Kapitel VII - Familienbande

Später am Tag starrte Kleopatra unentwegt in den Himmel hinein. Orion flog voran und Drac’o folgte ihm, schließlich musste der Jungdrache seine Flügel trainieren. „Pass’ auf, dass du nicht den Anschluss verlierst“, mahnte die Fee ihr treues Ross. Es war eigenartig still ohne den Witzbold Calep.

„Holla, jetzt komme ich!“, Drac’o übte eine Punktlandung auf dem Rücken seines Bruders, im vollen Galopp.

„Mach’ das nie wieder!“, warnte Kleopatra, die fast einen Herzstillstand erlitten hätte.

Der junge Smaragddrache verzog ein wenig die Schnauze. „Heute verstehst du aber auch gar keinen Spaß, Kleo.“

Wütend stierte Kleopatra ihn an. „Du hättest genauso gut ein böser Augurey sein können, der mich fressen will!“ Drac’o erwiderte daraufhin nichts, langsam aber sicher ging ihm das Geseiere von dem feenfressenden Schreckvogel auf die Nerven. Bisher waren sie so einem Tier noch gar nicht begegnet, dennoch fürchtete sich die Fee, als könnte eines der Biester hinter jeder Ecke lauern. Ob es den Augurey überhaupt gab? Drac’o begann schon, daran zu zweifeln. Vielleicht war er nur ein Schreckgespenst, erdacht von Feeneltern, die ihren unartigen Nachwuchs dazu bewegen wollten, schön brav zu sein.

Nun wurde Kleopatra ganz rot vor Wut im Gesicht, so als hätte sie seine Gedanken erraten. „Es gibt den Augurey! Das ist keine Schauergeschichte. Meine Großeltern mütterlicherseits wurden von einem gefressen!“ Nun brach sie auch noch in Tränen aus und die Truppe musste eine Zwangspause einlegen.

„Drac’o hat es nicht böse gemeint“, tröstete Leon das heulende Mädchen, „wir werden dich vor dem bösen Vogel beschützen.“

„Bei meiner Ehre“, pflichtete Orion dem bei, „sollte sich so ein Biest zeigen, dann fresse ich es!“ Das gefiel der jungen Fee nun wieder. Fragend sah Drac’o den weisen Greif an, dieser rückte nur vielsagend seine Brille zurecht. Zu seiner Schande musste er gestehen, nur äußerst wenig über den Feenfresser gelesen zu haben, geschweige denn, jemals einem begegnet zu sein. Legende oder nicht, das war hier die Frage.

Etwas behäbiger ging es nun weiter und Leon sinnierte stumm vor sich hin. „Denkst du an die Ziegenelben und was sie gesagt haben?“, forschte Drac’o. „Wollen wir diese Kentaurin suchen, deren Fell so braun ist wie deines und deren Augen grün sind?“ Doch Leon wiegte nur den Kopf hin und her, denn Morganas Reise ging vor.

„Alles kommt zu dem, der warten kann“, warf Orion von oben herab ein. Kleopatra guckte nur teilnahmslos auf ihre Fingernägel. Der Besuch bei den Ziegenelben hatte ihr gereicht, von Wilden hatte sie vorerst die Nase voll.

„Aber es wäre eine einmalige Chance für dich, herauszufinden, was mit deinen Eltern geschah“, bohrte Drac’o nach und nahm wieder seine Elfengestalt an.

„Ich weiß“, murmelte sein Bruder, „doch manchmal ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.“ Flux sagte nichts weiter, doch er sah das Ganze anders und bat in Gedanken den Zufall um dessen Gunst.

Die Weite der Savanne schien unendlich. Immer noch ragten die markanten Akazien vereinzelt aus der sonst flachen Landschaft heraus, um sich ein möglichst großes Grundwasserangebot zu sichern. Im Schatten eines sehr großen Baumes rasteten sie am nächsten Mittag, nur einer tanzte aus der Bahn. „Ja, ja. Die Kraft der Jugend“, feixte Orion und Kleopatra stöhnte:

„Wird dieser Echse nicht langsam zu warm unter ihren Schuppen?“ Doch Drac’o ließ sich von den Temperaturen nicht schrecken und trainierte fleißig seine Fügelmuskulatur. Er erprobte sich sogar an ein paar Loopings. Leon konnte schon gar nicht mehr hinsehen.

„Wenn er so weiter macht, kriegt er einen Sonnenstich“, frotzelte Kleopatra in einem fort.

„Neidisch?“, kam es zurück, denn auch wenn Drac’o ein ganzes Stück entfernt war, als Drache hatte er ein phänomenales Gehör.

„Neidisch? Worauf denn!“, beleidigt drehte Kleopatra den Kopf zur Seite. Voller Übermut flog Drac’o nun mit dem Kopf nach unten und streckte ihr die Zunge heraus, im selben Augenblick zischte ein Pfeil sehr dicht an ihm vorbei.

„Verflixt“, zischte eine Stimme und der junge Drache ließ sich schleunigst ins Gras herunter. Noch während er sank, sah er eine Gestalt auf sich zukommen und vernahm dröhnendes Hufgetrampel:

„Drachenfleisch süß-sauer!“ Wie von der Tarantel gestochen sprang Leon auf und eilte seinem Bruder zu Hilfe.

Unsicher lugte Drac’o über das hohe Gras als er gelandet war, seine Augen weiteten sich vor Verblüffung. „Das ist meine Beute!“, kreischte ein hohe Stimme und Drac’o warf einen Blick über die Schulter, sein Bruder jagte im Schweinsgalopp heran. „He!“, schrie es aus der anderen Richtung. „Wo rennst du denn hin?“ Der nahende Jäger bremste und auch Leon gab sein Bestes, doch ein Zusammenprall war nicht mehr zu verhindern. „Hast du denn keine Augen im Kopf?“, dröhnte die hohe Stimme und Drac’o machte die Augen wieder auf, sein Bruder lag der Länge nach keine drei Schritte von ihm entfernt am Boden und hatte den Angreifer halb unter sich begraben. „Würdest du endlich von mir runtergehen, Kumpel?“ Verdattert rappelte sich Leon wieder auf. „Vielen Dank!“, grummelnd richtete sich der andere auch auf, besser gesagt, die andere. Ja, sie war nicht nur eine Frau, sondern auch noch ein Kentaur oben drauf.

