Gio übernahm das Steuer und fuhr auf die Autobahn Richtung Lübeck.
»Gruß von meinem Papa.«
»Hat er dich gerade angerufen?«
»Ja, ich hatte heute Nacht noch mit ihm telefoniert. Er hat uns einen Kontakt in Lübeck aufgetrieben, der uns weiterhelfen kann.« Irgendetwas an der Art, wie Gio mir diese Information gab, verriet mir, dass er von dem bevorstehendem Treffen nicht besonders angetan war.
»Und wer ist es?«
»Jemand, den man besser nicht zum Feind hat«, war die einzige Antwort, die ich aus ihm herauskitzeln konnte.
Aufgrund des dichten Stadtverkehrs benötigten wir zwei Stunden bis ans Ziel unserer Reise, ein italienisches Restaurant – was auch sonst. Es war bereits Mittagszeit und gut besucht. Gio ging zu einem kleinen Mann, der rauchend an der Theke saß und sich mit einem der Kellner unterhielt. Anscheinend war das allgemeine Rauchverbot nicht in diese italienische Enklave vorgedrungen. Gio wechselte leise ein paar Worte mit dem Mann, dann wandte er sich wieder mir zu.
»Wir müssen warten. Hast du noch Hunger?«
»Nach dem opulenten Frühstück, nur geringfügig.«
Gio gab dem Kellner ein Zeichen, und er fand für uns noch einen freien Tisch.
»Du hättest ruhig etwas freundlicher zu Cynthia sein können. Sie hat auch schon einiges durchgemacht in ihrem Leben.«
»Nimm sie ruhig in Schutz, deine Cynthia.«
»Du bist eifersüchtig.«
»Nein, bin ich nicht. Können wir bitte das Thema wechseln?«
Ich hatte ziemlich großen Hunger, und zum Glück mussten wir nicht lange auf unsere Pizza warten. Als wir beim Espresso angekommen waren, setzte sich ein älterer Herr zu uns an den Tisch. Zeitgleich platzierten sich zwei junge Männer, die nach täglichem Training im Fitness-Studio aussahen, an unseren Nachbartisch. Der Alte trug einen edlen Anzug, dunkelblau mit feinen hellblauen Streifen. Die grauen Haare waren nach hinten gekämmt. Ein klobiger, goldener Ring zierte den kleinen Finger seiner rechten Hand.
»Giorgio. Ich habe dich lange nicht gesehen.«
»Signore.« Gio deutete ein Nicken an.
»Du siehst deinem Vater immer ähnlicher.«
Der Alte sah ihm intensiv ins Gesicht, als prüfe er die Wahrheit seiner Aussage. Dann wandte er sich mir zu: »Und du bist das Mädchen, das Khan verärgert hat.«
Ein kluger Mann! Ich nickte ernst, wie ich es bei Gio beobachtet hatte, konnte mich aber nicht zu einem ehrfurchtsvollen »Signore« überwinden. Kurz fragte ich mich, ob ein Lächeln vielleicht angebracht gewesen wäre.
Der Kellner kam und servierte einen weiteren Espresso. Der alte Herr rührte bedächtig Zucker hinein, betrachtete den kleinen Strudel, den er durch die Kreisbewegung verursacht hatte, und leerte schließlich in aller Ruhe seine Tasse ohne ein weiteres Wort. Musste dieses ganze Theater sein? Warum kam er nicht einfach zur Sache? Gio schien derartige Szenarien gewohnt zu sein. Er sah aus dem Fenster, nahm einen Schluck seines Heißgetränks und wartete geduldig.
Der Mann winkte dem Kellner und ließ sich eine Zigarre bringen. Verdammt noch mal, wir haben ein allgemeines Rauchverbot sowohl in Deutschlands als auch in Italiens Gaststätten! Ich hasste Zigarrenqualm und wedelte mit der Hand in der Luft, um den Rauch zu vertreiben, der, einem unbekannten Gesetz folgend, immer in meine Richtung zog. Gio trat mir unterm Tisch vors Schienbein.
»Au.« Ich funkelte ihn böse an. Er antwortete mit einem liebevollen Lächeln. Auf dem Gesicht des alten Mannes bemerkte ich ebenfalls ein leichtes Schmunzeln, das aber sofort wieder verschwand. Er nahm noch einen weiteren Zug von seiner Zigarre, blies den Qualm in die entgegengesetzte Richtung.
Endlich entschloss er sich zu reden – auf Italienisch. Er sah mich die ganze Zeit an, und ich fragte mich, was er mir gerade erzählte. Ich konnte es nicht einmal ansatzweise erraten, wagte aber nicht, seinen Redefluss zu unterbrechen. Nachdem er fertig war, schien er eine Antwort von mir zu erwarten. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Gio mit Mühe ein hämisches Grinsen unterdrückte.
»Ich verstehe kein Italienisch.« Entschuldigend hob ich die Schultern.
Er sah mich an, dann Gio. Gio sagte ein paar Sätze in seiner Muttersprache zu ihm, und der alte Mann begann schallend zu lachen. Na toll, macht ruhig eure Späße auf meine Kosten!
