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Der Mann hatte seine eigene Familie als Geiseln genommen.
Mac Mackenzie konnte die Angst der Frau und der drei Kinder des Jokers spüren und hörte ihr Weinen, während sie rasch die Hausseite erklomm, bis hinauf zum Dach. Ihr Ziel war ein kleines Fenster im zweiten Stock, an der Rückseite des Hauses, das einen Spaltbreit offen stand.
Die ruhige Stimme von Stephen Diaz, der mit dem Teamleiter, Dr. Joseph Bach, unten wartete, ertönte in ihrem Funkkopfhörer. »Bereit, wenn du es bist.« Zwischen den Zeilen hörte sie heraus: Die Zeit läuft, dumme Zicke. Wir warten nur auf dich … Na ja. Das mit der dummen Zicke war ihre eigene Ausschmückung. In den ganzen zwölf Jahren, seit Mac Diaz kannte, war er ihr stets mit Respekt begegnet. Selbst in jener Nacht – vor sehr langer Zeit –, als sie sich nackt in sein Bett gepflanzt und sie so beide in eine peinliche Situation gebracht hatte.
Hier und jetzt hielt Mac sich nicht damit auf, ihm zu antworten, sondern überquerte rasch und lautlos das vom Regen glitschige Dach, das mit echtem Schiefer gedeckt war. Keine Frage, wer in diesen harten Zeiten einen Haufen Kohle für sein Scheißdach ausgeben konnte, hatte zu viel Geld. Und wohl auch genug Geld, um teure illegale Drogen zu kaufen – insbesondere solche, die dem Konsumenten ein ewiges Leben versprachen.
Klar, das Versprechen, niemals zu sterben und für immer wie zwanzig auszusehen, mit dem die Droge Oxyclepta-di-estraphen – allgemein bekannt unter dem Namen Destiny – lockte, konnten die wenigsten ausschlagen. Schon gar nicht diejenigen, die schon alle Autos, Traumhäuser und Schuhe hatten, die sie von ihren Milliarden kaufen konnten.
Dabei waren die Süchtigen, gegen die sie, Bach und Diaz im Einsatz waren, nicht immer extrem reich. Manche von ihnen hingen schon so lang an der Nadel, dass sie bereits alles verkauft hatten, was in ihrem Leben irgendwie von Wert gewesen war. Häuser, Autos, exotische Haustiere. Jachten, Schmuck, Designerklamotten – und nichts davon war in dieser beschissenen Wirtschaftslage mehr wert als einen winzigen Bruchteil dessen, was es ursprünglich gekostet hatte.
Außer ihren Waffen.
In diesen Tagen war eine Smith & Wesson oder eine SIG Sauer – selbst in miserablem Zustand – den meisten Menschen mehr wert als ein BMW. Zumal die Benzinpreise ins Unermessliche schossen.
Aber früher oder später verkauften die Süchtigen sogar Pistolen und Munition, und der Erlös floss direkt in ihre Venen. Dabei sahen sie immerhin verdammt gut aus, denn Destiny verlieh ihnen Jugend und Gesundheit, solange man die Augen vor der heftigen Abhängigkeit verschließen konnte. Und das blendende Aussehen bewahrte sie auch nicht vor versehentlicher Überdosierung, oder noch schlimmer: davor, den Joker-Punkt zu erreichen und völlig durchzudrehen.
Manche Konsumenten machten früher den Joker als andere – zum Beispiel der heutige Geiselnehmer, der offensichtlich noch genug Geld besaß, um seine zweistöckige Villa zu heizen und Licht brennen zu lassen, hier im stinkreichsten Teil von einem von Bostons wenigen verbliebenen piekfeinen Vororten.
