13
Stephen Diaz wohnte im selben Stockwerk wie Elliot, in dem OI-Gebäude, das »die Kaserne« genannt wurde. Elliot stand vor der Wohnungstür und fürchtete sich davor, ihn mit seinem Klingeln aufzuwecken. Aber es musste sein. Unbedingt musste er noch vor der Besprechung in Bachs Büro mit Diaz reden. Also jetzt gleich.
Egal, wie müde er war.
Egal, ob Diaz vielleicht schlief.
Er hob die Hand, um zu klingeln – und die Tür ging auf, ehe sein Finger den Knopf berührte.
Diaz schlief augenscheinlich nicht. Es war sogar ziemlich offensichtlich, dass er vor Kurzem geduscht hatte. Sein bildschönes Gesicht war frisch rasiert, sein kurzes dunkles Haar gekonnt gestylt. Er war gesellschaftstauglich gekleidet, mit einem wirklich schönen, weich fallenden Hemd in einem lebhaften Blauton – die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und der oberste Knopf leger geöffnet.
Oder vielleicht verbrachte er seine Zeit allein zu Hause immer so. In einer ausgewaschenen Jeans – ihm musste einfach klar sein, wie umwerfend er darin aussah – und braunen Ledersandalen, sodass man seine makellosen Zehen sehen konnte …
Im Kontrast dazu fühlte Elliot sich zerknittert und ungepflegt. Obwohl er es sogar schaffte, zerzaust auszusehen, wenn er versuchte, sich zurechtzumachen, also hätte es ihn nicht stören sollen.
Aber das tat es.
»Hey«, sagte Elliot, weil einer von ihnen was sagen musste, um nicht bloß dazustehen und sich schweigend anzustarren. »Ähm, tut mir leid, dass es schon so spät ist. Ich meine, es ist Morgen, klar, aber … ich weiß, dass Sie die ganze Nacht auf waren, weil, ich ja auch, obwohl, wenn ich drüber nachdenke, ist es vielleicht gar nicht die Nacht, in der Sie normalerweise schlafen, obwohl Dr. Bach es Ihnen ja befohlen hat, und – also ich hatte wirklich das Gefühl, dass Sie zumindest ein Nickerchen brauchen, also …«
Okay.
Er klang wie ein Vollidiot, aber unmittelbare Nähe zu Diaz brachte ihn immer zum Stammeln, als wäre sein IQ plötzlich in den Keller gestürzt. Die jüngsten Ereignisse verschlimmerten dieses Phänomen nur noch.
Der Mann fühlte sich durch Elliots irgendwie offensichtliche Mission sichtlich in Verlegenheit gebracht – er war kaum in der Lage, Elliots Blick zu begegnen. Doch er öffnete die Tür weiter und trat sogar einen Schritt zurück, um den Doktor einzulassen. »Ich habe ziemlich fest damit gerechnet, dass Sie vorbeikommen würden«, murmelte Diaz. »Also …«
Tja, also.
Es war schwierig, nicht an das zu denken, was vorhin passiert war, nachdem Rickie Littleton den Joker gemacht und Diaz versucht hatte, Elliot aus der Halle hinaus in den Flur zu schieben. Da seine telekinetischen Kräfte damit ausgelastet waren, Shane Laughlin festzuhalten, hatte Diaz Körperkraft benutzt. Er hatte Elliot von hinten gepackt, die Arme um ihn geschlungen und ihn nach hinten an seine Brust gezogen.
Und genau wie zuvor im Untersuchungszimmer war Diaz augenblicklich tief in Elliots Kopf gewesen, in einem Feuerwerk aus Worten und Bildern. Elliot ist in Gefahr, er muss hier weg. Shane auch, aber Elliot … Elliot … Elliot hatte ein Bild aufgeschnappt – eine Erinnerung an ihn selbst, an eine Begebenheit, die Monate zurücklag. Er sah sich selbst über den Test eines Trainees lachen, der total schiefgegangen war.
Aber dann hatte Diaz seine Anwesenheit bemerkt und sich direkt an ihn gewandt. Er war ziemlich aufgebracht gewesen. Sie hätten Shane im Untersuchungszimmer lassen sollen, wo er sicher war!
Nur durch seine Anwesenheit war Diaz auf sechzig Prozent gestiegen, versuchte Elliot dem Groß-Than zu erklären.
Wie soll ich mich denn darauf konzentrieren, Mac zu retten? Verdammt, ich will euch in Sicherheit wissen! Ich will … ich will …
»Es ist Shane!«, hatte Elliot laut gesagt und Diaz’ Gedanken damit übertönt. »Er verpasst Ihnen diesen Schub, und verdammt noch mal, es sind –«
Dich. Gott, ich will dich.
Und die Flut erotischer Bilder war wieder da, und alles war so lebhaft und überwältigend, dass Elliot für einen Augenblick nicht mehr wusste, wo er war. Nur weil Diaz ihn festhielt, fiel er nicht um. Und das war es letztendlich auch, was ihn in die Wirklichkeit zurückbrachte – so eng aneinandergepresst war die gegenseitige Anziehung einfach nicht mehr zu leugnen.