»Ich habe ihm gesagt, dass ich dir nachher alles erzählen werde.«
Und das war so lustig? »Wieso nachher, warum nicht jetzt?«
Natürlich erhielt ich keine Antwort. Die beiden Männer unterhielten sich weiter in ihrer Sprache. Ich lauschte eine halbe Stunde den fremden Klängen und fand die ganze Aktion nicht besonders fair, auch wenn ich zugeben musste, dass mir die Sprachmelodie gefiel. Der alte Mann lachte zwischendurch immer mal wieder, und auch Gio schien sich zu entspannen. Das musste ja ein nettes Gespräch sein. Am Ende gab es eine Runde Ramazotti.
»Grüße deinen Vater von mir, Giorgio. Und Signorina«, er sah freundlich in meine Richtung, unzählige Fältchen bildeten sich um seine Augen, als hätte er viel Freude in seinem Leben: »Du musst Italienisch lernen.«
Aber sicher doch. Ich hab ja auch sonst nichts zu tun! Ich lächelte freundlich zurück und trank den Ramazotti auf Ex.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich Gio, als wir auf dem Weg zu seinem Wagen waren.
»Dass du eine tapfere, temperamentvolle Signorina bist.«
»Prima, und was noch?«
»Dass ich dich besser erziehen soll, du zu respektlos bist und lernen musst, auf mich zu hören.«
»Erzähl keine Märchen! Was hat er gesagt?«
Er zog mich zu sich und gab mir einen Kuss.
Gio küsste mich erneut. Ich stemmte meine Hände gegen seine Brust. »Was hat er gesagt?«
»Diego Zachewskij war der Sohn eines sehr reichen Hamburger Industriellen. Karl Zachewskij. Und der ist nicht sehr glücklich über den Tod seines Sohnes. Nachdem es Gerüchte gab, dass es kein Drogenunfall war, heuerte er Khan an, um Diegos Mörder zu finden und zu töten.«
Ich fragte mich, ob das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht für uns war. Immerhin war Diego nicht Khans Sohn. Ich beschloss, dass es eine gute Nachricht war.
»Und was war daran jetzt so lustig?«
»Nun, dein Auftritt von heute Nacht hat sich bereits herumgesprochen. Er wollte von mir hören, ob du tatsächlich einen Mann k.o. geschlagen hast. Es war eine Beleidigung für Khan und noch mehr für seinen Sohn Quirin.«
»Fragt sich nur, ob der auch so herzlich darüber lachen kann.« Mein Optimismus sank schon wieder.
»Aber du hast Quirin nicht getötet, obwohl du die Gelegenheit hattest. Darum schuldet dir Khan jetzt etwas.«
»Im Ernst?«
»Ja, wenn er ein Ehrenmann ist.«
»Na, das wollen wir doch schwer hoffen.«
»Es gibt nicht mehr viele sogenannte Ehrenmänner, aber Khan gehört wohl noch zur alten Garde. Wir werden uns mit ihm treffen. Paolo, der Mann, mit dem wir gerade gesprochen haben, arrangiert das Treffen und stellt uns zwei Männer zur Seite.«
Ich sah Gio nachdenklich an. »Wer ist dieser Paolo?«
Er strich mir zärtlich durch die Haare, die Lockerheit, mit der er zuvor gesprochen hatte, verflüchtigte sich. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, vielleicht sogar ein wenig bitter. »Das erzähle ich dir, wenn du Italienisch gelernt hast.« Er küsste sanft meine Stirn.
Inzwischen kannte ich Gio gut genug, um zu wissen, dass er mir jetzt und hier meine Frage nicht beantworten würde.
Wir fuhren zurück nach Hamburg. Sehr zu meinem Leidwesen nicht ins Hotel, sondern zu Cynthias Prachtvilla. Ich bemühte mich um ein freundliches Gesicht bei unserer Ankunft. Wir setzten uns in den Garten, und während Gio sie nach Karl Zachewskij befragte, kämpfte ich gegen meine Müdigkeit. Cynthia bemerkte es.
»Du kannst dich gern ins Gästezimmer zurückziehen, wenn du dich etwas ausruhen möchtest.«
Obwohl ich Gio ungern mit ihr allein ließ, nahm ich die Einladung an und stieg die Stufen zum Gästezimmer hinauf. So musste ich ihr wenigstens nicht höflich lächelnd ins Gesicht schauen. Die Luft im Raum war stickig, sodass ich das Fenster öffnete, dann verkroch ich mich unter die Decke. Von unten drangen ein paar Gesprächsfetzen zwischen Gio und Cynthia zu mir herauf.
»Was habt ihr jetzt vor?«
»Wir werden uns mit Khan treffen.«
Cynthia schwieg.
»Warum hast du zugelassen, dass sie gestern Abend dazukam?«
»Was hätte ich denn tun sollen? Sie rief mich an und … Ach Gio, du kennst sie besser als ich.«
»Die Nummer, die ihr da letzte Nacht abgezogen habt, war total verrückt!«
»Es war nicht meine Idee«, sagte Cynthia.