»Okay, ich bin endlich da«, hauchte Mac in ihr Lippenmikrofon. Ihr war klar, dass alles, was sie zu Diaz sagte, auch Dr. Bach hören konnte, obwohl der Einsatzleiter kein Headset trug. Sie senkte den Kopf über die Dachkante und lugte in das leicht geöffnete Fenster hinein. Wie sie vermutet hatten, gehörte es zu einem kleinen Badezimmer. Der Rollladen war oben, und das hereinfallende Licht stammte von einer extravaganten Deckenlampe im Flur des zweiten Stockwerks. Sie griff nach dem Fliegengitter und löste es aus seinem Rahmen. »Status?«
»Alle Bewohner befinden sich noch immer im ersten Stock«, teilte Diaz ihr mit. »Im Schlafzimmer. Dr. Bach meint, unser Mann setzt sich gerade wieder einen Schuss. Was empfängst du? Aber bitte, tu’s nicht, wenn du die Angst nicht abblocken kannst.«
Die Angst und Verwirrung der Familie waren unausweichlich. Und da es sich um vier Personen handelte, waren diese Gefühle eine starke Macht, die einen merkwürdig metallischen Geschmack in Macs Mund zurückließ, als sie ihre mentalen Schutzschilde weit genug senkte, um etwas davon durchzulassen. Aber drei von ihnen waren Kinder, und obwohl sie es nicht mit Sicherheit wusste, hätte sie ihre gesamten Ersparnisse darauf verwettet, dass mindestens zwei davon unter zehn waren. Denn von ihnen ging eine immer noch starke Welle der Hoffnung aus. Das kann nicht sein. Daddy hat uns doch lieb – das muss ein Irrtum sein …
Was den Joker betraf …
»Von unserem Mann empfange ich absolut keine Angst«, teilte Mac Diaz mit. »Nur eine Scheißwut.« Sie ließ das Fliegengitter wie ein Riesenfrisbee mitten in den Garten der Nachbarn fliegen. »Außerdem Eifersucht, die schon an Hass grenzt. Der ist über den Jordan.«
»Wir glauben, dass er sich eine doppelte Dosis verabreicht, in der Hoffnung, die Gedanken seiner Frau lesen zu können«, berichtete Diaz. »Dr. Bach empfängt Signale, die auf wachsende telepathische Fähigkeiten des Kerls hindeuten, allerdings völlig ungerichtet und unkontrolliert.«
»Vielleicht tut er uns allen einen Gefallen und spritzt sich eine Überdosis«, sagte Mac, während sie wieder nach unten griff, um die untere Hälfte des Schiebefensters hochzuziehen.
Das Scheißding klemmte.
Über der Dachkante hängend, quasi ohne jede Hebelkraft, war sie nicht gerade in der besten Position, um es mit Gewalt hochzureißen. Und selbst wenn sie es ganz aufbekam, war es immer noch verdammt klein – genauso eng, wie es sich alle vom Boden aus vorgestellt hatten. Deswegen hatte man sie hier raufgeschickt anstatt Diaz, der fast doppelt so groß war. Normalerweise bildete sie Dr. Bachs Verstärkung, wenn er ins Erdgeschoss eindrang, während Diaz die Außenwände hochkletterte und sich Zugang zu einem Fenster im oberen Stockwerk verschaffte, das er einfach mit der Kraft seiner Gedanken entriegelte und öffnete.
Doch alle anderen Fenster in diesem viktorianischen Monster von einem Haus waren fest mit Lackfarbe verschlossen. Und nicht mal ihr hochgeschätzter Leiter Dr. Bach hatte die Macht, diese Art von Siegel zu brechen, ohne einen Höllenlärm zu veranstalten.
Natürlich gab es Gelegenheiten, bei denen ein Höllenlärm nicht unwillkommen war. Manchmal gingen solche Verhaftungen schneller und leichter von der Hand, wenn sie und Diaz auf Bachs Befehl hin die gute, alte Schock-Methode anwandten. Dann hielten sie sich nicht damit auf, die hundertfünfzig Jahre alte Farbschicht aufzubrechen, die die Fenster zukleisterte, sondern vereinten stattdessen ihre mentalen Kräfte, um alle Glasscheiben im gesamten Gebäude zerbersten zu lassen, während aus den Luftschlitzen der Klimaanlage Flammen schlugen, aus jeder Steckdose Kugelblitze schossen und sich jedes Möbelstück im Haus tanzend in die Lüfte erhob.
Einfach den Junkie in den Wahnsinn treiben.
Aber dieses Mal wollte Bach nicht nach dieser Methode vorgehen, und Bach wusste es schließlich am besten. Und ausnahmsweise meinte Mac das nicht sarkastisch, sondern realistisch. Dr. Joseph Bach wusste es am besten. Wenn sie das nicht mit Leib und Seele geglaubt hätte, hätte sie nicht zu seinem schrägen kleinen Kommandotrupp der Kuriositäten gehört.