Diaz entging es offensichtlich auch nicht, er ließ Elliot augenblicklich los und unterbrach die Intimität ihrer mentalen Verbindung. Und ebenso rasch wie Elliots Theorie über Shane in sich zusammenfiel, keimte eine neue in ihm auf. Was, wenn er für Diaz’ Kräfteanstieg verantwortlich war? Nicht, weil er etwas Besonderes war, sondern einfach weil Diaz sich zu ihm hingezogen fühlte? Was, wenn Mac recht hatte und Sex den Fortschritt eines Groß-Thans nicht behinderte, sondern förderte?
»Nutzen Sie es«, hatte Elliot Diaz gedrängt. »Um Gottes willen, Mensch, kämpfen Sie nicht dagegen an, nutzen Sie es!«
Er hatte keine Ahnung, was Diaz gefühlt oder gedacht hatte, nachdem die Verbindung unterbrochen war. Aber offensichtlich hatte Diaz seine angestaute Kraft mit der von Bach kombiniert, und zusammen waren sie plötzlich in der Lage gewesen, sowohl den Joker in Schach zu halten als auch das tobende Mobiliar, so dass Elliot und Shane zu Mac gelangen konnten.
Bis jetzt hatte es keine Chance für Elliot gegeben, mit Diaz unter vier Augen zu sprechen. Er trat durch die Tür und blickte sich zum ersten Mal in der Wohnung des Groß-Thans um. Sie war sehr persönlich eingerichtet, inklusive jeder Menge Bücherregale. Die Wände waren in einem eigenen Stil gestrichen, der ein wenig an Mexiko erinnerte. Diaz hatte auch eine Wand herausgenommen – und die Wohnung offen gestaltet, sodass er statt zwei separaten Schlafzimmern einen einzigen, wesentlich größeren Wohnraum hatte. Das Bett war in einer Nische versteckt, und …
Okay, das war genau das Bett, das Elliot vorhin vor sich gesehen hatte, sowohl als er Diaz vom Boden aufhelfen wollte und diese schockierend intimen Bilder das erste Mal durch seinen Kopf gezuckt waren, als auch später, vor ein paar Stunden, unten in dem Saal. Es war ihm bekannt vorgekommen, wurde ihm jetzt schlagartig klar, denn er hatte es schon früher in seinen Träumen gesehen.
Er war schon mal hier in dieser Wohnung gewesen – in seinen Träumen.
Heiliger Strohsack.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« Diaz stand direkt hinter ihm, und Elliot drehte sich abrupt um.
»Ja«, sagte er. »Danke. Moment mal. Sie trinken doch gar keinen Kaffee.«
Und doch konnte er ihn riechen – aromatisch und frisch aufgebrüht. Und ganz eindeutig stand eine Kanne davon in einer kleinen Kaffeemaschine, die auf der Küchenarbeitsfläche vor sich hin zischte und spuckte.
Diaz schlüpfte in den Küchenbereich, hinter eine Frühstückstheke, die diesen vom Rest des ansonsten offenen Raums abtrennte. Zwei Tassen in kräftigen Farben standen schon bereit. Eine war mit heißem, dampfendem Wasser gefüllt, in dem ein Teebeutel zog.
Elliot sah zu, wie Diaz die Kanne von der Heizplatte zog, den Kaffee in die blaue Tasse goss und sie fast bis zum Rand füllte. Er schob Elliot die Tasse mit dem Henkel voran hin – er wusste ganz genau, dass Elliot seinen Kaffee schwarz trank.
Genau wie Elliot wusste, dass Diaz Fan von Vanille-Chai mit Milch und einer Spur Zucker war …?
Es war einfach nicht zu fassen. All die Jahre, die sie schon zusammenarbeiteten – wie konnte er nicht gemerkt haben, dass Diaz …?
Als Elliot die Tasse nahm, blickte Diaz zu ihm auf, die Augen düster. Und dieses Mal war es Elliot, der schnell wegsah, unsicher, wie er das Gespräch beginnen sollte. So. Trotz Ihrer Entscheidung, enthaltsam zu leben, wünschen Sie sich offensichtlich und ziemlich verzweifelt Sex mit mir … Und, ach ja, wir sollten wohl auch die Tatsache diskutieren, dass ich jetzt wahrscheinlich die einzige Person am OI bin, die weiß, dass Sie schwul sind – und wir gehen gleich in eine Besprechung, bei der ich Sie höchst wahrscheinlich outen werde. Und wo wir gerade von Themen reden, bei denen einem die Augen aus dem Kopf fallen, haben Sie zufällig eine Ahnung, warum ich extrem lebhafte Träume hatte, in denen ich mich in Ihrer Wohnung befinde, obwohl ich vor dem heutigen Tag noch nie durch diese Tür gegangen bin?
Er nahm einen Schluck Kaffee und – »Gott, ist der gut. Für einen Teetrinker machen Sie verdammt guten Kaffee.«
Diaz rührte seinen Tee um, und sein Löffel klimperte sacht in der Tasse, als er sich rückwärts gegen die Theke lehnte, die langen Beine lässig überkreuzt. »Ich war selbst früher kaffeesüchtig.«
»Es gibt schlimmere Süchte«, sagte Elliot. Und, oh Mann, wollten sie wirklich über so banales Zeug quatschen? Jeden Augenblick würden sie anfangen, sich übers Wetter zu unterhalten. Schöner Tag heute. Endlich wird es mal ein bisschen wärmer …
Nur dass er plötzlich an nichts anderes mehr denken konnte als das, was Mac ihm mitgeteilt hatte: dass Diaz nicht mal masturbierte, und, ach du lieber Gott, dieser Mann konnte bestimmt seine Gedanken lesen – vor allem, wenn Elliot recht hatte und seine eigene bloße Anwesenheit Diaz’ Vernetzungsniveau ansteigen lassen konnte, und, ganz toll, jetzt stammelte er schon mental herum. Nicht an Sex denken, nicht an Sex denken, nicht an Sex denken …
Leider war es insbesondere nach den Überraschungen des letzten Tages unmöglich, Diaz anzusehen, ohne an Sex zu denken oder die Tatsache, dass es drei lange Jahre her war, seit Elliot welchen gehabt hatte.
