Nachwort zur deutschen Ausgabe

.


Im Winter 945 gab mir Boris Pasternak ein Bündel Papiere, das ich möglichst bald zum Ofenanheizen verwenden sollte. Er hatte seit er erwachsen war keinerlei Interesse mehr an einem Archiv, sah im Aufewahren keine praktische Notwendigkeit. Die Kladden verbrannte er sofort nach der letzten Überarbeitung eines Textes, die Reinschrifen gab er an den Verlag. Als Manuskripte nur noch in Maschinenschrif abgeliefert werden durfen und die Verlage Handschrifen nicht mehr annahmen, schenkte er sie Freunden und Bekannten, die die Schönheit seiner Handschrif entzückte. So gehörte das Verbrennen von Manuskripten bei Pasternak zu den Alltäglichkeiten. Meine Hilfe brauchte er nur, als in seiner Wohnung in der Lawruschinskij-Gasse die Zentralheizung schon wieder in Betrieb genommen war und es keine Öfen mehr gab, aber wir am Twerskoj Boulevard, noch die mit Holz geheizten Kriegsöfchen hatten. Von Zweifeln beunruhigt, rief ich meinen Vater an und sagte ihm, daß ich doch lieber mit Zeitungspapier Feuer machen wollte. Eine Zeitlang war er deshalb ärgerlich auf mich; er verlangte zwar die Papiere nicht zurück, gab mir aber nie mehr einen ähnlichen Aufrag. Außer einer Anzahl von Gedicht-Varianten und -Entwürfen und einem Packen alter Briefe enthielt das Bündel auch eine Erzählung mit dem Titel Die Geschichte einer Kontra-Oktave.

Inzwischen sind dreißig Jahre vergangen; sie waren so übervoll von Ereignissen, daß das Gedächtnis sie nur mit Mühe festhalten kann. In der zweiten Hälfe dieser Zeitspanne begannen wir eine Werkausgabe vorzubereiten. Wäre die Edition allein von unseren Bemühungen abhängig gewesen, hätte sie schon vor sechs Jahren erscheinen können. Aber Gründe, auf die wir keinen Einfluß haben, machen eine Werkausgabe heute genauso unmöglich wie zu Lebzeiten des Autors.
In einer derartigen Situation ist es schwer, nicht die Möglichkeiten zu nutzen, hie und da in unseren Zeitschrifen die eine oder andere vergessene oder bisher unveröffentlichte Arbeit Pasternaks zu publizieren, ungeachtet der Demütigungen durch nicht eingehaltene Versprechungen, obligate redaktionelle Bearbeitungen, ungeachtet auch der unvermeidlichen Kürzungen, die solchen Veröffentlichungen nicht nur ihren Wert, sondern auch ihren Sinn zu nehmen drohen.
Zu unserer freudigen Überraschung stellte sich jedoch noch jedes Mal heraus, daß ein PasternakText derartigen Prüfungen standhielt, und diese Veröffentlichungen sich als Erfolg erwiesen. Das frappierendste Beispiel dieser Art lieferte das ohne unsere Mitwirkung zustandegekommene Buch Briefe nach Georgien . Ähnlich erging es der Geschichte einer Kontra-Oktave. Schon 963 hatte Jelena Pasternak die einzelnen Bogen der Handschrif dem Plan und den Notizen des Autors entsprechend geordnet. Der rekonstruierte Text wurde einigen Personen zugängig gemacht, die sich für Pasternak-Forschung interessieren. Doch erst zehn Jahre später konnte die unvollendete Erzählung in den Mitteilungen der sowjetischen Akademie der Wissenschafen erscheinen. Leider handelte es sich dabei von Anfang an nicht um eine wissenschafliche Edition. Mehr noch: der vorgesehene Umfang wurde im Laufe der Zeit und nach gewissen Redaktionsbesprechungen um mehr als die Hälfe reduziert, und der zweite, unfertige Teil der Erzählung konnte nur in zusammenfassender Inhaltsangabe unter Zitierung einiger Originalpassagen gedruckt werden.






2.