Ein wenig mürrisch strich sie ihr langes, schwarzes Haar zurück und legte die Pferdeohren an. „Neu hier? Du kannst doch nicht durch die Gegend walzen wie es dir passt!“ Aber sie wartete gar nicht mehr auf Leons Antwort, sondern wandte sich wieder Drac’o zu, der gut daran tat, sich schleunigst zu verwandeln. „Oh Mist!“, fluchte da die Kentaurin, warf Pfeil und Bogen zu Boden, bäumte sich auf und stampfte im Zorn mit den Hufen auf den Boden. „Ich hasse es, wenn diese Echsen das tun!“ Als würde sie von ihm Hilfe erwarten, starrte sie Leon an. „Nun ist es ein Elf und ich frage dich – wie soll ich jetzt noch auf es schießen? Guck’ es dir doch nur an! So niedlich und hilflos.“ Sie ballte die Hände. „Man möchte es knuddeln, doch dann würde es dir zum Dank in den Hals beißen! So sind die Drachen. Ihre Verwandlung ist perfekt, doch passt du nicht auf, schon fressen sie dich.“ Sie schnaubte deprimiert. „Drachen sind ja so listig! Und dabei hatte ich mich schon auf einen ordentlichen Braten gefreut.“

Missmutig stierte sie Flux an. „Es ist doch wirklich zu niedlich! Was habe ich nicht schon alles für Verwandlungen gesehen, aber diese ist doch die Krönung. Raffiniert, ich muss schon sagen. Was doch aus so einer Bestie werden kann.“

„Bestie?“, fand Flux seine Sprache wieder.

„Sieh’ mal an, wie gut es sich verstellen kann“, brummte die Kentaurin und verschränkte die Arme, „sag’ an, Drache. Wie viele Kentauren hast du schon in deinem Leben gerissen?“

Flux Augen weiteten sich auf Untertassenformat. „Ich?“

„Keinen“, antwortete Leon.

„Ach“, wandte sich die Fremde an ihn, „und woher weißt du das, Schlaumeier?“

„Er ist Teil meiner Familie.“

Nun wurde die gar nicht unhübsche Kentaurin blass. „So eine furchtbare Gemeinheit aber auch!“, wetterte sie. „Ich habe ja schon von fiesen Drachen gehört, die sich Frauen als Maskottchen halten, sie „Herzblatt“ nennen und sie dazu zwingen, sie zu verhätscheln, zu bedienen, für sie zu singen und zu musizieren! Diese Mistechse hat es tatsächlich gewagt, einen Kentauren zu versklaven? Dafür wird sie im Topf schmoren, mit Ananas und Essig!“

„Wie?“, Leon verstand kein Wort, derweil bäumte sich die wütende Kentaurin auf.

„Komm’ her, du Monster! Keine Bange, Fremder. Dein Leiden wird gleich ein Ende haben!“ Ihre Vorderhufe kamen auf Flux zugeschnellt, doch statt ihm trat sie Leon in die Seite, der sich dazwischen warf. „Himmel!“, erschreckte sich das Fräulein. „Hat dich dieses Mistvieh auch noch abgerichtet, ihn zu schützen, ja?“ Sie ballte wieder die Fäuste, kam aber nicht mehr dazu etwas zu tun, denn Leon richtete sich ruckartig auf und umfasste ihre Handgelenke.

„Drac’o ist mein Bruder. Seine Familie hat mich adoptiert.“ Erschüttert starrte ihn die Kentaurin aus ihren blauen Augen an.

„Euch kann man aber auch keine fünf Minuten alleine lassen!“, wetterte Kleopatra und kam herangeschwirrt. „Muss ich Orion wecken? Er schnarcht noch.“

„Eine Fee?“

„Ja, doch!“, erwiderte Kleopatra und sah an der Kentaurin hinauf und wieder hinunter. Die schwarzen Tupfen auf dem weißen Fell des Pferdekörpers sahen ganz hübsch aus, wie bei einem Knabstrupperpferd. Die überlangen Haare an Kopf und Schweif fand sie allerdings etwas übertrieben, obwohl ihre eigenen genauso üppig waren.

„Eine gute oder eine böse Fee?“, hakte die Kentaurin nach.

„Natürlich eine gute!“, kam es zickig zurück. „Würde sich eine schlechte Fee so geschmackvoll kleiden? Nein!“

Leon ließ das Mädchen los und es zupfte ihr moosgrünes Oberteil zurecht. „Geschmackvoll?“, sie musterte die pinke Garderobe der Fee. Ein lautes Gähnen erscholl und Orion nahte. Sofort wurde das hellhäutige Kentaurenfräulein noch blasser. „Pferdefresser!“, kreischte sie, packte Leon am Arm und wollte ihn mit sich fort ziehen, doch er blieb stehen, stur wie ein Esel. „Ja, willst du denn gefressen werden? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

„Das ist doch nur Orion, der frisst keine Kentauren.“

„Richtig“, wichtigtuerisch rückte der Greif wie üblich an seiner Sehhilfe, „du brauchst keine Angst zu haben, Fräulein. Wie ich sehe, bist du eine Pterokentaurin.“ Als solche wiesen sie jedenfalls ihre Flügel aus.

„Vier Beine, zwei Arme, zwei Flügel“, zählte Kleopatra auf, „ganz schön übertrieben.“

Wütend stemmte das Mädchen die Hände in die Hüften. „Die Flügel und die Fellzeichnung habe ich von meinem stolzen Vater geerbt, damit du es nur weißt! Die schwarzen Haare auch und überhaupt …“ Sie holte tief Luft. „Er war ein großer Herdenanführer und ein wahrer Krieger. Er fürchtete sich vor keinem Ungeheuer … auch nicht vor Drachen!“ Ihr Selbstbewusstsein war nur mäßig gespielt, denn sie ging einen Schritt rückwärts.

