7

»Und wenn ich nicht hierbleiben will«, sagte Anna Taylor gerade, »werden Sie … Ihre Kräfte anwenden, um in meinem Kopf herumzupfuschen, damit ich denke, ich will es.«

Bach konnte Elliot nur beipflichten, der den Raum sehr leise verlassen und die Tür mit einem kaum hörbaren Klicken hinter sich geschlossen hatte.

Autsch.

Und obwohl es viele Möglichkeiten gegeben hätte, Anna darauf zu antworten, entschied er sich für die Wahrheit: »Um derart Ihre Gedanken zu kontrollieren, müsste ich mich permanent in ihnen einnisten. Ihrem Kopf.«

Sie schwieg und starrte ihn bloß an, also räusperte er sich und fuhr fort.

»Ich tue mein Bestes«, sagte er leise. »Was kann man schon mehr machen? Heute Nacht habe ich gehandelt, weil sie unbedingt diese Gegend verlassen mussten. Die Polizei war bereits auf dem Weg zu Ihrer Wohnung, mit einem Haftbefehl im Zusammenhang mit Nikas Verschwinden.«

Nun kam Leben in ihre Gesichtszüge – sie lehnte sich auf ihrem Stuhl nach vorne, und ihre braunen Augen loderten. »Das ist doch absurd! Ich habe doch die Vermisstenanzeige aufgegeben. Selbst wenn sie Grund hätten zu glauben, dass ich Nika etwas antun würde – was nicht der Fall ist! –, denken die im Ernst, dass ich meine Spuren verwischen würde, indem ich fünfhundert Dollar ausgebe, die ich nicht mal habe?«

»Was die denken, spielt keine Rolle«, sagte Bach ihr mit ausdrucksloser Stimme. »Was zählt, ist, dass sie Sie in Haft genommen hätten. Und wenn Sie erst mal in dem System drin gewesen wären, hätten die Leute, die Nika entführt haben, Zugriff auf Sie gehabt, aber ich nicht. Das konnte ich nicht zulassen.« Er beugte sich ebenfalls vor.

»Ich weiß, Sie wollen das nicht hören«, fuhr er fort, »aber wenn Sie hier weggehen, werden Sie von der Polizei festgenommen. Es spielt keine Rolle, warum, es spielt keine Rolle, ob Sie all ihre Fragen beantworten oder sogar ein legitimes Alibi liefern können. Ich bin sicher, dass Sie das können. Aber solange dieses Alibi überprüft wird, werden Sie in eine Zelle mit Leuten gesteckt, die bereits den Befehl erhalten haben, Sie zu töten. Sie müssen mir glauben, Anna, wenn ich Ihnen sage, das die Gesellschaft einen langen Arm hat.«

Er jagte ihr Angst ein. Aber er wusste, dass sie ihm immer noch nicht glaubte. Nicht ganz. »Ich dachte, die Polizei sei unterbesetzt. Warum sollte sie überhaupt Zeit für dieses vermisste Mädchen verschwenden?«

»Weil auch die ihre Befehle haben«, sagte Bach zu Anna. »Die Gesellschaft hat überall ihre Finger im Spiel.«

»Auch hier?«, fragte sie. »Im Obermeyer-Institut?«

»Nein«, sagte Bach. »Hier nicht. Jeder, der das Gelände betritt, wird überprüft.«

»Überprüft«, wiederholte sie. »Von Ihnen und den anderen Zweiundsiebzigern?«

»Es gibt keine anderen Zweiundsiebziger im OI«, sagte er. »Wir haben zwei Fünfziger. Eine ordentliche Anzahl Vierziger. Vierzig gilt als sehr hoch. Aber selbst die Fünfziger können nicht auf dem Niveau überprüfen wie ich.«

»Dann sind Sie also eine Art Fürst«, sagte sie. »Oder sollte ich vielleicht König sagen. Der König der Gedankenpolizei. Nika muss sehr wichtig für das Institut sein, wenn Sie dabei eingeschaltet werden. Darf ich annehmen, dass ich als sauber befunden wurde? Wo ich schon überprüft wurde?«

»Ja«, sagte er.