Obwohl, zum Teufel mit ihm. Drei Jahre waren gar nichts verglichen damit, wie lange es wahrscheinlich für Diaz her war, der mit seinen lächerlich breiten Schultern und den umwerfenden Augen einfach so dastand, still seinen Tee schlürfte und Elliot beobachtete.
Elliot wandte sich abrupt zum Fenster ab, wo ein Sofa und verschiedene weitere bequem aussehende Sessel standen. Er deutete mit seiner Tasse darauf. »Können wir uns setzen? Vielleicht sollten wir, na ja, uns lieber setzen. Ich habe noch ein bisschen nachgeforscht, was die Schwankungen Ihres Vernetzungsniveaus betrifft, und, ähm, dachte, Sie wollen vielleicht wissen, was ich rausgefunden habe.«
»Auf jeden Fall.« Diaz nickte und stieß sich von der Theke ab, doch Elliot wartete nicht darauf, dass er voranging.
»Zunächst habe ich mir alle verschiedenen Quick-Scans aus der Zeit vor … von früher angesehen. Ihre Vernetzung hat unten in der Halle einen Höhepunkt von sechzig Komma sieben Prozent erreicht«, sagte er, während er zum Sofa aus butterweichem hellbraunem Leder ging – und setzte sich. Ihm fiel auf, dass es an keiner der Wände einen Flachbildfernseher gab. Natürlich nicht. An den überfüllten Bücherregalen war eindeutig zu erkennen, dass Diaz eine Leseratte war. Ein altmodischer Liebhaber echter Bücher. Sehr wahrscheinlich verbrachte er seine seltenen freien Abende still in ein Buch vertieft, anstatt, wie Elliot, an der zigsten Staffel von Let’s Dance zu kleben.
»Ich habe mir diese Scans auch angesehen«, sagte Diaz, während er sich zu dem Sessel begab. »Und versucht, daraus schlau zu werden, und –«
»Tut mir leid«, unterbrach Elliot ihn. »Ich habe meinen Computer nicht dabei und nicht daran gedacht, dass Sie vielleicht keinen Fernseher haben, um sich in den OI-Zentralrechner einzuloggen. Haben Sie, ähm …«
»Oh«, sagte Diaz. »Klar. Ich habe einen Laptop. Natürlich. Moment, ich … Hole ihn.« Er stellte seine Tasse auf einen Untersetzer auf dem Couchtisch und ging zu dem Teil des Raums hinüber, in dem sein ordentlich gemachtes Bett stand.
Er bewegte sich anmutig, mit einer geschmeidigen Effizienz, die nicht hastig wirkte.
All die Jahre, seit Elliot hier arbeitete, hatte er diesem Mann immer gerne beim Gehen zugesehen – was sich vielleicht jämmerlich anhörte oder vielleicht sogar eine Spur pervers, obwohl es das wirklich nicht war. Was hatte Anna Taylor vorhin gesagt? Es war definitiv eine Art Kunstbetrachtung.
Aber es gab Kunst, und es gab Kunst, und er musste wegsehen, als Diaz sich mit einem Knie auf dem Bett hinüberreckte und seinen Laptop von einem Regal angelte, das in die Wand eingelassen war, über dem geschwungenen, hölzernen Kopfende seines Bettes. Elliot hatte genau gewusst, dass sich das Gerät dort befand. Einfach nicht zu fassen.
»Vielleicht sollten wir dazu lieber rüber in mein Büro gehen«, platzte er heraus.
Diaz hatte seinen Laptop bereits mit zum Sofa gebracht, aber jetzt zögerte er, behielt ihn in der Hand, anstatt ihn vor Elliot auf den Couchtisch zu stellen. »Wenn Sie sich dann wohler fühlen –«, begann er.
