Nachwort zur deutschen
Ausgabe
.
Im Winter 945 gab mir Boris Pasternak ein
Bündel Papiere, das ich möglichst bald zum Ofenanheizen verwenden
sollte. Er hatte seit er erwachsen war keinerlei Interesse mehr an
einem Archiv, sah im Aufewahren keine praktische Notwendigkeit. Die
Kladden verbrannte er sofort nach der letzten Überarbeitung eines
Textes, die Reinschrifen gab er an den Verlag. Als Manuskripte nur
noch in Maschinenschrif abgeliefert werden durfen und die Verlage
Handschrifen nicht mehr annahmen, schenkte er sie Freunden und
Bekannten, die die Schönheit seiner Handschrif entzückte. So
gehörte das Verbrennen von Manuskripten bei Pasternak zu den
Alltäglichkeiten. Meine Hilfe brauchte er nur, als in seiner
Wohnung in der Lawruschinskij-Gasse die Zentralheizung schon wieder
in Betrieb genommen war und es keine Öfen mehr gab, aber wir am
Twerskoj Boulevard, noch die mit Holz geheizten Kriegsöfchen
hatten. Von Zweifeln beunruhigt, rief ich meinen Vater an und sagte
ihm, daß ich doch lieber mit Zeitungspapier Feuer machen wollte.
Eine Zeitlang war er deshalb ärgerlich auf mich; er verlangte zwar
die Papiere nicht zurück, gab mir aber nie mehr einen ähnlichen
Aufrag. Außer einer Anzahl von Gedicht-Varianten und -Entwürfen und
einem Packen alter Briefe enthielt das Bündel auch eine Erzählung
mit dem Titel Die Geschichte einer Kontra-Oktave.
Inzwischen sind dreißig Jahre vergangen; sie
waren so übervoll von Ereignissen, daß das Gedächtnis sie nur mit
Mühe festhalten kann. In der zweiten Hälfe dieser Zeitspanne
begannen wir eine Werkausgabe vorzubereiten. Wäre die Edition
allein von unseren Bemühungen abhängig gewesen, hätte sie schon vor
sechs Jahren erscheinen können. Aber Gründe, auf die wir keinen
Einfluß haben, machen eine Werkausgabe heute genauso unmöglich wie
zu Lebzeiten des Autors.
In einer derartigen Situation ist es schwer,
nicht die Möglichkeiten zu nutzen, hie und da in unseren
Zeitschrifen die eine oder andere vergessene oder bisher
unveröffentlichte Arbeit Pasternaks zu publizieren, ungeachtet der
Demütigungen durch nicht eingehaltene Versprechungen, obligate
redaktionelle Bearbeitungen, ungeachtet auch der unvermeidlichen
Kürzungen, die solchen Veröffentlichungen nicht nur ihren Wert,
sondern auch ihren Sinn zu nehmen drohen.
Zu unserer freudigen Überraschung stellte
sich jedoch noch jedes Mal heraus, daß ein PasternakText derartigen
Prüfungen standhielt, und diese Veröffentlichungen sich als Erfolg
erwiesen. Das frappierendste Beispiel dieser Art lieferte das ohne
unsere Mitwirkung zustandegekommene Buch Briefe nach Georgien
. Ähnlich erging es der Geschichte
einer Kontra-Oktave. Schon 963 hatte Jelena Pasternak die
einzelnen Bogen der Handschrif dem Plan und den Notizen des Autors
entsprechend geordnet. Der rekonstruierte Text wurde einigen
Personen zugängig gemacht, die sich für Pasternak-Forschung
interessieren. Doch erst zehn Jahre später konnte die unvollendete
Erzählung in den Mitteilungen der sowjetischen Akademie der
Wissenschafen erscheinen. Leider handelte es sich dabei von Anfang
an nicht um eine wissenschafliche Edition. Mehr noch: der
vorgesehene Umfang wurde im Laufe der Zeit und nach gewissen
Redaktionsbesprechungen um mehr als die Hälfe reduziert, und der
zweite, unfertige Teil der Erzählung konnte nur in
zusammenfassender Inhaltsangabe unter Zitierung einiger
Originalpassagen gedruckt werden.
2.
