Kapitel IV - Ungebetener Besuch

Ein sanfter Nachtwind strich über die Savanne, einige Nachttiere huschten geschäftig umher, doch auch sie hielten inne, als sich der grauenvolle Laut gen Himmel erhob. „Werwölfe? Höllenhunde?“, Calep erwachte sofort durch das Jaulen.

„Nein, es ist Pazu“, stöhnte Flux und rieb sich den Schlaf aus dem Augen.

„Was zum Kuckuck hat sie denn nun schon wieder?“, keifte Kleopatra und steckte den Kopf aus ihrem Zelt, in derselben Sekunde bohrte sich unweit von ihr ein Pfeil in den Boden.

„Verdammte Petze!“, grollte eine tiefe Stimme und zu ihrem Schrecken mussten sie feststellen, dass sie umzingelt waren. Noch einmal holte Pazu tief Luft, dann stieß sie ein so schrilles Jaulen aus, das auch die restlichen Schlafmützen aufschreckte.

„Umso besser“, brummte eine tiefe Stimme, die ihnen bekannt vorkam, „Auge in Auge ist es doch noch viel schöner, sie zu erledigen.“ Klappernd näherte sich das blanke Skelett eines Drachens, die leeren Augenhöhlen blickten unruhig herum, das schauderhafte Maul war unnatürlich weit aufgerissen und im Nacken der Kreatur hockte Asmodi, mit seinem Menschen-, Stier- und Widderkopf und den unförmigen Entenfüßen.

„So sehen wir uns also wieder“, der fürchterliche Dämon grinste verschmitzt, „zu meinem Bedauern wird dies aber unsere letzte Begegnung sein, denn heute Nacht müsst ihr alle sterben.“

Wütend stellte Orion seine Federn auf und Flux nahm ihm die Worte aus dem Schnabel: „Wieso lasst ihr uns nicht in Ruhe? Was wollt ihr überhaupt von uns?“ Missmutiges Grollen ertönte von den vierbeinigen Begleitern Asmodis’, großen Hunden mit glühenden Augen und Hörnern, die man Eisengrind nannte.

„Wie schon gesagt“, Asmodi starrte teilnahmslos auf die spitzen Fingernägel seiner rechten Hand, „wir haben den Auftrag, euch ins Jenseits zu geleiten.“

„Und wer gab euch diesen Befehl?“, Orions Stimme klang scharf wie ein Messer und einige Köter wichen erschrocken zurück.

„Unser Meister“, kam es tonlos zurück, „mehr müsst ihr gar nicht darüber wissen.“ In einer Schale mit Wasser erschien für Sekunden erneut das Kuttengesicht mit dem großen Sieben-Pupillen-Auge. Pazu war jedoch die Einzige, die es bemerkte, sie kläffte wie wild, doch als Rudi sich umblickte, war das Abbild bereits wieder verschwunden.

„Sollen wir sie nun erlegen?“, grunzte ungeduldig ein Blutschink mit zotteligem Bärenoberkörper und nackten, blutroten knorrigen Beinen. „Und dieses verräterische Ding gleich obendrauf?“ Schlangenzischen bekam er als Antwort von Pazu, die keine Sekunde länger zögerte, sondern losschnellte und sich im linken Schenkel des Blutschinks verbiss. Der Angegriffene brüllte vor Schmerz und wie eine Furie stürzte sich nun auch Lissi auf ihn:

„Wirst du wohl meine Tochter in Frieden lassen, du Grobian!“

„Und meine Frau auch!“, grollte Rudi und folgte hinterdrein. Damit war der Kampf nun eröffnet, heulend und brüllend stürzten die Blutschinke und die Eisengrinde heran, Orion hieb erbarmungslos mit seinen Adlerpranken auf sie ein, Calep machte von seinem Besen Gebrauch und Kleopatra rettete sich erst einmal in luftige Höhen.

„Tötet alle – lasst niemanden überleben“, verlangte Asmodi und sah von seinem Platz aus gelassen zu, „der Meister wird jeden von euch belohnen.“ Sein Schlangenschwanz zuckte ein wenig unruhig und er kratzte sich an der kräftigen Männerbrust: „Enttäuscht mich nicht noch einmal!“

„Soll ich …“, Flux zögerte, als ein Eisengrind genau auf ihn zukam, er wollte schon nach Pfeil und Bogen greifen, ließ es dann aber doch sein und verwandelte sich stattdessen in sein Drachen-Ich. Mit offener Schnauze verfolgte der Kläffer das Geschehen und rannte anschließend wie ein Hase, als lodernde Flammenzungen nach ihm haschten.

„Das ist die falsche Richtung“, grollte Asmodi, aus seinen Fingern zuckten Blitze, sie trafen den flüchtenden Köter und von diesem blieb nur ein wenig Asche übrig, „wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann unzuverlässiges Personal.“

„Hier!“, triumphierend schwang sich Calep auf seinen Besen und hielt das Säckchen mit Antidämonenpulver in die Höhe. „Damit haben wir schon einmal gesiegt!“ Erschrocken blickten die Dämonen auf, sie konnten sich noch gut an das Zeug erinnern, dass ihnen tagelang auf der Haut gebrannt hatte. „Da habt ihr es!“, großzügig verteilte Calep das Pulver. „Verschwindet, ihr Unholde! Wir haben so gut wie gewonnen!“ Brüllend schnellte in dieser Sekunde der blanke Drachenschädel auf ihn zu, entriss ihm das Säckchen, drehte den Kopf um hundertachtzig Grad und übergab es seinem Reiter.

„Ich nehme das an mich, wenn du gestattest“, grinste Asmodi und Calep starrte ihn entsetzt an.

„Das war unser letzter Trumpf, du Idiot!“, schimpfte Kleopatra.

„Du bist doch die Fee!“, zischte er zurück. „Kannst du kein neues Pulver herzaubern?“

Verstimmt sah Kleopatra zur Seite. „Ich gebe doch mein Bestes und habe schon drei Dämonen in Kröten verwandelt! Und was hast du dagegen zu setzen, hm?“

„Kinder! So vertragt euch doch!“, mit wilden Schlägen streckte Orion zwei Blutschinke zu Boden. „Ihr könnt euch auch später noch streiten!“

„Wie köstlich“, Asmodi fühlte sich sehr gut unterhalten, „diese Bande beseitigen wir mit Leichtigkeit.“ Mit großspuriger Geste holte er ein Einmachglas aus einer Tasche seines Umhangs, schraubte den Deckel ab und entließ einen Schwarm von Fliegen daraus. „Auf, auf, meine Süßen. Der Greif gehört euch.“ Wie auf ein Kommando formierten sich die Insekten, steuerten auf Orion zu und machten ihm das Leben zur Hölle, auch wenn sie winzig waren, so war ihre dämonische Kraft doch außergewöhnlich stark. Ihnen gelang es sogar, den Greif für kurze Zeit in die Höhe zu tragen. Brüllend und fauchend schlug Orion in wilder Raserei um sich. „Weiter so“, jauchzte Asmodi, „meine kleinen Lieblinge.“

„Verflucht!“, Orion spürte, wie ihn seine Kräfte langsam verließen, während die der Musca Macedda’s unerschöpflich zu sein schienen.

