung ins Gesicht schütten und gehen. Stattdessen nahm ich den Löffel und rührte in der Tasse herum, als könnte ich darin die Antworten finden. Aber da war nur dieser kleine Strudel, der den Milchschaum mit dem Espresso zu einer braunen Flüssigkeit vermischte. Ich gab mir eine Cappuccino-Länge, um zu entscheiden, wie es weitergehen sollte.
»Warum vertraust du mir nicht, bellezza?«
»Was denkst du wohl?«, fauchte ich ihn an. Er hob besänftigend eine Hand. Ein Pärchen am Nachbartisch sah neugierig zu uns herüber.
»Du hast mich belogen«, setzte ich etwas leiser hinzu. »Du mimst den verständnisvollen Zuhörer, um mich auszufragen. Du behauptest, du hättest mein … meine Mittel in die Toilette gespült, und in Wirklichkeit wollt ihr mich damit erpressen. Du … du schläfst mit mir, und ich frag mich, warum.«
»Fragst du dich das wirklich?«
Ich meinte, Betroffenheit in seiner Stimme zu hören, wagte nicht, ihn anzusehen. Stumm starrte ich in meine Tasse. Bilder tauchten vor mir auf. Gio, der nach dem Überfall beruhigend meine Hand hielt. Gio, der mich nachts in seiner Küche sanft küsste. Gio, der neckend mit mir auf dem Schießstand übte. Gio, mit dem ich abends schweigend auf der Terrasse gesessen hatte, der sich in mein Zimmer schlich und mir zärtlich über das Gesicht strich, der schützend den Arm um mich legte, als ich Zachewskij gegenüberstand. Bilder, die ich verdrängen wollte und die gleichzeitig eine Sehnsucht hervorriefen, die mich innerlich zerriss.
»Rede mit mir«, forderte er mich nach einer Weile auf.
»Ich … ich hab den Überblick verloren, Gio. Ich weiß nicht mehr, wem ich überhaupt noch trauen kann, wie es weitergehen soll. Ich … ich will einfach nur noch weg«, versuchte ich, das Chaos in mir in Worte zu fassen.
»Das ist keine Lösung.«
Ich hörte auf, im Cappuccino zu rühren. »Verdammt, das weiß ich selbst!«
Wieder sah das Pärchen vom Nachbartisch zu uns.
»Gehören die zu dir?«, fragte ich Gio mit drohender Stimme.
Er wandte kurz den Kopf zur Seite, lächelte den beiden freundlich zu und sah wieder zu mir. »Nein.«
Ich nippte an meiner Tasse, versuchte in seinem Gesicht zu lesen, ob er log.
Er runzelte die Stirn. »Ich bin allein hier. Aber das kann ich dir nicht beweisen. Du musst mir einfach mal glauben.«
Ich schnaufte verächtlich.
»Kirstin, bitte denk ganz genau nach. Habe ich auch nur ein einziges Mal irgendetwas getan, was dir geschadet hat? Nur ein einziges Mal?« Er beugte sich zu mir, streckte mir die offenen Handflächen über den Tisch entgegen.
Ich versuchte, die letzten Wochen Revue passieren zu lassen, aber die Bilder purzelten nur wild durcheinander, als hätte man ein Puzzle in die Luft geschmissen und achtlos zu Boden fallen lassen. Nichts passte zueinander.
»Es ist zu viel passiert. Ich pack das einfach nicht mehr.«
»Bellezza mia, natürlich packst du das.« Seine Stimme war voller Wärme und Zuversicht. Er startete einen zweiten Versuch, meine Hand zu nehmen. Dieses Mal zog ich sie nicht zurück. Seine Finger schlossen sich warm um meine, sanft und fest zugleich. »Wenn ich nicht hundertprozentig von dir überzeugt wäre, hätte ich niemals versucht, dich zu uns zu holen.«
»Du hast gesagt, ich sei zu impulsiv, ich hätte zu viel Angst.«
»Ja, das ist auch so.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Zum einen können wir daran arbeiten, zum anderen geht es uns um dein IT-Wissen. Dom ist ehrlich begeistert von dir. Er sagt, du hast sehr viel Talent und eine schnelle Auffassungsgabe.«
Mein IT-Wissen. Jetzt kamen wir der Sache doch endlich mal ein Stückchen näher. »Dom?«
»Dominik.«
Der Profi-Hacker. Wobei sollte ich ihnen helfen? Welche Informationen sollte ich ihnen besorgen? Meine Unterlippe begann zu schmerzen, weil ich sie die ganze Zeit malträtierte.
»Warum tut ihr das alles? Warum bin ich so wichtig für eure …?«
»Du bist wichtig für mich.«
Wie bitte? Ich dachte, wir sprechen von einer geheimen, kriminellen Organisation und nicht von einer Partnervermittlung. Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Er verschränkte seine Finger mit meinen.
Meine Tasse war fast leer. »Und was soll ich jetzt tun?«
»Das, was ich dir immer wieder sage.«
Ich sah in seine braunen Augen und wollte ihm so gern vertrauen.
»Hallo, Kirstin.« Ein Mann war unbemerkt an unseren Tisch getreten. Ich zuckte erschreckt zurück, löste meine Hand aus Gios und hob den Blick.
»Hi, Patrick.« Wie lange hatte er uns schon beobachtet?
»Du bist wieder zurück aus Frankfurt?«
»Äh … ja«, bestätigte ich seine detektivischen Fähigkeiten. Nur mühsam konnte ich meine Mundwinkel zu einem Lächeln heben.
»Wie geht es dir?« Es war keine Floskel. Mein Teamleiter sah mir aufmerksam ins Gesicht, blieb an den Kratzern auf meiner Wange hängen. Verstohlen warf er einen kurzen Blick auf Gio, dessen Augen sich verfinstert hatten.
»Ich … na ja, gut wäre übertrieben.« Ich spielte mit meinen Haaren, zog eine Strähne in mein Gesicht. Sah er, dass die Verletzung frisch war? »Ich versuche, nächste Woche wieder zur Arbeit zu kommen.«
»Mach dir um die Arbeit keine Sorge. Wichtig ist, dass du dich richtig erholst und es dir wieder besser geht. Die Server laufen dir nicht weg.«
»Danke.« Was sollte ich sagen? Der für Smalltalk reservierte Hirnbereich schien sich gerade selbst beurlaubt zu haben. Gios misstrauischer Blick machte die Situation nicht einfacher. Auch Patrick entging die Missstimmung nicht. »Ich störe wohl gerade?«
»Kann man wohl sagen«, entgegnete Gio schroff.
Patrick ließ sich davon nicht irritieren. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass er sich noch ein Stück näher zu mir beugte. »Bist du morgen Abend zu Hause? Ich könnte nach der Arbeit mal vorbeischauen.«
»Ich …«
»Sie ist nicht in ihrer Wohnung.« Wieder Gio. Zwischen seinen Augen hatte sich bereits eine tiefe Zornesfalte gebildet.
»Das stimmt allerdings. Es sieht noch ziemlich chaotisch bei mir aus.«
»Das tut mir leid. Kirstin …« Er zögerte, schaute erneut kurz zu Gio, senkte seine Stimme und sah mir eindringlich ins Gesicht. »Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Ich zupfte nervös an meinen Haaren. »Danke, nein, ich …«
»Sie hat jemanden, der sich um sie kümmert«, kam es von gegenüber.
Dieses Mal war ich es, die einen drohenden Blick über den Tisch schleuderte. Gios Gesicht verwandelte sich von grimmig zu lammfrommem Lächeln.
»Entschuldige, Kirstin«, kam es zuckersüß von ihm. »Ich wollte mich nicht einmischen. Aber du weißt, was der Arzt gesagt hat: Du brauchst noch etwas Ruhe.« Er sah zu Patrick. »Er wird sie vermutlich noch etwas länger krankschreiben. Hier geht es nicht nur um die blauen Flecken, die sie bei dem Überfall davongetragen hat.«
»Ja … ja, natürlich«, entgegnete Patrick, dem Gios Zurechtweisung nicht zu gefallen schien. »Wie gesagt, Kirstin, mach dir um die Arbeit keine Sorgen. Wir freuen uns, wenn du wieder da bist, und wenn du noch ein, zwei Wochen brauchst, ist das auch okay. Gib mir einfach Bescheid.« Er richtete sich wieder auf, vermied es, in Gios Richtung zu schauen. »Die Einladung zum Essen steht übrigens noch. Jederzeit.« Er wagte ein Lächeln und verschwand in Richtung Königstraße.
Gio wartete, bis Patrick außer Sichtweite war, dann stieß er wütend die Luft aus den Lungen. »Sag mal, merkt der Kerl noch was? Ich sitz hier Händchen haltend mit dir am Tisch, und der baggert dich hemmungslos an! Noch so eine Nummer, und der …«
»Patrick hat mich doch nicht angemacht.«
»Er hat dich zum Essen eingeladen. Oder hab ich mich da gerade verhört?« Noch immer lag ein finsterer Ausdruck auf seinem Gesicht.
»Eine Einladung zum Essen muss ja nicht gleich eine Anmache sein. Er macht sich Sorgen.«
»Natürlich, er macht sich nur Sorgen. Solche Typen wie den kann ich gerade gut gebrauchen.«
War er eifersüchtig, oder beleidigte die Vertraulichkeit, mit der mein Kollege mit mir vor seinen Augen gesprochen hatte, sein südländisches Ego? Er konnte Patrick doch unmöglich für Konkurrenz halten. Ich sah in die Richtung, in der mein Kollege verschwunden war. Als ich mich Gio wieder zuwandte, las ich deutlich das Misstrauen in seinen Augen.
»Hast du ihn hierher bestellt? Hattest du so eine Angst, dich mit mir zu treffen? Bella mia, wann kapierst du endlich, dass ich auf deiner Seite bin?«
»Du bist auf meiner Seite? Und was ist mit den Sachen in deinem Tresor, mit den Notizen?«
Gio beugte sich ein Stück weit über den Tisch zu mir. »Hier sind zu viele Menschen. Komm mit mir, und ich erkläre dir alles.«
Ich kämpfte mit mir. Ich wünschte mir, dass es eine vernünftige Erklärung für alles gab. Und wenn nicht, konnte ich wenigstens versuchen, die Beweise aus seinem Tresor verschwinden zu lassen und bei meiner nächsten Flucht vielleicht auch daran denken, meine Papiere mitzunehmen.