Mit aller Kraft rüttelte sie am Schiebefenster und suchte dabei Halt auf dem rutschigen Dach.
»Brauchst du Hilfe?«, murmelte Diaz in ihrem Ohr, als es ihr endlich gelang, das Fenster aus seiner Verkantung zu lösen und nach unten zu schieben. Jetzt ging es viel leichter hoch.
»Danke«, sagte sie, während sie sich bereit machte, um hineinzuschlüpfen.
»Das war ich nicht«, sagte er.
»Ich hab Dr. Bach gemeint«, konterte Mac. »Ich bin jetzt bereit zum Reingehen. Irgendwas, was ich wissen sollte?«
»Der Name des Jokers war Nathan Hempford«, antwortete Diaz. »Mehr wissen wir auch nicht.«
Was bedeutete, dass es zu diesem speziellen Freak keine Akte gab, zumindest keine, auf die Dr. Bach Zugriff gehabt hatte, ehe sie hastig hierher aufgebrochen waren. Sie mussten nun retten, was zu retten war, nachdem das Bostoner Sondereinsatzkommando schon kläglich versagt hatte – mit einer Bilanz von zwei Leichensäcken.
Der Amokläufer, vormals bekannt als Nathan, war ein Bullet-Bender – so viel wussten sie alle über ihn. Dank der absurden Menge Destiny, die er im Blut hatte, hatte er die Fähigkeit entwickelt, eine Kugel im Flug zu stoppen und zum Schützen zurückzulenken – zugegebenermaßen ziemlich beeindruckend.
Eine solches Talent fand man eigentlich nicht oft, doch leider war es unter den wenigen Abhängigen, die in den letzten paar Monaten den Joker gemacht hatten, gar nicht mal so selten vorgekommen. Es musste irgendwas in der aktuellen Destiny-Charge enthalten sein, das sich auf ein bestimmtes Hirnareal auswirkte.
Und das war ungewöhnlich. Keine zwei Individuen hatten genau dieselben Kräfte – nicht einmal Groß-Thans wie Bach, Diaz und Mac selbst, die alle unzählige Stunden studiert, trainiert und geübt, geübt und noch mal geübt hatten, um ihre individuellen mentalen Begabungen zu beherrschen – die sie von Natur aus hatten, ganz ohne sich eine Nadel in den Arm zu stechen.
Macs Fähigkeiten unterschieden sich deutlich von denen von Stephen Diaz, obwohl sie beide eine sehr hohe und äußerst seltene mentale Vernetzung von fünfzig Prozent erreicht hatten. Auf dem Papier waren ihre Fähigkeiten auf genau demselben Level. Aber sie waren individuell und einzigartig, weshalb sie sich den Job als Dr. Bachs Stellvertreter teilten. Die Kombination ihrer Talente machte sie zusammen fast unbesiegbar.
Und obwohl Mac Begabungen hatte, an die Diaz nicht heranreichte, konnte sie doch nicht umhin, ihn um seine zu beneiden. Die Kirschen in Nachbars Garten schmeckten eben immer etwas süßer.
Eins von Diaz’ Talenten war seine Fähigkeit, ohne Sat-Signal oder Headset auch aus größerer Entfernung eine telepathische Verbindung zu Bach aufrechtzuerhalten, im Gegensatz zu Mac, bei der sie zwischen einem halben und drei Metern abbrach. Und heutzutage fielen Satellitentürme immer häufiger aus, und die Signale waren gestört. Das war auch der Grund, warum Mac immer öfter an der Seite von Bach in die Gebäude eindrang, wo sie wortlos über Handzeichen mit ihm kommunizieren konnte, während Diaz sich um das obere Fenster kümmerte, immer mit Bach an Bord, der es sich in seinem Kopf bequem machte.
Tatsächlich wurde auch Macs momentanes Sat-Signal durch Rauschen gestört, als sie ankündigte: »Ich gehe jetzt rein.«
Diaz antwortete: »Okay, zehn. Neun …«
Die Fensteröffnung war verdammt eng, selbst für jemanden, der so klein war wie sie. Mac zwängte sich mit den Füßen voran hindurch und fühlte sich dabei äußerst verwundbar, vor allem, als sie mit dem Knopf ihrer Cargo-Hose hängen blieb. Aber sie schaffte es, sich zu befreien, zerschrammte sich lediglich das Gesicht an der rauen Unterkante des Fensters.