„Nehmt das!“, Kleopatra ließ Funken aus ihrem Zauberstab sprühen und in ihrer luftigen Höhe war sie relativ sicher, ganz im Gegensatz zu Leon, dem ein Blutschink auf dem Rücken hockte und ein Eisengrind sich in seinem rechten Vorderbein verbissen hatte.

„Weg mit euch“, er stieß mit seinem Speer nach ihnen, stellte sich aber recht ungeschickt an, ein weiterer Eisengrind schnappte sich die Waffe und zerrte daran, ihm gelang es sogar, Leon den Speer zu entreißen. Hoch erhobenen Hauptes überbrachte der Köter nun seinem Chef die Beute.

Eine Stichflamme züngelte gen Himmel, verpuffte aber ohne jede Wirkung. „Widerstand ist nutzlos!“, lachte einer der beiden Blutschinke, die Drac’o gepackt hatten. „Jetzt hat dein letztes Stündlein geschlagen, Schuppenechse!“ Entsetzt hielt Leon inne, als er die Szene erblickte. Der rechte Blutschink hob eine Pranke und hielt Drac’o dann seine Krallen an die Kehle. „Noch irgendwelche letzten Worte, Feuerspucker?“

Ein bleiernes Gefühl hatte sich bis dato langsam in Leons Körper breit gemacht und seine Muskeln gelähmt, doch nun durchfuhr ihn eine Art Stromschlag. „Tötet den Drachen“, befahl Asmodi, „und danach ist dieser Witz von einem Kentaur an der Reihe.“ Kaum hatte er diese Worte gesprochen, musste er sich auch schon ducken, da ein Eisengrind jaulend über ihn hinweg segelte. Verdutzt riss der Befehlshaber seine drei Köpfe wieder herum und wurde gerade noch Zeuge, wie Leon erneut ausscheute und zwei weitere Köter davon katapultierte.

„Auf ihn!“, brüllten nun drei Blutschinke und stürzten sich zu ihrem Kumpan auf Leons Rücken. Von ihrem großen Gewicht ging Leon fast in die Knie, doch dann durchfuhr ihn erneut dieser eigenartige Energiestoß. Er kniff die Augen zusammen, spannte die Muskeln an, krümmte den Pferderücken und bockte, wie ein wilder Mustang beim Rodeo. Die Blutschinke kreischten wie Schulmädchen, als sie in hohem Bogen davonflogen.

„Jetzt aber schnell“, zischte ihr Kumpan bei Drac’o, dem Schweiß über die Stirn rann und dem seine Tatze zitterte. Er wollte zwar nicht aufblicken, tat es aber dennoch und sah einen wilden Pferdeburschen direkt auf sich zustürmen, keine Sekunde später bekam er dessen Kopf in den Bauch gerammt.

„Nichts wie weg hier!“, der zweite Blutschink wollte türmen, entging einem deftigen Pferdekuss aber nicht.

„Wow!“, etwas Besseres fiel Drac’o nicht dazu ein, sein Bruder schnaufte und kniff wieder die Augen zusammen.

„So geht das aber nicht!“, mit einem Mal stand Asmodi direkt vor ihm. „Wir sind hier, um euch zu töten …“ Weiter kam er nicht, da sich eine Faust in sein Menschengesicht bohrte.

„Ich sehe es zwar“, hauchte Kleopatra und auch Calep hielt inne, „allein mir fehlt der Glaube!“

„Das nenne ich Elan!“, brüllte Rudi und kickte einen Eisengrind davon. „Da sollten wir uns alle ein Beispiel daran nehmen!“ Pazu tat dies auch gleich und verbiss sich im Allerwertesten eines Blutschinks, der daraufhin die Flucht wählte, wie auch einige andere versehrte Verwandte von ihm.

Mit wildem Gebrüll und wie beflügelt vertrieb Orion noch fünf weitere von ihnen, schüttelte dann die lästigen kleinen Fliegen ab und sauste los, direkt auf das fauchende Drachenskelett zu und zerlegte es in seine Einzelteile. „Ducken!“, rief Drac’o, dann stieß er eine Stichflamme aus und versengte die lästigen Fliegen, die den Greif verfolgten. Sie lösten sich in Wohlgefallen auf, noch bevor sie den Boden erreichen konnten.

„Gut gemacht“, lobte Orion beide Brüder und erhob sich auf seine Hintertatzen, „und nun zu dir!“

„Abmarsch!“, brüllte Asmodi, der wusste, dass diese Drohung ihm gehörte. Gerade wollte er sich abwenden und mit magischen Formeln sein Reittier wieder zusammensetzen, da musste er mit Schrecken feststellen, dass sich jeder verbliebene Köter einen Knochen als Belohnung geschnappt und damit durchgebrannt war. „Verfluchte Bande!“, Asmodi watschelte aufgebracht hinter ihnen her, sich die gebrochene Nase reibend. „Wenn ich euch erwische!“ Drac’o schickte ihm eine weitere Feuersbrunst hinterher, konnte sich aber nicht sicher sein, ob er wirklich getroffen hatte.

„Ha! Den haben wir es aber gegeben!“, Rudis Brust war vor Stolz geschwollen. „Wir haben eine wirklich tapfere Tochter.“ Pazu kläffte zustimmend und Lissi lachte herzhaft, unterdessen waren alle anderen Blicke auf Leon gerichtet.

„Du bist ohne Frage der Held dieser Schlacht“, lobte Orion und der Kentaur wurde ganz verlegen. Es war alles so schnell gegangen, dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast ihn verhext“, griente Calep, „aber dein Froschzauber hat keine Minute lang angehalten.“ Empört hielt die Fee die Luft an: „Immerhin habe ich mir meinen Feenglanz nicht abluchsen lassen!“

„Beruhigt euch wieder“, bat Orion und hob einen Beutel aus dem Gras auf, „hier ist doch unser Pülverchen.“ Mit wichtiger Miene gab er es an Calep zurück und dieser verteilte den Abwehrpuder sogleich großzügig.

„Kommen wir zu spät? Hoffentlich nicht!“, ertönte eine besorgte Stimme und die Leitelefantenkuh mit ihren vier Rüsseln erschien.

„Geht es euch allen gut?“, auch die Erawan mit den drei Köpfen erschien.