»Dann lass uns gehen.« Ich erhob mich und hoffte, dass ich in diesem Moment nicht den Fehler meines Lebens beging.
Er führte mich zu seinem Wagen, der in der Ecke eines nahen Parkhauses stand und öffnete mir die Tür. Ich sah mich noch einmal unsicher um. Gio wartete, bis ich eingestiegen war und schloss die Tür.
»Du bist ja ein richtiger Gentleman«, versuchte ich, die Stimmung aufzulockern, als er auf der Fahrerseite einstieg.
»Anschnallen«, forderte er so ernst, als würden wir gleich einen Looping in der Achterbahn fahren.
Ich tat ihm den Gefallen.
Er beugte sich zu mir. Ich meinte, eine gewisse Unsicherheit in seinen Augen zu erkennen. Seine Lippen waren leicht geöffnet, als wollte er etwas sagen. Er strich mit den Händen zärtlich durch meine Haare. Die paradoxe Sehnsucht nach seiner Berührung und gleichzeitig die Angst davor, ließen mich regungslos verharren. Seine unerwartete, vertraute Nähe raubte mir den Atem. Ich schloss die Augen. Er wanderte mit den Fingern weiter über meinen Hinterkopf, glitt meinen Hals entlang zu meinem Nacken. Ich ließ es zu. Die Anspannung vermischte sich mit dem Verlangen, mich in seine Arme fallen zu lassen, mich seiner Zärtlichkeit hinzugeben, zu vergessen, was zwischen uns stand. Seine Rechte strich über meine Schulter, als er seine Linke plötzlich auf meinen Mund presste und mich brutal gegen den Sitz drückte.
Entsetzt riss ich die Augen auf. Er hatte sich weit über mich gebeugt. Da war nichts mehr von seiner Zärtlichkeit. Er tastete meinen Körper ab, glitt mit der Hand unter mein T-Shirt, suchte jeden Zentimeter ab.
»Kein Wort«, zischte er so leise in mein Ohr, dass ich ihn kaum verstand.
Ich versuchte, ihn von mir zu drücken.
»Was soll das?«, brachte ich undeutlich unter dem Druck seiner Hand hervor. Mein Herz raste. Ich bekam kaum Luft unter seinem harten Griff. Seine Rechte wanderte tiefer. Professionell, rücksichtslos. Er zog das Handy aus meiner Hosentasche, prüfte den Inhalt der anderen Taschen, strich meine Beine entlang. Ich zerrte an seinem Arm, tastete mit der anderen Hand fieberhaft nach dem Schloss des Sicherheitsgurtes.
Ich presste die Schenkel zusammen, als er die Innenseite meiner Beine entlangstrich. Seine Hand drängte dazwischen, tastete sich höher. Ich versuchte mich wegzudrehen. Endlich fand ich den Knopf des Sicherheitsgurtes. Er löste sich. Bevor ich nach dem Türöffner greifen konnte, packte Gio mich im Nacken und drückte mein Gesicht runter auf meine Knie. Seine Finger fuhren suchend meinen Rücken entlang, glitten unter den Bund meiner Hose. Ich rang atemlos nach Luft. Mit einem kräftigen Ruck befreite ich mich, drückte den Türöffner. Die Tür blieb verschlossen.
Gio lehnte sich zurück auf den Fahrersitz, atmete genauso heftig wie ich. »Kindersicherung«, hörte ich ihn neben mir sagen.
»Du Arschloch! Du verdammtes, verlogenes Arschloch!« Hilflos schlug ich auf ihn ein. Er hob schützend die Hände, bekam meine Arme zu fassen.
»Hör auf, Kirstin.«
»Lass mich los!« Ich wand mich unter seinem harten Griff.
»Kirstin, bitte …« Er hatte Mühe, mich festzuhalten. »Ich … ich musste sichergehen, dass du nicht verwanzt bist.«
Meine Gegenwehr erstarb. Fassungslos starrte ich ihn an.
»Vertrauen, ja? Vertrauen!« Ich spukte die Worte vor ihm aus.
»Ich weiß doch nicht, was du die letzten sechsunddreißig Stunden getrieben hast! Ich trage eine Verantwortung, bella mia!«, fuhr er mich an. Er gab meine Arme wieder frei. Meine Haut brannte.
»Es geht nicht nur um dich und mich. Ich hab dich in die Organisation gebracht, und wenn du mich jetzt auffliegen lässt, rollt nicht nur mein Kopf. Da hängen ’ne Menge Leute mehr mit drin.«
»Wer sollte mich denn verwanzen? Annabella? Ich habe niemanden …«
»Wie wäre es mit der Polizei?«, unterbrach Gio mich barsch.
»Ach, du denkst, ich renn zu den Bullen?« Ich lachte bitter. »Was soll ich denen denn wohl erzählen?«
»Was weiß denn ich, wo du alles hinter meinem Rücken rumgeschnüffelt hast. Vielleicht tust du ja die ganze Zeit einfach nur so naiv?«
Seine Worte trafen mich wie eine Ohrfeige. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Wer hatte hier denn wen hintergangen? »Ihr seid es doch, die Beweise gegen mich haben.«
»Schon mal was von Kronzeugenregelung gehört?«
Mir blieb die Luft weg. Einen Moment lang starrte ich ihn sprachlos an. Was dachte dieser Mann, wer ich war?
»Toll«, stieß ich hilflos hervor. »Toll! Toll! Toll! Du vertraust mir nicht, ich vertrau dir nicht.« Ich ließ meinen Kopf in den Nacken fallen und drückte die Handballen auf meine Augen. »O Gott, was für eine Scheiße!«
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander im Auto.
»Es tut mir leid, Kirstin«, sagte Gio schließlich leise.
Ich schlang die Arme um meinen Körper, drehte mein Gesicht von ihm weg.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss und startete den Motor. »Ich kann dich jetzt nicht gehen lassen. Es gibt ein paar Dinge, die wir klären müssen, aber vorher brauche ich dringend etwas Schlaf.«
Er parkte den Wagen in seiner Tiefgarage, öffnete mir die Tür und hielt mir seine Hand entgegen.
»Ich kann allein aussteigen«, entgegnete ich grimmig.
»Ich weiß.« Er packte meinen Arm, wich meinem zornigen Blick aus und zog mich hinter sich her ins Treppenhaus, hinauf in seine Wohnung. Als wir im Flur standen, verriegelte er die Tür, zog den Schlüssel ab und aktivierte die Alarmanlage.
»Was soll das?«
»Ich will nicht, dass du wieder abhaust.«
Schäumend vor Wut wandte ich mich zu seinem Schlafzimmer. Er versperrte mir den Weg.
»Keine Sorge.« Ich sah spöttisch zu ihm auf. »Ich wollte nur meine Tasche holen. Ich schlafe im Gästezimmer, wenn es genehm ist.«
»Ja, das ist sehr genehm. Deine Tasche kriegst du morgen.«
Mein Blut kochte, und hätte ich nicht einen letzten Funken Verstand gehabt, hätte ich auf ihn eingeprügelt. »Ich fasse es nicht! Du willst mich hier tatsächlich einsperren, ja? Das ist Freiheitsberaubung!«
Er zog leicht die Augenbrauen hoch. »Willst du mich anzeigen?«
Die kaltblütige Ruhe, mit der er sprach, ließ auch diesen letzten Funken Vernunft in mir erlöschen. Ich holte zu einem Schlag aus. Er parierte, noch bevor meine Faust auf halbem Weg war, verdrehte mir den Arm auf den Rücken und drückte mich gegen die Wand.
»Kirstin, mach die Situation nicht schlimmer, als sie schon ist«, bat er mit mühsam kontrollierter Stimme. »Ich habe dich verletzt, und es tut mir leid. Aber vielleicht verschwendest du auch mal einen Gedanken daran, wie es in mir aussieht. Ich stecke nämlich in einer verfluchten Zwickmühle. Verdammt, die Welt dreht sich nicht nur um dich, bella mia.«
Er ließ mich wieder los, wich zwei Schritte zurück und strich sich erschöpft durchs Haar. »Ich habe seit gestern Morgen nicht mehr geschlafen. Ich brauch ’ne Pause. Du weißt ja, wo alles ist.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, verschwand er im Badezimmer. Ich schlug mit der Faust gegen die Wand.
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Ich erwachte, als Gio nach kurzem Anklopfen die Tür zum Gästezimmer öffnete. Auch hier hatte er in weiser Voraussicht den Schlüssel abgezogen.
»Guten Morgen.« Er blieb an der Schwelle stehen.
Ich rieb mir müde die Augen, sah auf die Uhr. Acht Uhr. Vor mehr als zehn Stunden hatte ich mich in dieses Zimmer verkrochen, geschlafen hatte ich kaum. Gios Worte hatten mich getroffen. Sein müdes, erschöpftes Gesicht hatte mich verfolgt. Aber tat es ihm tatsächlich leid, was er getan hatte, oder war das wieder nur eiskaltes Kalkül? Ich hatte keine Antwort gefunden.
»Ich mache Frühstück. Stehst du auf?«
Ich brummte etwas, was entfernt an ein zustimmendes Ja erinnerte, und er ließ mich wieder allein.
Als ich in die Küche kam, saß er am Tisch und blätterte in der Stuttgarter Zeitung. Wortlos stand er auf und bereitete mir einen Cappuccino. Wir waren wieder ganz am Anfang gelandet.
»Wir müssen einiges besprechen. Tony wird später noch vorbeikommen. Tony und Dominik sind die Einzigen in der Organisation, die von deinem Ausreißer wissen.« Gio stellte die Tasse vor mich auf den Tisch und setzte sich wieder hin.
»Ist das wichtig?« Ich rührte in meiner Tasse, schielte unter den gesenkten Augenlidern zu ihm. Er war blass. Die Schwellung unter seinem Auge hatte eine leicht rot-bläuliche Färbung angenommen.
Er verschränkte die Hände am Hinterkopf, sein Brustkorb hob sich zu einem schweren Seufzer.