Elliot unterbrach ihn. »Mir geht’s gut. Na gut, das ist gelogen. Ich bin total neben der Spur. Aber daran würde sich auch nichts ändern, wenn wir in meinem Büro oder meinetwegen auf dem Mond wären. Ich will nur … Stephen, ich will, dass Sie sich wohlfühlen.«
»Wohlfühlen?« Darüber musste Diaz lachen, als er seinen Laptop abstellte, und für einen Augenblick erreichte das Lachen seine Augen. Aber nur kurz. An seine Stelle trat viel zu schnell etwas, das erschreckend nach Selbstverachtung oder gar Abscheu aussah. »Ich bin ein Fünfziger, Doktor. Ich bin nicht hier, um mich wohlzufühlen. Ich bin hier, um zu trainieren«, fuhr er fort. »Ich bin hier, um all meine Energie und Mühe aufzuwenden, um ein Sechziger zu werden und dann vielleicht sogar – irgendwann – ein Siebziger oder mehr. Mein Wohlergehen hat damit nichts zu tun. Das hatte es noch nie. Aber es ist Ihnen gegenüber nicht fair, dass Sie –«
»Mir geht’s gut«, wiederholte Elliot. »Ich wollte nur nicht –«
»Sie haben doch gerade gesagt, dass Sie neben der Spur sind.« Diaz begann, mit kurzen, zackigen Bewegungen auf und ab zu gehen. »Dass Sie wegen mir neben der Spur sind.«
»– dass Sie sich unwohl fühlen«, fuhr Elliot fort und übertönte ihn, »weil wir allein hier in Ihrer Wohnung sind« – er versuchte, die Sache leichter zu machen –, »wo offensichtlich ein paar Fantasien von uns beiden spielen –«
Diaz wandte sich ihm zu, sichtlich verärgert. »Das waren meine Fantasien. Ich habe Ihre Erinnerungen daran gesehen, als ich das zweite Mal in Ihrem Kopf war – in der Halle. Es waren meine, und ich habe sie Ihnen aufgezwungen. Und das wissen Sie.«
Elliot musste lachen. Aufgezwungen? »Glauben Sie wirklich, dass ich nicht selbst schon Tausende beinahe identische Fantasien hatte? Wissen Sie, ich habe diesen einen Traum – der immer wiederkehrt. Und damit meine ich wie ein Uhrwerk, manchmal zweimal in der Woche. Wir sind in diesem wunderschönen Haus in, keine Ahnung – vielleicht Italien? Wir sind mitten in einem Weinberg, und … Was denn?«
Diaz war doch tatsächlich blass geworden, und nun sank er langsam in den Sessel gegenüber von Elliot. »Mittwochs und sonntags«, flüsterte er.
Elliot schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich kann nicht folgen.«
»Haben Sie den Traum an diesen Tagen?«, fragte Diaz. »Mittwochs und sonntags schlafe ich nämlich. Ich bin auf zwei Nächte pro Woche runter.«
»Moment mal – was?« Verdammt. War das möglich …? »Aber nein, sind Sie nicht«, sagte Elliot und zog den Computer zu sich, damit er die Tastatur erreichte. »Auf Ihrem Plan steht immer noch drei Nächte pro Woche.« Er rief Diaz’ Datei auf. »Mittwochs, freitags und sonntags.« Er blickte auf und wirkte plötzlich verunsichert. »Oder?«
»Freitags bin ich runter auf einen Powernap«, sagte Diaz. »Na ja, es ist etwas länger. Etwa anderthalb Stunden. Normalerweise irgendwann am frühen Nachmittag, wenn … Sie wahrscheinlich wach sind.«
Und da war sie – die Änderung von Diaz’ Schlafplan, eine Notiz am Rand seiner Akte. Das bedeutete in der Tat, dass er jetzt auf einem Mittwoch/Sonntag-Zyklus war. Elliot versuchte sich genau zu erinnern, wann er diese Träume hatte, aber ohne Erfolg.
»Ich kann anfangen, tagsüber zu schlafen«, sagte Diaz. Er war ziemlich außer sich. »Gott, das tut mir so leid –«
Elliot schüttelte den Kopf. »Wollen Sie damit sagen …?« Er sah zu dem Bett hinüber, von dem er so oft geträumt hatte, und fing noch mal von vorne an. »Tut mir leid, was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass …« Mit unglücklicher Miene hielt Diaz nun Elliots Blick stand und atmete schwer aus. »Diese Träume, die Sie hatten – sind auch meine.«
Elliot beugte sich vor. Bis jetzt hatte er es nicht glauben können … Er hatte im Grunde gedacht, dass er irgendwo ein Bild von Diaz Wohnung gesehen haben musste, vielleicht bei Mac oder … »Können Sie das wirklich? Ihre Träume übertragen? In einem unbewussten Zustand?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Diaz. »Ich wusste nicht, dass ich es mache, aber –«
»Vielleicht träume ich ja einfach aus eigener Initiative von Ihnen«, gab Elliot zu bedenken. »Ich weiß wirklich nicht, wie oft oder in welchen Nächten –«
»Sie halten es also für Zufall?«, fragte Diaz mit Skepsis in der Stimme. »Okay. Der letzte Traum – erinnern Sie sich an den letzten Traum? Es war …« Er nickte. »Wo Sie gesagt haben. Im Weinberg.«
Allerdings erinnerte Elliot sich. Er war mit hämmerndem Herzen und einem Ständer von unglaublichen Ausmaßen erwacht. Ihm war schon vor einiger Zeit aufgefallen, dass er immer, wenn er einen feuchten Traum von Stephen Diaz hatte, aufwachte, bevor einer von beiden kam. Und es tat ihm jedes Mal leid, aufgewacht zu sein. Dieses Mal hatte er fluchend in seinem Bett gelegen und versucht, sich an möglichst viele Details zu erinnern. Also, ja, er erinnerte sich.
»Wir sind in einem schönen Haus, auf einem Hügel, über den sich die Weinstöcke in Reihen ziehen.« Diaz atmete scharf aus und fuhr fort: »Nicht in Italien, sondern Kalifornien. Wir sind im Haus meiner Großmutter, in der Nähe von Sonoma. Wissen Sie noch, das Foto, das über dem Bett hing? Das letzte Mal, als ich den Traum hatte, kam ich ins Zimmer, als Sie es sich angesehen haben.«
»Heiliger Strohsack«, flüsterte Elliot. Er erinnerte sich. »Es war ein alter Schnappschuss vom Haus, aus den … 1920ern?« Er hatte ihn sich ziemlich genau angeschaut – die Gruppe von Leuten, die vor der Veranda posierten, als Diaz ins Zimmer gekommen war, direkt aus der Dusche. Und von da an hatte sich das Zentrum von Elliots Aufmerksamkeit drastisch verschoben.