„Wir waren sehr besorgt, als wir das Getöse hörten“, berichtete die Airavata und wischte sich mit ihren Rüsseln Dämonenstaub von den Stoßzähnen: „Wir dachten schon, das berüchtigte Bestienpärchen sei über euch hergefallen, doch dann kamen uns diese Dämonenviecher entgegen, immerhin konnten wir die Welt von einigen befreien.“

„Manchmal ist es eben von Vorteil, so schwer zu sein!“, trompeteten die Karin Puksa Schwestern und stampften demonstrativ mit ihren Säulenfüßen auf den Boden.

„Ihr müsst ja völlig verängstigt sein, ihr Armen“, wurden die Reisenden bemitleidet und sogleich langten Rüssel nach ihnen, um ihnen tröstend die Wangen zu streicheln.

„Furchtbar“, brummte auch die Leitkuh, „warum bleiben diese Dämonen nicht, wo sie hingehören? Tief unten in der Erde!“

„Zum Glück verfügen wir über Wege und Mittel, uns zu wehren“, versuchte Orion die Damen zu beruhigen, „wir danken Ihnen für die tatkräftige Hilfe.“

„Gerne geschehen“, die Erawan zwinkerte ihm zu, „wir können alle froh sein, dass es nur Dämonen waren und nicht die zwei Bestien!“ An dieser Stelle lachte Rudi nun laut los. Die Elefanten hielten inne und besahen sich die kindergroße Frau mit dem rötlichen Fell und den grünen Mann, halb Elf, halb Kobold.

„Wer seid ihr, wenn wir fragen dürfen?“, trompeteten im Chor die geflügelten Karin Puksa Zwillinge.

„Die beiden grässlichen Bestien – Stets zu euren Diensten, meine Damen.“ Sofort brach aufgeregtes Gerede bei den weißen Elfanten aus, so mancher wollte das kaum glauben.

„Sie sind beide wirklich reizend“, wandte Leon etwas kleinlaut ein und sofort trompetete die Erawan:

„Alles nur Gerüchte! Wie gut, dass ich selbst nie an diese Verleumdungen geglaubt habe!“

„Typisch“, Kleopatra wandte sich kopfschüttelnd ab, „Bestien hin, Geschwafel her, ich habe eine Entscheidung getroffen!“

„Wie interessant“, gähnte Calep und Orion schmunzelte.

„Da Pazu uns verlassen wird und Leon sich soeben sehr selbstlos verhalten hat, ist es das Beste, wenn er ab sofort meine Leibwache ist. Drac’o kann ihm dabei ja gegebenenfalls assistieren.“

„Hui, toll“, ächzte Calep, „was für ein Karrieresprung! Vom edlen Ross zum Leibwächter.“

„Du übertreibst, Kleo“, fand auch Leon, doch da hatte sein Bruder nun auch noch ein Wörtchen mitzureden:

„In diesem Punkt hat sie völlig Recht! Du hast mir das Leben gerettet, ich wusste ja schon immer, dass ein Held in dir steckt.“ Damit machte er Leon natürlich sehr verlegen, hilfesuchend sah dieser zu Orion.

„Doch, doch“, schmunzelte der Greif zu allem Überfluss, „das war wirklich eine selbstlose Tat.“ Nun wurde Leon so rot wie eine Tomate und Calep grinste:

„Wo hattest du nur den ganzen Mumm verborgen, der in dir steckt?“ Leon schüttelte mit dem Kopf, er wollte nur helfen, Heldenmut hatte sicher nichts damit zu tun.

„Erzähle mir doch bitte, was genau geschehen ist“, flüsterte Orion, während Flux das Geschehene nachspielte und mit gesenktem Kopf auf Calep zuschoss, der die Flucht ergriff.

„Ich weiß es nicht genau“, irritiert kratzte sich Leon hinter den Ohren, „eigentlich begann es wie üblich: Das Pferd in mir gebrauchte seine Instinkte und der andere Teil von mir stellte sich wie üblich tölpelhaft an, ich ließ mir den Speer entwenden und wieder wurden meine Muskeln von der Angst gelähmt. Dieses Mal war die Furcht sogar so groß, dass sie auch den Gaul hemmte … ich war unfähig, mich zu rühren, doch als ich sah, dass mein Bruder in Lebensgefahr schwebte, da durchfuhr mich so etwas wie ein Blitz.“ Seufzend brach er ab, denn das hörte sich wirklich viel zu abenteuerlich an. Orion lachte ihn jedoch nicht aus, sondern legte ihm eine Klaue auf die Schulter.

„Ich weiß genau, wovon du sprichst.“

Verdattert sah Leon den weisen Greif an. „Wirklich?“

„In der Tat. Ich habe doch schon einmal erzählt, dass sich in meiner Jugend Löwe und Adler in mir nicht einig waren. Die Raubkatze wollte stets die Pfoten auf dem Boden behalten, während es den Adler gen Himmel zog. An jenem Tag, an dem sich die beiden Wesen in mir endlich einig wagen, da durchfuhr mich auch so ein Stromschlag.“

Leons Verwirrung steigerte sich, „Was hat das zu bedeuten?“

„Nun, es ist ganz einfach: so etwas durchleben alle Mischwesen, seien sie nun zur einen Hälfte Zweibeiner und zur anderen Tier, oder Hybriden aus verschiedenen Tieren, so wie ich. Innerlich sind wir alle gespalten, doch wenn unsere Teile harmonieren, dann können wir unser volles Potential ausnutzen. Löwen sind mächtig, ganz ohne Frage und Adler sind ebenfalls nicht zu unterschätzen, in einem Greif jedoch, verstärken sich die Kräfte beider um ein Vielfaches. Nicht umsonst spricht man davon, dass ein Greif so mächtig ist wie ein Löwenrudel und ein riesiger Adlerschwarm zusammen. Bei dir ist es ähnlich: Zweibeiner sind geschickt und erfindungsreich, Pferde sind ohne Frage schnell und wehrhaft, zusammen aber erreichen ihre Kräfte eine völlig andere Dimension. Kentauren sind gefürchtete Krieger und du durftest soeben erleben, welche Macht in dir steckt. Fürchte dich nicht vor dir selbst, du bist gutmütig und wirst nie diese Kraft missbrauchen, davon bin ich überzeugt.“ Ein mulmiges Gefühl machte sich aber dennoch in Leons Bauch breit. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, über seinen Schatten zu springen? Nun, da es geschehen war, wusste er nicht recht, ob er es nicht lieber wieder rückgängig gemacht hätte.