Trotzdem ist Die Geschichte einer Kontra-Oktave interessant, denn schon hier, in dieser ersten kompositionell voll ausgearbeiteten Prosa tritt eine Grundtendenz Pasternaks deutlich zu Tage: das Bestreben, im Wort das Bild der Welt so zu vermitteln, wie er sie erkannt und als geistig verwandt erlebt hat. Technisch realisiert er diese Tendenz in dem Bemühen, Szenen und Situationen in unteilbare inhaltliche Einheiten zu fassen, sie nicht in getrennte Sätze zu untergliedern, sondern, in einem Atemzug gesprochen, das Bild als Ganzes aufzubauen. Daher ist beim Lesen durch die Anspannung der Augen physisch das Heraustreten aus der kühlen, dunklen Kirche auf den sonnigen Platz fühlbar, und die frühmorgendliche Szene am Bett des toten Knaben erschreckt. Daher wecken die Dialoge im zweiten Teil den Eindruck des Erlauschten, der Rhythmus der Schritte und des Stehenbleibens der Sprechenden teilt sich dem Leser mit.
Für Pasternak war es zeitlebens charakteristisch, daß er parallel, fast gleichzeitig an Versen und Prosa arbeitete. Sujets, die größtmögliche Bestimmtheit im plastischen Ausdruck und in der Ausarbeitung verlangten, ergaben sich der Prosa; der lyrische Anfang, das Augenblickshafe, eine Bewegung nachzeichnende Malerische – den Gedichten. Die Geschichte einer Kontra-Oktave wurde offenbar im Sommer 93 geschrieben zur gleichen Zeit wie der Gedichtband Der Zwilling in den Wolken. 3 Biographisch sind beide Arbeiten bedeutsam als Entwicklungsstufen, die bald überwunden werden. In vieler Hinsicht noch Anfängerarbeiten, zeigen sie den Einfluß des russischen Symolismus und der deutschen Romantik (vor allem E. T. A. Hoffmann), in deren Bann sich diese Generation insgesamt befand. Die Erzählung ist wahrscheinlich das einzige erhaltene Beispiel der Versuche Pasternaks in der romantischen Manier. Er gab sie bald auf und distanzierte sich auf das Entschiedenste von ihr. Der Künstler Knauer, der in sich selbst »das Maß des Lebens« sieht und bereit ist, dafür mit dem Leben zu bezahlen, wird einerseits als Objekt des göttlichen Willens betrachtet, andererseits als »Fall« für das Gericht seiner Mitbürger. Er war zum Mörder seines Sohnes geworden, als er völlig selbstvergessen auf der Orgel improvisierte und sieht darin die göttliche Verwerfung seiner Berufung und seines Lebensbildes. Er verläßt die Stadt, wechselt seinen Beruf und verschwindet in der Fremde. Viele Jahre später zwingt ihn ein deutliches Himmelszeichen – ein Blitzeinschlag – zum Aufenthalt in der Stadt, die er verlassen hatte, um nie mehr wiederzukehren. Die Seitentür der Kirche, die die Nacht über offengeblieben war, versteht er als Zeichen der göttlichen Verzeihung und der erneuten Berufung. Ein Versuch auf der Orgel überzeugt ihn, daß er sie wie eh und je beherrscht. Doch die Antwort auf seinen Antrag, die Organistenstelle wieder einnehmen zu dürfen, ist ein entsetztes Nein des Stadtrates, das ihm in ausführlicher Begründung verlesen wird. Knauer hört diesen Beschluß wortlos an und verläßt die Stadt wieder, diesmal auf immer. Unbegreiflich ist ihm einzig die Tatsache, daß die Stelle des Organisten ein Mann einnimmt, der das absolute Gegenteil von ihm selbst darstellt.
Die Geschichte wird zur Legende vom genialen Künstler, dem die Himmel grollten, dann verziehen und von neuem in ihren Dienst beriefen. Philisterhafigkeit verwandelt die Legende in eine Moritat von bestrafem Hochmut, von Selbstüberschätzung, die zu Frevel führte.
Später berührte Pasternak verschiedentlich sein Verhältnis zur Romantik, präzisierte seine eigene Definition dieser Kunstströmung und ihrer ideologischen Unterströme und äußerte sich über die Gründe seiner Abkehr von der Romantik. Im . Abschnitt des dritten Teils des Geleitbriefes 4, in dem Pasternak seine Beziehungen zur Romantik darlegt, schreibt er:
»Außerhalb der Legende ist das romantische Konzept falsch. Der Dichter, der diesem Konzept zugrundeliegt, ist undenkbar ohne die Nicht-Dichter, die ihn konturieren, denn dieser Dichter ist keine lebendige, von sittlichen Erkenntnissen durchdrungene Person, sondern sichtbar-biographisches Emblem, das einen Hintergrund zu seiner Konturierung braucht. Im Unterschied zu Passionsspielen, die den Himmel benötigen, um vernommen zu werden, benötigt dieses Drama das Übel der Mittelmäßigkeit, um gesehen zu werden, so braucht die Romantik stets das Philistertum; verschwindet das Spießbürgertum, verliert sie die Hälfe ihres Inhalts.«
Diese Passage kann nicht nur als eine allgemeintheoretische Stellungnahme gelten, sondern auch als konkrete Parole des Autors für Die Geschichte einer Kontra-Oktave.
Unter Romantik verstand Pasternak »nicht die einst dagewesene Strömung, nicht die tatsächliche Schule, nicht den Grad der Kunstentwicklung, sondern die Romantik als Prinzip: das Abgeleitete, das Nichtursprüngliche, Literatur über Literatur; wogegen das schöpferische Kunstgenie ein Kunstverachter und Lebensanbeter durch Kunst ist.« 5 Seine Absage an die romantische Manier und ihre Wurzeln, die romantische Ideologie, begründet Pasternak im Geleitbrief:
»Aber unter der romantischen Manier, die ich mir von nun an versagte, barg sich eine ganze Weltauffassung. Es war die Auffassung vom Leben als dem Leben des Dichters. Wir hatten sie von den Symbolisten übernommen, die sie von den Romantikern, hauptsächlich von den Deutschen, geerbt hatten.« Und weiter: »Eine Biographie als Schauspiel aufzufassen, war unserer Zeit eigen. Ich teilte diese Konzeption mit allen anderen. Ich trennte mich von ihr noch in jenem vagen, unverbindlichen Stadium, als sie noch nicht Heroismus voraussetzte, noch nicht nach Blut roch.«
Es ist nicht schwer zu erraten, von welchen fürchterlichen Folgen der romantischen Ideologie hier die Rede ist.