»Das klingt ja ungemein beruhigend. Wenn man bedenkt, dass man es auch geistige Invasion oder Missachtung der Privatsphäre nennen könnte.«

»Die meisten, die herkommen, machen das freiwillig«, sagte er, einen Tick schärfer als er eigentlich wollte. »Sie sind froh über den Schutz.«

Und dann saßen sie da und starrten sich gegenseitig über den Konferenztisch hinweg an.

»Ich bin kein König oder so«, fügte Bach hinzu. »Ich bin bei Weitem nicht perfekt. Aber, wie gesagt, ich tue mein Bestes.« Er stand auf. »Wie wär’s, wenn ich Ihnen Ihr Quartier zeige? Die Einrichtungen hier sind sehr komfortabel. Vielleicht hilft es Ihnen bei der Entscheidung hierzubleiben, wenn Sie Ihre Wohnung sehen.«

»Ich habe mich schon entschieden«, sagte sie und sah ihn an. »Hierzubleiben.«

Bach war so erleichtert, dass er kaum sprechen konnte, also nickte er. Und brachte schließlich ein »gut« hervor.

»Da es mir egal ist, wo ich wohne«, sagte Anna zu ihm, während sie ebenfalls aufstand, »es mir aber nicht egal ist, ob meine Schwester gefunden wird, könnten Sie mir vielleicht den Teil des Gebäudes zeigen, wo Ihre Analysten Nikas Handy orten und diese Satellitenbilder ihres Schulwegs absuchen.«

Bach nickte wieder. Das konnte er tun.

Elliot war immer noch verwirrt und beunruhigt. Und erregt.

Mac konnte es spüren – es strahlte immer noch von ihm ab, während sie auf die Lounge des OI zugingen, die ziemlich sterile Umgebung des medizinischen Flügels verließen und den viel prunkvolleren, älteren Teil des Sandsteingebäudes betraten, bekannt als Old Main.

Der Doktor hatte überhaupt keine Möglichkeit, seine Gefühle abzuschirmen. Und als gelegentlicher Fünfzehnprozentiger, oder vielleicht auch nur als hochintelligenter Schwuler, hatte er schon von Natur aus eine erhöhte Empathie. Klar, das war ein Klischee, aber in Elliots Fall traf es zu. Er war wirklich empathischer als die meisten Menschen und außerdem unbestreitbar und unverhohlen schwul – was einer der Hauptgründe war, warum er und Mac so enge Freunde geworden waren. Als Schwuler war er immun gegen ihre spezielle Fähigkeit, und so wusste Mac, dass seine Freundschaft zu ihr echt war.

Sie mochte Elliot auch, weil der Mann absolut nicht in der Lage war, einem was vorzumachen und überdies noch ahnungslos, dass er für die meisten Groß-Thans so leicht zu durchschauen war – dadurch war es doppelt erfrischend, dass er noch nicht einmal versuchte, jemandem was vorzumachen.

Und deswegen war dieses Nichts, das er vor dem Untersuchungszimmer gesagt hatte, besonders merkwürdig.

Was versteckte er?

Wenn das im Flur nicht Diaz gewesen wäre, hätte Mac vermutet, dass sich Els gebrochenes Herz ausreichend erholt und er sich endlich mal wieder auf ein kleines, unerlaubtes Techtelmechtel eingelassen hatte.

Aber es war Diaz gewesen, was bedeutete, dass da rein gar nichts lief. Zumindest nicht von Diaz aus. Dessen Sexualität war ja nun wirklich total blockiert.