„Alles hat seinen Grund, auch die Tatsache, dass die meisten Tier-Zweibeiner und Hybriden gefürchtet sind. Da sie oft die gegensätzlichsten Wesen in sich vereinen, wirken sie auf Außenstehende, als verhielten sie sich gegen die Natur.“ Mit einem beachtlichen Satz, funkte dem Professor nun Drac’o dazwischen, der seinem Bruder direkt in die Arme sprang:

„Du hast diesem fiesen Asmodi ganz schön die Nase verbogen! So schnell wird der sich nicht wieder blicken lassen!“

„Ich würde es sogar vorziehen, wenn er überhaupt nicht mehr auftaucht“, warf Kleopatra ein.

„Du hast Recht“, Orion erhob sich, während die Sonne am Horizont erschien, „es ist für alle Beteiligten besser, wenn wir unverzüglich aufbrechen. Diese unangenehmen Dämonen scheinen es nur auf uns abgesehen zu haben.“ Somit war es beschlossene Sache, dass sie Abschied nehmen mussten.

„Wir werden gut auf Pazu Acht geben“, versprachen Lissi und Rudi, die Jungdämonin kläffte aufgeregt, so als wolle sie sagen, dass sie ihrerseits auf die beiden aufpassen würde. Nacheinander verabschiedeten sich nun alle von ihr. Calep tätschelte ihr den Kopf, Kleopatra schenkte ihr eine ihrer vielen Bürsten, Orion wünschte ihr alles Gute für die Zukunft und Drac’o überreichte ihr ihren geliebten Pökelschinken. Bei Leon dauerte der Abschied etwas länger, er kraulte ihr den Kopf und murmelte:

„Es war schön, dass du uns ein Stück des Weges begleitet hast.“ Unweigerlich musste er an Beelzebub denken, ob es dem kleinen Wadenbeißer wohl gut ging?

„Ach ist das rührend“, die Ehrawan vergoss dicke Tränen und die Airavata winkte zum Abschied mit ihren vier Rüsseln:

„Gehabt euch wohl, ihr Lieben!“

„Wollt ihr wirklich nicht, dass wir euch noch ein Stück begleiten? Wir könnten euch wieder tragen“, bot eine der Karin Puksa Schwestern an.

„Vielen Dank und auf Wiedersehen“, lehnte Kleopatra höflich ab und nahm auf Leons Rücken vor dem Gepäck Platz.

„Vergesst das hier nicht“, eine andere Elefantenkuh hob einen Miniaturspeer aus dem Gras auf und Leon verstaute ihn schnell. Rudi, Lissi, Pazu und die Elefanten winkten den Auserwählten noch lange nach, bis sie aus deren Blickfeld verschwunden waren.

„Himmlische Ruhe“, seufzte Kleopatra und Drac’o, der hinter ihr saß, grinste vor sich hin.

„Savanne, Savanne, so weit das Auge reicht“, mäkelte Calep von seinem fliegenden Besen aus, „wie wäre es mal wieder mit einem schattigen Wald?“ Missmutig wischte er sich den Schweiß von der Stirn und schielte zu Orion, der voran flog.

„Hebe den Blick! Dann siehst du keine Grenzen!“ Doch der Hobgoblin rollte nur mit den Augen:

„Ich sehe nur folgendes: Morgana schickt uns im Zickzackkurs querfeldein durch die Einöde.“

„Wenn es nun aber in Morganas Sinn ist, dass wir verschlungene Wege gehen, dann sollten wir es hinnehmen und kein Urteil darüber fällen.“

„Ganz genau!“, gab Kleopatra dem Greifen Recht. „Mein Vater sagt immer, dass Morgana die weiseste aller Frauen ist! Sie ist schon sehr alt und sie weiß genau, was sie tut.“

„Aha“, gab Calep zurück, „das hörte sich aber noch ganz anders an, als wir dich trafen!“ Er rang die Hände und verstellte die Stimme: „Nein Papi! Mit diesen Wilden will ich nicht gehen! Die sehen ja so fies aus! Die fressen mich bestimmt gleich!“

Mit geballter Faust drohte ihm Kleopatra. „Wenn du nicht gleich still bist, verhexe ich dich!“

„Ach ja“, seufzte Leon, „immerhin ist in diesem Punkt alles beim Alten geblieben.“

„Sei nicht traurig“, versuchte die Fee ihn zu trösten, „du hast ja immer noch dein Brüderchen, das du bemuttern kannst.“

„Stimmt genau!“, kam es von oben. „Und vor allem noch ein gewisses verwöhntes Prinzesschen!“

„Und zur Not ist da ja auch noch ein Lausbube von einem Ziegenelb“, schmunzelte Leon und brachte alle zum Lachen.

„Nachher könnten wir doch eigentlich zusammen fliegen“, schlug Calep vor, als sie gen Mittag im Schatten rasteten und zupfte an Drac’os rechter Schwinge, „die sind doch nicht nur zum Angucken da, oder?“ „Natürlich nicht!“, aber trotzdem machte der junge Smaragddrache ein finsteres Gesicht.

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, wunderte sich Kleopatra sehr über den sonst so fröhlichen Jungen.

„Ach, gar nichts“, brummelte der, „ich habe keine Lust zu fliegen.“

„Quatsch“, ließ Calep nicht locker, „das ist doch eine faule Ausrede. Hast du etwa Höhenangst?“

„Habe ich nicht!“, nun wurde Drac’o langsam böse. „Schließlich bin ich schon einmal mit dir auf dem Besen geritten, erinnerst du dich nicht?“

Natürlich erinnerte sich der Hobgoblin noch daran, „Aber wo liegt dann das Problem?“

„Lass ihn doch, wenn er nicht will“, versuchte Orion zu schlichten und Kleopatra fand:

„Wer nicht will, der hat schon.“

„Ich will ja!“, brüllte Drac’o. „Aber ich kann nicht!“ Er verschränkte die Arme und wandte den Kopf ab. „Vater hat mir vieles über uns Drachen beigebracht, auch lehrte er mich das Feuerspucken, aber …“ Rauch stieg aus seinen Nüstern auf. „Das Fliegen wollte er mir erst an dem Tag zeigen, als wir von Morgana den Auftrag bekamen, loszugehen!“ Nun hielt sogar Calep den Mund und Kleopatra schielte ihn mit ihrem „das-hast-du-ja-wieder-toll-gemacht-Blick“ an.

„Das tut mir leid“, Leon ließ geknickt den Kopf hängen, schließlich wusste er nur zu gut, dass es seit jeher ein inniger Wunsch seines Bruders war, sich aus eigener Kraft in den Himmel zu erheben.