3.

Betrachten wir schrittweise den Lösungsprozeß von der Romantik an den drei ersten erhalten gebliebenen Erzählungen Die Geschichte einer Kontra-Oktave (93), Die Linie des Apelles (95) 6 und Briefe aus Tula (98) 7.
In Die Linie des Apelles erwies sich schließlich der romantische Dichter Relinquimini, der Heinrich Heine literarisch herausforderte, als der Genarrte, denn Heine verlagerte die Herausforderung aus der Literatur in die Wirklichkeit. Auf den Haupthelden Heinrich Heine lassen sich die eben zitierten Worte anwenden: »ein schöpferisches Kunstgenie, ein Kunstverachter und Lebensanbeter durch Kunst«.
Es ist klar, daß in diesem Streit zwischen Leben und Kunst, zwischen Realist und Romantiker der Sieg dem Realisten zufällt, obwohl der andere, Relinquimini, ein Lieblingsheld frühester ProsaFragmente Pasternaks ist und sogar als Autor nicht erhaltener früher Arbeiten fungiert 8. Im Unterschied zur Geschichte einer Kontra-Oktave denkt Pasternak sich hier keine neue Person aus. Er nimmt Heinrich Heine so, wie dieser sich selbst in den »Reisebilder III. Italien.« schildert. Als Motiv verwendet der Autor die Fabel von der Herausforderung des griechischen Malers Apelles durch seinen Rivalen Zeuxis, sich und seine Kunst in einer einzigen Linie vollkommen zu offenbaren. Apelles nahm die Herausforderung an, besuchte Zeuxis, als dieser nicht zu Hause war, und verführte dessen Frau. Pasternak hat Heine die Rolle des Apelles im realen Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugewiesen. Er macht den Auferstandenen zum Partner einer sinnverwirrenden Liebesaffäre und läßt ihn »zu Lebzeiten des Dichters ungedruckte Verse« schreiben und veröffentlichen.
In der Erzählung Briefe ans Tula nimmt Pasternak dem echten Künstler die romantischen Attribute und macht ihn zu einem von niemandem beachteten, von allen vergessenen alten Mann. Dagegen stattet er eine bramabarsierende Gruppe aufgeblasener Filmdarsteller mit jenen Attitüden aus, die prahlerisch Zugehörigkeit zur Kunstund Kulturwelt demonstrieren. Dem Autor am nächsten ist der »junge Dichter«. Er »beobachtet sich selbst an dem geschmacklosen Gehabe der Schauspieler, an dem schändlichen Stück, das seine Zeitgenossen und seine Zeit entlarvt«. In der Wendung eines Schauspielers an ihn als »Kollegen« erblickt er den Beweis dafür, daß auch seine eigene Arbeit nichtswürdig sei. In Gewissensqualen denkt er über seine Kunst nach, darüber, wie er auf den einzig echten Weg gelangen könne. Ein alter arbeitsloser Schauspieler hatte den ganzen Tag über die Filmleute bei ihren Außenaufnahmen zu einem historischen Film zugeschaut – entsetzt von der Trivialität der Szenen und tief verstört. Er findet erst wieder zu sich selbst, als er allein in seinem Hotelzimmer eine Szene spielt, in der er längst vergangene Tage wieder aufleben läßt, er hört und sieht sich und seine verstorbene Frau in ihrer Jugend. Diese Episode illustriert Pasternaks Gedanken über eine der wichtigsten Funktionen der Kunst: Gesehenes, Erlebtes in Leben zu verwandeln. Kunst, die auf dieses Ziel gerichtet ist, und fähig, es zu erreichen, bezeichnet Pasternak als realistische Kunst, deren unerläßliche Voraussetzung Unversehrtheit des historischen Bewußtseins sei.
»Realismus ist wahrscheinlich jenes Maß an schöpferischer Detaillierung, das vom Künstler weder banale ästhetische Regeln verlangt, noch jeweils ihm zeitgenössische Hörer und Zuschauer. Gerade an diesem Punkt jedoch verharrt immer die Kunst der Romantik, sie begnügt sich mit oberflächlicher Zeitgenossenschaf. Wie wenig ist nötig, auf daß sie blühe! In ihren Verlautbarungen ist schwülstiges Pathos, verlogener Tiefgang und verspielte Lieblichkeit – alle Formen des Gekünstelten stehen ihr zu Gebote.
Der Realist befindet sich in einer völlig anderen Lage. Sein Tun ist Kreuz und Prädestination. Nicht ein Schatten von Willkür, von kapriziöser Laune. Wie kann er spielen, wenn seine Zukunf selbst mit ihm spielt, wenn er ihr Spielzeug ist! Und vor allem. Was macht den Künstler zum Realisten? Was erschaf ihn? Uns scheint, frühe Beeindruckbarkeit in der Kindheit und zeitgerechte Gewissenhafigkeit im Mannesalter. Eben diese beiden Faktoren sind Impulse seiner Arbeit. Dem romantischen Künstler sind sie unbekannt, für ihn
sind sie nicht verpflichtend. Den Realisten treiben seine Erinnerungen auf das Gebiet der technischen Entdeckungen, er braucht sie unabdingbar, um seine Erinnerungen zu reproduzieren. Künstlerischer Realismus, so scheint uns, ist die Tiefe der biographischen Prägung, die zur wichtigsten den Künstler bewegenden Kraf wird und ihn zu Neuerung und Originalität treibt.« 9



4.