»Die hätten ihr vor meinen Augen sonst etwas antun können. Ich will das nicht noch einmal erleben. Verdammt noch mal, du hättest sie zurückhalten müssen.«
»Ich habe es doch versucht, aber ich …« Cynthias Stimme brach. Stühle wurden gerückt.
»Scusa, verzeih, Cynthia …«
Ich verstand nicht, was er zu ihr sagte, und musste mich zwingen, im Bett zu bleiben. Weinte Cynthia? Hielt er sie jetzt gerade in den Armen, um sie zu trösten?
»Ich weiß nicht, ob das alles richtig ist, was du machst, Gio«, hörte ich Cynthia einige Minuten später wieder etwas ruhiger sagen. »Sie ist so impulsiv … und so abweisend.«
»Sie ist ein bisschen ruppig, das ist einfach ihre Art.«
Meine Art? Man hatte einen Killer auf mich angesetzt, da durfte ich doch wohl mal ein bisschen ungehalten sein, wenn etwas schiefging!
»Du bist in sie verliebt, oder?«
Ich spitzte meine Ohren, aber er ging nicht auf ihre Frage ein.
»Tony ist ziemlich sauer, dass du sie reingeholt hast«, fuhr Cynthia fort, nachdem sie keine Antwort erhielt.
»Du hast mit ihm gesprochen?«, wunderte sich Gio.
»Er sagt, du bist nicht objektiv. Wir wissen nicht genug über sie.«
Sie wissen nicht genug über mich? Sie hatten mein Leben komplett durchleuchtet! Was interessierte die noch? Ob ich mir mit zwei oder drei Lagen Klopapier den Hintern abputzte? In mir stieg bereits wieder ein leichter Groll auf.
»Tony meint, du hast sie zu früh …«
»Denkst du, sein Plan war besser?«, unterbrach Gio sie gereizt.
»Vielleicht … ich weiß es nicht. Du hast dich schon einmal in einer Frau geirrt.« Sie sagte es vorsichtig, doch ihre Stimme klang unerwartet hart.
»Vergleich sie nicht mit ihr.«
Es entstand eine längere Pause, währenddessen ich erfolglos versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, was ich gehört hatte.
»Ich hoffe für uns alle, dass du dich nicht irrst«, durchbrach Cynthia irgendwann die Stille.
»Bitte versuch etwas über diesen Zachewskij herauszufinden«, wechselte Gio das Thema. »Ich muss alles über ihn wissen. Ist er in irgendwelche dubiosen Geschäfte verwickelt? Hat er Schulden? Hat er Schwächen? Einfach alles.«
Na prima, Super-Cynthia traute mir genauso wenig wie ich ihr, und nun hatte sie wieder einen Auftrag. Welche Schwierigkeiten kamen als nächstes auf uns zu? Ich rollte mich auf die Seite und zog das Kissen über meinen Kopf. Warum konnte ich nicht einfach einschlafen, und wenn ich wieder erwachte, war der ganze Albtraum vorbei?
Gio weckte mich wenige Stunden später aus dem Tiefschlaf.
»Heute Abend um zehn treffen wir uns mit Khan.«
Dieser konkrete Termin bescherte mir umgehend ein leichtes Unwohlsein, das ich geflissentlich ignorierte. Es war früh genug, die Angst zuzulassen, wenn Khan mir seine Pistole an den Kopf hielt.
»Wie lange haben wir noch?«
»Drei Stunden. Wir treffen uns vorher mit Paolos Männern. Sie bringen uns zum Treffpunkt.«
Warum wurde die ganze Unterwelt eigentlich von Männern dominiert? Ich nahm Quirins Waffe und zielte auf verschiedene Objekte im Zimmer. Ich hätte sie gern einmal ausprobiert, aber das hätte Cynthia mir sicher übel genommen. Gio stand am Fenster und sah mir bei meinen Trockenübungen zu. Ich drehte mich auf die Seite und ließ meine Finger über den Lauf gleiten, bedachte Gio mit einem koketten Augenaufschlag.
»Wenn er mich nach meinem letzten Wunsch fragt, werde ich ihm sagen, dass ich ein Kind von dir will. Dann muss er mich noch mindestens neun Monate leben lassen.«
Gio blieb noch einen Moment stumm am Fenster stehen und sah auf mich herab. Ein stilles Verlangen flackerte in seinen Augen auf. Ich spielte nervös mit der Sphinx. Er verließ seinen Fensterplatz, trat zu mir ans Bett und nahm mir die Waffe aus der Hand. Die ganze Zeit ruhte sein Blick so begehrend auf mir, dass ich unruhig jede seiner Bewegungen verfolgte.
Er setzte sich zu mir und strich mit seiner Hand über meine Seite hinunter zur Hüfte. Seine Berührung hinterließ ein erwartungsvolles Prickeln auf meiner Haut. Ganz langsam glitten seine Hände unter mein T-Shirt, schoben es hoch. Er drückte mich sanft auf den Rücken, küsste meinen Bauch, arbeitete sich mit den Lippen vor, liebkoste meine Brüste, während seine Hände mir das T-Shirt auszogen. Mit genussvoller Leidenschaft begann er, meinen Körper Millimeter um Millimeter zu erkunden, küsste und streichelte, erst sanft, dann immer fordernder. Ich schloss die Augen, genoss die gierige Lust, die er in mir entfachte, drängte mich ihm atemlos entgegen, als er sich über mich legte, sog den Duft seines Körpers tief in mich ein. Er nahm meine Gesicht zwischen seine Hände.