„Schon gut“, Drac’o hob wieder den Kopf, „ich wollte doch unbedingt auf diese Reise gehen, also ist es meine Schuld. Ich habe mir immer gewünscht zu fliegen, doch das kann auch noch warten, bis wir wieder zuhause sind. All die Abenteuer, die wir erlebt haben, möchte ich nicht missen und auch nicht die neuen Bekanntschaften und Freunde.“

„Weise Worte“, Orion zwinkerte ihm zu, „man muss wissen, wo man seine Prioritäten setzen will.“ Würdevoll spannte er seine mächtigen Schwingen auseinander. „So viel Einsicht muss belohnt werden! Denn was man nicht vermag, kann man lernen.“

Voller Vorfreude sprang Drac’o auf die Füße. „Du willst es mir beibringen?“

Orion nickte, „Und das Beste ist, wir fangen gleich damit an.“ Der junge Drache machte einen Luftsprung, darauf hätte er auch selbst kommen können!

„Gut, dass er wieder fröhlich ist“, bemerkte Kleopatra, während sie und die anderen bei der Flugschule zusahen, „schlecht gelaunt hat er mir gar nicht gefallen.“ Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht, dagegen konnte nicht einmal Calep etwas einwenden.

„Wirklich sehr gut“, lobte Orion nach vielen Flugübungen, „du bist ein richtiges Naturtalent. Ich denke, einem Höhenflug steht nun nichts mehr im Wege.“ Vor lauter Freude begannen Drac’os Augen zu leuchten, nach den „Trockenübungen“ und Flugversuchen in Bodennähe, konnte er es kaum noch erwarten. „Wenn du bereit bist, dann folge mir“, Orion stieß sich vom Boden ab und schnellte in die Höhe.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, dass er mächtig stolz auf seinen Bruder war, sah man Leon schon an der Nasenspitze an.

„Ja, das kannst du“, Drac’o ergriff seine Hände, hielt sich fest und begann mit den Flügeln zu schlagen, langsam stieg er immer höher. Als Leon seine Arme nicht noch weiter nach oben ausstrecken konnte, bäumte er sich auf und hielt Drac’o so lange fest, bis er sich nicht mehr weiter ausrenken konnte. Er ließ den Bruder los und dieser stieg höher und höher.

„Bei den Flügelschuhen des Hermes! Er fliegt tatsächlich“, staunte Calep.

„Wirklich sehr gut!“, lobte Orion, während Drac’o gebannt die Welt von oben betrachtete. Eine angenehme Böe umschmeichelte seine Schuppen und es war ein herrliches Gefühl. Frei und erhaben, schwerelos und ohne Grenzen. Für kurze Zeit schloss der Jungdrache die Augen und genoss seinen Jungfernflug, dann aber frischte der Wind auf, er kam ins Trudeln, verlor an Höhe und wurde gerade noch von Leon aufgefangen. „Alle Achtung!“, Orion landete dicht daneben. „Also ich bin damals nach meinem ersten Flug punktgenau auf meinen Schnabel gestürzt.“

„Anfänger“, machte sich Kleopatra wieder wichtig, „also ich konnte schon fliegen, als ich noch Windeln trug!“

„Ja sicher“, glaubte Calep ihr kein Wort, „und im Himmel ist Jahrmarkt.“

„Pah“, Kleopatra wandte sich ab, „wer kann, der kann!“

Wie üblich folgte ein kleiner Schlagabtausch zwischen den Streithähnen, die Anderen nahmen es gelassen hin. „Willst du jetzt alleine weiterfliegen?“, wollte Leon gerne wissen. Statt zu antworten, wurde aus Drac’o wieder Flux.

„Von dieser Anstrengung muss ich mich erst einmal erholen“, erklärte er, „hüh hott!“ Bereitwillig galoppierte Leon los, Orion spurtete hinterher, mit dem Hobgoblin im Nacken.

„Wann kommen wir denn endlich irgendwann irgendwo an?“, ächzte Calep, als die Nacht schon hereingebrochen war. „Diese Savanne ist ja so öde!“ Ruckartig blieb Leon stehen, etwas hatte sich in der Dunkelheit bewegt. Als würde Flux seine Gedanken lesen, kramte er aus einer Packtasche den Salzkristall der Wichtel hervor, der sofort hell zu leuchten begann. Erneut konnte Leon nun eine Gestalt ausmachen, die ihren Weg kreuzte. Langsam schritt das Ungetüm heran, bis der Kentaur es in seiner vollen Scheußlichkeit erblicken konnte. Leere, tote Augenhöhlen starrten zurück, der Körper des Ungeheuers bestand aus dem Gerippe eines Pferdes, das unnatürlich leuchtete. Auf dem Rücken der geisterhaften Erscheinung, die kurz stehenblieb, das Maul öffnete und ein unheimliches Wiehern von sich gab, saß ein nicht weniger schauerlicher Reiter. Für den Augenblick glimmte ein Lichtfunke in den dunklen Augenhöhlen auf, denn der Reiter war ebenfalls nur ein Skelett, eingehüllt in Feuerzungen, die in alle Richtungen schlugen. Wie gebannt starrte Leon auf das Geisterfeuer. Das Pferdeskelett scharrte mit dem rechten Vorderhuf, warf den Kopf zurück, danach galoppierte es davon und verschwand in der Nacht.

„Leon?“, Flux war sehr beunruhigt. „Was ist mit dir?“

„Der sieht aus, als hätte er ein Gespenst gesehen“, diagnostizierte Calep und Orion murmelte:

„Wir müssen uns unterhalten, Leon. Ihr anderen baut bitte in der Zwischenzeit das Lager auf.“

„Also wirklich“, Kleopatra entfernte sich und ließ sich auf einem Felsbrocken nieder um ihr blondes Haar zu kämmen, „ich frage mich, ob es weise war, ihn zu meinem Leibwächter zu ernennen. Er hat die eigenartige Angewohnheit, immer irgendwie im Mittelpunkt zu stehen.“ Daraufhin konnten die Jungs freilich nur mit den Augen rollen.

Derweil entfernten sich der Greif und der Kentaur. Seufzend setzte sich Orion auf sein Hinterteil. „Ich glaube, ich habe nun endgültig den Verstand verloren“, raufte sich Leon die Haare, „die Anderen haben nichts gesehen!“