Endlich war sie drinnen und bewegte sich lautlos auf den Flur zu, sah sich kurz dort um und fand rasch die Treppe nach unten.
Sie konnte Nathan, den Joker, hören, und seine Stimme klang harsch vor Wut – eine häufige Nebenwirkung der Droge. »Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie du ihn angeschaut hast? Denkst du, ich hätte das nicht gemerkt? Denkst du, ich hätte das nicht gewusst?«
Seine Worte wurden immer wieder unterbrochen von etwas, das wie Schläge klang, und etwas, das eindeutig Schreie und Weinen waren.
»Nein, Daddy, nicht!«, schluchzte eins der kleineren Kinder, und Mac rannte schneller, als Diaz von vier direkt zu eins sprang.
»Los. Wir sind bereit«, sagte Diaz zu Mac und fügte hinzu: »Achtung«, als Dr. Bach sich einklinkte.
Stopp.
Er sagte das nicht zu Mac, und seine Stimme kam nicht durch ihren Kopfhörer. Das Wort erklang in ihrem Kopf und definitiv auch im Kopf des Jokers. In vielfachem Widerhall ging es ihr durch und durch, und obwohl sie ein Schutzschild dagegen aufgebaut hatte, spürte sie Bachs Stimme bis tief in ihren Rücken hinein. Das war verdammt gruselig – zumindest wäre es das gewesen, wenn sie nicht zu seinem Team gehört hätte.
»Ich bring dich um, du verlogene Schlampe!« Der Joker war früher, als Mac erwartet hatte, wieder auf den Beinen und drohte seiner Frau, was gar nicht gut war.
STOPP.
Bach wurde lauter und energischer, und dieses Mal kam keine Warnung von Diaz – nur ein starkes Rauschen in der Verbindung. Und Mac hatte gedacht, sie wäre komplett vorbereitet und abgeschirmt, aber offensichtlich nicht, denn die Wucht des Wortes traf auch sie. Sie wurde davon in die Luft gehoben und hing dort einen Moment, und ihr Gehirn schien in Flammen zu stehen.
Und außerdem war ihr Hirn wohl zu Brei geworden, denn als Bach endlich nachließ, kam sie nicht schnell genug wieder auf die Füße und fiel die Treppe hinunter. Sie hätte sich ducken und abrollen sollen. Stattdessen trat sie wild mit den Beinen um sich wie eine Zeichentrickfigur, die Geschwindigkeit aufnimmt, um vor einem herabstürzenden Amboss wegzulaufen. Sie spürte, wie etwas in ihrem Fußgelenk nachgab, als sie unglücklich auf der Kante einer Stufe aufkam.
Der Schmerz war heftig, und sie schirmte sofort ihre Umgebung davon ab – nicht nur zu Diaz’ Schutz, sondern auch, weil es nie gut war, einen Joker wissen zu lassen, dass man auf irgendeine Art geschwächt war.
Sie stürzte und holperte bis ganz unten und landete mit einem dumpfen Schlag flach auf dem Rücken, so hart, dass ihr die Luft wegblieb. Immerhin schaffte sie es, ihren Schutzschirm aufrecht und stabil zu erhalten.
Lass sie nie sehen, dass du heulst. Das war immer ihr Mantra gewesen, ihr Leitspruch, sogar schon damals, bevor sie wusste, dass sie etwas Besonderes war. Außerdem war sie selbst schuld. Sie hätte sich bereithalten müssen. Sie hätte damit rechnen müssen, dass Bach noch härter durchgriff.
Wenigstens hatte der Lärm, den sie bei ihrem Sturz verursacht hatte, den Wahnsinnigen von seiner hilflos ausgelieferten Familie weggelockt, und er hinkte in den Flur, wo er sie entdeckte, als sie sich gerade aufrappelte.
»Was hast du mit mir gemacht? Wer zum Teufel bist du?«, brüllte er, und obwohl er mehr als drei Meter entfernt war, war es, als hätte er ihr mit einem rechten Haken mitten ins Gesicht geschlagen, heftig genug, um sie umzuhauen und Sterne tanzen zu lassen, und dann gleich noch einmal und wieder und wieder.