„Fürchte dich nicht“, bat Orion, „ich werde nicht versuchen, dir ein Leid zuzufügen. Bei meiner Ehre.“

Misstrauisch legte die Pterokentaurin die Stirn in Falten. „Ein Greif, der keine Kentauren frisst und ein Kentaur, der behauptet, einen Drachen zum Bruder zu haben. Dazu auch noch eine freche Fee. Was seid ihr eigentlich für ein komischer Haufen?“

„Also ich bin Drac’o“, riss jener das Wort an sich, „aber in dieser Gestalt nennt man mich Flux. In Wahrheit bin ich ein Smaragddrache und damit du es nur weißt, die Erdschatzdrachen sind friedlich, wir fressen keine Zweibeiner oder Kentauren.“

„Sehr richtig“, gab Orion ordentlich seinen Senf dazu, „allgemein unterscheidet man die Erdschatzdrachen – kurz Erddrachen – von ihren westlichen Verwandten A) durch ihre Größe, Erddrachen werden nur wenig mehr als zwei Meter hoch. B) Westliche Drachen haben kein äußeres Ohr. C) Erdschatzdrachen haben fünf Finger und Zehen, Drachen des Westens nur je vier. D) …“

„Ich habe ja verstanden!“, fiel ihm die Kentaurin ins Wort. „Ist ja schon gut – mein Fehler. Ich dachte er sei ein junger Westlicher Drache … von den anderen habe ich nie auch nur eine Schwanzspitze je gesehen.“ Leon atmete erleichtert auf und rieb sich die Rippen, er würde sicher schöne blaue Flecke dort bekommen, wo sie ihn getroffen hatte.

„Du bist also nicht sein Sklave, sondern sein Bruder.“ Wahrheitsgemäß nickte Leon. „So, so und was stellt ihr anderen dar?“

Kleopatra hob die Nase hoch in den Wind. „Damit du es ja weißt: wir sind die Auserwählten! Wir sind die Brüder und Schwestern im Zeichen des Taiji!“

„Schon gut“, wurde sie unterbrochen, „ihr seid eine Herde.“ So ähnlich konnte man es natürlich auch ausdrücken. „Hmmm“, die Pterokentaurin juckte sich an der Nase und starrte Leon ohne Umschweife an, „dieses braune Fell, der weiße Fesselbehang …“ Nun starrte sie ihn auch noch frontal an. „Grüne Augen …“ Sie kratzte sich hinter einem ihrer Pferdeohren. „Würdest du mir wohl folgen, Fremder? Deine Herde kannst du mitnehmen.“

„Wenn, dann ist es Orions Herde“, berichtigte Leon und Kleopatra widersprach:

„Also, eigentlich bin ich die Anführerin! Damen kommen zuerst an die Reihe.“ Erneut kratzte sich die Kentaurin und murmelte:

„Wie mag wohl Fee süß-sauer schmecken?“ Augenblicklich hielt Kleopatra die Luft an, platzte aber bald darauf beinahe:

„Wilde! Barbaren! Hinterwäldler!“

„Typisch“, brummelte die Kentaurin, während sie voranschritt und mit Gesten bat, ihr zu folgen, „plattfüßige Zweibeiner halten sich ja immer für etwas Besseres! Sie denken, sie seien so toll! Vierbeiner sind für sie nur Haustiere, Nutztiere oder Reittiere! Elfen sind Schönlinge und Feen sind noch schlimmer. Eingebildet schweben sie über den Wolken. Das stimmt doch, oder, Fremder?“

Leon schluckte trocken. „Und Kentauren stinken!“, brüllte Kleopatra und ließ sich entnervt auf Orions Rücken nieder. Von nun an ignorierte sie die Fremde.

„Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt“, fiel es dem Greif ein und holte dies schleunigst nach.

„Camilla“, erwiderte die Pterokentaurin und eilte weiter, „komm’, Leon.“ Verwundert sahen sich Leon und sein Bruder an. Was hatte das zu bedeuten?

„Bringst du uns zu deinem Vater?“, wollte Flux in Erfahrung bringen.

„Nein, Drache. Mein Vater ist tot.“ Betreten sprach man ihr ein Beileid aus.

„Hat ihn etwa ein …“, begann Flux.

„Nein, kein Drache. Dämonen!“

Nun machte es „klick“ bei Flux. „Gehörst du etwa zu der Kentaurenherde, die zusammen mit einer Horde Ziegenelben von Dämonen gefragt wurde, ob sie auf ihre Seite wechseln wollten?“

„Exakt. Mein Vater war unser Anführer und er erteilte den Bestien eine klare Absage. Sie verstanden das nicht, also zückte er seine Waffe, um sich zu verteidigen. Sie haben ihn ohne viel Federlesen ermordet. Weitere tapfere Männer fielen, um mir und den anderen die Flucht zu ermöglichen. Die Dämonen haben uns seither nicht mehr belästigt. Sie brauchen uns Verbliebene wohl nicht und die Ziegenelben haben sich während unserer Flucht niedergelassen. Die Meisten von ihnen sind aber Nomaden, sie werden also weiterziehen. So wie meine Herde. Wir ruhen uns hier nur kurz aus, dann suchen wir weiter nach einer neuen Heimat. Aber woher wisst ihr davon?“

„Weil wir den Bes begegnet sind und den Wichteln“, erklärte Flux und Kleopatra krakeelte:

„Die von euch Wilden ausgeraubt wurden!“

Wieder runzelte Camilla die Stirn. „Wir wollten überleben, mehr nicht.“ Nun blieb sie stehen. „Im Übrigen sind wir da.“

Leon hob den Blick und erspähte ein Lager. Überall waren Kentauren, Mütter und Kinder, vereinzelt auch ein paar Männer. Mehrere Großeltern saßen an einem Feuerchen, auf dem man kochte. „Hast du etwas zu Essen gefunden, Liebling?“ Eine reife Kentaurin nahte, Camilla wies nur mit ausgestrecktem Finger auf Leon. Die Frau blieb ruckartig stehen und starrte ihn an und Leon starrte zurück. Kurz gesagt, die Kentaurenfrau war sein Ebenbild. Sie hatte dasselbe braune Fell, den weißen Fesselbehang, die dunkelbraunen Kopfhaare und grüne Augen.

„Leon?“ Mit einem Mal war sie bei ihm und drückte ihn an sich, sie war gut einen Kopf kleiner als er, aber ihre Umarmung war kräftig. „Wie groß du geworden bist! Lass dich anschauen!“ Sie gab ihn wieder frei und begutachtete ihn von allen Seiten. „Was für ein stattlicher Kerl aus dir geworden ist! Camilla, schau doch nur!“ Diese ächzte:

„Ich bin schon verlobt …“

„Ja, ja, mit einem Rumtreiber … Nun guck’ dir doch nur diesen feinen Kerl an! Diese prächtigen Ohren!“ Camilla verschränkte die Arme. „Zugegeben, sein Bartwuchs ist noch etwas spärlich …“ Flux guckte schief, waren sie auf einem Marktplatz gelandet? Das hörte sich an, als würde sein Bruder gerade feilgeboten.