»Schau mich an«, forderte er leise.
Ich öffnete die Augen, sah seine feuchten Lippen, tauchte ein in das Schwarz seiner Pupillen. Ein heißes, wohliges Beben erfasste meinen Körper, als er in mich drang und mich meine Sorgen vergessen ließ.
Zwei Stunden später saßen wir wieder im Auto. Die Anspannung und die Angst waren schnell zurückgekommen, aber für einen Moment hatte Gio sie mir nehmen können. Noch nie hatte ein Mann mich mit so einer Leidenschaft geliebt. Neil war ein Draufgänger gewesen, mit dem ich einige verrückte Sachen ausprobiert hatte. Bei Gio war jede Berührung ein vorsichtiges Nähern, ein behutsames Herantasten gewesen. Ein Erkunden, das nach und nach verlangender wurde, bis hin zur vollkommenen Hingabe. Wenn Khan mich tötete, würde ich an diesen Moment denken und mit einem glücklichen Lächeln sterben.
Wir parkten auf einem Park-and-ride-Parkplatz in der Nähe der Autobahn. Kurz darauf tauchte ein dunkler Mercedes auf, und zwei Männer stiegen aus. Dunkle Anzüge, helle Hemden, Knopf im Ohr: Bodyguards wie aus dem Bilderbuch. Sie begrüßten uns und begannen sogleich, mit Gio auf Italienisch zu reden. Ich hatte es akzeptiert, als Gio mit diesem Paolo gesprochen hatte, aber jetzt wollte ich wissen, was passieren würde. Schließlich war ich an der bevorstehenden Aktion beteiligt.
»Das kotzt mich echt an! Ich verstehe kein Wort. Entweder ich bekomme Simultanübersetzung, oder ich mache nicht mit.« Ich stellte mich mit grimmigem Blick vor die Truppe.
Der Bodyguard, der gerade noch mit Gio gesprochen hatte, verstummte und sah mich erstaunt an. Gio zupfte sich abwartend am Kinn.
»Wir bringen euch zum Treffpunkt. Khan hat zugesichert, dass euch nichts passiert.«
Aha, die Herren sprachen deutsch.
»Wenn Khan sein Wort nicht hält, wird Paolo euch rächen«, ergänzte sein Begleiter.
»Was?« Ich sah verwirrt zu Gio. »Ich dachte …«
Gio hatte die Hand vom Kinn genommen, blickte schweigend zu Boden.
»Ach, verflucht, lasst uns fahren. Ich will’s endlich hinter mich bringen.« Am liebsten hätte ich Gio geschnappt und wäre mit ihm in den nächsten Flieger gestiegen. Egal, wohin, einfach nur weg von hier.
Wir setzten uns auf die Rückbank, und mein glückliches Lächeln war verschwunden. Begab ich mich jetzt geradewegs zu meiner Hinrichtung? Würden sie Gio auch töten? Er hatte doch überhaupt nichts mit der Geschichte zu tun.
»Ich gehe allein zu ihm«, sagte ich zu Gio. Unser Fahrer blickte überrascht in den Rückspiegel.
»Nein, das wirst du nicht tun.«
Ich schnappte schon wieder ärgerlich nach Luft. »Gio, ich …«
Er legte eine Hand auf meinen Unterarm. Ich spürte den leichten Druck, der keinen Widerspruch duldete. »Keine Diskussion.«
»Aber du hast mit der Sache nichts zu tun.«
»Doch, ich häng genauso mit drin.«
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich wollte nicht, dass Paolos Männer meine Angst bemerkten.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass wir, gemäß den Erfahrungen der letzten Nacht, Khan im Hinterhaus eines schäbigen Bordells oder auf einem einsamen Fabrikgelände treffen würden. Stattdessen fuhren wir in die Tiefgarage eines Nobelhotels und wurden von unserer Leibwache in die oberste Etage geleitet. Am Fahrstuhl standen zwei Ebenbilder unserer Begleiter, allerdings das osteuropäische Modell: hellere Haut, eckige Gesichter, kurze Stoppelfrisuren. Sie forderten uns auf, die Hände zu heben. Ich beobachtete, wie einer der Männer Gio von Kopf bis Fuß abtastete und ihm seine Waffe abnahm. Als er auf mich zukam, streckte ich abwehrend die Hände nach vorn.
»Oh, nein. Nein. Nein!«, protestierte ich.
Der zweite osteuropäische Bodyguard hatte bereits seine Waffe gezogen und auf mich gerichtet.
»Kirstin, zick nicht rum«, ermahnte mich Gio.