Oh je, das war neu in der Kategorie Abgedrehtester-Scheiß-der-ihr-je-untergekommen-war. Er machte sie verbal fertig – buchstäblich.
»Antworte!« Bumm. Damit brachte er ihre Nase zum Bluten.
Aber Bach und Diaz kamen die Treppe hochgepoltert.
Und diesmal kam die Stimme von Diaz durch Macs Kopfhörer und übertönte das Rauschen im gleichen Augenblick, als sie die Bewegungen seines Mundes sah. »Noch mal.«
Sie wappnete sich gegen den Ansturm, mit dem Bach das Arschloch niederschlagen und mit einem GENUG zur Strecke bringen würde. Auch wenn ihr mentaler Schutzschild unerschütterlich stand, war Mac bei dieser Nähe auf einiges gefasst. Es kam noch schlimmer. Ihr Gehirn wurde auf höchster Stufe gebrutzelt, und in dem Sekundenbruchteil, bevor sie ihr Denkvermögen verlor, wurde ihr klar, dass dieser Joker nicht nur ein Bullet-Bender war, sondern ein Force-Bender. Er besaß die Macht, die mentalen Angriffe, die auf ihn verübt wurden, zu reflektieren und alles, was er empfing, zum Absender zurückzuschleudern – sodass alle um ihn herum die doppelte Dosis jener Kraft abbekamen. Selbst Diaz wurde davon aus dem Gleichgewicht gebracht. Bach jedoch schwankte keinen Millimeter.
Als Macs Sehvermögen zurückkehrte, war Bach offensichtlich klar geworden, dass sie Nathan auf die altmodische Art außer Gefecht setzen mussten. Mit guter alter physischer Gewalt.
Er machte einen Satz nach vorne und verpasste ihm einen Roundhouse-Kick, der jeden normalen Mann bewusstlos getreten hätte, aber der Joker geriet nicht mal ins Wanken. Es war klar, dass er keinen Schmerz spürte – eine weitere häufige Nebenwirkung der Droge. Aber das bedeutete nicht, dass bei dem Kerl nicht früher oder später die Lichter ausgingen – wenn Bach nur erbarmungslos Schlag um Schlag austeilte. Und das würde er. Es würde eben eine Weile dauern, bis der Joker zu Boden ging.
Aber der bombardierte ihn weiter mit Worten, selbst als Bach ihm noch eine verpasste.
»Verschwindet aus meinem Haus! Denkt ihr etwa, ihr könnt mich aufhalten?«
Da die Worte an Bach gerichtet waren, spürte Mac sie nur als eine Folge von leichten Streifhieben. Zudem aber verspürte sie Bachs Überraschung und seinen Schmerz, was sie wiederum total überraschte.
In all den Jahren, seit sie Dr. Joseph Bach kannte – jetzt schon mehr als ein Dutzend –, hatte Mac ihn nie, niemals, derart schutzlos erlebt. Und zum ersten Mal seit Langem verspürte Mac einen Anflug von Angst. Die Vorstellung, dass dieser untrainierte Drogenkonsument, dieser Joker, dieser zwielichtige, unerfahrene Abhängige Kräfte entwickelt hatte, gegen die sich selbst Bach – ein wahrer Meister und der mächtigste Groß-Than im Land sich nicht schützen konnte …
War verdammt schockierend.
Und obwohl Diaz nicht Macs fortgeschrittene Empathie besaß, hatte offensichtlich auch er etwas mitbekommen und wollte sich auf die imaginäre Granate werfen – indem er aufsprang und den Typen festhielt. Zweifellos testete er eine Theorie, nach der man dieser Art von Power-Bendern durch seine wohlkontrollierten Elektroschocks bei direktem Kontakt beikommen konnte.
Mac hatte Jahre gebraucht, um sich gegen diese spezielle Fähigkeit zu wappnen, mit der Diaz beim Nahkampf aufwartete. Aus zahllosen Kampftrainingseinheiten wusste sie, dass je enger der Körperkontakt, umso stärker der Stromschlag war, den Diaz austeilen konnte.
Ein bisschen so, als ob man mit einem Taser traktiert wurde.