„Er trägt einen Rock“, grinste Camilla, „was mag er darunter wohl verstecken?“ Nun wurde Leon arg komisch zumute, im ganzen Lager gab es keinen Mann, der irgendein Kleidungsstück trug – eben wie die Natur sie erschaffen hatte.

„Ich sag doch, ein feiner Kerl“, ließ sich die Dame nicht beirren, „aus gutem Hause.“ Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und ein Kloß saß in seiner Kehle, aber endlich fand Leon das Wort, nach dem er suchte:

„Mutter?“

„Oh“, kam es zurück, „nein, nein, mein Junge. Ich bin die Schwester deiner Mutter – deine Tante.“ Wieder bestaunte sie ihn von Kopf bis Huf. „Also, wer hätte das gedacht, dass aus so einem Würmchen so ein Prachtkerl wird.“

„Mutter!“, warf nun Camilla ein.

„Ist ja schon gut, Spätzelchen!“ Sie machte eine beruhigende Geste. „Ich bin Brunhilde, mein Junge. Camilla kennst du ja schon – deine Cousine.“ Diese wollte sich gerade heimlich davonstehlen. „Wo willst du hin? Etwa zu deinem Verlobten? Kind! Du hast gerade erst deinen Cousin kennen gelernt. Wo bleibt deine gute Erziehung?“

„Ja und? Nun kenne ich ihn. Er sieht genauso aus wie du und dich konnte ich schon mein ganzes Leben begaffen.“

Nun stöhnte Brunhilde: „Ganz ihr Vater!“ Sie wandte sich wieder an Leon, während ihre Tochter verschwand. „Wie gesagt. Ich bin deine Tante. Deine Mutter Leonora und ich sind keine Zwillinge, sie ist etwas älter, aber wir sehen uns sehr ähnlich. Meine Tochter hat nichts von mir geerbt, aber du kommst ganz nach meiner Schwester.“ Leon war hin- und hergerissen. „Was liegt dir auf dem Herzen, Schätzchen?“

„Meine Mutter … Leonora … ist sie hier?“

Nun schluckte die Tante. „Ach je … deine liebe Mutter und dein Vater …“ Ein langes Seufzen entfuhr ihr. „Mein Junge, sie sind gestorben. Schon vor vielen Jahren, als du noch ein Säugling warst, zu jung, um dich zu erinnern.“ Als Leon das vernahm, ließ er sich zu Boden fallen, übermannt von seinen Gefühlen. All die Jahre hatte er sehr oft über seine leiblichen Eltern nachgedacht, vor allem im Kinderheim. Er hatte sich eingeredet, sie müssten tot sein, warum hätten sie ihn sonst abgeben sollen? Dennoch hatte er die stille Hoffnung gehegt, ihnen vielleicht doch noch einmal zu begegnen. Doch nun hatte er Gewissheit.

Flux versuchte ihn so gut es ging zu trösten und er fasste sich bald wieder. „Aber wie ist es geschehen?“

„Das, mein Junge, ist eine furchtbare Geschichte. Aber du bist wohl alt genug, sie zu hören.“ Brunhilde ließ sich nieder und schloss kurz die Augen. „Deine Mutter war wunderschön und dein Vater ein tapferer Krieger. Er wäre für sie gestorben, so wie mein Mann für mich.“ Sie öffnete die Augen wieder und fuhr fort. „Sicher ist es dir in deinem Leben schon oft widerfahren, dass du ausgegrenzt wurdest. Es gibt viele Vorurteile gegen Kentauren und wir haben Feinde. Darunter auch die großen Drachen des Westens. Wann immer es ihnen gelingt, schleppen sie einen von uns fort und verspeisen ihn. Ihr Feueratem ist eine tödliche Waffe. Ja, mein Neffe, deine Eltern kamen bei dem Angriff eines bösartigen blutroten Drachens um. Sie wollten dich schützen und fanden den Tod in den Flammen. Niemand konnte mehr etwas für sie tun und der Drache schleppte sie fort. Sie sind gestorben, um dein Leben zu retten. Das darfst du nie vergessen. Damit sind sie den Heldentod gestorben und das ist uns Kentauren sehr wichtig.“

Noch entsetzter als Leon war Flux. War dies eine Ironie des Schicksals? Ein Feuerspucker hatte Leons Eltern erbeutet und später war er von anderen Drachen adoptiert worden? Mit einem Mal sprang Flux auf die Füße und rannte davon, die Tränen liefen in Strömen über sein Gesicht.

„Ich hätte es nicht vor dem kleinen Jungen erzählen dürfen“, ärgerte sich Brunhilde, während Leon hinterher jagte. Er holte auf, fing Flux ein und drückte ihn an sich.

„Jetzt hasst du mich doch sicher!“, schniefte jener, doch Leon schüttelte den Kopf.

„Du bist meine Familie und dafür nicht verantwortlich.“ Flux ließ den Kopf dennoch hängen, er konnte gar nicht sagen, wie leid ihm das alles tat.

„Also, für einen dieser Angeberelfen ist der Kleine richtig niedlich“, bemerkte Brunhilde.

„Flux ist eigentlich ein Drache, so wie seine Eltern, die Leon adoptierten“, musste Kleopatra es unbedingt erwähnen, „aber keine Bange, so lange ich die Anführerin bin, wird keiner gefressen.“

Nun seufzte Orion und Brunhilde wurde blass. Sie schluckte das Erstaunen aber schnell herunter, als ihr Neffe zurückkehrte. „Du hast es tapfer aufgenommen. Nichts anderes habe ich erwartet. So tapfer wie deine Mutter. Dein Vater war wie gesagt auch ein strammer Bursche, er führte die Herde einst an und verteidigte sie gegen Angreifer. Dein Vater und dein Onkel kannten sich von früh auf, sie waren die besten Kumpel, vereinzelte Rangkämpfe gehörten dazu.“ Im Hintergrund erhoben sich zwei junge Kentauren wie auf’s Stichwort auf ihren Hinterbeinen und begannen mit den Vorderhufen nach einander zu treten. Früh übte sich, was ein Pascha werden wollte.