»Es war von 1914«, korrigierte Diaz ihn jetzt mit angespannter Stimme. »Meine Großmutter liebte dieses Foto – ihr Bruder war drauf, er ist im Krieg gestorben, und nachdem sie gestorben war, hat mein Vater es einem örtlichen Museum zur Verfügung gestellt.« Er griff nach dem Computer, zog ihn zu sich und wechselte schnell ins Internet, wo er eine URL eintippte, sich durch ein paar Links klickte, und …
»Heiliger Strohsack«, sagte Elliot noch einmal, als Diaz den Computer wieder zu ihm schob. Auf dem Bildschirm war das Foto, das er tatsächlich in jenem Traum gesehen hatte.
Noch deutlicher erinnerte er sich daran, wie Diaz ihn angelächelt hatte, bevor er ihn geküsst und dann hinunter auf jenes riesige Bett gedrückt hatte.
»Sie hatten ein blaues T-Shirt und Jeans an«, sagte Diaz leise. »Ich hatte … nur ein Handtuch um die Taille.«
Und das Handtuch war nicht lange da geblieben. Daran erinnerte Elliot sich auch.
»Heiliger Strohsack«, flüsterte Elliot. Das wurde wohl jetzt sein neuer Refrain. »Okay, dann hatten wir definitiv denselben Traum. Und Sie haben ganz ehrlich keine Ahnung, wie Sie das gemacht haben? Wie Sie ihn zu mir übertragen haben?«
Diaz hatte die Augen geschlossen. Er schüttelte den Kopf, tiefe Scham stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Vielleicht ist übertragen ja auch nicht das richtige Wort«, sagte Elliot. »Gedankenprojektion ist nicht so ungewöhnlich. Bach kann es. Obwohl ich nicht sicher bin, ob er es durch mehrere Wände und einen Flur hindurch kann – während er schläft. Das ist eine beeindruckende neue Fähigkeit.«
»Oh ja«, sagte Diaz und lachte vor Ungläubigkeit und Abscheu auf. »Das ist klasse. Ich bin begeistert.« Er rieb sich die Stirn, als hätte er schreckliche Kopfschmerzen.
»Obwohl ich hier wirklich nur Vermutungen anstelle«, überlegte Elliot weiter. »Als Sie heute in meinem Kopf waren, schien es, als würden wir eine Art Gespräch führen. Einen Austausch. Es ist durchaus möglich, dass der Traum nicht allein Ihrer war. Ich meine, vielleicht hat Ihr Unterbewusstsein den Schauplatz beigetragen und meins, Sie wissen schon, das Geschehen.«
»Nein.« Diaz wandte sich ihm zu. »Das war mein Traum.«
»Das können Sie nicht mit absoluter Sicherheit wissen«, widersprach Elliot. »Wir bewegen uns auf unerforschtem Terrain.«
»Doch«, sagte Diaz. »Das kann ich. Der Sex war … meine Fantasie. Ich bin nun schon seit einiger Zeit zu etwas in der Lage, was ich kontrolliertes Träumen nenne. Es ist eine gesteigerte Form vom luziden Träumen, und ich habe damit angefangen, um mein Unterbewusstsein an bestimmten Problemen arbeiten zu lassen, und … rausgefunden, dass das … sehr entspannend sein kann. Ich habe das Forschungsteam nicht darauf aufmerksam gemacht – aus Gründen, die auf der Hand liegen.« Und jetzt wirkte sein Gesichtsausdruck sowohl entschuldigend als auch verlegen, und eine halbe Sekunde lang sah er aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Aber dann sprang er auf, ging wieder auf und ab und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Gott, es tut mir leid, Dr. Z. Das ist so unangemessen.«
»Wir sollten wirklich anfangen, uns zu duzen. In deinen Träumen sind wir doch schon lange so weit. Okay, Klugscheißerei bringt uns offensichtlich nicht weiter. Warum schaltest du nicht einen Gang runter und atmest einfach mal durch.« Elliot stand ebenfalls auf. »Komm schon, Stephen – ich bin nicht sauer. Ich fühle mich geschmeichelt. Mehr als geschmeichelt. Ich bin –«
»Neben der Spur«, beendete Diaz den Satz für ihn.