Der Greif machte eine beschwichtigende Geste. „Ich sah es auch.“

Verdutzt guckte Leon ihn an. „Aber wieso …?“

„Du hattest soeben die zweifelhafte Ehre, einem Feuermann zu begegnen. Mit diesen Erscheinungen ist es so, wie mit vielen anderen Gespenstern: nicht jeder kann sie sehen.“ Ein wenig niedergeschlagen guckte der Greif zu Boden. „Als ich noch in der Bibliothek lebte, habe ich viel über sie gelesen, denn ich bin einem von ihnen bereits begegnet, als ich noch sehr jung war. Dieses schauderhafte Erlebnis werde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen.“ Nun hob er wieder den Blick und sah Leon ins angstvolle Angesicht. „Keine Bange, die Feuermänner können niemandem etwas anhaben, wie die meisten Geister. Sie tragen in sich jedoch die Botschaft des Todes. Sie erscheinen nur denjenigen, die schon einmal jemanden sterben sahen.“ Nun wurde Leon noch mulmiger zu Mute, doch Orion wollte ihm die Wahrheit nicht verschweigen. „Durch meine Lektüre von Sichtungen habe ich selbst einige interessante Theorien aufgestellt: Raubtiere, die töten, um zu essen, können die Feuermänner nicht sehen, ebenso wie Krieger. Es ist notwendig, eine Beziehung zu demjenigen zu haben, den man sterben sah. Die Sichtung des Feuermanns soll anscheinend an diesen Vorfall erinnern. Interessanterweise gibt es dabei drei Stufen: Wer einen Freund von hinnen gehen sah, dem erscheinen nur die Konturen des Geistes oder nur dessen glühende Augen. Bisweilen auch lediglich ein Feuerball, der in der Luft schwebt. Wer hingegen einen sehr guten Freund oder ein entferntes Familienmitglied sterben sah, der sieht die Kreatur durchscheinend wie einen Nebelschleier in Gestalt eines Schwarzen Mannes, der in Flammen gehüllt ist. Nur wer einen engen Gefährten oder einen nahen Verwanden hinscheiden sah, der kann den Feuermann deutlich in seiner Skelett-Erscheinung erkennen, aus der Flammen herausschlagen.“ Als Leon dies vernahm, wurde er noch blasser. Jede Rippe, das blankliegende Gebiss und das Geisterfeuer – er hatte alles ganz genau erkennen können. Plötzlich loderten die hellen Flammen vor seinem inneren Auge auf, entsetzt wandte er sich ab. „Gütiger Himmel“, Orion deutete diese Reaktion richtig und legte dem Kentaur mitfühlend die Pranke auf die Schulter, „vielleicht ändert es nichts, aber du solltest wissen, dass auch ich dieses Biest ganz deutlich sah.“ Nun schwieg der Greif, denn weitere Worte waren nicht angebracht.

„Was war denn?“, begrüßte Kleopatra die beiden zurück. „Habt ihr ein Geheimnis? Dann sprecht!“ Orion schüttelte nur mit dem weisen Haupt. „Na schön! Das interessiert mich ja sowieso nicht“, sie drehte den Kopf zu Calep und mahnte: „Vergiss ja nicht das Pulver!“

Als Antwort streckte er ihr die Zunge heraus und begann den Antidämonenschutz zu verstreuen. „Das versäume ich garantiert nie wieder!“ Flux grinste von einem Ohr zum anderen, hatte das sein Kumpel nicht irgendwann schon einmal gesagt?

„Ich werde zuerst Wache halten“, entschied Leon, nachdem sie gegessen und er den Verband an seinem Hinterbein gewechselt hatte. Die Bisswunde des Eisengrinds heilte dank Morganas Tinkturen bereits, „ich könnte sowieso nicht schlafen.“ Verständnisvoll nickte Orion, er würde dann die nächste Schicht übernehmen.

„Sehr schön“, fand Kleopatra, bevor sie sich in ihr Zelt zurückzog, „ihr werdet sicher nicht im Dienst für meine Sicherheit einschlafen, im Gegensatz zu einem gewissen verantwortungslosen Individuum.“

„Argh!“, machte Calep nur und zog sich die Decke über den Kopf. „Kannst du sie nicht aus Versehen fressen, Orion?“ Zu seinem Ärger lachte der Greif aber nur erheitert.

„Ich bin auch noch nicht müde“, Flux setzte sich neben seinen Bruder, „kann ich dir ein bisschen Gesellschaft leisten?“ Natürlich durfte er das und da ihm klar war, dass Leon bestimmt nicht erzählen wollte, was vorhin vorgefallen war, versuchte er lieber, ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Erinnerst du dich eigentlich noch an den Sommer, als ich mich immer in dem Heuhaufen versteckt und alle Leute erschreckt habe? Als man mir dann auf die Schliche kam, hast du behauptet, der Schuldige zu sein.“ Leon nickte versonnen, man hatte ihm damals ganz schön die Ohren lang gezogen und Flux fing an zu kichern. „Weißt du auch noch, wie du einmal stundenlang Modell gestanden hast, weil ich für die Schule ein steigendes Pferd zeichnen musste? Das ist mir gut gelungen … nur der Kopf sah eher nach einem Nashorn aus.“ Besonders der Muskelkater danach war Leon unvergesslich. „Wenn wir wieder zu Hause sind, dann nehmen wir am nächsten Hürdenlauf teil und diesmal gewinnen wir bestimmt!“ Leon musste lachen:

„Aber nur, wenn ich nicht erneut ausgerechnet über das letzte Hindernis stolpere.“ Er wuschelte seinem Bruder durch das Elfenhaar und war schon wieder besserer Stimmung.

„Und wieder einmal so ein wunderschöner Morgen“, Calep reckte und streckte sich, während Kleopatra kurz aus ihrem Zelt blickte:

„Juhu, Orion! Wie schön, dass du so pflichtbewusst deiner Aufgabe nachkommst. Das verleiht mir wirklich ein Gefühl von Sicherheit.“

„Stets zu Diensten, Prinzessin“, schmunzelte der Greif und putzte seine Federn.

„Ich bin dann weg!“, brummte Calep und stapfte davon. „Dumme Gans“, brabbelte er, als er weit genug weg war, „sie muss ja nie Wache halten, weil sie ein Mädchen ist! Jeder macht mal Fehler.“ Widerwillig verschränkte er die Arme und kickte ein Steinchen davon. „Orion ist ja so weise! Flux muss man einfach gerne haben und seit gestern Nacht ist Leon plötzlich ein großer Held. Und was ist mit mir? Bin ich das überflüssige Ersatzrad am Kutschenwagen?“

„Lauf’! Schnell! Renn’ um dein Leben!“, eine Gruppe von Rasselböcken nahte, das waren Hasen mit Rehbockhörnern und Säbelzähnen. Einige Exemplare huschten zwischen Caleps Ziegenbeinen hindurch, die anderen jagten dicht an ihm vorbei.

„Hey!“, schimpfte er wie ein Rohrspatz. „Hat man denn nirgendwo seine Ruhe?“ Wütend stampfte er mit dem linken Huf auf und schnappte sich einen Nachzügler. „Was soll die Aufregung?“

Der Rasselbock zitterte am ganzen Körper, „Lauf’ schnell!“ Ängstlich schielte er zurück. „Zu spät!“ Langsam hob Calep den Blick und machte sogleich einen Satz nach hinten, denn vor ihm stand der Jäger: Vorne Adler, hinten Löwe mit zweigeteiltem Schwanz. Von einem Greif unterschied sich dieses Tier vor allem aber dadurch, dass ihm anstelle von Flügeln lange spitze Stacheln aus den Schultern wuchsen. Darüber hinaus war dieses Raubtier wesentlich korpulenter als der recht schlanke Orion. Es sträubte sein gelbes Fell und seine dunkelbraunen Federn, stellte die Ohren auf und starrte Calep mit seinen grünen Augen entgegen.