»Ich will nicht, dass der mich anfasst! Ständig tatschen mich irgendwelche Kerle an. Es reicht!«
Zwischen Gios Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Du sorgst nicht gerade für eine gute Verhandlungsbasis.«
»Ich geb ihm meine Waffe freiwillig.« Meine Stimme klang nicht mehr ganz so sicher. Ich wollte mit einer Hand meine Jacke zur Seite ziehen, um den Knauf von Quirins Sphinx freizulegen, aber bereits auf diese geringe Regung reagierte der Wachmann mit der Routine langjähriger Berufserfahrung. Er packte meinen Arm, drehte ihn mir auf den Rücken und drückte mich mit dem Gesicht zur Wand. Ich hätte vielleicht doch besser auf Gio gehört und verzichtete auf weitere Gegenwehr. Zur Belohnung bekam ich eine besonders intensive Behandlung.
Ich verfluchte mich und meinen unüberlegten Protest. Er nahm mir die Sphinx ab, und nachdem der Kerl sich noch einmal genauestens überzeugt hatte, dass ich keine weiteren Waffen bei mir hatte, ließ er mich mit einem schmierigen Grinsen im Gesicht wieder los. Gio atmete auf. Sie nahmen uns in ihre Mitte und führten uns zum Ende des Ganges. Unsere beiden italienischen Begleiter blieben am Fahrstuhl zurück.
»Super Aktion«, zischte Gio mir zu.
»Am Flughafen haben sie weibliches Kontrollpersonal«, verteidigte ich mich.
»Ich schlage vor, du überlässt das Reden gleich besser mir.«
Wir kamen in eine große Suite, hell und freundlich. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Vorhänge zu schließen und das Licht zu dämmen, um eine bedrohliche Atmosphäre zu erzeugen. Im Gegenteil, auf einem Tisch standen diverse Säfte, Wasser und Kognak. Es gab sogar eine Schale mit Erdnüssen.
Quirin Khan stand am Fenster und starrte in die Dunkelheit. Vielleicht betrachtete er aber auch nur sein eigenes Antlitz, das von der Scheibe reflektiert wurde. Ich erkannte ihn an der verbundenen Schulter. Als wir hereinkamen, drehte er sich zu uns. Ich biss mir schnell auf die Lippen und unterdrückte ein boshaftes Grinsen.
Über seiner Nase klebte ein großes Pflaster; anscheinend hatte ich sie ihm gebrochen. Ein Mann mit Pflaster mitten im Gesicht sah einfach komisch aus. Er warf mir einen unfreundlichen Blick zu. Ich deutete ein Nicken an und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Tisch zu. Oder vielmehr dem Mann, der an dem Tisch saß.
Er war jünger, als ich erwartet hatte, irgendwo zwischen Mitte vierzig und Anfang fünfzig, schätzte ich. Im Verhältnis zu den gut gekleideten Herrschaften um uns herum, trug er Freizeitlook: Jeans und T-Shirt. Seine Haare waren kurz geschoren, drei Millimeter, was ihm ein aggressives Aussehen verlieh. Eine Narbe zierte seine linke Augenbraue bis hin zur Schläfe. Es erinnerte mich an einen Schmiss, wie er bei schlagenden Verbindungen immer mal wieder vorkam und von seinen Besitzern mit Stolz getragen wurde. Die breiten Schultern konnten nicht über seinen leichten Bauchansatz hinwegtäuschen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass dieser Mann sich in einem äußerst guten Trainingszustand befand. Dem könnte ich sicher nicht so leicht die Nase brechen.
»Setzt euch«, begrüßte er uns in akzentfreiem Deutsch. Anscheinend war er Deutscher und hieß womöglich mit bürgerlichem Namen Peter Schmidt oder Hans Müller. Da war Louis Khan wesentlich fantasievoller.
Einer seiner Angestellten bot uns Getränke an. Wir entschieden uns für die alkoholfreie Variante. Khan ließ den Blick nicht von mir, und ich versuchte, ihm standzuhalten. Ich war so angespannt, dass meine Bewegungen abgehakt und verkrampft wirkten. Gedanklich zählte ich meine Atemzüge, um ruhiger zu werden. Er hatte einen stechenden Blick. Ein fieser Blick, wie Lucy sicher gesagt hätte. Lucy. Welche Schuld trug er an ihrem Tod? Stand Timo Lanfer auf seiner Gehaltsliste?
»Quirin, setz dich zu uns.« Es war ein Befehl an seinen Sohn, der nur widerstrebend befolgt wurde.
»War das die Frau?«
Kein Vorgeplänkel, wir kamen direkt zur Sache. Jetzt musste der aufstrebende Ganovenkronprinz seinem Vater verklickern, dass diese kleine Frau ihm die Nase gebrochen hatte.
»Ich weiß nicht genau«, antwortete Quirin zögernd. Die Angelegenheit war ihm sichtlich unangenehm. Wahrscheinlich wünschte er sich, dass ich eine eins neunzig große, hundert Kilo schwere Kampfsau gewesen wäre.