»Ja«, sagte Elliot, »aber – fürs Protokoll – ich bin nicht neben der Spur, weil du es offensichtlich mit mir tun willst, bei jeder Gelegenheit. Was das betrifft, könnte ich einfach nur jubeln und schreien. Aber ich weiß ja, wie ernst du dein Training nimmst, und ich habe großen Respekt vor dir und auch vor deiner Entschlossenheit zum Zölibat, auch wenn ich nicht den kleinsten Hinweis auf einen wissenschaftlichen Beweis gefunden habe, dass Enthaltsamkeit Einfluss auf deine mentalen Fähigkeiten hat.« Diaz setzte zum Sprechen an – zweifellos um zu widersprechen –, aber Elliot hob die Hand und stoppte ihn. »Und bitte, ich will jetzt nicht darüber streiten. Können wir uns vielleicht auf dein erhöhtes Vernetzungsniveau konzentrieren? Lass uns mit den wissenschaftlichen Fakten anfangen – mit dem, was wir bereits wissen und was wir beweisen können.«
Diaz sagte nichts, rührte sich nicht, aber er schien wieder zu atmen, also setzte Elliot sich erneut vor den Computer und rief die Nachforschungen auf, die er in den letzten paar Stunden angestellt hatte. Er konzentrierte sich ebenfalls darauf, weiter zu atmen. Später würde er immer noch genug Zeit haben, um zu hyperventilieren, weil Stephen Diaz sich ihn ausgesucht hatte, um von Sex mit ihm zu träumen. Ihn. Heiliger Strohsack.
»Ich bin zurückgegangen und habe mir den Verlauf der Schwankungen deines Vernetzungsniveaus angesehen«, sagte Elliot und schaffte es irgendwie, ruhig und beherrscht zu klingen. »Und es gibt eindeutig einen Zusammenhang mit meiner Anwesenheit im Raum. Ich tauche auf und verpasse dir einen mentalen Ständer.« Er blickte zu Diaz auf, der wieder die Augen geschlossen hatte. »Okay, das war nicht witzig. Aber jetzt hab ich mich unangemessen verhalten, nicht du, klar? Aber zurück zu den Fakten – wir reden über den relativ geringen Unterschied zwischen der Achtundvierzig, wenn ich nicht im Raum bin, und einer Neunundvierzig oder echten Fünfzig, wenn ich da bin. Aber heute bist du plötzlich auf Achtundfünfzig und dann Sechzig hochgeschossen. Beide Zahlen hast du erreicht, nach …« Er räusperte sich. »… dem Körperkontakt. Zwischen uns.« Er widerstand dem Drang, sich noch mal zu räuspern. »Es lässt sich sehr leicht testen, ob das wieder passiert. Allerdings kann ich mich, soweit ich weiß, nicht erinnern, je mit dir in Körperkontakt gekommen zu sein. Vor heute. Nicht mal beiläufig, wie … Händeschütteln, als wir uns kennengelernt haben.«
Diaz nickte. »Das war Absicht. Als Sie – als du am OI angefangen hast, konnte ich meine Stromstöße noch kaum kontrollieren. Das Nichtberühren war zu deinem Schutz.«
»Ach«, sagte Elliot. »Natürlich.«
»Du dachtest, ich hätte ein Problem damit, dass du schwul bist.«
»Das dachte ich«, gab Elliot zu.
»Hatte ich nicht.«
Daraufhin sah Elliot vom Computer auf und wählte die folgenden Worte sorgfältig. »Hast du ein Problem damit, dass du schwul bist?«
Diaz schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich meine, ich weiß, ich habe gerade gesagt, dass ich nicht über den Sinn deiner Enthaltsamkeit sprechen will, aber … Kann es sein, dass du dich so verbittert an diese Abstinenz gehalten hast, weil du –«
»Nein.«
»Also stört es dich nicht – die Vorstellung, dass du in ein paar Stunden in die Besprechung mit Dr. Bach gehst und geoutet wirst –«
Vielleicht hatte Diaz doch nicht richtig geatmet, denn nun stieß er einen heftigen Atemzug aus. Es war beinahe ein Lachen. Aber nur beinahe. Er begann wieder auf und ab zu gehen. »Glaubst du wirklich, das macht mir was aus?«
»Nicht?«, fragte Elliot.
»Ich weiß, dass ich schwul bin, seit ich fünf war, okay?« Diaz drehte sich zu ihm um. »Ich war schon immer schwul. Ich habe kein Problem damit, schwul zu sein. Womit ich ein Problem habe, ist, dass ich dich in diese unglaublich peinliche Situation bringe. Das hatte ich sogar schon, bevor ich überhaupt wusste, dass ich mich mit meinen Gedankenübertragungen oder -projektionen oder was zum Geier ich auch immer mache, wenn ich schlafe, in deine Träume gedrängt habe!«
»Langsam«, sagte Elliot. »Okay, alles klar. Sprechen wir über die Sache mit dem In-meine-Träume-Drängen, wie du es nennst. Ich mache mal den Anfang und sage dir, dass diese Träume der absolute Höhepunkt meines Sexlebens sind – und ich rede von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und du wissen musst, dass ich rein gar nichts dagegen habe, überhaupt nichts. Ach, und wo wir gerade davon reden, hätte ich fürs nächste Mal eine kleine Bitte. Da du kontrollieren kannst, was passiert, könntest du vielleicht wenigstens mich kommen lassen? Ich meine, es ist ziemlich eindeutig, dass du die Träume bewusst abgebrochen hast, bevor –«
»Nicht«, sagte Diaz leise. »Mach dich nicht über mich lustig.«
»Was?«, sagte Elliot. »Moment, nein, ich –«
»Ich verstehe ja, dass es für dich keine große Sache ist«, sagte Diaz grob. »Aber für mich ist sie riesig.«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Elliot. »Ich wollte nicht respektlos sein.«
»Glaubst du ehrlich nicht, dass meine Enthaltsamkeit was mit meinem Vernetzungsniveau zu tun hat?« Diaz setzte sich, allerdings nur auf den vorderen Rand des Sessels, während er Elliot immer noch mit derselben Intensität ansah. »Du meinst, ich soll einfach sagen, zum Teufel damit?«
»Okay, jetzt bewegen wir uns, glaube ich, in einen extrem unangemessenen Bereich«, sagte Elliot. »Wie soll ich denn auf die Frage antworten?«
»Ehrlich.«
»Als Forscher«, fragte Elliot ihn, »oder als Mann, der dafür sterben würde, den Traum vom Haus deiner Großmutter einmal in Wirklichkeit zu erleben?«
Diaz schwieg, der Muskel in seinem Kiefer spielte.