Elliot öffnete die Tür zur Lounge, hielt sie für Mac auf und ließ ihr den Vortritt. Der dunkel getäfelte Raum war in den voruniversitären Zeiten ein Herrenclub gewesen. Zu dieser nächtlichen Stunde war er menschenleer. Die meisten Mitarbeiter schliefen, und den Potenziellen waren die Tore noch verschlossen. Aber die Lounge blieb offen. Immer. Die private Bar des OI hatte Öffnungszeiten wie in Las Vegas: rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Es gab niemals eine letzte Bestellung.

Mac schlüpfte in ihre Lieblingssitznische, ganz in der Ecke, und Elliot setzte sich ihr gegenüber. »Also, wann hast du dich in D verknallt?«, fragte sie ihren Freund.

Elliot verdrehte die Augen, aber er stritt es nicht ab. »Gibt es irgendjemanden im OI, der nicht in Stephen Diaz verknallt ist?«

»Du meinst außer mir?«, fragte sie, und er hob betont eine Augenbraue. »Hey. Ich bin seit Jahren über ihn weg.«

»Ich habe hin und wieder – okay, des Öfteren – einen heißen Traum«, sagte Elliot mit der Ehrlichkeit, die quasi zu seinem Markenzeichen geworden war. »Es wird anscheinend ausgelöst, wenn ich im Flur an ihm vorbeigehe. Und wenn du das vor irgendwem wiederholst, werde ich es abstreiten. Das Letzte, was ich will, ist ihn in Verlegenheit bringen.«

Er verstummte sofort, als die Barkeeperin und Köchin – eine große, strohblonde Frau namens Louise – ihnen das Übliche brachte. Sie machte sich nicht mal die Mühe, die Bestellung aufzunehmen, sondern brachte einfach ein Glas Wein für Mac – sie trank nie etwas Härteres, wenn sie auf dem Gelände war – und einen Kaffee für Elliot.

»Danke«, sagte Mac, und auch Elliot nickte, blickte Louise hinterher, wie sie sich wieder zur Theke durchschlängelte, und wartete offensichtlich, bis sie ganz außer Hörweite war.

Und dann kam es.

»Okay, wir sind hier«, sagte er. »In der Lounge. Spuck’s aus, Mackenzie. Was zum Teufel ist los?«

Als sie noch im medizinischen Flügel gewesen waren, hatte Elliot sie gescannt und eine längere Untersuchung als normalerweise durchgeführt, und als sie in Unterwäsche auf dem Tisch lag, hatte er beim Anblick der Testergebnisse angefangen, die Stirn zu runzeln. Es schien, als wäre ihre Vernetzung etwas angestiegen – sie lag bei zweiundfünfzig statt ihrer üblichen neunundvierzig Komma fünf.

»Welchen Knöchel hast du dir verletzt …?«, hatte er gefragt.

»Den linken«, hatte Mac ihm gesagt. »Aber ich glaube, so schlimm war es gar nicht. Er ist ziemlich schnell geheilt.«

»Das glaube ich nicht«, hatte Elliot gesagt und einen Stift geholt, den man DEET nannte und mit dem er über den fraglichen Fuß fuhr, um eine detailliertere Analyse zu erhalten.

»Es geht schon wieder«, hatte sie beharrt, als er wieder mit gerunzelter Stirn auf den Computerbildschirm blickte. »Ich kann auftreten. Kein Schmerz.«

Und da ließ er die Bombe platzen. »Es wird als komplett geheilter Bruch angezeigt«, sagte er. »Du hast ihn dir gebrochen, an mehr als einer Stelle. Und Bänder waren auch beschädigt, plus ein leichter Riss in der Aponeurosis plantaris … alles mit Narbengewebe verheilt, wie ich es bei einer Verletzung erwarten würde, die mindestens ein Jahr alt ist. Mindestens.«

Mac hatte ihn angestarrt. »Im Ernst?«

»Jepp«, sagte er. »Und nur zur Info, wenn du mit einem so schweren Bruch angekommen wärst, hätte ich dich in den OP geschickt. Wie in aller Welt hast du das angestellt?«