»Ich dachte, es interessiert dich. Aber, okay, …« Er ließ die Hände wieder sinken. Er bemühte sich um einen sachlich distanzierten Ton, als er weitersprach: »Wenn du bei uns nicht einsteigen willst, werden wir das akzeptieren. Du hast nichts zu befürchten, solange du den Mund hältst. Deine Waffe und das Fläschchen mit der Droge, die du Diego geben wolltest, behalten wir natürlich. Wir werden weiterhin ein Auge auf dich haben. Wenn du meinst, wieder aktiv werden zu müssen, kriegt die Polizei einen Tipp von uns.«
Ich hob den Kopf und starrte ihn ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Leider doch.« Er griff hinter sich und reichte mir meine Handtasche. Anscheinend hatte er mir das Wichtigste mitgeteilt. »Wir werden nicht zulassen, dass du wahllos Leute abballerst.«
»Das tue ich doch gar nicht.« Ich hatte meine Wahl durchaus sehr bewusst getroffen, auch wenn ich es im Nachhinein bereute. Ich öffnete die Tasche, prüfte, ob mein Ausweis und meine Bankkarte darin waren.
»Es ist alles drin. Du kannst das Kleingeld nachzählen.«
»Mein Handy?«
»Kirstin, Mord ist niemals eine Lösung«, ignorierte Gio meine Frage. »Damit stellst du dich mit diesen Leuten auf eine Stufe. Du … du legitimierst, was sie getan haben, weil du genau das Gleiche tust.«
»Meine Motive sind andere!«
»Und wenn du dich mal irrst?«
Ich irre mich nicht, wollte ich sagen, aber ich presste nur trotzig schnaubend die Lippen zusammen. Der Mordversuch an Wenner. Meine Fingerabdrücke waren auf der Waffe. Wie viele Jahre würde ich dafür ins Gefängnis wandern?
»Jeder kann sich mal irren«, fügte Gio hinzu, und ich fragte mich, was genau er damit meinte.
»Woher wollt ihr wissen, dass ich mit niemandem über euch rede?«
»Wir kriegen’s raus. Verlass dich drauf.«
Ich nippte an meinem Cappuccino.
»Wir sind bereit, dir in der Sache Lanfer zu helfen, allerdings nach unseren Regeln ohne Kompromisse. Vorausgesetzt, du willst unsere Hilfe.«
»Und wenn nicht?«
Er sah mich an, schluckte trocken, hob die Hand und deutete Richtung Flur. »Da ist die Tür. Du bist ein freier Mensch.«
So einfach war das. Ich konnte aufstehen, meine Sachen packen und durch diese Tür gehen. Timo Lanfer wartete irgendwo da draußen. Es hatte keine vierundzwanzig Stunden gedauert, bis er mich gefunden hatte. Tony hatte es mir nach dem Überfall in meiner Wohnung schon im Krankenhaus prophezeit. Nur mit Glück war ich Lanfer gestern in der U-Bahn entkommen. Würde ich das nächste Mal auch so viel Glück haben?
Ich sah Gio vor mir sitzen, dessen Gesichtszüge angespannt und gleichzeitig besorgt wirkten. Verwirrt bemerkte ich, dass ich mich noch immer nach ihm sehnte, nach einem liebevollen, zuversichtlichen Lächeln, einer zärtlichen Berührung, und gleichzeitig brodelte ungeheure Wut in mir über das, was er am Tag zuvor getan hatte.
Gios Hand sank in seinen Schoß. »Bella …«
»Nenn mich nicht bella!«, stoppte ich ihn schroff. »Was war das gestern? Sollte das so was wie ein romantisches Vorspiel werden?« Unwillkürlich presste ich bei der Erinnerung an seine Leibesvisitation die Schenkel wieder zusammen und verschränkte die Arme vor meiner Brust.
»Hätte Tony es machen sollen? Oder wäre dir Dominik lieber gewesen?«, gab Gio zynisch zurück.
Ich wandte den Kopf ab, starrte auf die Küchenfliesen. Meine Finger wurden kalt, und ich versuchte, sie an der Tasse zu wärmen. Warum musste er mir so wehtun? Ich hatte versucht, ihm zu vertrauen. Und was tat er?
»Kirstin, ich wollte dich nie verletzen«, drang Gios Stimme nach einer Weile zu mir, versöhnlicher, weniger distanziert. »Für mich ist die Situation auch nicht einfach.«
Ich hob den Blick wieder zu ihm. »Ging es dir tatsächlich um mich? Oder konntest du es nur nicht ertragen, wenn Dominik oder Tony mich angefasst hätten?«
Natürlich erhielt ich keine Antwort auf meine Frage. »Warum wollt ihr mir helfen?«
»Weil wir …« Er zögerte. »Weil ich nicht ganz unschuldig an deiner Situation bin.«
Ich zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Durch mich ist die Organisation erst auf dich aufmerksam geworden. Vor zwei Jahren habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Du warst bei Annabella. Ihr habt im Hinterhof vor ihrer Wohnung gesessen und Kaffee getrunken. Das heißt, sie hat die Brühe getrunken, und du hast sie heimlich weggekippt«, begann Gio zu erzählen. »Du hast mir gefallen, und ich begann, ein paar Nachforschungen über dich anzustellen. Erst nur sporadisch.
Dann fiel mir vor gut einem Jahr auf, dass du im Milieu recherchierst. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich deine Verkleidung durchschaut hatte. Wir waren damals an Wenner dran und stellten fest, dass du ihn und seine Leute ebenfalls unter die Lupe genommen hattest. Wir dachten erst, du wärst eine verdeckte Ermittlerin, und überlegten, ob wir über dich unsere Informationen ans LKA weiterleiten könnten. Kevin hat versucht, beim LKA Infos über dich zu bekommen, aber die kannten dich nicht.
Ich fand heraus, dass du in dieser Computerfirma arbeitest und habe Dominik auf dich angesetzt. Er hat sich angesehen, wie du arbeitest, und war ganz begeistert. Er sucht schon lange jemanden, der ihn in diesen IT-Arbeiten unterstützt, und wir kamen zu dem Schluss, dass wir dich anheuern sollten. Ich fand das eine optimale Lösung. Du hättest dich mit deinem IT-Know-how in unsere Organisation einbringen können. Wir hätten zusammengearbeitet, und wir beide, na ja, wir hätten …« Er verstummte.
»Wir hätten was?«
»Wir hätten zusammen sein können.«
»Du wusstest doch gar nicht, ob ich dich mag.« Verständnislos sah ich ihn an.
Er erwiderte meinen Blick ratlos. »Das weiß ich jetzt auch noch nicht.«
Ich konnte ihm nicht sagen, was ich für ihn empfand. Ich war mir selbst nicht mehr sicher.
»Wie auch immer.« Er senkte die Lider, strich über die Zeitung vor ihm auf dem Tisch. »Und dann versuchst du, Wenner abzuknallen. Die Sache mit dem Hund … das waren wir.«
Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ungläubig öffnete ich den Mund. Ich hätte ihm gern eine passende Antwort an den Kopf geworfen, aber mir fehlten die Worte.
»Es war anders geplant. Wir hätten dich ruckzuck aus der Gefahrenzone gehabt, aber du …« Er hob den Blick, und ich meinte Verzweiflung in seinen Augen zu lesen. »Du schießt einfach trotzdem auf den Kerl. Und dann lief nichts mehr wie geplant …«
»Ihr … du … du warst das mit diesem verfluchten Köter?«
»Ich wollte nicht, dass du zur Mörderin wirst«, suchte Gio nach Verständnis. »Und außerdem war dein Plan völlig unprofessionell und nicht zu Ende gedacht. Es wäre so oder so schiefgegangen. Hätten wir nicht reagiert, hätten dich entweder Wenners Leute geschnappt, oder du wärst jetzt im Gefängnis.«
»Ja und?«, blaffte ich ihn an.
Ich zuckte zurück, als Gio unerwartet aufsprang. Er stampfte zum Fenster, blieb dort mit dem Rücken zu mir stehen, kämpfte um seine Selbstbeherrschung. »Kirstin, kapierst du das nicht? Ich wollte weder, dass dir das eine noch das andere passiert, und ich musste dich irgendwie von diesem Weg abbringen, den du gehen wolltest.«
»Dafür ist es schon lange zu spät. Ich habe meinen Vater …«
»Nein«, sagte er energisch und wandte sich wieder zu mir um. »Zum einen ist gar nicht sicher, ob es tatsächlich das Zeug war, was du ihm in den Kaffee gekippt hast, und zum anderen war es kein geplanter, kaltblütiger Mord. Du warst ein Kind! Du hattest Angst. Er hat dich geschlagen. Er hat dir die Knochen gebrochen. Er wollte sich an dir vergehen.«
»Trotzdem!«
»Nein. Es war Notwehr.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, sah meinen Vater in unserer Küche sitzen. Das schmierige Unterhemd. Unrasiert, schnaufend, den Blick voller Gier auf mich gerichtet. Ich sah das Fläschchen im Schrank meiner Pflegemutter. Meine Augen wurden feucht.
»Wir haben sehr gute Psychologen in unserem Team …«
»Was soll das heißen?« Ich funkelte ihn zornig an. Hielt er mich für eine Psychopathin?
»Das, was ich sage. Du hast in deiner Kindheit ein Trauma erlebt. Du musst das verarbeiten. Und unsere Psychologen können dir dabei helfen.«
»Bisher kam ich sehr gut ohne Hilfe klar.«
»Das sehe ich aber anders. Und Tony auch.«
Ich hatte das Gefühl, in einem abstürzenden Fahrstuhl zu stehen. »Wem hast du alles davon erzählt?«, fragte ich tonlos.
»Tony hat mich angesprochen. Nach dem Überfall auf dich hat er sich deine Krankenakte angesehen. Die vielen alten Verletzungen …«
»Verdammt, ihr müsst alles ganz genau wissen, was? Das war vor achtzehn Jahren! Es ist vorbei. Es ist vergessen. Ich will nicht, dass jeder weiß, was …« Meine Stimme brach. Ich sah zur Decke, rang nach Luft.
»Wenn es vorbei wäre, wärst du nicht so wütend.«
»Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun!«
»O doch, das hat es.«
»Nein!« Ich ballte die Hände zu Fäusten. Was war aus meinem sicheren Kokon geworden, den ich in all den Jahren um mich herum gewoben hatte? Jetzt wurde alles an die Oberfläche gezerrt, was ich so sorgsam versteckt hatte. Meine Nerven waren nur noch seidene Spinnweben, die jeden Augenblick zu reißen drohten. »Verdammte Scheiße, ich will nicht, dass die halbe Welt …«
»Nur Tony und ich wissen davon.«
Er kehrte zurück an den Tisch, wollte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter legen. Ich stieß sie weg. Schweigend setzte er sich, wartete, bis ich wieder ruhiger wurde.