Ein Teilergebnis der Beschäfigung mit Pasternaks Realismus ist die Möglichkeit, in seinen Texten genaue Merkmale konkreter Sachverhalte zu finden, die mit der einen oder anderen beschriebenen Begebenheit verbunden sind.
Im Laufe unserer Arbeiten machten wir die Erfahrung, daß es bei Pasternak keine sogenannten allgemeinen Orte gibt; und eine Periode, die beim flüchtigen Lesen den Eindruck schöner poetischer Umschweife hervorruf, enthält fast immer im einzelnen die exakte Beschreibung psychologischer Phänomene, beruht auf historischer Untersuchung, auf Recherchen in geographischen oder naturwissenschaflich-historischen Atlanten oder schließlich auf wie durch ein Wunder von ihrer melodramatischen Oberflächlichkeit befreiter protokollarischer Zeitungsmeldung.
An biographischer Realität liegen der Geschichte einer Kontra-Oktave hauptsächlich die beiden Deutschlandaufenthalte von 906 und 92 zugrunde.
Von der ersten Reise erzählt der Bruder Alexander Leonidowitsch ausführlich in seinen Erinnerungen. Nach der Ankunf in Berlin im Januar 906 wohnte die Familie zunächst im Hotel Fürst Bismarck, am Knie. Später übersiedelten die Eltern mit den beiden Töchtern in eine Pension und mieteten die Söhne in einem billigen Quartier bei einer Obstund Südfrüchte-Händlerin, »die Witwe« genannt, in der Kurfürstenstraße ein. In der Wohnung der Obsthändlerin gab es ein Klavier. Boris gab der Tochter des Hauses Unterricht und benutzte das Instrument auch selbst, sowohl zum Improvisieren wie zu ernsthafer Komposition unter der brieflichen Anleitung von Ju. D. Engel. Die Brüder spazierten viel durch die Stadt, saßen im Tiergarten, lasen Reclam-Hefe und besuchten die vormittäglichen Sinfonie-Konzerte. Als Alexander Leonidowitsch dieses Kapitel seiner Erinnerungen niederschrieb, ahnte er nicht, daß ich das Manuskript dieser Erzählung aufewahrt hatte. Es wird daher nicht uninteressant sein, einen Abschnitt aus diesem Kapitel mit dem Anfang der Erzählung zu vergleichen: »Hier in Berlin ging ich mit meinem Bruder of in eine nahegelegene Kirche, sie trug den ungewöhnlich gotischen Namen ›Gedächtniskirche‹. Diese Kirche, Gott allein weiß, in welchem Stil sie erbaut ist, war ebenso berühmt für ihren Organisten wie für ihre Akustik. Der Organist war außerordentlich begabt und von hoher musikalischer Kultur. Später, als wir mit den Gebräuchen in dieser Kirche vertraut waren, gingen wir manchmal auch alltags hin; dann gab es keinen Gottesdienst, und es waren auch keine Besucher da. Wir gingen hin, wenn der Organist, als sei er bei sich zu Hause, auf der Orgel übte, etwas Neues einstudierte oder einzelne Melodien Bachs in verschiedener Weise interpretierte.