»Ich bin eine Treppe runter«, begann sie zu erzählen, »und gefallen –«

»Nein«, hatte Elliot gesagt. »Hallo. Ich weiß, wie es passiert ist. Es war schließlich eins der wenigen Dinge, die du in deinen Bericht aufgenommen hast, aber zu dem, was du alles ausgelassen hast, kommen wir später. Was ich jetzt wissen will, ist, wie du ihn geheilt hast. Schnell ist gar kein Ausdruck … Was ich da sehe, ist …« So ernst hatte sie ihn noch nie erlebt, als er vom Computer aufsah. »Es ist unmöglich.«

»Offensichtlich nicht«, hatte Mac erwidert. Und dann hatte sie ihm gesagt, dass sie eine Theorie habe, aber in die Lounge gehen wolle, um darüber zu sprechen.

Zu ihrer Überraschung hatte er tatsächlich zugestimmt – was wahrscheinlich mehr mit dem Vorfall mit Diaz auf dem Flur zu tun hatte, als mit dem Wunsch, Mac zu besänftigen.

Trotzdem war sie froh, denn das war kein Gespräch, das sie führen wollte, während sie in Unterhose auf einem Tisch saß und er die Rolle ihres Hausarztes spielte. Das war ein Gespräch, das sie mit ihrem Freund El führen wollte.

Doch nun saßen sie hier, und Elliot schenkte ihr seine ganze Aufmerksamkeit und wartete auf ihre Theorie, wie und warum sie einen ernsthaften Bruch im Fußgelenk innerhalb weniger Stunden heilen konnte.

Mac nahm einen stärkenden Schluck Wein. Und dann sagte sie es einfach. »Ich habe rausgefunden, dass meine Verletzungen wesentlich schneller heilen, wenn ich Sex habe.«

Elliot lachte. Nur kurz. Dann beugte er sich leicht vor und fragte: »Wirklich?«

Mac nickte.

Er holte tief Luft, atmete dann scharf aus und gab zu: »Mir gehen gerade so viele Fragen und Anmerkungen durch den Kopf, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.« Er rieb sich das Kinn und starrte erst in seinen Kaffee, dann auf den Tisch und dann an die Wand, bevor er sie wieder ansah. »Okay, ich geb’s auf. Ich versuche gar nicht erst, es zu strukturieren und schieß einfach aufs Geratewohl los. Was ich sage, ist nicht nach Wichtigkeit geordnet, also, ich fang einfach mal an mit Wie lange weißt du das schon? Gefolgt von Ich dachte, wir wären Freunde. Wieso hast du mir das nie erzählt? Und dann, Mit wem genau schläfst du dann? Und sag jetzt bitte nicht, mit dahergelaufenen Fremden.«

»Ich weiß es seit Jahren, und ich hätte es dir schon längst erzählen sollen«, gab sie zu. »Das tut mir leid. Aber es war schwer, den Freund vom Forscher zu trennen, und ich wollte nicht, dass über das Thema ein Bericht verfasst wird.«

»Gut«, sagte er und lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Vielen Dank für dein Vertrauen in mich.«

»Ich habe Vertrauen in dich«, sagte sie. »Dieser Job ist dein ganzes Leben, El.«

»Das ist doch, als wenn ein Esel den anderen Langohr schimpft!«

»Du weißt ganz genau, dass du einen Report schreiben musst«, gab sie zurück. »Was mit meinem Fuß passiert ist … das ist zu wichtig. Willst du das etwa vor Bach geheim halten?«

»Du hast es doch auch die ganze Zeit vor Bach geheim gehalten«, konterte er.

»Eigentlich nicht«, sagte Mac, »denn vor heute Nacht war der Schub bei meiner Selbstheilung lange nicht so drastisch – und damit kommen wir zur Beantwortung deiner letzten Frage. Mit wem ich schlafe.« Sie nahm noch einen Schluck Wein. »Bis heute Nacht hatte ich einen, na ja, Freund. Justin. Du kennst ihn nicht. Wir hatten eine Wohnung in Back Bay. Wir waren seit … ein paar Jahren zusammen.«

»Ein paar Jahren?«, wiederholte Elliot mit starker Ungläubigkeit.