Hier und jetzt hatte Diaz Nathan voll getroffen und ihn sogar zu Boden geworfen, aber seine Theorie erwies sich als schrecklicher Irrtum, denn er fuhr selbst zusammen und wurde geschüttelt, als sein eigener Stromstoß zu ihm zurückgeleitet wurde. Man musste ihm zugutehalten, dass er nicht locker ließ, obwohl der Süchtige versuchte, ihn wegzustoßen, und obwohl der Stromkreis ohne diesen Körperkontakt unterbrochen worden wäre.
Auch der Joker schrie. Es war nichts als hirnloses Gekreische, aber er brachte einen Rhythmus hinein – »Aahh! Aahh! Aahh …!« –, und Mac wusste, dass Diaz nicht nur die ganze elektrische Energie aufnahm, sondern auch die verbalen Schläge des Jokers.
Sie wollte helfen, wusste aber nicht, wie. Als Bach zu sprechen begann, klingelte es noch immer in ihren Ohren, die Luft knisterte um sie herum, sodass sie nichts verstehen konnte.
Also nahm Bach direkten Kontakt auf, so wie er es immer tat, sofern sie ihm nah genug war. Er klopfte leicht an und bat um Einlass, und Mac gewährte ihn sofort, indem sie ihre Deckung herunternahm.
Und dann spürte sie die Wärme und Ruhe, wie immer, wenn Bach in ihrem Kopf war. Er redete weniger, als dass er ihre Gedanken lenkte.
Was hast du mit mir gemacht? Das war das Erste gewesen, was der Süchtige gefragt hatte, als er in den Flur gekommen war.
Mac hatte nicht gewusst, was er gemeint hatte – aber jetzt wusste sie es plötzlich. Der Joker hatte denselben Fuß geschont, den sie sich verletzt hatte, denselben Knöchel, den sie demoliert hatte, als sie die Treppe runtergefallen war. Er hatte gehinkt. Vielleicht gab es Kräfte, die Nathan nicht ablenken konnte. Vielleicht …
Sie rappelte sich auf, und anstatt sich abzuschotten und den Schmerz, den sie spürte, wenn sie ihren rechten Fuß belastete, zu verbergen, ließ sie ihren sorgsam errichteten Schutzschild in sich zusammenfallen. Und sie trat nicht nur mit ihrem verletzten Fuß auf, sondern sprang darauf. Schmerz durchzuckte sie, und sie hörte sich selbst schreien.
Nathan schrie ebenfalls. Bingo.
Mac spürte, wie Bach sich wieder aus ihrem Kopf zurückzog, und dann stattete er offensichtlich Diaz einen Besuch ab und teilte ihm die Schwäche des Jokers mit, denn auch Diaz gab seinen Schutz auf und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Und zu Macs Überraschung war darunter nicht nur der Schmerz des mental kurzgeschlossenen Stromschlags, sondern auch Ärger und Frust und – Himmelherrgott – eine Flugzeugträgerladung aufgestauter sexueller Energie. Wenn man bedachte, dass er der Fürst des Zölibats war, war das echt erstaunlich.
Aber das war nicht der größte Schocker des Abends. Dass Diaz die ganze Zeit einen rasenden Drang unterdrückte, jede zu vögeln, die ihm unter die Augen kam, war gar nichts im Vergleich zu der Mauer aus Schmerz, die Bach umgab und die nun bröckelte. Anders als die eher körperlichen Qualen von Mac und Diaz sandte er so schmerzhafte Emotionen aus, dass es Mac in die Knie zwang. Es war unbeschreiblich – Trauer, Verlust, Reue, pure Traurigkeit …
Es war einfach zu viel – nicht nur für Mac, sondern auch für Nathan.
»Das war’s. Ich glaube, das hat ihm den Rest gegeben. Scheint, als wär er weggetreten«, hörte sie Diaz keuchen.
Bach bestätigte diese Einschätzung, aber mit einer Dringlichkeit in der Stimme, wie sie es noch selten bei ihm gehört hatte. »Nathan ist k.o. – und wir brauchen die Mediziner hier, sofort! Wir dürfen ihn nicht verlieren!«
Das war die Riesenironie bei ihrem Job: Sie setzten ihr Leben aufs Spiel, um den Joker zu überwältigen, aber dann, wenn er bezwungen war, schafften sie den Dreckskerl in Windeseile in die spezielle Versorgungsabteilung im Obermeyer-Institut, wo sich die Ärzte rund um die Uhr darum bemühten, ihn zu entgiften und ihn am Leben zu halten.