„Wie ich sehe, hast du einen gefangen“, grollte eine tiefe Stimme aus der Kehle des Tieres heraus, Calep ließ vor Schreck den Rasselbock fallen und der nutzte natürlich die Gunst der Stunde. Die Pupillen des Jägers weiteten sich und Calep beschlich das beklemmende Gefühl, dass nun sein letztes Stündlein geschlagen hatte. „Na, so ein Pech aber auch“, mit dumpfem Geräusch ließ der Löwenadler sein Hinterteil auf den Boden plumpsen. Entgeistert starrte Calep ihn an. „Das ist ja wieder einmal typisch!“ Ächzend senkte der Räuber den Kopf, „Da jage ich schon den ganzen Morgen und trotzdem gehe ich leer aus.“ Schielend wie ein getretener Hund sah er zu Calep: „Du hast nicht zufällig irgendwo ein schmackhaftes Häppchen herumliegen sehen?“ Irritiert schüttelte der Hobgoblin mit dem Kopf, nein, abgesehen von sich selbst nicht. „Ach je“, stöhnte da der Adlerlöwe, „meine Muter hatte doch Recht: ‚Kleiner’, hat sie immer zu mir gesagt, ‚du bist ein wirklich liebes Kind, aber zur Jagd taugst du nicht.’ Das ist doch echt deprimierend!“ Dabei guckte er Calep an, als wollte er sich gleich bei ihm ausweinen. „Du bist doch bestimmt ein erstklassiger Jäger, was?“

„Ähm“, gab Calep zur Antwort.

„Verstehe“, der komische Vogel ließ den Kopf noch weiter hängen, „ihr Zweibeiner seid ja sowieso immer die Besten. Ihr habt Hände und könnt damit Dinge basteln, ihr geht aufrecht und habt voll den Überblick, ihr könnt schreiben und rechnen und so …“ Nun ließ sich auch Calep seufzend auf den Boden fallen.

„Also, ich für meinen Teil nicht. Ich war nie in der Schule. Ich bin übrigens Calep, ein Hobgoblin.“

„Und ich bin ein Keythong“, gab der Löwenadler zurück, „das ist fast so etwas wie ein Greif.“ Doch dabei ließ er die Ohren hängen. „Aber eben nur fast … wir können nicht fliegen, wie auch, ohne Schwingen? Dafür können wir etwas anderes.“ Der Keythong holte tief Luft und plötzlich traten überall an seinem Körper Stacheln hervor, fast wie bei einem Kugelfisch. „Ich kann auch eine Zeit lang auf den Hinterbeinen gehen“, berichtete der ulkige Vogel, während er seine Verteidigungswaffen wieder einfuhr, „und ich bin ein recht guter Schwimmer.“

„Und dein Name ist?“

Nun sah der Keythong beschämt zur Seite. „Nun ja … meine Mutter hatte meinen drei Geschwistern, die vor mir geschlüpft waren, schon die tollen Namen gegeben: Silberklaue, Sturmjäger und Schreckensschwinge. Mich nannte sie dann Nepomuk.“ Calep musste unweigerlich prusten, schaffte es aber gerade noch, dass es wie ein Husten klang. „Hast du dich etwa verkühlt? Die Nächte in der Savanne können ziemlich frisch werden, aber das ist nichts im Vergleich zu den Nächten in der Wüste. Sag, was machst du hier eigentlich?“

Sofort hörte Calep auf zu husten, „Also, ich bin hier im Auftrag von Morgana, der großen Königin!“ Erstaunt legte Nepomuk die Ohren an:

„Wirklich wahr?“

„Natürlich! Ich bin von ihr auserwählt worden. Bestimmt muss ich eine Heldentat vollbringen, deshalb ziehe ich durch die Lande und erlebe ein spannendes Abenteuer nach dem anderen. Ich habe schon gegen Dämonen gekämpft, mit einer Chimäre gerungen und einen wilden Kerberos gezähmt.“

„Hui!“, staunte Nepomuk. „Du musst aber sehr mutig sein!“

„Allerdings. Deswegen hat mich Morgana wahrscheinlich auch ausgewählt. Ich habe schon Hofdamen vor Ungeheuern gerettet, bevor sie zu mir kam und mir das Amulett schenkte.“ Mit wichtiger Miene holte er sein weißes und hellblaues Taiji an seinem verkleinerten Besen hervor. „Wer so eine Auszeichnung besitzt, der ist auserwählt, so wie ich.“

„Oh wirklich?“, Nepomuk hob den Kopf. „Ich … ich habe auch so eines!“

Höchst erstaunt sah Calep ihn an, „Stimmt das denn auch?“

„Aber ja! Meines ist … ähm … ach ja genau: es ist schwarz und hellblau!“ Calep musste an Leon denken, dessen Amulett war dunkelblau-weiß und das von Orion war schwarz-dunkelblau. Außerdem wurde Flux’ schwarz-grünes Taiji immer grün-weiß, wenn er sich in Drac’o verwandelte.

„Zeig’ es mir doch bitte.“

„Nun, ähm“, Nepomuk sah zu Boden, „es wurde mir gestohlen, ja genau! Von einer finsteren Armee! Ich alleine gegen zehntausend Krieger. Die Hälfte habe ich bestimmt überwältigt, aber dann wendeten sie fiese Tricks an! Sie schossen mit Blitzen und ihr Anführer, der so groß wie ein Berg war, nahm mir das Amulett ab. Hilfst du mir, es wiederzubekommen?“

Noch bevor er fertig war, sprang Calep schon auf die Füße: „Natürlich helfe ich dir! Komm’ mit!“ Er rannte los und Nepomuk folgte ihm.

„Wer sind die?“, raunte der Keythong, als sie sich dem Lager näherten.

„Also, das sind“, grübelte Calep, „Mitstreiter! Ja genau, sie bekämpfen das Böse, genau wie ich!“

„Toll“, vor lauter Begeisterung legte Nepomuk die Ohren an, „und du bist ihr Anführer, nicht wahr?“

„Ich …“, Calep sah einmal in die Runde, „natürlich bin ich das! Hallo Leute! Euer Boss ist zurück!“

„Hat er jetzt einen Sonnenstich?“, zischte Kleopatra Flux ins Ohr und dieser zuckte nur mit den Schultern.