»Tut mir leid«, sagte sie wieder. »Es war einfacher, solange du es nicht wusstest. Ich wollte nicht, dass du Bach anlügen musst.« Als hätte er das überhaupt gekonnt …

Er wusste, was sie dachte. »Das ist so scheiße von dir. Du warst die ganze Zeit mit diesem Justin zusammen …« Aber dann wurde ihm bewusst, dass sie von Justin in der Vergangenheit sprachen. »Bis heute Nacht, hast du gesagt. Was ist denn heute Nacht passiert?«

»Er hat mich abserviert«, gab Mac zu. »Er ist einfach ausgezogen. Ich kam nach Hause, und er war weg. Es war wie ein Schock, wenn du es genau wissen willst.«

Elliot atmete scharf aus und griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. »Tut mir echt leid«, sagte er. »Ich find’s immer noch scheiße von dir, aber … es tut mir leid.«

»Es ist wirklich nicht so schlimm, wie es klingt«, sagte sie. »Oder … vielleicht ist es noch schlimmer, denn ich … ich hab ihn eigentlich gar nicht geliebt, El. Zumindest nicht genug. Ich bin sicher, in gewisser Weise wusste er das, und …«

»Aber trotzdem, dich einfach so zu verlassen«, sagte Elliot. »Ohne Warnung? Das ist ziemlich mies.« Er seufzte. »Ich wünschte echt, du hättest es mir erzählt. Ich meine, du hattest quasi ein heimliches Leben außerhalb des OI, und … ich hatte überhaupt keine Ahnung davon.«

»Niemand wusste davon«, sagte Mac. »Na ja, außer Diaz. Ich bin ziemlich sicher, dass er einen Verdacht hatte.«

Als sie am Institut angekommen war, damals noch als Potenzielle, hatte sie erst versucht, Joseph Bach zu verführen, und dann Stephen Diaz. Vergeblich. Und Diaz hatte ihr nicht nur einen Korb gegeben, sondern sie auch später davon abgehalten, sich unter den anderen Trainees und Rekruten einen Lover zu suchen. Er hatte ihr mit deutlichen Worten gesagt, dass sie, wenn sie das strenge Gebot des Zölibats missachtete, vom Campus fliegen würde.

Jetzt sah sie Elliot an. »Hast du ernsthaft geglaubt, dass ich die ganze Zeit enthaltsam lebe? Ich?«

Er blinzelte. »Ich schätze … ich hab nicht drüber nachgedacht. Ich meine, wenn ich jetzt drüber nachdenke, ist es ziemlich lächerlich. Obwohl … Du hattest viel zu tun, und Leute, die viel arbeiten, haben nicht immer … Ich meine, ich hatte keinen Sex. Jetzt schon seit drei Jahren nicht.« Er machte ein finsteres Gesicht. »Mann, das ist eine lange Zeit, oder?«

Mac nickte. »Und es gibt einen Unterschied zwischen keinen Sex haben und das Zölibat in dem Sinne leben, wie die Trainees aufgefordert werden, es zu tun. Also, ganz im Ernst. Glaubt wirklich irgendjemand, dass wir irgendwas davon haben, dass wir unsere sexuelle Energie umlenken? Ich offensichtlich nicht, denn ich habe sie nicht umgelenkt. Und Diaz? Er hat sich definitiv an das Programm gehalten. Nur dass wir beide zum selben Zeitpunkt die fünfzigprozentige Vernetzung erreicht haben, und ich, ohne mich selbst zu quälen. Ich habe das nicht in meinen Bericht von heute Nacht geschrieben – du weißt schon, über die Hempford-Verhaftung … Aber ich wollte, dass du es weißt, für den Fall, dass es was damit zu tun hat, dass Diaz dir auf dem Flur einen Stromstoß verpasst hat –«

»Er hat mir keinen Stromstoß verpasst«, sagte Elliot.