Ich kämpfte mit mir. Ich musste mich irgendwie auf andere Gedanken bringen, weg aus der Vergangenheit. »Die Wohnung in der mittleren Etage, ist das so etwas wie die Zentrale der Organisation?«, lenkte ich unser Gespräch auf ein anderes Thema.
»Nein, nicht direkt. Manchmal nutze ich den Konferenzraum für meine Firma, für größere Kundenbesuche ist mein Büro unten zu klein. Das Büro, in dem du die Unterlagen gefunden hast, benutze ich, wenn ich in Ruhe arbeiten will. Normalerweise liegt da nichts offen herum. Aber ich musste vorgestern schnell reagieren, als ich dich mit der Waffe unten im Vorzimmer gesehen habe.«
»Wieso hast du gewusst, dass ich im Vorzimmer war?«
»Videoüberwachung. Das Haus ist komplett überwacht.«
»Komplett? Alles?«
Er nickte.
Mir wurde heiß. »Auch hier … diese Wohnung?«
Wieder ein Nicken.
»Dein Schlafzimmer?«
»Klar, dann hab ich was zum Gucken für schlechte Zeiten.« Er versuchte ein missglücktes Lächeln. »Keine Sorge, nur die untere und mittlere Etage, Garage, Eingänge und Außenfassade sind videoüberwacht. Das hier ist ›Private Area‹. Es gibt eine Alarmanlage, ein paar Bewegungsmelder, aber keine Ton- und Bildaufnahmen innerhalb der Wohnung.«
»Ich hätte sonst eine Kopie verlangt.« Ich konnte sein Lächeln nicht erwidern. »Diese ganzen Notizen auf deinem Schreibtisch, was hatte das zu bedeuten?«
»Ich war vor zwei Tagen mit Tony und Dominik verabredet. Wir wollten besprechen, wie wir dich in die Organisation eingliedern. Dazu musste ich eine Analyse erstellen, deine Stärken, deine Schwächen, Risiken, mögliche Einsatzfelder.«
Das war also der »Papierkram«, von dem er gesprochen hatte.
»Ich dachte, ich habe sechs Monate Probezeit?«, sagte ich – in Erinnerung an die seltsame Sitzung aus der ich vor einiger Zeit geflohen war – mit bitterem Sarkasmus.
»Normalerweise ja, aber so wie sich die Dinge zwischen uns entwickelt hatten, verlangte Tony eine Zwischenstands-Analyse. Er hält dich für einen zu großen Risikofaktor.«
»Ich denke, diese Meinung hat sich in den letzten zwei Tagen nicht wesentlich geändert«, gab ich selbstkritisch zu.
»Na ja …«, entgegnete Gio vage.
»Was ist mit Neil? Was habt ihr mit ihm vor?«
»Nichts, wir haben ihn überprüft.«
»Du weißt, wo er ist?«
»Ja. War nicht besonders schwer, das herauszufinden.«
Acht Jahre hatte ich nichts mehr von Neil gehört. Ich schluckte hart. »Wie geht es ihm?«
»Er lebt auf einer Farm in der Nähe von Denver.«
»Dann hat er sich seinen Traum erfüllt.« Wenigstens einer, der sein Glück gefunden hatte. Eine wehmütige Freude für ihn überkam mich. Eine eigene Farm. Das war sein größter Traum gewesen. Unser Traum.
»Wohl kaum. Es ist nicht seine Farm.« Gio zögerte einen Moment. »Er hatte vor drei Jahren einen schweren Sturz bei einem Rodeo. Seine Ersparnisse gingen für Operationen drauf. Er hat ein steifes Bein.«
»O nein.«
»Er ist seit fünf Jahren verheiratet und hat zwei Kinder.«
Verheiratet. Kinder. Die Gefühlsachterbahn schoss in voller Fahrt die Schienen herab. Ich musste mich ablenken, irgendetwas tun, etwas, was ganz normal war. Ich füllte Müsli und Milch in eine Schale und begann zu essen. Neil war Vergangenheit. Ich wollte nicht darüber nachdenken.
Gio gab mir Zeit, meine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Was war mit Vivian?«
Beinahe hätte ich das Müsli auf den Boden gespuckt. Zu unerwartet kam diese Frage. »Woher weißt du von Vivian?«
»Nach dem Überfall auf dich habe ich die Kleidung gewaschen, die du getragen hattest. Der Zeitungsartikel war in deiner Hosentasche«, erklärte er. »Ich weiß, dass sie die Tochter deiner Pflegeeltern war, aber als du bei ihnen gelebt hast, war sie noch ein Baby. Soweit ich das beurteilen kann, hattest du keinen Kontakt mehr zu deinen Pflegeeltern, nachdem du wieder zu deinen Eltern musstest.«
Das stimmte. Mein Blick schweifte zurück, und eine traurige Zärtlichkeit stieg bei der Erinnerung in mir hoch. Vivian war noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen, als ich zu meinen Pflegeeltern kam. Manchmal war ich nachts aufgestanden, hatte mich an ihr Bett geschlichen und ihr beim Schlafen zugesehen. Damals hatte ich mir gewünscht, sie wäre meine kleine Schwester und ich könnte bei ihr bleiben. Bei ihr und ihren Eltern. »Ich … ich hatte ihr versprochen, auf sie aufzupassen.«
Ich schluckte hart. Ich hatte ihr versprochen, auf sie aufzupassen, und jetzt war sie tot. Unter Drogen gesetzt, vergewaltigt, umgebracht. Das Gefühl, versagt zu haben, dass ich ihr nicht hatte helfen können, schnürte mir die Kehle zu. »Im Sommer hätte sie ihr Abitur gemacht. Sie wollte Meeresbiologin werden … Ich wollte, dass Diego dafür bezahlt.«
Gio hob erstaunt die Augenbrauen. »Hast du Beweise, dass er es war?«
»Nein …«, entgegnete ich zögernd.
»Hast du nie daran gedacht, dass es jemand anderes gewesen sein könnte?«
»Alles deutet auf ihn hin. Sie ist mit ihm gesehen worden, dann die Drogen, die Vergewaltigung, die Verletzungen …«
»Nein, die Verletzungen trugen definitiv nicht Diegos Handschrift«, beharrte Gio.
»Aber wer …« Ich las die Antwort in seinem Gesicht, riss ungläubig die Augen auf. Ich sah die Fotos von Lucy vor mir. Schläge, Elektroschocker, Zigarettenstummel … Gio hatte es mir mit dem Zeitungsbericht über Lucy an den Kopf geworfen. Hatte Lanfer auch Vivian so brutal gequält? Bisher hatte ich gedacht, sie wäre an einer Überdosis K.o.-Tropfen gestorben. Von einem Martyrium vor ihrem Tod hatte ich nichts geahnt.
»Bist du sicher?« Ich sah Gio flehentlich an. Bitte sag, dass das nicht wahr ist.
»Diego hatte sicherlich eine Menge üble Sachen auf seiner Liste, aber in diesem Fall war er vermutlich unbeteiligt.«
»Woher weißt du das alles?«
»Gründliche Recherche.« Der Tadel in seiner Stimme war nicht zu überhören. Auch wenn ich mit meinem Versuch, ihn zu vergiften, keinen Unschuldigen getroffen hätte, hatte Gio mit seiner Kritik sicherlich nicht unrecht. Ich versuchte erst gar nicht, mein Handeln zu rechtfertigen.
»Was ich nicht verstehe ist, warum du versucht hast, Wenner aus dem Weg zu räumen, wenn doch Diego dein eigentliches Ziel war?«
»Über Diego bin ich auf die Machenschaften von Wenner aufmerksam geworden. Er ist ein noch viel übleres Schwein als Diego. Spielt den biederen Geschäftsmann, aber weißt du, was in seinen Clubs mit den Mädchen gemacht wird?«
Gio nickte ernst. Natürlich wusste er es. Er hatte ja auch mit seinen Leuten in Wenners Milieu geschnüffelt.
Irgendwo klingelte mein Handy. Gio ging ins Schlafzimmer und kehrte mit dem Telefon zurück. Das Gespräch war bereits auf meinen Anrufbeantworter umgeleitet worden. Der Anrufer hatte keine Nachricht hinterlassen. Er hielt mir das Display hin. »Wessen Nummer ist das?«
Ich schwieg.
Er schnaubte ärgerlich. »Ich find’s auch so raus.« Das Handy verschwand in seiner Hosentasche.
»Das ist mein Telefon«, protestierte ich.
»Ich weiß.«
»Was soll der Scheiß? Vor zwanzig Minuten hast du gesagt, ich sei ein freier Mensch.«
»Bist du immer noch.« Er sah mich an, als warte er darauf, dass ich aufstehen und das Zimmer verlassen würde. Als ich sitzen blieb, nahm er das Handy wieder hervor. »Wer hat dich angerufen?«
Ich starrte ihn wütend an. Er drückte die Rückruftaste, stellte den Lautsprecher ein.
»Hey Süße, hab ich dich gew–«, erklang nach dem zweiten Klingeln Kais Stimme. Gio drückte das Gespräch weg.
»Der Türsteher. Hätte ich mir eigentlich denken können. Was hast du ihm von uns erzählt?«
»Nichts«, erwiderte ich grantig. Die Melodie meines Handys erklang erneut. Gio hielt mir das Telefon hin. »Für dich, Süße.« Er drückte auf die Taste, um das Gespräch entgegenzunehmen, und stellte den Lautsprecher wieder ein.
»Hey, Lilly, was isch’n da los bei dir?«, kam es verwirrt vom anderen Ende.
»’tschuldige. Ich ähm …«
»Pennst wohl noch, was?«
»Hm, ja …« Ich warf Gio einen finsteren Blick zu.
»Ich denke, ich habe die Infos, die du …«, berichtete Kai, im Hintergrund raschelte Papier.
»Nicht am Telefon«, unterbrach ich ihn schnell. »Können wir uns treffen?«
Zwischen Gios Augen erschien eine zornige Falte.
»Ich wollt’ jetzt erst mal ’ne Runde pennen, komm gerade erst vom Club.«
»Kein Problem … gleiche Zeit wie letztes Mal, Treffpunkt wie immer?«
Kai zögerte. »Alles klar bei dir, Süße?«
»Ja … ja, alles in Ordnung. Wir sehen uns.«
Gio drückte auf die rote Taste. »Was für Informationen?«
Ich sah ihn nur stumm an.
»Welche Zeit? Welcher Treffpunkt?«
Ich schwieg weiter.