Zu Höhepunkten in seinem Bachspiel kam es meistens am Schluß des Gottesdienstes, beim Ausklang. Dann, als erglühe Bach in seinem Appell an den Weltenherrscher, gelangte er in seinem Trotz fast bis zum Schrei; und die Musik ließ die Mauern erbeben, fand nicht genug Platz in ihren Grenzen, bewegte sie, wie ein tiefer Seufzer den Brustkorb bewegt. Die Orgel und Bach – indem sie die Tone immer stärker komprimierten, verdichteten zu zweit die Substanz so sehr, daß wir unsere Erdenschwere verloren und uns von der Dichte der Töne in geistigem Schweben gewiegt fühlten. Es schien, als verschwinde alles ringsum in einer allgemeinen Endlosigkeit der Welten, irgend etwas hielt uns in mächtigen Armen und stützte uns in diesem gewaltigen Brausen der Orgelbässe. Wenn der Organist, längst jenseits aller denkbaren Erdenkraf, die letzten Akkorde gegriffen hatte, schwieg die Orgel plötzlich und abrupt und lauschte dem Nachhall ihrer eigenen Klänge von den Wänden, Vitragen und Säulen, der die Kirche belebte. Erschöpf gingen wir als die letzten hinaus, verwundert, daß Häuser und Straßen noch da waren. Wir gingen langsam nach Hause und schwiegen.« Die Beschreibung der Studentenzeit in Marburg im Sommersemester 92 umfaßt ein Drittel des Geleitbriefs. In der Hoffnung, daß dieses Werk deutschen Lesern in den, leider gekürzten, deutschen Übersetzungen bekannt ist, erlaube ich mir, ergänzend aus einem Marburger Brief Pasternaks an seinen Freund K. G. Loks, der im Geleitbrief erwähnt wird, zu zitieren:
»Ich kann mir schwer einen Ort auf der Welt vorstellen, der in höherem Grade illustriert ist als Marburg. Und das ist nicht jenes oberflächlich Malerische, von dem wir sagten, daß es entweder entzückend oder allerliebst sei. Die lange erprobten, in Jahrhunderten erstarkten Schönheiten dieser Stadt – von der Legende der Heiligen Elisabeth beschützt –, haben irgendeine dunkle und gebieterische Neigung zur Orgel, zur Gotik, zu etwas Unterbrochenem, nie zu Ende Gebrachtem, das hier vergraben liegt. Mit diesem Zug ersteht die Stadt. Aber sie ist nicht belebt. Da ist keine Lebendigkeit. Es ist irgendeine dumpfe Bemühung des Archaischen. Die Bemühung alles zu erschaffen: die Dämmerung, den Duf der Gärten, die säuberliche Menschenleere in der Mittagsstunde, die nebligen Abende. Geschichte ist hier irdisch manifest geworden. Das wissen, das fühlen alle.« Diese Zeilen können als erklärende Formel für den Inhalt der Geschichte einer Kontra-Oktave gelten, für ihren Entwurf oder auch für ihre sujetlose Gliederung. Zudem begegnen wir hier wieder einem Grundmotiv Pasternaks: dem Bestreben, das Unbeseelte, Abgelebte zu beleben und, es ausgrabend wie einen archäologischen Schatz, zum Gegenstand des geistigen Lebens späterer Generationen zu machen.
Die Handlung spielt im 8. Jahrhundert in einer fiktiven kleinen hessischen Stadt, die bei Pasternak den Namen Ansbach trägt. Um die deutschen Leser nicht mit falschen geographischen Vorstellungen zu irritieren, haben wir uns entschlossen, sie hier Ambach zu nennen.