»Wie auch immer. Aber diese Mauer aus Schmerz, mit der wir den Joker umgehauen haben«, sagte Mac. »Diaz’ Beitrag war, ihm mit einer Riesenportion sexueller Frustration den Arsch zu versohlen. Er hat nicht nur seit Jahren keinen Sex gehabt, sondern sich überhaupt keine Art der sexuellen Erleichterung gestattet, also …«

Elliot lachte ungläubig auf. »Das kannst du doch gar nicht wissen.«

»Doch«, sagte Mac und nickte nachdrücklich »Kann ich. Der Typ masturbiert noch nicht mal. Als er das aufgemacht und losgelassen hat, war es, als würde man von einer dicken Abrissbirne getroffen. Oder, genauer gesagt, von einem Paar dicker Eier.«

»Himmel.« Elliot, der jetzt wieder mit leicht leerem Blick in seinen Kaffee starrte, schien den Witz gar nicht gehört zu haben.

»Weißt du, wenn du gefragt hättest«, sagte sie zu ihrem Freund, »hätte ich es dir gesagt. Das mit Justin. Aber du hast nie gefragt.«

Er blickte zu ihr auf, und sie konnte sehen, dass er das akzeptierte. »Okay. Aber die Geschichte geht noch weiter, oder? Was ist heute Nacht passiert? Du bist nach Hause gekommen –«

»Es ist nicht mein Zuhause«, unterbrach sie ihn. »Es ist nur eine schäbige Wohnung.«

»Jedenfalls«, sagte er, »du bist da hingekommen, der Lustknabe ist weg, und … was dann?«

»Ich bin in eine Kneipe«, erzählte Mac. »Und ich muss wohl ein Signal ausgesandt haben. Du weißt schon, die Sache mit dem erhöhten Charisma, wodurch ich die Kerle glauben lasse, dass ich ziemlich heiß bin …? Ich muss mich wohl ausgerichtet und Pheromone ausgestrahlt haben – da waren meine Kräfte wohl auf Autopilot – wahrscheinlich, weil ich mies drauf war wegen Justin. Zumindest dachte ich das zunächst. Aber dann … Es ist durchaus möglich, dass der Kerl, den ich abgeschleppt habe, sich selbst ausgerichtet hat.«

»Oh nein.« Elliot konzentrierte sich auf den falschen Teil dessen, was sie gerade gesagt hatte. »Der Kerl, den du abgeschleppt hast?«, wiederholte er angewidert.

»Hör doch zu, was ich sage«, sagte Mac und lehnte sich über den Tisch. »Dieser Typ, den ich in der Kneipe getroffen habe … Ich glaube, ich bin noch nie jemandem begegnet, der so attraktiv ist. Niemals. Da müssen besondere charismatische Kräfte im Spiel gewesen sein.«

Mac sah zu, wie Elliot sich die Zeit nahm, zwei und zwei zusammenzuzählen, aber schließlich wurde ihm klar, was sie da gerade gesagt hatte. »Du hast es heute Nacht mit einem anderen Groß-Than getrieben?«

»Ich glaube, ja«, sagte sie. »Ich meine, noch ist er keiner. Kein Groß-Than. Er hatte noch kein Training, aber … ich schwöre, ich habe es erst hinterher erfahren … Also, er hat mir gesagt, dass er ein Potenzieller ist. Er beginnt morgen mit dem Programm.«

Elliot fiel der Kiefer herunter. »Hier am OI?«

»Jepp.«

»Oh Scheiße«, sagte er.