Gios Faust landete krachend auf dem Küchentisch. »Verflucht noch mal, Kirstin, ich will dir helfen! Ich bin auf deiner Seite. Warum verstehst du das nicht endlich?«, schrie er mich an.
Unwillkürlich hatte ich schützend die Hände vor mein Gesicht gehoben, so, wie ich es als Kind getan hatte, wenn mein Vater betrunken auf mich einschlug. Die Wut über meine Hilflosigkeit ließ mir erneut die Tränen in die Augen schießen. Ich hörte Gios schweren Atem neben mir, ließ langsam die Arme wieder sinken. Ich zitterte innerlich, war erschrocken über meine plötzliche Angst vor Gio und verzweifelt über die ausweglose Situation, in die ich mich hineinmanövriert hatte. Ich sah ihn an, den Mann, den ich liebte, dem ich mich hingegeben hatte und der mein Vertrauen missbraucht hatte und mich einsperrte.
»Ich kann nicht mehr, Gio«, presste ich verzweifelt hervor. »Ich hab’s dir gestern schon gesagt. Ich pack das nicht mehr.« Ich stand auf.
»Kirstin …« Er wollte mich zurückhalten, ich wich ihm aus und verließ die Küche.
Ich ging ins Gästezimmer, suchte meine wenigen Kleidungsstücke zusammen. Ich hörte Gios Stimme aus dem Nebenzimmer, anscheinend telefonierte er. Ich versuchte gar nicht erst zu verstehen, über was und mit wem er sprach. Sorgfältig faltete ich meine T-Shirts und Jeans zusammen, wollte Ordnung schaffen, während in meinem Kopf ein heilloses Chaos herrschte. Geschirr klapperte in der Küche. Anscheinend räumte er die Spülmaschine ein. Dann erklangen Schritte aus dem Flur, kurz darauf stand Gio im Türrahmen. Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Zarge, verschränkte die Arme und beobachtete mich.
»Was hast du vor?«, hörte ich ihn fragen, als ich den Reißverschluss der Tasche zuzog. Die Wut aus seiner Stimme war verflogen.
Ich konnte ihn nicht ansehen, stand über meine Tasche gebeugt, so konzentriert, als wäre das Schließen eines Reißverschlusses eine Lebensaufgabe.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich ehrlich.
»Wenn …« Er räusperte sich. »Wenn ich dich bitte, nicht zu gehen, … würdest du bleiben?«
Ich richtete mich auf, sah in sein vertrautes Gesicht, das wenig von der Selbstsicherheit widerspiegelte, die er sonst an den Tag legte.
»Nicht, so lange ich nicht weiß, wer ihr seid.«
Er löste sich vom Türrahmen, kam in den Raum und setzte sich auf die Bettkante. Mit der Rechten klopfte er auf das Laken neben sich. Zögernd folgte ich seiner Aufforderung.
»Um dir deine größte Sorge zu nehmen: Wir sind keine Mafiaorganisation. Wir sind Profis auf unseren Gebieten. Dominik ist unser IT-Profi, ich mache Personenüberwachungen und bin der Spezialist für … hm … nennen wir es Hausdurchsuchungen – nur um ein paar Beispiele zu nennen. Aber wir sind weder bezahlte noch unbezahlte Killer. Bei uns gibt es keine Hinrichtungen oder Selbstjustiz.«
Er sah kurz zu mir, bevor er weitersprach. »Was wir wollen, ist Gerechtigkeit. Es laufen so viele Schweine herum, die Kinder und Frauen verprügeln, vergewaltigen oder zur Prostitution zwingen, gewissenlose Typen, die die Menschenrechte mit Füßen treten, und der Staat steht dem machtlos gegenüber. Aber da erzähle ich dir ja nichts Neues. Das Problem ist, dass es oft keine handfesten Beweise gibt. Die Polizei hat zu wenig Personal, Opfer werden eingeschüchtert, es wird bestochen und korrumpiert. Dagegen wollen wir etwas tun. Auf unsere Weise. Unsere Vorgehensweise ist in den seltensten Fällen legal und meistens auch ziemlich gefährlich für uns. Wir sammeln Informationen und Beweise gegen die Täter, damit sie zur Rechenschaft gezogen werden können. Diese Informationen spielen wir der Polizei zu, oder, wenn gar nichts hilft, auch mal der Presse. Wir sorgen dafür, dass die richtigen Informationen an die richtigen Leute kommen. Wir haben gute Kontakte zur Polizei und wissen, an welchen Fällen die sich gerade die Zähne ausbeißen. Und wenn wir können, dann helfen wir. Dann besorgen wir die Beweise, um die Täter dingfest zu machen. Wir hacken uns in deren Computer ein, durchforsten Datenbanken, wir schleusen unsere Leute in ihre Banden, und wenn es sein muss, setzen wir sie unter Druck.«
»Also seid ihr so etwas wie Vertrauensleute der Polizei«, resümierte ich.
»Wie man’s nimmt. Wir lassen uns nicht auf bestimmte Personen oder Fälle ansetzen. Wir arbeiten auf eigene Kosten, auf eigenes Risiko. Die Polizei kennt weder unsere Namen noch unsere Identitäten. Kevin ist eine Ausnahme. Er war schon bei uns, bevor er in den Polizeidienst ging. Wir nehmen kein Geld für unsere Arbeit, von niemandem. Ich sagte dir ja damals schon, wir arbeiten quasi ehrenamtlich.« Er rang sich ein mühsames Lächeln ab, das schnell wieder verschwand. »In unserer Organisation kann sich jeder hundertprozentig auf den anderen verlassen. Es gibt keine Alleingänge. Dieses unbedingte Vertrauen ist genauso überlebenswichtig wie die Schweigepflicht, von der ich dir schon erzählt habe. Und wir bringen niemanden um. Niemals.«
Ich versuchte zu erfassen, was Gio mir gerade erzählt hatte. Wäre es so gefährlich für ihn und seine Leute gewesen, wenn er mir diese Informationen schon früher gegeben hätte? Sie beschafften Informationen und Beweismaterial für die Polizei. Auf illegale Weise. Warum hatte er mir das nicht gesagt? Es hätte mir viele Ängste genommen, dessen war ich mir sicher.
»Aber du hast mir nicht vertraut.« Es war keine Frage. Es war eine bittere Erkenntnis aus den Erfahrungen der letzten Tage.
Er raufte sich durch die Haare, seufzte schwer. »Ich habe mir selbst nicht getraut. Meine Gefühle für dich … Ich war nicht objektiv und wusste einfach zu wenig über dich. Ich meine, du schießt kaltblütig auf einen Gangsterboss, steigst in ein Haus ein, um jemandem eine tödliche Droge in seinen Wodka zu mixen, und dann deine Mike-Hammer-Nummer in Hamburg! Da hast du mir richtig Angst gemacht.«
Im Stillen musste ich zugeben, dass es nicht sehr vertrauenerweckend klang, was er mir da über mich erzählte.
»Aber wenn ihr für die Polizei arbeitet, warum dann die Sorge, ich könnte bei denen über euch plaudern?«
»Wir arbeiten nicht für die Polizei. Wir helfen denen nur ein bisschen. Aber unser Weg ist nicht legal. Niemand, verstehst du, niemand darf etwas über uns erfahren. Das ist der einzige Schutz, den wir haben. Meinst du, die Polizei drückt ein Auge zu, wenn ich in irgendwelche Wohnungen einsteige oder wir uns in fremde Datenbanken einhacken?«
Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht.«
»Nein, das tun sie nicht. Außerdem findest du auch bei denen genug schwarze Schafe.«
Irgendwie erschien mir das Ganze paradox, aber so war wohl unsere Gesellschaft.
»Außerdem könntest du doch ebenso gut zu irgendeiner kriminellen Organisation gehören. Vielleicht sind wir irgendeinem Gangsterboss auf die Füße getreten, und der hat Wind von uns bekommen und dich auf uns angesetzt? Vielleicht bist du eine bezahlte Killerin?«
Ich warf ihm einen empörten Seitenblick zu. »Jetzt mach mal halblang. Im Übrigen habt ihr mich angesprochen und nicht umgekehrt.«
Gio nickte nachdenklich. »Jetzt weißt du, was wir tun. Ich konnte es dir nicht sagen. Ich dürfte es eigentlich auch jetzt nicht, es geht ja nicht nur um mich. Wenn ich mich blind ins Unglück stürze, ist das eine Sache, aber es stecken einfach so viele Menschen mit drin. Und du … du bist so unberechenbar. Auf der einen Seite so knallhart und brutal und dann wieder das eingeschüchterte Mädchen, das nachts bei mir in der Küche sitzt. Wir wissen nicht, wer du bist und wie du reagierst, wenn du richtig unter Druck gerätst.«
»Soll das ein Witz sein? Ich steh seit Wochen unter Dauerstress, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
»Doch, irgendwie schon«, versuchte er eine lockere Bemerkung.
Ich ging nicht darauf ein. Mir war nicht nach dummen Sprüchen.
Gio streckte sich, legte den Kopf in den Nacken. »Mein Bruder hat recht. Wenn es um eine Frau geht, setzt bei mir der Verstand irgendwie aus.«
»Hm«, machte ich und starrte auf meine Fußspitzen. Er hatte mir von der Organisation erzählt, und ich war genauso ratlos wie vorher.
»Die Geste …« Ich machte eine Faust, fuhr mit dem Daumen an der Kehle vorbei. »Tonys Geste damals bei dem ersten Treffen. Was hatte das zu bedeuten?«
»Das galt nicht dir … nicht direkt. Tony hat mir damit das Wort abgeschnitten. Du warst so flapsig. Er wollte verhindern, dass du noch mehr über uns erfährst.«
»Und die Nummer auf der Karte, die du mir damals gegeben hast? Ist das meine Aktennummer in eurer Mitgliedskartei?«
»Du hast es nicht bemerkt?«
»Was?«
»Dom ist echt gut.«
»Was?« Ich wurde schon wieder ungeduldig.
»In der Karte war ein Minisender. Wärst du damit zur Polizei gegangen oder zu wem auch immer, hätten wir das erkannt, und keiner von uns wäre in der Kneipe gewesen.«
»Du verarscht mich gerade, oder?«
»Du bist die IT-Fachfrau. Du solltest wissen, was heutzutage alles möglich ist.«
Ich strich mir erschöpft durch die Haare. Ich sollte so vieles wissen, aber ich hatte das Gefühl, nicht einen logischen Gedanken fassen zu können.