»Natürlich weißt du!«, hörte ich mich sagen. Gios und Louis’ Köpfe fuhren zu mir herum. Quirins Augen feuerten grelle Blitze auf mich ab. Spätestens jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich Gio das Wort überlassen sollte. Aber meine bis zum Anschlag angespannten Nerven ließen mich weiterplappern. »Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit, ein Missverständnis …« Noch immer starrten mich drei Augenpaare an, ein ernstes, ein grimmiges und in Gios war deutlich zu lesen: ›Halt, verdammt noch mal, die Klappe!‹
Ich biss die Zähne zusammen und konzentrierte mich auf Khan senior. Er war der Mann, der dafür sorgen konnte, dass Gio und ich diesen Raum aufrecht verließen. Es war schwer, in seinem Gesicht zu lesen, was in ihm vorging. Er saß mit ernster Miene am Tisch, kaum ein Muskel bewegte sich, nur seine Augen schienen mich durchleuchten zu wollen.
Das war wahrscheinlich das Geheimnis vieler Gangsterbosse. Stundenlang mussten sie vor dem Spiegel diesen undurchdringlichen, stechenden Blick üben. Khan hatte seine Hausaufgaben gemacht. Auch bei Gio war mir dieser Blick schon hin und wieder aufgefallen. Ob er heimlich übte?
»Für wen arbeitest du?«
»Wir arbeiten für niemanden«, antwortete Gio, bevor ich auch nur auf die Idee kam, den Mund wieder aufzumachen.
»Aber ihr habt mächtige Freunde.«
Gio nickte. »Ja.«
Das war gut. Mächtige Freunde. Wer um alles in der Welt war dieser Paolo, und woher kannte ihn Gios Vater? Ich glaube, Gio hatte mir nur die halbe Wahrheit über das Restaurant seines Vaters und diesen Schutzgelderpresser erzählt. Khan drehte gedankenverloren das Glas in seiner Hand.
»Warum habt ihr Quirin nicht getötet?«
Mir lief es kalt über den Rücken, als ich bemerkte, mit welcher Ruhe er über das Leben oder eher gesagt den Beinahe-Tod seines Sohnes sprach. Gio ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er antwortete. Ich zwang mich, seinen Rat weiterhin zu befolgen und ihm das Reden zu überlassen.
»Es gab keinen Grund«, sagte er schließlich.
Na gut. Ich sah das zwar etwas anders, aber vielleicht war seine Taktik die bessere.
Khan zeigte mit dem Finger auf mein Gesicht, malte kleine Kreise in die Luft: »Dein Veilchen, waren das meine Leute?«
Der Kerl hatte gute Augen! Ich dachte, ich hätte mein mittlerweile gelb-rot mutiertes Veilchen gekonnt überschminkt.
»Ich hatte keine Zeit, sie nach ihrem Auftraggeber zu fragen.«
»Ihr habt die beiden übel zugerichtet.«
Hatten wir? Ich schielte zu Gio. Wieder einmal überbekam mich das Gefühl, dass ich eine Menge nicht wusste.
»Wir hatten keine andere Wahl«, entgegnete Gio.
Khan stand auf, ging im Zimmer auf und ab, kehrte wieder an seinen Platz zurück. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und sah auf mich herab: »Du hast Diego Zachewskij getötet.«
Ich versuchte, unter seinem Blick ruhig zu bleiben. »Nein.«
Er setzte sich wieder ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. »Du warst es, und ich habe den Auftrag, dich zu finden und zu töten.«
Ersteres war ihm ja jetzt gelungen.
»Und hier bin ich«, gratulierte ich ihm, leise vor mich hinmurmelnd, zu seinem Erfolg. Warum glaubte er mir nicht?
»Wie bitte?«
Das Adrenalin schoss mir in die Adern. Khan hatte nicht nur Adleraugen, er hatte auch Ohren wie eine Eule. Verflucht, wie sollte ich jetzt reagieren? Musste ich ihm antworten, oder besagte der Ganovenknigge, dass es besser war zu schweigen?
Ich entschied mich für Ehrlichkeit, erwiderte mit all meinem Amateurkönnen seinen durchbohrenden Blick, holte tief Luft und wiederholte für jeden im Raum hörbar: »Ich sagte: Und hier bin ich.«
Gio sprang neben mir innerlich an die Decke. Er drehte den Kopf nur wenige Millimeter in meine Richtung, und ich wusste, dass er mir jetzt gern einen Knebel verpasst hätte. Ich hatte mich offensichtlich für die falsche der beiden Möglichkeiten entschieden. Aber anscheinend gefiel Khan meine offensive Art, sein Blick wurde eine Spur weicher. Oder bildete ich mir das nur hoffnungsvoll ein?
Khan lehnte sich zurück, massierte mit einer Hand nachdenklich seinen Nacken. Er betrachtete mich, sah zu seinem Sohn, wandte sich wieder mir zu und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Du hättest meinen Sohn töten können. Du hast es aber nicht getan. Was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?«
Ich steckte mir eine Erdnuss in den Mund und tat so, als würde ich überlegen. In meinem Kopf war eine beängstigende Leere. Gio wollte an meiner Stelle antworten, aber Khan hob bremsend die Hand. Was nun? Irgendetwas musste ich diesem Gangsterboss jetzt wohl antworten. Um Zeit zu gewinnen, nippte ich an meinem Glas, strich mir übers Kinn, trank erneut einen Schluck. Auf Khans Stirn bildeten sich kleine Fältchen. Allzu lange sollte ich mir vielleicht nicht mehr mit einer Antwort Zeit lassen.