Moskau, Mai 975 Jewgenij Pasternak



Anmerkungen


. Pis'ma k gruzinskim druz'jam (deutsch von Heddy Pross-Weerth: Briefe nach Georgien. Frankfurt/Main
968).
2. Istorija odnoj kontroktavy. In: Izvestija akademii nauk SSSR. Serija literatuy i jazyka, tom 33, Moskau 974, Nr. 2. (Die Geschichte einer Kontra-Oktave. In: Mitteilungen der Akademie der Wissenschafen der UdSSR. Serie Literatur und Sprache.)
3. Bliznec v tučach. Lirika. Moskau 94 (Der Zwilling in den Wolken. Lyrik.)
4. Ochrannaja gramota. Leningrad 93 (deutsch von Gisela Drohla: Der Geleitbrief. Köln 958, von Johannes v. Guenther: Sicheres Geleit. Frankfurt/Main 959.)
5. Renate Schweitzer: Freundschaf mit Boris Pasternak. München 963.
6. Apellesova čerta (Die Linie des Apelles). In: Vozdušnye puti (Lufwege), Moskau 933, unter dem Titel: Il tratto di Apelles in: Rasskazy (Erzählungen) 925.
7. Pis'ma iz Tuly. Moskau 922 (deutsch von Heddy Pross-Weerth: Briefe aus Tula. In: Neue deutsche Hefte, Nr. 5, 958.)
8. Frühe Prosa-Fragmente. Unveröffentlicht. Archiv Boris Pasternak, Moskau. Relinquimini war das Pseudonym des jungen Pasternak. In Erinnerungen von Freunden und Verwandten werden fantastische Geschichten und Märchen erwähnt, die mit diesem Namen signiert sind.
9. Chopin. In: Literaturnaja Rossija (Das literarische Rußland), Moskau, 9. 4. 965. Vgl. Josefine Pasternak: Neunzehnhundertzwölf. In: Alma Mater Philippina. Marburg 97/72. 0. Alexander Leonidowitsch Pasternak, geb. 892, bedeu-
tender Architekt, lebt in Moskau. Seine literarisch hoch-
interessanten Memoiren sind mit Ausnahme weniger Ka-
pitel bisher nicht veröffentlicht.
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