„Ja, sie gingen durch dick und dünn. Nach dem tragischen Tod deines Vaters übernahm dann dein Onkel die Führung der Herde. So lange, bis auch ihn ein gräulicher Tod ereilte. Seitdem bin ich die Anführerin.“ Nachdenklich sah Leon sie an:

„All die langen Jahre, in denen ich von einem Heim zum nächsten gepilgert bin, habe ich mich gefragt, warum meine Familie mich nicht wollte.“

„Herzchen, wir hätten dich gerne behalten“, antwortete seine Tante darauf, „aber du warst noch ein Säugling, kein halbes Jahr alt und dann wurde Camilla geboren. Es ging einfach nicht.“ Sie schwieg einen Moment lang, sah sich dann aber gezwungen, etwas weiter auszuholen. „Dein Onkel arbeitete damals hart auf unseren Feldern, ich half wo ich konnte und beseitigte mit den anderen Frauen die Schäden, die der Drachenangriff mit sich gebracht hatte. Vieles war den Flammen zum Opfer gefallen. Ich konnte nicht auch noch auf deine Cousine und dich gleichzeitig Acht geben, das war unmöglich.“

„War ich so schwierig?“, murmelte Leon nebenbei.

„Du warst verstört und schriest bereits, wenn du nur eine Kerze zu Gesicht bekamst. Deine Feuerphobie war grenzenlos. Eigentlich hatte der Drache es auf junge Kentauren abgesehen, hätten sich deine Eltern nicht vor dich geworfen, wärst du sein Opfer gewesen.“ Nun dauerte es eine Zeit lang, bis Leon das verdaut hatte, Flux starrte derweil ins Leere, nie zuvor hatte er gespürt, dass das Leben derart ungerecht sein konnte.

„Wir hätten dich gerne bei uns wohnen lassen und wir behielten dich, so lange wie es ging. Du warst zu jung, um dich heute an diese Zeit zu erinnern, aber ich sehe es noch deutlich vor mir. Es war kaum zu ertragen, dich damals derart verängstigt zu sehen. Mir brach es das Herz. Ich suchte eine Kräuterhexe auf, doch sie konnte dir nicht helfen, das Trauma saß zu tief. Hin- und hergerissen war ich zwischen der Arbeit auf dem Feld, dem Wiederaufbau der Hütten, meiner Tochter und dir. Mein Mann versuchte zu helfen, doch keiner vermochte es, dich zu trösten. In dieser schweren Zeit nun erschien ein wandernder Magier, reich an Jahren und Weisheit. Viele Tage verweilte er bei uns und tatsächlich vermochte er es durch Hypnose, einen Teil deiner Ängste zu bändigen. Aber es lag nicht in seiner Macht, dich vollends zu kurieren.“ Leon nickte verständig, daher rührte also seine Furcht vor dem Feuer. Nun wusste er auch endlich, was seine Albträume zu bedeuten hatten: Sie waren verschüttete Erinnerungen an einen unheilvollen Tag.

„Du bliebst trotzdem ein furchtsames Kind. Du hast mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit benötigt, als wir dir geben konnten. Schlussendlich haben wir dich daher in die Hände eines Waisenhauses gegeben, in der Hoffnung, man würde eine gute Familie für dich finden. Vielleicht war es die falsche Entscheidung, dann möchte ich dich heute um Vergebung bitten. Doch damals sahen wir keinen anderen Weg.“ Nachdenklich blickte Brunhilde zu ihrem Neffen, dieser nickte stumm. Er war seiner Tante nicht böse. Sein Leben wäre sicher anders verlaufen, wäre er hier aufgewachsen. Aber ob er dann wohl derselbe sein würde? Außerdem hätte er wohl niemals Flux kennengelernt und möglicherweise wäre Morgana auch nicht auf die Idee gekommen, ihn auszuerwählen.

„Auch wenn du dich nicht mehr erinnerst, so haben wir dich doch einige Male im Waisenhaus besucht, bis zu dem Tag, an dem der Drache erneut angriff und die Herde beschloss, weiterzuziehen. Nach langer Reise stießen wir auf eine andere Gruppe von Kentauren, denen wir uns anschlossen. Sie lebten seit Generationen in der Nähe des Berges und der Bes, von denen ihr erzählt habt. Nach einigen Rangkämpfen übernahm mein Mann die Führung der kompletten Herde. Wir wurden erst durch die Dämonen von dort vertrieben. Wir haben dich nie vergessen, Leon, das musst du uns glauben. Doch der Weg war zu weit, um dich noch zu besuchen. Durch Umwege erfuhren wir dann eines Tages, dass du adoptiert wurdest und von da an wollten wir uns erst recht nicht mehr in dein Leben einmischen. Wir wünschten dir von Herzen, dass du es gut haben würdest und die Schatten der Vergangenheit hinter dir ließest.“ Sie schmunzelte ein wenig, ihr Neffe hatte eine Familie gefunden und sie war sehr zufrieden damit.

„Wir Kentauren sind ein stolzes Volk von Kriegern und Jägern, doch manchmal werden die Jäger selbst zum Gejagten. So ist der Lauf der Dinge, das Gesetz der Natur. Wir sind alle Teile eines großen Ganzen.“ Orion nickte heftig, so war auch seine Philosophie.

„Es hieß, du seiest in ein Elfendorf gezogen und dort wollten wir auf keinen Fall stören“, räusperte sich Brunhilde etwas verlegen. Sie kannten ja inzwischen die gängige Meinung der Kentauren über die „plattfüßigen Spitzohren“. Neugierig sah sie ihren Neffen nun an, jetzt war es an der Zeit, dass er erzählte und das tat er auch, von seiner Tortur und den vergangenen Jahren in Elfenheim. Fasziniert lauschte seine Tante.

„In Wahrheit sind die Elfen ein sehr nettes Volk“, schloss Leon seinen Bericht, viel zu klagen hatte er ja nicht, „und nicht alle Drachen sind blutrünstige Bestien.“ Flux seufzte leise und war innerlich ungemein erleichtert. Leon selbst schmunzelte, nun war er doch froh, dass er diese Reise angetreten hatte. Bisher war er ein Vollwaise gewesen, nun hatte er immerhin einen Teil seiner Familie gefunden.