»Ich habe weder deinen Sohn noch Diego Zachewskij getötet.« Das war doch ein guter Anfang, oder? Keine Regung in Khans Gesicht. Ein letzter tiefer Atemzug. »Du lässt uns am Leben, und wir sind quitt.«
Quirin verschluckte sich an seinem Kognak. Gios Schultern fielen kapitulierend herab. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, nahm mir noch ein paar Erdnüsse und ließ mich gegen die Stuhllehne zurücksinken. Khan hob eine Augenbraue, als überlegte er, mich kurzerhand erst einmal übers Knie zu legen, dann senkte sich die Augenbraue wieder, und er verfiel in Schweigen. Ich hatte nicht mehr die Kraft, seinem Blick standzuhalten, trank meinen Saft schlückchenweise, sah mich eingehend im Zimmer um und futterte eine Erdnuss nach der anderen. Wenn man einmal mit diesen Dingern angefangen hatte, konnte man nicht eher aufhören, bis die Schale leer war.
An der anderen Seite des Zimmers stand ein großes Sofa, das sehr einladend aussah. Den Kissen nach zu urteilen, hatte bis kurz vor unserem Eintreffen dort jemand gelegen. Auf dem Bildschirm des Fernsehgerätes konnte ich das Geschehen auf dem Flur verfolgen. Khan hatte unsere Ankunft also live miterlebt. War das Khan-Spezial-Service, oder gehörte so etwas in dieser Preisklasse einfach zum Buchungspaket dazu?
Ich war noch nie in der Suite eines Nobelhotels gewesen. Wahrscheinlich kostete eine Nacht so viel, wie mein Jahresgehalt betrug. Es musste toll sein, hier zu übernachten, sich den Champagner auf das Zimmer bringen zu lassen oder, besser noch, einen richtig guten Rotwein und Käse, dazu leise Musik, die aus der Stereoanlage kam …
»In Ordnung«, sagte Khan in meine Hotelträumereien hinein.
Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass Khan auf meinen Vorschlag eingegangen war. War die Angelegenheit jetzt tatsächlich so leicht geregelt? Einfach »in Ordnung«, Handschlag drauf, und das war’s? Ich spürte eine zweifelhafte Erleichterung und lächelte Khan freundlich an.
»Dann wäre das ja erledigt.«
»Nicht ganz.« Er machte wieder eine theatralische Pause. »Da ist noch die Anzeige gegen meine Leute. Die ziehst du zurück.«
Ich hatte sowieso keine Sehnsucht, den beiden noch einmal zu begegnen und bei einer Gerichtsverhandlung auszusagen. Was würde das bringen? Mit einem guten Anwalt zwölf Monate auf Bewährung und dafür die Aussicht, dass Khans Leute mich bald erneut besuchten?
»Geht das so einfach?« Ich sah Gio fragend an.
»Das kriegen wir schon hin.«
»Gut.« Khan nickte zufrieden.
Ich spielte mit dem Gedanken, ihn noch nach Timo Lanfer zu fragen, entschied mich dann aber dagegen. Falls Timo auf Khans Gehaltsliste stand und er in nächster Zeit unglücklicherweise einen Unfall haben sollte, würde der Verdacht nicht sofort wieder auf mich fallen.
Khan stand auf. Gio und ich folgten.
»Ich kann euch natürlich nicht garantieren, dass Zachewskij sich keinen anderen Dienstleister sucht.«
Dienstleister! Jetzt drückte er sich aber wirklich sehr diskret aus.
Gio nickte. »Auch für das Problem finden wir eine Lösung. Haben Sie ihm schon gesagt, dass es meine Kollegin gewesen sein soll?«
»Nein«, sein Blick fiel auf mich, und tatsächlich, da war der Ansatz eines wohlwollenden Lächelns! Minimal, aber ich hatte es gesehen. »Du warst es wirklich nicht?«
»Ich war es wirklich nicht.« Dass ich versucht hatte, Zachewskijs Sohn zu töten, musste er ja nicht wissen.
»Wer war es dann?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Gio.
Wieder sah Khan mich eine Weile an. Ich hätte mir gern noch eine Erdnuss genommen, aber die Schale war leer. In meinen Schläfen pochte das Blut. Was, wenn er mir immer noch nicht glaubte, Diego nicht getötet zu haben?
»Wir werden deinen Namen nicht an Zachewskij weitergeben.« Er legte Quirin, der als einziger am Tisch sitzen geblieben war, väterlich eine Hand auf die Schulter, um jeglichen Widerspruch seines Sohnes zu ersticken. Gangsterbosse waren Patriarchen.
Er wandte sich an Gio. »Sag Paolo bitte, dass mir dieses Missverständnis leidtut.«
Paolo? Hallo? Mich hatte man zusammengeschlagen! Ich hab über die Balkonbrüstung aus dem Hotelzimmer flüchten müssen. Die wollten MICH umbringen! Ich presste die Lippen zusammen, um nichts Unbedachtes zu sagen. Wir lebten, und das war im Moment das Einzige, was zählte.