»Es ist schwer für mich, die beiden zu trennen«, fuhr Elliot fort. »Klar, der Forscher ist ziemlich überzeugt davon, dass deine überraschenden sechzig Prozent nicht nur das Ergebnis davon waren, dass du heute Morgen die Arme um mich gelegt hast, sondern, dass es durch … intimeren Kontakt kam – und ich weiß, dass du weißt, worauf ich genau anspiele. Aber ich bin auch nur ein Mensch, Stephen – was bedeutet, ich bin voreingenommen. Ist es möglich, diese Voreingenommenheit zu bekämpfen? Natürlich. Aber will ich sie wirklich bekämpfen? Gute Frage.«
Diaz sagte immer noch nichts, aber er hörte eindeutig zu, also redete Elliot weiter.
»Ganz abgesehen davon, ist da noch die Frage, wie man überhaupt testen könnte, ob Enthaltsamkeit deine Vernetzung verbessert. Wir können den Einfluss dessen, dass du nichts tust, nicht wirklich testen – obwohl du das jetzt schon … wie lange machst?«
Diaz atmete wieder aus – diesmal nur ein kleiner Luftstoß. »Fünfzehn verfickte Jahre.«
Herrje, wirklich? Nur dank seiner langen Erfahrung als Wissenschaftler gelang es Elliot, seine Überraschung zu verbergen, doch er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Computer, da er den anderen nicht ansehen konnte. Insbesondere, da er ihn am liebsten korrigiert hätte – genau genommen waren es nicht gerade verfickte Jahre gewesen … Stattdessen klickte er sich seinen Weg in Diaz’ Datei und dann durch sie durch. Und fand heraus … »Genau so lang bist du hier, am OI.«
»Das ist korrekt.«
Aus dem Augenwinkel sah Elliot Diaz nach seiner Teetasse greifen und einen stärkenden Schluck nehmen.
»Du bist als Dreißig hergekommen«, sah Elliot beim Durchlesen der Akte. Ein paar rasche Klicks, und der Computer stellte die Daten in einer einfachen Grafik dar, die Diaz’ offensichtliche und schnelle Verbesserungen im ersten Jahr am OI zeigte. Innerhalb von Tagen nach seiner Ankunft war er auf fünfunddreißig, nach acht Monaten auf zweiundvierzig. Danach ging sein Anstieg der neuronalen Vernetzung langsam und gleichmäßig vonstatten, bis hin zu seinen momentanen knapp fünfzig. Umso erstaunlicher war der heutige Sprung auf sechzig.
»Ich habe draußen in Kalifornien trainiert«, rückte Diaz heraus, »und kam nicht voran. Dann bin ich zu einem Workshop mit Dr. Bach ins OI gekommen. Zur inneren Reinigung. Ich hatte einen Durchbruch, also … bin ich geblieben.«
»Das sehe ich.« Elliot drehte den Computer, damit Diaz die Grafik auch sehen konnte. »Weißt du, als Wissenschaftler könnte ich nicht sagen, was wirklich der Grund für die plötzliche Steigerung war. Natürlich kann ich annehmen, dass du dich als Teil von Dr. Bachs Workshop auch ans Sexverbot gehalten hast. Das war also sicher ein neuer Faktor. Aber deine Ernährung – während du hier warst, war schließlich auch neu.«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Diaz.
»Wir kaufen Obst und Gemüse aus der Region«, berichtigte Elliot ihn sanft. »Deine Ernährung war anders – vorausgesetzt, dein Trainingszentrum in Kalifornien hat seine Lebensmittel nicht auch aus Massachusetts bezogen, was wir wohl ausschließen können. Andere mögliche Ursachen: Unser Leitungswasser ist anders. Selbst wenn du Wasser aus der Flasche trinkst, duschst und putzt du dir wenigstens die Zähne mit dem Zeug aus unseren Speichern. Du warst auf einem anderen Längen- und Breitengrad – die Sonne hat einen anderen Neigungswinkel. Und sie ist auch zu anderen Zeiten am Tag auf- und untergegangen, als du es von Kalifornien gewöhnt warst. Wahrscheinlich hattest du bei der Ankunft eine Form von Jetlag – der irgendwas ausgelöst haben könnte. Ach ja, und du hast mit einem neuen Lehrer gearbeitet – der vielleicht wirklich entscheidende Faktor. Weißt du, dass die beste Erklärung für ein Ereignis meistens die einfachste ist? Hat der Verzicht auf Sex dir bei deiner Arbeit mit deinem neuen Lehrer geholfen? Am Anfang wahrscheinlich schon, es kann dir auf jeden Fall geholfen haben, dich zu konzentrieren und jene anfänglichen großen Sprünge zu machen, aber … Die meiste Zeit, Stephen, waren deine Fortschritte unauffällig. Bis heute.«
Elliot zog den Computer wieder zu sich. »Wenn es für dich okay ist, fordere ich beim OI-Hauptrechner einen Quick-Scan an«, fuhr er fort. »Und checke dein Vernetzungsniveau. Mal sehen, wo du jetzt im Moment stehst.«
Diaz nickte und atmete wieder scharf aus, während er seine Tasse auf den Untersetzer zurückstellte.