»Kirstin, bitte geh nicht. Ich will nicht, dass Lanfer dir das Gleiche antut, was er den anderen Frauen angetan hat. Lass dir von uns helfen.« Er unternahm erneut einen Versuch, mich in den Arm zu nehmen, aber ich wandte mich von ihm ab. Zu präsent war noch die Erinnerung an seine brutale Leibesvisitation. Ich schloss die Augen. »Ich bin so verflucht müde.«
»Du triffst dich im Rosensteinpark mit diesem Kai, oder?«
Ich fragte gar nicht erst, woher er von unserem Treffpunkt wusste, nickte stumm.
»Wann?«
»Um drei.«
»Dann hast du noch mindestens fünf Stunden Zeit, um dich auszuruhen.« Er stand auf. »Versuch, ein wenig zu schlafen.«
Ich zog mich aus und verkroch mich unter die Decke. Obwohl ich völlig erschöpft war, fand ich keinen Schlaf. Es war warm im Zimmer und dennoch fror ich. Ich starrte an die Decke des Gästezimmers, ließ meinen Blick über das Regal mit den ungelesenen Büchern und den Kleiderschrank gleiten, blieb an einem Bild mit einer südländischen Landschaft hängen. Wie war ich nur hierhergekommen?
In den ersten zwölf Lebensjahren hatte ich immer nur Angst vor meinem prügelnden und grapschenden Vater. Vielleicht hätte ich eine Chance gehabt, wenn ich in meiner Pflegefamilie hätte bleiben dürfen. Aber so musste ich mich gegen meinen Vater wehren, und leider wurde es nicht besser, nachdem es ihn nicht mehr gab. Ich war auf mich allein gestellt, trieb mich herum, begann zu stehlen.
Mit vierzehn stieg ich das erste Mal in eine fremde Wohnung ein. Ein Kinderspiel. Es war Sommer. Die Bewohnerin war zum Bäcker gegangen und hatte die Terrassentür offen gelassen. Ich spazierte einfach hinein und nahm mir, was ich wollte. Später lernte ich von einem Junkie, wie man mit einem Dietrich umgeht.
Ich hatte keine wahren Freunde. In der Schule war ich eine Außenseiterin, auf der Straße war sich jeder selbst der Nächste. Vielleicht ließ ich auch einfach niemanden an mich ran.
Erst mit Annabella wurde es etwas besser. Vor ihr hatte ich Respekt, und sie respektierte mich. Sie hat mich nie geschlagen, nicht einmal Prügel angedroht. Wir machten einen Deal. Sie ließ mich bei sich wohnen, und ich ging dafür wieder regelmäßig zur Schule. Ich musste eine Klasse wiederholen, schaffte es dann aber bis zum Abitur. Meiner Mutter drohte ich mit Schlägen, wenn sie mich von Annabella wegholen wollte.
Zum Abi schenkte mir Annabella das Ticket nach Denver. Sie wusste, dass ich nach Amerika wollte. Die USA erschienen mir damals wie das Paradies, der einzige Ort, an dem ich ohne meine verfluchte Vergangenheit ein neuer Mensch werden konnte. Bei unserem Abschied weinte Annabella. Es war das einzige Mal, dass ich sie weinen sah.
Zwei Jahre später stand ich wieder vor ihrer Tür. Sie fragte nichts, sondern half mir, eine kleine Wohnung zu finden, und überredete mich zu einem Studium an der Berufsakademie. Sie tat alles, um mich auf den richtigen Weg zu bringen. Und dann fand die Polizei Vivians Leiche.
»Ich habe ein paar meiner Leute im Park positioniert.« Gio hatte mich geweckt und nötigte mich, ein paar Spaghetti zu essen. Appetitlos stocherte ich im Essen herum.
Nachdem ich nicht auf seine Ansage reagierte, fügte er hinzu: »Ich werde dich begleiten.«
»Kai wird nicht begeistert sein, dich wiederzusehen«, erinnerte ich ihn an seine letzte Begegnung mit meinem Informanten.
»Ich halte mich im Hintergrund. Er wird mich gar nicht bemerken.«
Ich legte die Gabel zur Seite. »Aussichtslos zu sagen, dass ich allein gehen will, oder?«
Er zog mein Handy aus seiner Tasche und schob es über den Tisch. »Ja.«
![100645.jpg](/epubstore/S/B-Sybille/Das-recht-zu-toten-ein-stuttgart-thriller/OEBPS/Images/100645.jpg)
Letztendlich spielte es für mich keine Rolle, dass Gio mich nicht allein gehen ließ. Er wusste, dass Kai mein Informant war – was sonst hätte ich noch vor ihm verbergen sollen? Er begleitete mich bis zum Schloss Rosenstein und instruierte mich dabei, welchen Weg ich zurückgehen sollte. Als ich die letzten paar Meter ohne ihn durch den Park ging, fragte ich mich, hinter welchen der unauffälligen Gesichter seine Leute steckten. Ich fühlte mich von allen Seiten beobachtet.
Kai wartete bereits an unserem Treffpunkt. Er lag mit dem Rücken auf einer Steinbank und ließ sich von der Sonne wärmen. Das rote Muskelshirt brachte seinen solariumgebräunten, durchtrainierten Oberkörper zur Geltung. Um seinen Hals hing eine dünne goldene Kette mit einem Kreuz. Ich stellte mich so neben die Bank, dass mein Körper einen Schatten auf sein Gesicht warf. Er öffnete die Augen und lächelte mich an.
»Da biste ja, Süße.«
»Nenn mich nicht Süße«, bat ich ihn.
Er richtete sich auf. »Wie soll ich dich dann nennen? Lilly isch ja offensichtlich so falsch wie die blonden Haare.«
»Ich …« Sollte ich ihm meinen Namen verraten? Unsicher kaute ich an meiner Unterlippe. »Ich weiß es nicht.«
»Also bleibt’s bei ›Süße‹.« Er grinste breit und deutete mit einem Kopfnicken auf den Platz neben sich. Ich setzte mich.
»Du hast gesagt, du hast was für mich?«
»Immer so geschäftlich.« Er zog eine Packung Zigaretten hervor, hielt sie mir hin. Ich schüttelte den Kopf.
»Was’n los, Süße?«, fragte er, während er sich eine Zigarette anzündete. Er sah zu mir. »Entspann dich mal ein bissle. Du sitzt hier, als wärscht du auf der Flucht.«
Ich rang mir mühsam ein Lächeln ab. »Bin ich auch.«
»Hm.« Er nahm einen tiefen Lungenzug, blies den Qualm in die Luft. Mit der freien Hand griff er nach meiner. Im Reflex wollte ich die Hand zurückziehen, als ich merkte, dass er einen Zettel darin versteckt hielt. Er beugte sich zu meinem Ohr. »Das isch die aktuelle Adresse von deinem Freund und die Namen von ein paar Clubs, in denen er sich häufig rumtreibt.« Er hauchte mir einen Kuss zwischen Wange und Ohrläppchen, lehnte sich wieder zurück und rauchte.
»Kennst du einen Quirin?«, fragte er.
Mir blieb fast das Herz stehen. »Quirin?«
»So ein kleiner Typ, Hamburger Dialekt, gebrochene Nase, jede Menge Tattoos.«
»Was ist mit dem?«
»Hat sich gestern mit deinem Freund getroffen. Und weil doch letztens schon so’n paar Hamburger Schläger nach dir gesucht haben …«
»Scheiße«, entfuhr es mir. Ich starrte zum Himmel, atmete tief durch. Ich musste die Nerven behalten. Mir fiel siedend heiß ein, dass wir Quirins Vater versprochen hatten, dass ich die Anzeige gegen seine Leute zurückziehen würde.
»Hat der mit deinem Ärger zu tun?«, erkundigte sich Kai.
»Nein«, beeilte ich mich zu sagen. Ich stand auf.
»Ich kann den Zwerg mal a bissle aufmischen, wenn du …«
»Nein!« Das hätte mir gerade noch gefehlt. »Lass ihn in Ruhe.«
»Okay, okay.« Kai sah verwundert zu mir hoch. Ein paar graue Wolken zogen über unsere Köpfe hinweg. »Willsch’ schon gehen?«
Ich nickte.
»Kann ich noch was für dich tun?« Er schnippte die Zigarette in den Schotter.
»Nein, halt dich lieber aus der Geschichte raus.«
»Lanfer isch ’ne Ratte. Lass die Finger von dem.«
»Ich krieg das schon hin.« Ich versuchte zuversichtlich zu lächeln. »Danke, für deine Hilfe.«
Er erwiderte mein Lächeln, neigte den Kopf ein Stück zur Seite und tippte mit dem Zeigefinger auf seine frisch rasierte Wange. Ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen Kuss. Seine Haut roch nach Sonne und Moschus. Ich dachte an Gio, an den Abend, als er auf der Brücke dicht hinter mir gestanden hatte. Die Angst, die ich gehabt hatte und die seither ein ständig wiederkehrender Begleiter geworden war.
Kais Augen strahlten mich an. »Das isch ja mal ein Anfang, Süße.«
»Mach dir keine falschen Hoffnungen.«
Gio hatte mir gesagt, ich solle zügig wieder zurück zu seinem Wagen gehen, aber ich war zu aufgewühlt. Ich lief um das Schloss herum, hinter dessen Fenstern sich das Naturkundemuseum befand. Ob Gios Leute mich von dort aus beobachtet hatten? Ich blieb auf der Rückseite des Gebäudes stehen. Die Schläger aus seiner Truppe reichten Khan nicht. Jetzt hatte er seinen Sohn geschickt, und der war ganz bestimmt nicht gut auf mich zu sprechen.
»Lass uns gehen.«
Ich schrak zusammen, als ich Gios Stimme neben mir hörte. Er berührte meinen Ellenbogen und drängte mich vorwärts.
»Nette Nummer. Wie ’ne Nutte, die ihrem Zuhälter seinen Anteil bringt. Wir hätten dich besser stylen sollen«, kommentierte er mein Zusammentreffen mit Kai.
»Du hast immer so reizende Vergleiche für mich«, gab ich zurück. Von Mike Hammer zur Prostituierten. Vielleicht sollte ich ihm doch wieder erlauben, mich bella zu nennen, dachte ich missmutig.
»Lanfers Adresse hätte ich dir auch geben können.«
Ich blieb stehen. »Woher weißt du …«
Gio stoppte ebenfalls und drehte sich zu mir um. »Was denkst du wohl? Können wir bitte weitergehen?«
Er setzte sich wieder in Bewegung.