Mac nickte, und zu ihrem Schrecken füllten sich ihre Augen tatsächlich mit Tränen – das war doch bescheuert. Ihre Augen waren knochentrocken gewesen, als sie Elliot von Justin erzählt hatte. Sie zwang die überschüssige Flüssigkeit, schnell zu verschwinden, bevor Elliot es sehen konnte. »Als ich es erfahren habe, habe ich ihm gesagt, dass ich mich nicht mehr mit ihm treffen kann.«

»Wer ist es? Weißt du, wie er heißt?«, fragte Elliot.

Mac sah ihn bloß an und machte keinen Hehl aus ihrem Widerwillen.

»Also, für mich hört es sich ziemlich nach Frust-Sex an, und ich weiß ja nicht, wie du so was handhabst«, sagte er. »Ich meine, wenn du deine superheißen Schwingungen ausgesandt hast, und er auch … hätte das ziemlich schnell ziemlich intensiv werden können. Nach meinem Wissensstand könnte dein Fuß schon in der Männertoilette in der Kneipe verheilt sein.«

»Oh Mann, vielen Dank«, sagte sie.

»Schau mir in die Augen, und sag mir, dass du noch nie Sex in der Männertoilette einer Kneipe hattest«, entgegnete Elliot.

»Noch nie«, sagte sie.

»Okay, dann eben auf der Damentoilette«, sagte er. »Oder der Gemeinschaftstoilette – du weißt genau, was ich meine. Hallo? Ich war auch mal jung und verrückt.«

»Sagt der uralte Knacker, der – wie viel, zwei Jahre? – älter ist als ich und seit drei Jahren nicht flachgelegt wurde.«

»Touché.«

»Fürs Protokoll«, sagte Mac, »die beschleunigte Heilung meines Knöchels fing schon an, als wir an der Bar saßen. Er hat mich berührt und … es war Wahnsinn, El. Und ich dachte, okay, Justin ist weg, warum nicht ein bisschen experimentieren? Aber als wir draußen waren, habe ich ihn geküsst, und danach – konnte ich rennen.«

»Machst du Witze?«, sagte Elliot. »Mit der Verletzung …?«

»Als wir dann Sex hatten«, berichtete sie, »gab es eine Art Spannungsanstieg – ich glaube, den muss auch er verursacht haben. Also, unbewusst. Alle Sicherungen sind rausgesprungen. Außerdem bin ich ziemlich sicher, dass jede Glühbirne im Haus durchgebrannt ist. Später habe ich eine Kerze angezündet, und … Zuerst dachte ich, die Kerze taugt einfach nichts, aber dann habe ich darüber nachgedacht und bin ziemlich sicher, dass er das auch war – weil das Wachs nämlich extraschnell runtergebrannt ist.«

»Du denkst also, dass er deinen Fuß irgendwie geheilt hat. Dieser mysteriöse Potenzielle, dessen Namen du mir noch nicht verraten hast.«

Mac lachte verzweifelt und nickte. »Ich weiß, dass ich dir sagen muss, wer es ist«, sagte sie. »Er ist ein früherer Navy SEAL. Er ist absolut geeignet für das Programm – bis auf den Mist mit dem Zölibat. Da werden wir es mit einigem Widerstand zu tun bekommen.«

Darüber musste Elliot lachen. »Aber, um mal beim Thema zu bleiben – andere zu heilen ist eine Eigenschaft, die uns noch nie untergekommen ist«, erinnerte er sie. »Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass du das nicht alles selbst warst. Du hast doch damit angefangen, dass du auch schon vor heute Nacht einen Zusammenhang zwischen Sex und Heilung festgestellt hast.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Schon mal versucht, ähm«, er räusperte sich, »dich selbst zu heilen?«

Mac seufzte. »Ja«, sagte sie. »Und nein, allein funktioniert es nicht. Gott, die Tests, die du durchführen wirst, um diese Theorie zu bestätigen, werden ziemlich peinlich, oder?«

»Was«, fragte Elliot, »wenn Bach sich all die Jahre geirrt hat? Was, wenn Sex die Fähigkeit zur Vernetzung erhöht, anstatt sie zu behindern? Das wird er wissen wollen.«