»Hier«, sagte Elliot zu ihm. »Komm hierher. In deiner Wohnung sind ja Privatsphäre-Schilde installiert …« Nicht jeder am OI entschied sich für diese Option. Elliot wusste mit Sicherheit, dass es Mac piepegal war und es ihr sogar lieber war, wenn die Routine-Scans an ihr ausgeführt wurden, während sie schlief. Aber Stephen Diaz hatte die Schilde installieren lassen. »Du musst näher am Computer stehen, und ich brauche Zugang zu Tastatur und Monitor, um …« Wenn Diaz sich neben ihm befand und Elliot den Computer leicht bewegte, konnte der Sensor des Laptops Diaz scannen, während Elliot die Tastatur bediente.
Natürlich bedeutete das auch, dass Diaz sich neben ihn auf die Couch setzen musste. »Selbstverständlich ist dieser Scan über deinen Laptop nicht allzu exakt« rekapitulierte Elliot altbekannte Tatsachen. »Um die Vernetzung bis hin zu den Nachkommastellen zu bestimmen, müssen wir ins Labor gehen, aber das hier gibt uns eine ungefähre Vorstellung davon, wo du stehst und was passiert, wenn wir, ähm, ein bisschen was verändern.«
»Ein bisschen was verändern?«, wiederholte Diaz, während der Quick-Scan ausgeführt wurde.
»Aha, du bist schon hoch auf fünfundfünfzig«, erwiderte Elliot. »Wie gesagt, ungefähr. Aber das ist trotzdem ein deutlicher Anstieg gegenüber deinem normalen …« Er wandte sich zu Diaz. »Wie fühlst du dich? Irgendwelche neuen Fähigkeiten – kannst du Feuer rülpsen oder deine Wollmäuse reanimieren – streich das, bei dir gibt’s gar keine Wollmäuse.« Das hier war höchst wahrscheinlich die sauberste Wohnung, in der er je gewesen war, in seinem ganzen Leben.
Diaz schaffte es zu lachen – ein kleines bisschen – und schüttelte den Kopf. »Nichts bemerkt. Ich meine, alles scheint ein bisschen schärfer zu sein – die Farben kräftiger, Geräusche deutlicher.«
»Eine Erhöhung der Seh- und Hörschärfe, hm. Das ist interessant.« Elliot stellte den Computer so ein, dass er Diaz fortwährend scannte. »Was ist mit telepathischen Fähigkeiten? Wo stehst du da?«
»Weiß nicht.«
»Warum versuchst du nicht, meine Gedanken zu lesen?«
Diaz nickte, holte tief Luft und schloss die Augen.
Und Elliot spürte den Groß-Than am Rande seines Bewusstseins – ein leichtes Anstupsen, das rasch nachließ. Noch eins, aber auch dieses verebbte schnell. Diaz’ Vernetzungsniveau auf dem Bildschirm fiel wie ein Stein auf vierundfünfzig. Das war interessant. Vielleicht eine Reaktion auf den missglückten Versuch …?
»Nein«, sagte Diaz und schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Tut mir leid, ich kann nicht …«
»Keine Sorge«, sagte Elliot. »Atme weiter. Du machst das gut. Und jetzt werden wir, du weißt schon, ein bisschen was verändern. Denn vorhin war deine Telepathie mit mir vom Körperkontakt abhängig. Und so war es auch, als ich es das erste Mal bemerkt habe. Weißt du noch, was im Flur passiert ist? Nachdem Mac dich umgerannt hat? Ich, ähm, habe eine Ladung abgekriegt, als ich versucht habe, dir aufzuhelfen.«
Diaz schloss wieder die Augen. »Du musst ja denken, ich laufe herum und denke an nichts anderes als …«
Elliot hielt die Augen auf den Monitor gerichtet und konnte beobachten, wie Diaz’ Vernetzungsniveau wieder auf fünfundfünfzig stieg. Sehr interessant! Aber es war nicht nur der Wissenschaftler in ihm, der Diaz aus seiner Sicherheitszone schubsen wollte. Es war der Mann, der Diaz’ unvollständigen Satz halb im Spaß beendete: »An nichts anderes, als es mit mir zu treiben?«
Es war derselbe Kerl, der sich zu Stephen drehte und ihn mit brennenden Augen direkt ansah und ihn wissen ließ, dass eine solche Möglichkeit für ihn mehr als in Ordnung war.
Denn das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Und tatsächlich war Diaz’ Niveau weiter angestiegen, als Elliot wieder auf den Computer blickte, dieses Mal auf sechsundfünfzig. Faszinierend. Und dabei hatten sie sich noch nicht mal berührt.
Aber Diaz sah gar nicht glücklich, sondern vielmehr bitter und traurig aus.
»Das ist es, denkst du?«, sagte er leise. »Du glaubst, dass es nur um den Sex geht, aber … so ist es nicht. Ich liebe dich, Elliot. Ich liebe dich schon seit sieben Jahren.«