»Was ist mit Quirin? Wir haben …«
»Ist längst schon erledigt.«
Ich lief hinter ihm her. »Was heißt das?«
»Dass ich mich drum gekümmert habe. Offiziell haben wir einen Vergleich ausgehandelt. Komm jetzt. Da zieht ein Gewitter auf.« Er deutete zum Himmel, an dem sich mittlerweile dicke Regenwolken zusammengeschoben hatten.
Schweigend gingen wir zu seinem Wagen. Einzelne schwere Regentropfen klatschten bereits vor uns auf den Weg. Das gewittrige Licht gab der Umgebung eine unwirkliche Schärfe. In der Ferne grollte der erste Donner.
Gio hatte den Wagen in einer Seitenstraße geparkt. Er ging zur Beifahrertür, blieb vor mir stehen.
Ich sah zu ihm auf, entdeckte einen kleinen Sender in seinem linken Ohr. »Du hast mein Handy verwanzt, oder?«
Auf seinem Gesicht erschien ein leichtes Lächeln, das an einen Lausbuben erinnerte, der verbotenerweise vom Plätzchenteig genascht hatte. »Vielleicht.«
Ich mochte dieses Lächeln, spürte kleine Schmetterlinge in meinem Bauch, die mit leichtem Flügelschlag einen Flugversuch starteten.
Er strich zärtlich über meine Wange. Dieses Mal stieß ich ihn nicht zurück. Sein Blick veränderte sich, wurde weicher, zärtlicher.
»Sei bellissima«, flüsterte er mir zu. Ich sah ihm in die Augen und war mir nicht sicher, ob es die Spannung zwischen uns war oder die von Elektrizität geladene Gewitterluft, die mir den Atem nahm. Über uns ertönte ein lauter Donnerschlag.
Im gleichen Augenblick fand ich mich auf dem Boden wieder. Gio lag über mir. Die Arme hatte er schützend um meinen Kopf gelegt. Um uns herum hörte ich aufgeregte Stimmen, gleichzeitig das Aufheulen eines Motors und das Quietschen von Reifen.
»Merda!« Er richtete sich auf, setzte sich mit dem Rücken gegen das Hinterrad auf den Boden und zog mich dicht an sich.
»Was ist passiert?«
»Er hat auf dich geschossen.«
»Was?« Ich hatte keinen Schuss gehört. Aber es war auch alles so schnell gegangen. Er musste einen Schalldämpfer benutzt haben. Oder war es kein Donner gewesen, den ich gehört hatte?
Gio schob den zerfetzten Ärmel seines T-Shirts hoch. Ein blutiger Kratzer war auf seinem Oberarm. Die Kugel hatte ihn gestreift. Er schloss die Augen und stieß geräuschvoll die Luft aus den Lungen. »Wenigstens hat er das Tattoo nicht getroffen.«
Seine Sorgen wollte ich haben! »Ist er da noch irgendwo?« Ich wagte nicht, um das schützende Auto herum zu gucken.
»Dom?«, erwiderte Gio statt einer Antwort. Er lauschte auf den Sender in seinem Ohr, sah zur Seite, wenige Sekunden später stand Dominik vor uns.
»Nice to see you again«, begrüßte er mich und streckte mir die Hand entgegen.
»Woher wusste er, wo er dich finden kann?«, überlegte Gio laut. Wir saßen in seinem Wohnzimmer. Ich hatte mich auf das Sofa verkrümelt, während Dominik und Gio in den Sesseln mir gegenüber Platz genommen hatten.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er dein Haus beobachtet und uns dann verfolgt?«, mutmaßte ich.
»Nein, das hätte ich bemerkt.«
Dominik sah mich nachdenklich an. »What happened to your face?«
»Was meinst du?« Ich tastete über mein Gesicht.
»Die Verletzung auf deiner Wange. Die ist nicht von vorhin.«
Ich spürte die Kratzer, die Lanfers Schläge hinterlassen hatten, unter meinen Fingern. Das Blut stieg mir ins Gesicht. Gios Augen waren abwartend auf mich gerichtet. Ihm hatte ich die Antwort auf diese Frage bisher verweigert.
»Ich … ähm …« Nur ungern wollte ich meine Nachlässigkeit vom Vortag zugeben und war versucht, den beiden Männern ein Märchen aufzutischen. Andererseits war es vielleicht nicht ganz unwesentlich, dass Lanfer mich gute vierundzwanzig Stunden zuvor schon einmal beinahe erwischt hatte. Mir wurde heiß. Zweimal hatte Lanfer mir aufgelauert, und jedes Mal hatte ich mich kurz zuvor mit meinem Informanten getroffen. Die Begegnung in der U-Bahn war kein Zufall.
»Don’t be shy«, ermunterte Dominik mich zu reden.
Stammelnd erzählte ich von der Begegnung in der U-Bahn, während Gios Blick sich mit jedem Wort, das ich sagte, mehr verdunkelte.
»Es wäre schön gewesen, wenn du mir von dieser Begegnung etwas früher erzählt hättest«, kam es ungehalten von ihm, nachdem ich geendet hatte.
»Kai würde mich niemals verraten«, versuchte ich eine schwache Verteidigung.
»Er muss dich auch nicht verraten. Dein süßer Kai ist nämlich kein Meisterschnüffler, sondern Türsteher und der Mann fürs Grobe. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie unauffällig er sich nach Lanfer umgehört hat. Lanfer kriegt das mit und fragt sich, wer denn wohl dahintersteckt. Also klemmt er sich an Kais Fersen. Und schon bekommt er dich auf dem Silbertablett serviert. Und dieser simple Trick funktioniert sogar gleich zwei Mal direkt hintereinander. Bravo.« Gio klatschte beifällig in die Hände.
»Kannst du dir deinen Scheiß-Sarkasmus mal sparen?«, fuhr ich ihn an. »Ich hab mittlerweile kapiert, dass du der einzige Übermensch auf dieser Welt bist, der immer alles richtig macht. Sorry, kann nicht jeder so perfekt sein, wie du.«
Gio öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen. Wutschnaubend starrten wir uns an.
Dominiks Blick wanderte abwartend zwischen uns hin und her.
»Well …« Er räusperte sich. »What about coffee?«
Gio beendete unseren stummen Kampf und sah zu ihm. »Ja, keine schlechte Idee.« Er stand auf und ging in die Küche.
Dominiks Augen waren bei mir hängen geblieben und taxierten mich. Ich versuchte, ihm standzuhalten und musterte ihn ebenso. Wie bei unserer ersten Begegnung trug er einen gut sitzenden grauen Anzug. Die Anzugjacke hatte er bei unserer Ankunft in Gios Wohnung über die Rücklehne eines Stuhls am Esstisch gehängt und die Ärmel des Hemdes hochgekrempelt. Sie gaben den Blick auf zwei gut trainierte, sehnige Unterarme frei.
Er machte einen entspannten Eindruck, aber sein Blick war hellwach, schien jede Regung in meinem Gesicht wahrzunehmen. Ich fragte mich, was in seinem Kopf vorging. Wer war dieser Mann? Ein Spion, war mir damals in den Sinn gekommen, und so intensiv, wie er mich gerade beobachtete, hatte ich das Gefühl, mit dieser Vermutung nicht ganz falsch zu liegen.
»Warum bist du hier? Ich dachte, du lebst in Manchester?«, fragte ich, um sein wortloses Taxieren zu durchbrechen.
»Leben ist zu viel gesagt. Ich arbeite zurzeit in Manchester.«
»Aha. Und wo lebst du?«
»Mal hier, mal da.«
Ich stöhnte innerlich auf. Noch so einer, der keine Frage konkret beantworten konnte. »Warum bist du jetzt hier?«
»Gio rief mich vor zwei Tagen an, weil er ein Schäfchen verloren hatte.« Er deutete ein schiefes Lächeln an.
»Und das Schaf bin ich, ja?« Seinen Vergleich fand ich überhaupt nicht lustig.
»So, wie du es sagst, klingt es irgendwie negativ.«
Ich schnaufte abfällig.
»Darling«, Dominik beugte sich vor, stützte die Unterarme auf seine Oberschenkel, seine Augen noch immer aufmerksam auf mich gerichtet. »Gio ist nicht perfekt. Niemand ist perfekt. Und ich finde, du hältst dich recht gut dafür, dass man gerade auf dich geschossen hat.«
Ich hatte den Gedanken an den Schuss verdrängt. Im Nachhinein erschien es mir so irreal, als hätte ich es nicht wirklich erlebt. Ich hatte den Schuss ja nicht einmal gehört, und er hatte auch nicht mich getroffen, sondern Gio. Kam das daher, weil er mich zu Boden gerissen hatte? Oder war Lanfer ein solch schlechter Schütze?
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte ich und stellte ärgerlich fest, dass meine Stimme unsicher klang. Warum ließ ich mich von ihm einschüchtern? Noch vor kurzem hatte ich ihn sehr sympathisch gefunden. Er war ein Wahnsinns-Computergenie. Es hatte Spaß gemacht, mit ihm zusammenzuarbeiten.
»Warum hat er Gio getroffen und nicht dich?«
Der Blick, mit dem er mich dabei bedachte, ließ mich schwindelig werden.
»Du …« Ich blinzelte, um den Schreck aus meinem Gesicht zu vertreiben. »Du denkst doch nicht etwa, ich … dass das alles …«
Er zuckte kaum merklich mit den Augenbrauen.
»Sag mal, spinnst du denn total?«, schrie ich ihn an.
»Was ist denn jetzt los?« Gio kam herein, stellte Espresso und Cappuccino auf den Tisch.
Dominik sah mich mit regloser Miene an. »Well, maybe no more coffee for the lady.«
Ich stieß die Luft durch die Nase, wie ein feuerspeiender Drache. Nur mit Mühe hielt ich mich davon ab, ihm das Tablett samt Heißgetränken um die Ohren zu schlagen. Es war unglaublich, was Dominik mir stillschweigend vorwarf.
»Er denkt, ich habe das Ganze inszeniert, um dich erschießen zu lassen«, klärte ich Gio auf.
»Das habe ich so nicht gesagt«, kam es von Dominik. Noch immer glich sein Gesicht einer undurchdringlichen Maske.