„Guten Morgen, ihr Helden“, plötzlich erhob sich Nepomuk auf die Hinterbeine und winkte mit dem rechten Vorderfang.

„Er ist einer von uns“, verkündete Calep, „ich habe ihn ganz alleine gefunden.“ Kleopatra zeigte ihre Begeisterung, indem sie hinter vorgehaltener Hand gähnte.

„Ist das so?“, staunte Orion.

„Ja, Sir!“ Ein wenig verwundert legte der Greif den Kopf schief.

„Na dann, willkommen im Klub!“, kam es von Flux und Leon warf einen Blick auf seinen Kompass, dieser zeigte noch immer in die gleiche Richtung.

„Sein Name ist Nepomuk“, erklärte Calep derweil, „und er bekam von Morgana auch ein Amulett. Allerdings ist es ihm gestohlen worden.“

„Von einer Armee aus Schattenkriegern! Sie wuchsen aus Drachenzähnen und ihr Anführer war ein riesiger Titan.“

„Ah ja“, brummte Orion und Kleopatra tippte sich an die Schläfe:

„Die passen zusammen! Dieser komische Vogel ist mindestens ein genauso großer Aufschneider wie Calep!“

„Hast du was gesagt, Prinzesschen?“, zischte der Hobgoblin zurück.

„Ja, das habe ich, Herr Ziegenfuß!“

„Kinder!“, Orion hob die Stimme. „Anstatt zu streiten, sollten wir uns lieber wieder auf den Weg machen. Du kannst gerne mit uns kommen, wie war doch gleich dein Name?“

„Nepomuk.“ Kleopatra brach in lautes Wiehern aus, Leon verstand das nicht so recht:

„Ist doch ein hübscher Name.“

„Ja!“, gluckste die Fee. „Für einen Zwergpudel vielleicht!“

„Ist die immer so?“, erkundigte sich der Keythong.

„Ja“, stöhnte Calep, „leider!“

„Auf ein Neues!“, diesmal trabte Orion voran, Leon folgte mit seinen zwei Passagieren und Calep bildete mit Nepomuk die Nachhut.

„Die sehen wirklich alle echt mutig aus“, tuschelte der Keythong zu seinem Passagier.

„Na ja“, gab Calep zurück, „nichts im Vergleich zu mir. Unter uns gesagt, ist der Kentaur eigentlich ein ziemlicher Angsthase. Die Fee hat ein großes Mundwerk, kann aber kaum zaubern. Der Elf ist okay, aber der Greif redet viel zu viel. Daher nenne ich ihn Professor, er ist wie ein wandelndes Lexikon!“

„Mit seiner Brille sieht er wirklich weise aus.“

„Ja, aber nicht besonders gefährlich“, konterte der Hobgoblin. „Immerzu gibt er Weisheiten von sich!“

„Was lästert ihr denn da hinten?“, rief Kleopatra ihnen zu, daher hörten sie lieber erst einmal auf zu tratschen.

Lange dauerte es jedoch nicht, bis die neuen Freunde wieder die Köpfe zusammensteckten. „He da, aufgepasst!“, Calep war wieder ganz in seinem Element. „Wir wollen doch schnell vorankommen? Wie wäre es dann mit einem kleinen Wettrennen?“

„Und wie stellst du dir das vor?“, wollte Flux gerne wissen.

„Ganz einfach! Wir sind jetzt drei Zweibeiner und drei Vierbeiner! Also genau drei Zweierteams.“

„Hui“, kam es von Kleopatra, „bis drei kannst du also zählen!“

„Ach Kleo“, seufzte Orion, „nehmen wir die Herauforderung doch einfach an.“ Nepomuk und Calep grinsten sich an, nun gab es nur noch ein Problem.

„Einer von euch muss wohl absteigen“, nachdenklich sah Leon zu der Fee und Flux.

„Schon gut, ich gehe, um eure brüderliche Freundschaft nicht zu stören“, bemühte sich Kleopatra hinüber zu Orion. „Dafür verlange ich aber, dass du gewinnst, Professor.“

„Selbstverständlich“, erwiderte dieser und hielt sich bereit.

„Auf die Plätze! Fertig! Los!“, kommandierte Calep und ging mit seinem Partner auch gleich in Führung. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Brüder aufholten.

„Merkt euch unsere Gesichter, Jungs!“, rief Flux noch. „Denn gleich seht ihr uns nur noch von hinten!“ Genauso kam es auch.

„Orion!“, Kleopatra war einem Wutausbruch nahe. „Hattest du nicht versprochen zu gewinnen? Wir sind das Schlusslicht!“

„Sehr wohl, Prinzessin“, brummte er und gab sein Bestes, „aber ein Löwe ist nun einmal kein Gepard und ein Adler kein Wanderfalke!“

„Mir doch egal!“, kam es patzig zurück. „Du hast einfach zu viel Zeit in deiner Bibliothek verbracht, anstatt zu trainieren!“

„Wir holen wieder auf!“, freute sich derweil Calep.

„Im Laufen war ich schon immer gut“, erwiderte der Keythong. Flux drehte sich nur kurz zu ihnen um, grinste, winkte und dann ging Leon in den gestreckten Galopp über. Die Chancen, ihn jetzt noch einzuholen, lagen bei Null.

So dauerte das ganze Rennen nicht besonders lange.

„Na? Habt ihr zwischendurch noch gepicknickt?“, scherzte Flux, als Calep mit Nepomuk im Ziel eintraf. „Uns sollte man in dieser Disziplin nicht herausfordern. Den Kentaur in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf!“ Endlich nahten auch Kleopatra und Orion. Sie sah beleidigt zur Seite, während er wieder einen passenden Spruch parat hatte:

„Durch einen Sieg lernt man nichts Neues, durch eine Niederlage hingegen sehr viel.“

„Mit einem Pferd, das beim Galoppieren immer wieder alle Viere vom Boden löst und für kurze Zeit schwebt, kann eben nicht jeder mithalten!“, gab Flux an.

„Nun ist aber gut“, sein Bruder wuschelte ihm durch den blonden Schopf, „ich bin doch kein Pegasus.“

„Na ja“, kam es zurück, „aber fast!“

„Warum kannst du das nicht?“, maulte Kleopatra und schob die Unterlippe vor.

„Weil eben jeder seine Fehler und Grenzen hat“, versuchte Orion es ihr zu erklären, „wie heißt es doch so schön: Entdeckst du Fehler bei dir, bereinige sie. Kannst du keine finden, sei umso mehr auf der Hut.“

„Das sagt mir nicht viel“, konterte die Fee, „viel passender ist es doch zu sagen: Anderer Fehler sind gute Fehler.“

„Ganz genau“, grinste Calep und erntete einen bösen Seitenblick, während sie nun gemächlich bis zum Abend wanderten.