„Wenn dich deine Eltern so sehen könnten, sie wären unglaublich stolz auf dich“, war sich Brunhilde absolut sicher, „dein Vater war ein stattlicher Kentaur, breit wie ein Kaltblutpferd und mit einem Kreuz wie ein Ochse. Sein Fell war grau, sein Haupthaar und sein Schweif aber schwarz wie Ebenholz. Er hat viele Schlachten in seinem Leben geschlagen und war immer siegreich. Dabei bezwang er Gegner, die viel größer waren als er. Einst erlegte er sogar mehrere Drachen und bewahrte ihre Häute auf. Darunter auch ein gewaltiges schwarzes Exemplar. Zusammen mit anderen tapferen Männern hatte er den gewaltigen Feuerspeier erlegt. Dass er zu guter Letzt selbst einer dieser Echsen zum Opfer fiel, ist fast schon Sarkasmus.“

Alle schwiegen, nur Kleopatra musste unbedingt ihren Kommentar dazu absondern. „So etwas kann meinem Volk nicht passieren. Wir halten uns aus allem heraus und schaffen uns erst gar keine Feinde!“ Orion schenkte ihr einen Seitenblick, doch sie ließ nicht locker. „Aber es ist doch wahr! Wer mit dem Feuer spielt, der kann sich leicht die Finger verbrennen.“ Missbilligend sah sie in die deprimierte Runde. „Die Wahrheit muss doch ausgesprochen werden!“ Nun erntete sie einen bitterbösen Blick von Flux. Es war doch schon genug, dass Leon heute vom Tod seiner Eltern erfuhr, musste sie ihm nun auch noch auf’s Butterbrot schmieren, dass sie selbst daran Schuld trugen?

„Na schön, dann schweige ich eben“, war die Prinzessin nun wieder eingeschnappt, „ich habe sowieso nicht erwartet, dass Wilde mich verstehen. Aber von dir, Orion und dir, Flux, hätte ich ein wenig mehr Einsicht erwartet.“

„Ist ja gut Kleopatra“, zischte nun der Greif, „wir diskutieren das später.“ Beleidigt verschränkte sie die Arme, später war das Thema vergessen und abgehakt, wenn sie etwas nicht leiden konnte, dann diese Verzögerungs- und Aussitztaktiken.

Camilla kehrte alsbald mit einem Kentauren zurück, auch er hatte ein Kreuz wie ein Ochse, sein Fell und seine Haare waren rabenschwarz. „Mein Cousin. Du weißt schon, Mutter hat uns so oft von dem Drachenangriff erzählt. Schon komisch, ihn nun vor sich zu haben“, wisperte die Pterokentaurin.

Für Leon selbst war es nicht weniger merkwürdig. „Strammer Bursche“, fand der Große anerkennend, „man erzählt sich ja viele Geschichten über seinen Vater, den Drachentöter und seine Mutter. Er sieht deiner Mutter ähnlich, Camilla.“ Das war schlau beobachtet. „Und? Willst du auch einmal Monster und Drachen töten, so wie dein Vater?“ Leon starrte den Burschen an und schluckte. „Ich habe in der letzten Woche einem Heuler das Fell über die Ohren gezogen, diese Hundebiester mit den glühenden Augen sind auch sehr gefährlich“, der Kentaur streckte seinen rechten Arm vor, an dem deutliche Narben zu erkennen waren. „Das Fell ist schon gegerbt, ich schenke es Camilla zu unserer Hochzeit.“

„Hochzeit?“, entrüstete sich da Brunhilde. „Nur über meine Leiche!“ Doch das junge Paar lachte nur, sie hatten es so beschlossen und dagegen war kein Kraut gewachsenen.

„Du kennst doch sicher die Tugenden eines Kentauren, nicht wahr?“, wollte der Hüne wissen und seine Freundin tuschelte ihm etwas ins Ohr, von wegen ihr Cousin sei doch unter Plattfüßern aufgewachsen. Abschätzend sah der Kerl auf Flux herab und erklärte dann feierlich: „Trinken. Essen. Keilereien.“ Nach kurzem Überlegen fügte er noch hinzu: „Und Frauen natürlich.“

Angewidert verzog Kleopatra das Gesicht. „Wilde! Barbaren! Hinterweltler!“ Zu ihrem Glück wurde das überhört und der Koloss führte seinen Vortrag weiter aus:

„Kentauren sind ein stolzes Volk, wie jeder weiß. Zur Hälfte sind wir Pferde, schnell und wendig. Doch Pferde sind Fluchttiere und rennen davon, wenn Gefahr sich zeigt. Kentauren hingegen bleiben und kämpfen, mag der Gegner auch noch so furchteinflößend sein. Es ist der Zweibeiner in uns, der über das Pferd triumphiert, seine Stärken nutzt, seine Schwächen aber unterdrückt. Du wirst doch auch schon bemerkt haben, welch enorme Kraft in dir steckt?“ Etwas irritiert nickte Leon und Brunhilde zischte zum Verlobten ihrer Tochter:

„Stark bist du ohne Frage, aber du hast leider nur Stroh im Kopf, mein Lieber!“ Beleidigt zog das Pärchen von dannen.

„Stark zu sein ist gut in Kentaurenkreisen“, philosophierte Brunhilde nach einer Schweigepause, „aber wichtig ist es auch, seinen Kopf zu gebrauchen.“ Schmunzelnd sah sie zu Leon, der über das nachgrübelte, was der Hüne gesagt hatte. „Kraft liegt in unserer Familie. Ich bin ein starkes Mädel, so wie deine Mutter. Dein Vater war ohne Frage ein ganzer Kerl und erst Bruno, was für ein Prachtexemplar! Er war noch nicht einmal vier, als er bereits eine Babyhydra erwürgte! Sein Vater und meine Schwester Leonora waren so stolz …“ Sie stockte und schluckte. War ihr das jetzt wirklich heraus gerutscht?

„Bruno?“, Leon verstand nicht ganz. „Und meine Mutter?“

„Ja …“, Brunhilde zögerte ein wenig, „Bruno … der Name meines Vaters, deines Großvaters.“ Wieder schickte sie einen Stoßseufzer gen Himmel, es nutzte alles nichts, sie hatte sich verplappert. „Höre, Leon. Es gibt noch etwas, das ich dir unbedingt erzählen muss.“ Noch einmal zögerte sie, doch es gab kein Zurück mehr. „Leon, du hast einen Bruder. Er ist vier Jahre älter als du und sein Name ist Bruno.“ Mucksmäuschenstill war es plötzlich, Orion legte die Ohren an, Kleopatra rollte mit den Augen, Flux verschlug es die Sprache und Leon schnappte nach Luft:

„Einen Bruder?“

Brunhilde nickte feierlich. „So ist es.“

„Heute ist wohl der Tag der Offenbarungen“, brummelte Kleopatra, „langsam wird es öde.“

„Au fein, dann können wir ja spielen!“, wie aus dem Nichts gekommen, stand da plötzlich ein kleines Kentaurenmädchen, griff Kleopatra bei der Hand und zog sie mit sich fort, bevor sie noch protestieren konnte.