Khan gab seinen Wachmännern ein Zeichen, uns wieder hinauszubegleiten.
»Einen Augenblick noch«, pfiff er seine Männer und uns kurz vor der Tür wieder zurück.
So einfach war die Sache anscheinend doch nicht erledigt. Wir drehten uns wieder zu ihm, und ich fragte mich, ob er sah, wie mein Herz einem Presslufthammer gleich gegen meine Brust schlug.
»Wie lange braucht ihr, bis ihr eine Lösung habt?«
Während ich noch überlegte, was er damit meinte, antwortete Gio: »Schwer zu sagen.«
Khan musterte mich nachdenklich. »Acht Tage, länger kann ich es nicht hinauszögern.«
Am Fahrstuhl gaben sie Gio seine Waffe wieder.
»Hey, was ist mit meiner Waffe?«
»Die gehört Quirin«, hatte der Wachmann erkannt.
»Die hat er mir geschenkt!«
»Schönen Abend noch.« Gio packte mich wie ein Kaninchen am Nacken und stieß mich in den Fahrstuhl. Paolos Männer sahen sich feixend an.
»Was hat Khan mit den acht Tagen gemeint? Bin ich dann wieder zum Abschuss freigegeben?«, fragte ich Gio, nachdem Paolos Bodyguards uns wieder an Gios Auto abgesetzt hatten. Nur langsam senkte sich mein Adrenalinspiegel auf ein einigermaßen gesundes Niveau, und mich quälte eine innere Unruhe. Meine Hände zitterten.
»Nein, er wird Zachewskij in acht Tagen sagen, dass er den Auftrag ablehnt, falls er ihn bis dahin nicht erledigt hat. Das gibt uns Zeit, einen Plan zu entwickeln, was wir gegen Zachewskij unternehmen können, und herauszufinden, wer Diego tatsächlich umgebracht hat.«
»Ein netter Mensch, dieser Khan.«
Gio sah mich ungläubig an. »Sag mal, denkst du gelegentlich auch mal nach, bevor du den Mund aufmachst?« Er sprach ganz ruhig, aber ich war mir nicht sicher, ob er wirklich so gelassen war oder gleich wieder einen Tobsuchtanfall bekommen würde.
»Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?«
»Signorina«, er hob die gefalteten Hände flehend zum Himmel und ließ sie gleich darauf wieder resigniert fallen, »du hast dich äußerst respektlos gegenüber Khan verhalten. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt.« Er strich sich durch die Haare, als wäre ihm immer noch ziemlich warm. »Du kannst ihn doch nicht einfach duzen! Und so provokativ wie du deine Forderungen gestellt hast, habe ich nicht wirklich damit gerechnet, dass wir da lebend wieder rauskommen. Und dann futterst du auch noch gemütlich eine Erdnuss nach der anderen. Das war an Dreistigkeit kaum zu überbieten.« Gio massierte sich mit beiden Händen die Stirn.
»Aber er hat mich doch auch geduzt.«
»Er steht in der Hierarchie auch um einiges höher als du.«
»Wenn ich auch kein ordentliches Briefing erhalte«, beschwerte ich mich. »Woher soll ich wissen, wie ich mich zu verhalten habe? Ich hab noch nie mit so einem Gangsterboss zu tun gehabt. Das ist nicht meine Liga.«
»Das war nicht zu übersehen.«
Ich nagte betreten an meiner Unterlippe. »Meinst du, wir können uns auf sein Wort verlassen?«
»Ja, dafür ist die Sache zu hoch gegangen, als dass ein Mann wie Khan sein Wort brechen könnte.«
Ihr habt mächtige Freunde, erinnerte ich mich an Khans Worte. Wenn Khan einer der großen Gangsterbosse im norddeutschen Milieu war, wer – um alles in der Welt – war dann Paolo?
Gio zauste mit einer Hand zärtlich durch meine Haare. »Ich hatte den Eindruck, dass er dich ziemlich gut leiden kann. Dass du keine Angst gezeigt hast, hat ihm jedenfalls mächtig imponiert.«
»Ich bin fast gestorben«, gestand ich.
Er zog mich an seine Brust. »Nicht nur du, bellezza mia, nicht nur du«, flüsterte er in meine Haare. Seine Berührung ließ mich ruhiger werden, das Zittern hörte allmählich auf.
»Warum tust du das alles für mich?«
Er hob mein Gesicht zu seinem und sah mir in die Augen: »Was ist denn das für eine Frage?«
Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals und blinzelte verlegen. »Ich … ich brauche unbedingt mal frische Klamotten. Fahren wir ins Hotel?«
Im Hotel mussten wir zunächst das Chaos beseitigen, das Khans Leute hinterlassen hatten. Das »Do not disturb«-Schild, das sie netterweise an die Tür gehängt hatten, hatte den Zimmerservice aus unserem Schlafgemach ferngehalten. Gio informierte Cynthia, danach bestellten wir eine Flasche Wein aufs Zimmer und feierten unseren ersten kleinen Erfolg in dieser Geschichte. Diese Nacht wollten wir zu zweit genießen. Danach würden wir uns allen weiteren Problemen stellen.