Gios Mundwinkel schoben sich zu einem ungläubigem Staunen nach oben. »O-kay.« Er ließ sich in den Sessel fallen. »Dom, nenn mir einen einzigen Grund, warum sie das tun sollte.«
Er zuckte die Achseln. »Du kennst sie besser als ich.«
»Ganz genau, und es gibt keinen Grund. Lanfer ist nervös. Die Aktion heute war unüberlegt. Ich glaube nicht einmal, dass er den Schuss wirklich geplant hatte. Es war viel zu riskant und dilettantisch.«
»Immerhin hat er dich beinahe getroffen.«
Gio schüttelte den Kopf. »Nein, mein Freund, mit dieser These bist du wirklich komplett auf dem Holzweg.«
Dominik hob entschuldigend beide Hände in meine Richtung. »Sorry.«
»Das kannst du dir sonst wohin stecken«, erwiderte ich zornig.
Die Türklingel unterbrach uns. Gio erhob sich wieder, klopfte Dominik im Vorübergehen auf die Schulter. »Da hast du was gutzumachen. Sie ist ziemlich nachtragend.«
Ich vermied es, Dominik anzusehen, brütete stumm vor mich hin. Warum hatte der Schuss Gio getroffen und nicht mich? Vielleicht war seine Frage nicht ganz unberechtigt? Was wäre passiert, wenn Gio nicht über Funk mit seinen Leuten in Kontakt gewesen wäre? Wenn Dominik ihm nicht rechtzeitig ins Ohr gebrüllt hätte, wir sollten in Deckung gehen, als er den Mann in dem dunklen MX5 entdeckte? Der Gedanke, dass die Situation ganz anders hätte enden können, schnürte mir die Kehle zu.
»Tag zusammen«, begrüßte uns Tony. Er blieb im Raum stehen, hielt Gio zurück, der sich wieder zu uns setzen wollte. »Zeig mal deinen Arm.«
»Wozu? Alles in Ordnung«, wehrte dieser ab.
»Ich will mir die Wunde ansehen.«
»Da ist schon Jod drauf und ein Pflaster.«
»Bin ich der Arzt oder du? Ich will mir das angucken. Nicht dass es sich noch entzündet. Hemd aus und hinsetzen.« Er deutete auf einen Stuhl am Esstisch.
»Versau mir nicht mein Jackett«, mahnte Dominik.
Widerwillig gehorchte Gio. Tony begutachtete die Wunde, tupfte hier und da ein wenig herum und legte einen Wundverband an.
»Du hast Glück gehabt. Ist wirklich nur ein Streifschuss gewesen.«
Gio zog sein Hemd wieder an.
»Okay, und jetzt zu dir«, wandte Tony sich an mich. »Schön dich lebendig wiederzusehen.«
»Sehr witzig«, entgegnete ich gereizt.
»Das meinte ich ernst. Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Fragt sich nur, um wen, dachte ich noch immer misstrauisch.
»Komm her, setz dich da hin.«
»Wozu? Mir ist nichts passiert.«
»Auf dich wurde geschossen, du stehst unter Schock.«
»Steh ich nicht.«
»Kirstin, bitte, hättest du die außerordentliche Freundlichkeit, einfach mal das zu tun, um was man dich bittet?« Tony schob den Stuhl ein Stück vom Tisch zurück und wies mit einer einladenden Geste auf die Sitzfläche.
Widerstrebend gab ich seiner Aufforderung nach.
Dominiks Augen verfolgten mich. »Dass man immer erst mit ihr diskutieren muss, macht die Zusammenarbeit ein bisschen anstrengend.«
Tony leuchtete mir in die Augen, fühlte meinen Puls. »Ist dir kalt?«
»Nein.«
»Du hast eiskalte Finger. Streck mal die Arme vor.«
Ich gehorchte, sah auf meine zitternden Hände und ließ die Arme schnell wieder sinken.
»Normalerweise würde ich dir jetzt was zur Beruhigung geben …«
»Nein! Es geht mir gut.« Das fehlte mir jetzt noch, dass er mir eine seiner Wunderspritzen gab und ich mich nach dem Aufwachen im dezenten Baumwollnachthemd im Krankenhaus wiederfand.
»Ich hab sie gerade ein bisschen geärgert«, kam es vom Sessel.
Ich knabberte an meiner Unterlippe, versuchte die Gedanken zu sortieren, die mir vor wenigen Minuten gekommen waren. »Vielleicht hast du nicht ganz so unrecht«, begann ich zögernd.
Der spöttische Ausdruck auf Dominiks Gesicht verschwand. Auch die anderen beiden Männer sahen mich aufmerksam an.
»Die Nachricht, die Lanfer mir hinterlassen hat. Gio, erinnerst du dich?«
»Unvergessen, mein Mitarbeiter hat heute noch Herzrhythmusstörungen, so sehr hast du ihn …« Als er meinen Blick sah, hob er beschwichtigend die Hände. »War nur ein Spaß.«
»Ganz genau. Spaß. Lanfer will ›Spaß‹ mit mir haben. Den hätte er nicht, wenn er mich einfach erschießt.«
»Vielleicht hat er keine Geduld mehr gehabt?«
Ich sah Gio an. »Vielleicht hatte er es aber auch tatsächlich auf dich abgesehen. Das hatte er bei seinem Anruf nämlich ebenfalls angedroht. Er hat nicht nur davon gesprochen, dass er mich töten will.«
Gio rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Dann hättest du dich also besser auf mich gestürzt.« Er warf mir ein schiefes Lächeln zu, und ich fragte mich, ob der Gedanke ihn erschreckte, dass Lanfer möglicherweise versucht hatte, ihn zu erschießen.
»The bodyguard needs a bodyguard«, kommentierte Dominik meine Erkenntnis.
Wir saßen um den Esstisch herum. Dominik hatte ein Laptop vor sich aufgebaut, während Gio unsere gesammelten Informationen stichpunktartig auf einem Block notierte. Die Kaffeetassen waren durch Wassergläser ersetzt worden, in der Küche stapelte sich das Geschirr vom Abendessen. Es war spät geworden.
»Dann fasse ich mal zusammen.« Gio streckte sich müde.
»Wait.« Dominik stand auf. »I need a Scotch. Anyone else?«
Tony hob ablehnend die Hand. »Nein, danke. Ich muss noch fahren.«
Dominik nahm den Macallan und drei Gläser aus Gios Schrank, goss ein und prostete uns zu. Ich nippte an dem Getränk. Die Flüssigkeit hinterließ ein wärmendes Brennen in meiner Kehle. Ich trank selten Alkohol und Whisky mochte ich eigentlich nicht. Er war mir zu stark. Aber nach diesem Tag tat er mir gut.
»Wir haben nicht viel«, begann Gio. »Da ist der Überfall auf Kirstin in der U-Bahn. Vielleicht gibt es Videoaufzeichnungen oder Zeugen, aber in den Knast wandert er dafür nicht. Dass er Diego Zachewskij getötet hat, wird ihm schwer nachzuweisen sein. Wir bräuchten eine Exhumierung des Leichnams, und dafür benötigten wir Beweise, dass Diegos Tod kein selbst verschuldeter Drogentod war. Das bringt uns also auch nicht weiter.
Dann sind da noch die beiden Frauen, Katinka alias Lucy und Vivian. Alles deutet darauf hin, dass es Lanfer war. Die Art und Weise, wie die Frauen misshandelt wurden, trägt seine Handschrift, und wir haben die Computerausdrucke der Bilder von Lucy, die er Kirstin geschickt hat.«
Dominik spielte gedankenverloren mit dem Glas in seiner Hand. »Da können wir ansetzen …«, sagte er schließlich. »Er muss die Bilder irgendwo gespeichert haben, Handy, Fotoapparat, USB-Stick, Festplatte. Irgendwo. Selbst wenn er die Bilder gelöscht hat, könnte es möglich sein, noch etwas zu finden. Obwohl ich Zweifel habe, dass er die Bilder tatsächlich komplett gelöscht hat. Nachdem, was ihr über Lanfer erzählt habt, ist er … sagen wir, ein wenig psychopathisch. He needs a Trophy, etwas, was ihn an seinen Kick erinnert. Und diese Trophäe werden wir finden.« Er wandte sich an Gio. »Wir haben Lanfers aktuelle Adresse?«
»Ja.«
»Kannst du einen Einstieg vorbereiten?«
»Sollte kein Problem sein.«
Dominik klappte seinen Laptop zu und klopfte mit den Fingern darauf. »Ich werde sehen, was ich sonst noch so über unseren Freund herausfinden kann.« Er machte eine kurze Pause und sah zu mir. »Ich könnte Hilfe gebrauchen.«
»Jetzt noch?«, fragte ich. Es war nach Mitternacht, und die Müdigkeit steckte nicht nur mir in den Knochen. Außerdem war ich immer noch sauer über seine unausgesprochene Verdächtigung.
»Morgen früh.« Er stand auf. Gio und Tony folgten.
»Ich bringe euch noch runter«, sagte Gio. »Kann ein paar Minuten dauern«, fügte er an mich gerichtet hinzu.
Ich war müde, aber mir ging noch so viel durch den Kopf, dass auf Schlaf nicht zu hoffen war. Während Gio die beiden Männer ins Treppenhaus begleitete, nahm ich mein Glas und die Whiskyflasche und verzog mich auf das Sofa. »Kann ein paar Minuten dauern.« Was hatte er mit den beiden zu besprechen, was ich nicht hören durfte?
Um mich abzulenken, schaltete ich den Fernseher ein, zappte durch die Programme, nippte hin und wieder an meinem Glas. Als Gio nach einer Viertelstunde immer noch nicht zurück war, stieg in mir der Ärger hoch. Wo blieb er so lange? Dominiks Verdächtigung kam mir wieder in den Sinn. Kurz überlegte ich, den Männern zu folgen. Aber wie ich Gio kannte, hatte er irgendeine Vorrichtung getroffen, die ihn umgehend informieren würde, wenn ich seine Wohnung verließ. Missmutig leerte ich das Glas und goss mir gleich noch einmal nach.
Auf einem Sender hatte gerade ein alter Western begonnen. Ich sah die Prärie, die Pferde, eine friedliche Weite und sehnte mich zurück nach der Geborgenheit, die Neil mir damals gegeben hatte. Aber die Geschichte mit Neil war vorbei. Und Gio? Gab es für uns eine zweite Chance? Jeder zärtliche Blick von ihm, jede zufällige Berührung ging mir unter die Haut. Aber da war noch immer die Wut und die Enttäuschung über das, was er getan hatte. Der dritte Whisky verschwand in meinem Rachen.