Das medizinische Team des OI stürmte ins Haus, und Mac löste sich aus der Embryonalstellung, zu der sie sich zusammengerollt hatte.
Dr. Bach kam zu ihr, um ihr aufzuhelfen. »Sie sollten das Fußgelenk mal in der Klinik untersuchen lassen«, sagte er.
»Mir geht’s gut«, sagte sie, und der Subtext war klar. Ja, sie hatte sich verletzt, aber er war derjenige, der ungefähr ein Jahrzehnt psychologischen Beistand zur Bewältigung seiner Trauer brauchte. Nicht, dass sie je gewagt hätte, ihm so etwas ins Gesicht zu sagen. Aber schließlich war er Bach, also wusste er bestimmt, was sie dachte. »So schlimm ist das mit dem Knöchel nicht – ich kann ihn über Nacht heilen. Morgen früh bin ich wieder so schnell wie eh und je.«
Bach nickte, und seine braunen Augen wirkten düster. »Tun Sie, was immer Sie tun müssen. Wir sehen uns dann.«
Er verschwand durch den Flur, zweifellos zu Frau und Kindern des früheren Nathan Hempford, um ihnen zu sagen, dass der Albtraum vorbei und sie in Sicherheit waren, und ihnen zu erklären, was passiert war und wie es wahrscheinlich weitergehen würde.
Er würde nicht so weit gehen, ihnen zu sagen, dass Hempford unter Garantie sterben würde oder dass die Behörden bereits dabei waren, die Geschehnisse des heutigen Abends zu vertuschen. Der offizielle Bericht würde zweifellos einen fiktiven Einbrecher enthalten, der unter dem Einfluss von Meth oder Heroin die ganze Familie – einschließlich Hempford – als Geiseln genommen hatte. In seinem Nachruf würde stehen, dass er bei dem Versuch gestorben war, seine Familie vor einem nicht identifizierten Mann zu retten, der außerdem zwei Polizeibeamte getötet hatte. Und die Öffentlichkeit würde weiterhin in seliger Unwissenheit gelassen über diese neue, gefährliche Droge namens Destiny und über die Existenz von Dr. Bachs Team vom OI mit seinen mentalen Besonderheiten.
Nicht, dass einer von ihnen eine Konfettiparade wollte oder brauchte. Genau genommen trugen ihre Anonymität und die mangelnde Anerkennung zu ihrem Schutz bei. Aber trotzdem …
Mac blockte ihren Schmerz ab und hoppelte die Treppe hinunter, verließ das Haus und holte Diaz draußen in der Einfahrt ein, wo er dem medizinischen Team half, den bewusstlosen Nathan in den Krankenwagen zu verfrachten.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie, und Diaz nickte.
»Da hat jemand ein Geheimnis«, sagte sie, unfähig, ihr vorlautes Mundwerk in Schach zu halten, obwohl Diaz ziemlich mitgenommen aussah.
Sie war selbst nicht gerade wie aus dem Ei gepellt – ihre Nase blutete immer noch ein bisschen, und ihre Lippe wies mit Sicherheit einen Einschnitt auf, der aber bereits zu heilen begann. In fünf Minuten würde ihr Gesicht so gut wie neu sein. Ihr Fußgelenk würde allerdings einige Aufmerksamkeit und Konzentration erfordern.
Diaz gab ihr sein Taschentuch. Wer in aller Welt hatte heute noch ein Taschentuch bei sich?
»Es ist kein Geheimnis«, sagte er in gleichmäßigen Tonfall. »Es ist nur … nicht von Bedeutung.« Und dann sagte er, was er nach jeder Verhaftung sagte, obwohl sie eigentlich Rivalen hätten sein müssen im Kampf um die Position als Bachs offizieller Stellvertreter. »Guter Job, Michelle.«
Also gab Mac ihm ihre Standardantwort. »Du auch, D.«
»Wir sehen uns dann«, sagte er und verschwand in der Nacht.