Mac war sich da nicht ganz sicher. Sie trank ihren restlichen Wein in einem Zug aus. »Er heißt Shane Laughlin.«

Elliot nickte. »Ich weiß. Spätestens seit du Navy SEAL gesagt hast. Nur zu deiner Information, auf dem Papier ist er nichts Besonderes. Ein Siebzehner. Also, er ist vielleicht ein bisschen besonders, aber trotzdem. Er ist fast dreißig Jahre alt. Es ist nicht so, dass er dreizehn ist und sich seine Kräfte noch entwickeln. Und er kommt auch nicht mit dreißigprozentiger Vernetzung hier an, wie du damals.«

»Teste ihn«, sagte Mac zu ihrem Freund. »Nimm ihn aus der Gruppe und geh das Prozedere durch.«

»Das werde ich«, sagte Elliot. »Und du kannst mir dabei helfen.«

»Nein.« Sie stand auf. »Ich nehme mir ein paar Tage frei.« Sie wollte diesem Typen nicht auf dem Flur oder gar im Labor begegnen. Obwohl, wenn Shane, wie sie es annahm, über die entsprechenden Kräfte verfügte, würde er noch da sein, wenn sie zurückkehrte. Gott, das würde nervig werden.

Aber Elliot schüttelte den Kopf. »Scheiße, du weißt es ja noch gar nicht, oder? Du hast es noch nicht gehört, natürlich nicht, du kamst ja erst, als …«

»Was gehört?«, fragte Mac.

»Nika Taylor wurde geschnappt.«

»Die Dreizehnjährige?«, sagte Mac. Ungefähr zwei Minuten bevor der Anruf wegen des Jokers Nathan Hempford gekommen war, hatte sie von Bach eine E-Mail wegen des Mädchens bekommen. Er hatte Mac dabeihaben wollen, wenn er zu ihr ging, um sie anzuwerben.

Elliot nickte.

»Worauf zum Teufel hat Bach gewartet?«, platzte es aus Mac heraus. »Gott, irgendjemand muss diese Mädchen beschützen!«

»Moment, wie sich herausgestellt hat, wurde sie entführt, bevor wir überhaupt von ihr wussten«, sagte Elliot. »Die Entführung fand heute Nachmittag statt, aber wir haben erst heute Abend von ihrer Existenz erfahren. Wir können nur tun, was wir können.«

»Also, was auch immer wir tun«, sagte Mac und ging auf die Tür zu, »wir müssen es verdammt noch mal besser machen!« Sie wirbelte wieder zu Elliot herum und sagte: »Du weißt, was diese Arschlöcher mit dem Mädchen machen? In diesem Moment?«

»Ja, ich weiß«, sagte er kleinlaut. »Mac, es tut mir leid, ich wollte dich nicht –«

»Wo ist Bach?«, fragte sie.

»Er ist bei Nikas älterer Schwester«, sagte Elliot. »Und versucht, sie einzugewöhnen.«

»Sag ihm, dass ich rausgehe«, sagte Mac. »Ich gehe mich nach Dealern umschauen. Ich mache irgendwen ausfindig, der das Mädchen gesehen hat – jemanden, der weiß, wo sie festgehalten wird. Und dann geh ich da rein und bringe sie nach Hause.«

Denn wenn dieser Job schon ihr Leben bestimmte, was so weit ging, dass sie vielversprechende Liebhaber auf der Straße abwimmeln musste, würde sie wenigstens dafür sorgen, dass er es wert war.

»Mac, warte!« Elliot rannte hinter ihr her, aber sie wurde erst langsamer, als er sagte: »Ich habe gerade eine SMS von der Analyse bekommen. Sie haben mit ziemlicher Sicherheit die Satellitenbilder von Nikas Entführung gefunden. Die willst du doch bestimmt sehen, bevor du irgendwohin gehst.«