„Wie niedlich“, fand Orion und konnte sein Lachen nur durch vorgetäuschtes Husten kaschieren.

Stumm starrte Leon seine Tante an, diese Tatsache konnte sie nicht einfach so im Raum stehen lassen. „Bruno kam ganz nach eurem Vater Aron, doch du glichst von Anfang an mehr deiner Mutter Leonora. Sie war zwar stark, aber auch sehr sanftmütig.“ Für einen Moment schloss sie die Augen um sich zu erinnern. „Bruno und du, ihr ward unzertrennlich vor dem schrecklichen Ereignis. Der Drache hatte es auf euch abgesehen und eure Eltern gaben ihr Leben. Danach war alles anders. Du hast dich wie in einem Schneckenhaus verkrochen, Bruno hingegen verwandelte der Verlust in Raserei. Er wurde jähzornig und ausfallend, da er es nicht ertrug, was er gesehen hatte. Dir hatte er noch im letzten Moment die Augen zugehalten – bevor eure Eltern … in Flammen aufgingen.“ Ein Schauer nach dem anderen jagte Leon über den Rücken, die Vorstellung allein war grauenhaft. „Dieser Tag veränderte den kleinen Bruno, er begann die ganze Welt zu hassen. Er schlug und trat um sich, keiner konnte mehr mit ihm reden. Er zerstörte alles, was ihm in die Finger geriet und er begann dich zu terrorisieren. Wir waren der Verzweiflung nahe, als der Zauberer erschien, jener, der dir einen Teil deines Selbstbewusststeins zurückgab. Nach kurzem Überlegen, nahm er deinen Bruder in seine Obhut. Bei ihm würde ein wenig Hypnose nicht genügen, war seine Meinung. Daher wollte er Bruno aufziehen und ihm sein schlechtes Benehmen abgewöhnen. Wir zweifelten zunächst, sahen dann aber keinen Ausweg, daher übergaben wir ihn in seine Obhut. Die Jahre vergingen, ab und an sahen wir ihn und Bruno wieder, der sich prächtig entwickelte. Zusammen mit seinem Mentor zog er durch die Welt, kam weit herum. Bei seinem letzten Besuch erzählte uns der Weise dann von deiner Adoption. Zwar wollten sich dein Onkel und ich nicht einmischen, aber wir hätten es befürwortet, dass du wenigstens deinen Bruder kennenlernst. Doch der Magier meinte, es sei noch nicht an der Zeit und wir vertrauten ihm.“

Verwirrt hob Leon den Blick, „Heißt dass, dass Bruno noch immer mit einem ominösen Zauberer durch die Lande zieht?“ Brunhilde zuckte bedauernd mit den Schultern, sie wusste es nicht. „Aber es wird ihm gut gehen, wo immer er steckt. Er war schon immer kräftig, daher hat er sich sicher durch’s Leben geboxt.“

„Das Schwierigste an dieser Welt ist, in ihr zu leben“, warf Orion ein und die Tante nickte zustimmend. Schweigend sah Flux zu Leon, es würde seine Zeit brauchen, bis er alles verarbeitet hatte.

„Nun bin ich also nicht mehr dein Bruder“, murmelte der Elf traurig, „jetzt hast du ja einen richtigen.“

Leon hob den Blick zu den Sternen, die unterdessen aufgegangen waren: „Wir werden immer Brüder sein – egal was geschieht.“

Brunhilde sah erleichtert aus, es war gut, dass sie sich das endlich von der Seele hatte reden können. Jahrelang hatte sie sich diesen Moment vorgestellt, alles in allem war er glimpflicher verlaufen, als sie erwartet hatte. Leon war nicht ausgerastet oder hatte sie beschimpft, so war es nun einmal nicht seine Art.

„Ich verwandle dich in eine Kröte!“, keifte Kleopatra und rannte wie der Teufel, das Kentaurenmädchen lief ihr lachend davon, für sie war es offenbar ein großer Spaß und die Bedrohung nicht ernst zu nehmend. Schnaufend und schimpfend gab die Fee bald auf, sie hatte schon Blasen an den Füßen und jammerte zum Steinerweichen. Zum Glück konnte ihr mit etwas Kräutersalbe geholfen werden, danach gab es deftigen Eintopf. Angewidert schob sie die Schale mit der Pampe fort und versuchte, etwas Ambrosia herbeizuhexen. Das Resultat sah zwar verführerisch aus, schmeckte aber nach eingeschlafenen Füßen. Somit hatte Kleo ihre Beschäftigung gefunden: Sie versuchte es wieder und wieder, bis ihr die Augen zufielen. Die Hunde der Kentauren fanden unterdessen Gefallen an der eigenwilligen Speise der Götter.

„Und nun erzählt mir, was euch in diese Gegend verschlagen hat“, bat Brunhilde und ihre Tochter gesellte sich dazu, „und wie kommt es eigentlich, dass du mit einem Greif und einer Fee durch die Lande ziehst?“

Es dauerte natürlich etwas länger, dies alles zu erzählen und dabei die Auftraggeberin selbst nur unterschwellig zu benennen. Vorsicht war immer noch die Mutter der Porzellankiste und Orion war schon lange klar, dass die Angriffe der Dämonen nicht zufällig waren. Die Finsterlinge wollten die Auserwählten aus dem Wege schaffen und sie verband nun einmal größtenteils nur ihre gemeinsame Reise, welche wiederum ihren Ursprung bei Morgana fand.

Die Kentaurin Brunhilde war tief beeindruckt. Ihr Neffe und seine Freunde befanden sich also auf einer Abenteuerreise. Ihre Tochter war nicht so angetan, das hörte sich irgendwie nach einem Krabbelgruppenausflug für sie an, ohne bestimmtes Ziel. „Und du bist dann wohl der Aufseher, ja?“, neckte sie Orion, doch dieser ließ sich nicht ärgern, im Gegensatz zu Flux, der reichlich eingeschnappt war, dass sie ihn ein Kleinkind schimpfte. Schließlich waren sie nicht zum Vergnügen unterwegs.

„Schon gut“, wiegelte Camilla ab und küsste sich zum Unmut ihrer Mutter mit ihrem Verlobten, „ist bestimmt spaßig.“ Nun sagte Flux gar nichts mehr. Orion schmunzelte und berichtete mit Leons Unterstützung von all den wilden Kreaturen, mit denen sie schon fertig geworden waren: dem alten Mantichora, dem grauen Drachen Salazar, der Hydra, den Orks und Ogern, Kobolden, der Chimäre und dem Donnervogel. Leons Tante war mächtig beeindruckt, ihre Tochter verdrückte sich unterdessen wieder mit ihrem Gefährten.

„Wie war mein Bruder?“, fragte Leon leise und Brunhilde berichtete ihm von einem starken Kentauren, mutig und wild, der sein Glück in der Ferne ganz sicherlich gefunden hatte. „Der weise Zauberer hat es wohl verstanden, ihn ein wenig zu bändigen. Ich würde mich nicht wundern, wenn er inzwischen ein anerkannter Drachentöter und Dämonenjäger wäre.“ Dabei sah sie entschuldigend zu Flux, welcher sie aber gar nicht mehr hörte, da er schon eingeschlafen war. „Ich bin sicher, eure Wege werden sich eines Tages kreuzen“, bemerkte die Kentaurin, „ihr seid Brüder, habt den selben Vater und dieselbe Mutter. Das Schicksal und meine Wenigkeit trennten euch. Ich habe nicht die Macht, euch wieder zusammen zu bringen – die Götter schon.“ Leon nickte verständig, ohne Frage, er wollte seinen großen Bruder gerne kennenlernen und erfahren, wie es ihm ergangen war. Hatte sich der alte Mann wirklich gut um ihn gekümmert? Hatte er vielleicht sogar schon eine Familie gegründet? Immerhin musste er inzwischen schon einundzwanzig Jahre alt sein.

Seine Tante versicherte Leon nun, er sei jederzeit hier gerne gesehen und dass sie ihn auch stets in die Herde aufnehmen würde. Er bedankte sich dafür und sah kurz zu Orion. „Mein Platz ist aber in der Gruppe. Wenn dieses Abenteuer vorbei ist, werde ich dich wieder besuchen.“ Seine Tante lächelte. Auch seine Eltern waren stets pflichtbewusst gewesen, was sie angefangen hatten, hatten sie auch immer zu einem Ende gebracht.

„So gefällst du mir, mein Junge. Ich werde in Gedanken immer bei dir sein, so wie bisher.“

Leon nickte, er war glücklich, wenigstens diesen Seitenzweig seiner Familie gefunden und so viel erfahren zu haben. Doch er wusste auch, dass man manchmal im Leben loslassen musste. Denn bereits am folgenden Nachmittag brach die Gruppe wieder auf. Der Kompass zeigte noch immer in dieselbe Richtung, sie mussten endlich herausfinden, wohin er diesmal führte. Brunhilde verstand es und verabschiedete sich wortreich von Leon. Sie gab ihm auch noch etwas Wegzehrung mit und verpflichtete ihre Tochter dazu, ebenfalls Lebewohl zu sagen.

„Halte die Ohren steif, dann schaffst du das schon, Großer“, grinste Camilla und auch ihr Freund gab ihm noch den guten Rat, nicht auf das Geseiere anderer Rassen zu hören.

„Wir Kentauren sind und bleiben die Krone aller Wesen. Wir sind stark und unzähmbar wie eine Naturgewalt. Wir haben Kultur, wir lieben und wir sterben, so wie alle anderen. Trotzdem sind wir etwas Besonderes.“

Der Greif schmunzelte: „Jeder ist etwas Besonderes.“ Doch der junge Kentaur grinste nur etwas abfällig, da ließ es sich Orion nicht nehmen, sich auf die Hinterbeine zu erheben und laut zu brüllen. Lachend ergriffen daraufhin Camilla und der Ihrige die Flucht.

„Gut gebrüllt“, lobte Kleopatra und fügte leise hinzu, „und nun lasst uns verschwinden von diesem nach Pferdemist riechenden Ort.“ Zuvor wurde Leon aber noch kräftig von seiner Tante gedrückt.

„Du bist ein Prachtbursche und wirst schon schaffen, was du dir vorgenommen hast. Deine Eltern wären stolz auf dich, ich bin es allemal.“ Sie winkte ihnen noch lange nach und freute sich bereits auf ein Wiedersehen. Sie fragte sich, ob wohl auch Bruno irgendwann einmal bei ihr wie aus heiterem Himmel auftauchen würde.

Die Vier setzten ihren Weg nun fort, natürlich wurde Leon gefragt, ob er nicht nach seinem leiblichen Bruder suchen wollte, doch er schüttelte mit dem Kopf. Morganas Reise war im Moment das Wichtigste, war sie erst überstanden, konnte er Bruno immer noch aufspüren. Flux war erleichtert, er hatte schon ein klein wenig befürchtet, sein Bruder könne nun eigene Wege gehen. „Wie sollte ich allein zurechtkommen?“, schmunzelte Leon. „Du musst doch auf mich Acht geben. Ohne dich wäre ich dort draußen in der weiten Welt verloren.“ Dies erfüllte Flux’ Herz mit großem Stolz.

„Alles kommt zu dem, der warten kann. Ohne direkt zu suchen führte dich das Schicksal zu deiner Tante“, sinnierte Orion, während sich Kleopatra auf Leons Rücken langweilte.

„Vielleicht finden wir ja endlich meinen Traumprinzen, der mit mir zu Morganas Schloss reitet.“

„Oder der Kompass bringt uns direkt zu einem feuerspeienden Ungetüm, das den Schatz bewacht, den wir bergen sollen“, warf Flux ein und verdarb ihr ein wenig die Laune.

„Wir werden es ja sehen“, glaubte Orion, doch bis es soweit war, lag noch ein Gewaltmarsch vor ihnen. Nacht und Tag wechselten, die Landschaft änderte sich kaum. Elefantenherden zogen von Wasserloch zu Wasserloch, ab und an sahen sie ein Löwenrudel oder andere größere Tiere. Geier kreisten über das Land und auch ein junger Donnervogel, der sie aber zum Glück nicht beachtete.