Trotzdem ist Die Geschichte einer
Kontra-Oktave interessant, denn schon hier, in dieser ersten
kompositionell voll ausgearbeiteten Prosa tritt eine Grundtendenz
Pasternaks deutlich zu Tage: das Bestreben, im Wort das Bild der
Welt so zu vermitteln, wie er sie erkannt und als geistig verwandt
erlebt hat. Technisch realisiert er diese Tendenz in dem Bemühen,
Szenen und Situationen in unteilbare inhaltliche Einheiten zu
fassen, sie nicht in getrennte Sätze zu untergliedern, sondern, in
einem Atemzug gesprochen, das Bild als Ganzes aufzubauen. Daher ist
beim Lesen durch die Anspannung der Augen physisch das Heraustreten
aus der kühlen, dunklen Kirche auf den sonnigen Platz fühlbar, und
die frühmorgendliche Szene am Bett des toten Knaben erschreckt.
Daher wecken die Dialoge im zweiten Teil den Eindruck des
Erlauschten, der Rhythmus der Schritte und des Stehenbleibens der
Sprechenden teilt sich dem Leser mit.
Für Pasternak war es zeitlebens
charakteristisch, daß er parallel, fast gleichzeitig an Versen und
Prosa arbeitete. Sujets, die größtmögliche Bestimmtheit im
plastischen Ausdruck und in der Ausarbeitung verlangten, ergaben
sich der Prosa; der lyrische Anfang, das Augenblickshafe, eine
Bewegung nachzeichnende Malerische – den Gedichten. Die Geschichte
einer Kontra-Oktave wurde offenbar im Sommer 93 geschrieben zur
gleichen Zeit wie der Gedichtband Der Zwilling in den Wolken.
3 Biographisch sind beide Arbeiten
bedeutsam als Entwicklungsstufen, die bald überwunden werden. In
vieler Hinsicht noch Anfängerarbeiten, zeigen sie den Einfluß des
russischen Symolismus und der deutschen Romantik (vor allem E. T.
A. Hoffmann), in deren Bann sich diese Generation insgesamt befand.
Die Erzählung ist wahrscheinlich das einzige erhaltene Beispiel der
Versuche Pasternaks in der romantischen Manier. Er gab sie bald auf
und distanzierte sich auf das Entschiedenste von ihr. Der Künstler
Knauer, der in sich selbst »das Maß des Lebens« sieht und bereit
ist, dafür mit dem Leben zu bezahlen, wird einerseits als Objekt
des göttlichen Willens betrachtet, andererseits als »Fall« für das
Gericht seiner Mitbürger. Er war zum Mörder seines Sohnes geworden,
als er völlig selbstvergessen auf der Orgel improvisierte und sieht
darin die göttliche Verwerfung seiner Berufung und seines
Lebensbildes. Er verläßt die Stadt, wechselt seinen Beruf und
verschwindet in der Fremde. Viele Jahre später zwingt ihn ein
deutliches Himmelszeichen – ein Blitzeinschlag – zum Aufenthalt in
der Stadt, die er verlassen hatte, um nie mehr wiederzukehren. Die
Seitentür der Kirche, die die Nacht über offengeblieben war,
versteht er als Zeichen der göttlichen Verzeihung und der erneuten
Berufung. Ein Versuch auf der Orgel überzeugt ihn, daß er sie wie
eh und je beherrscht. Doch die Antwort auf seinen Antrag, die
Organistenstelle wieder einnehmen zu dürfen, ist ein entsetztes
Nein des Stadtrates, das ihm in ausführlicher Begründung verlesen
wird. Knauer hört diesen Beschluß wortlos an und verläßt die Stadt
wieder, diesmal auf immer. Unbegreiflich ist ihm einzig die
Tatsache, daß die Stelle des Organisten ein Mann einnimmt, der das
absolute Gegenteil von ihm selbst darstellt.
Die Geschichte wird zur Legende vom genialen
Künstler, dem die Himmel grollten, dann verziehen und von neuem in
ihren Dienst beriefen. Philisterhafigkeit verwandelt die Legende in
eine Moritat von bestrafem Hochmut, von Selbstüberschätzung, die zu
Frevel führte.
Später berührte Pasternak verschiedentlich
sein Verhältnis zur Romantik, präzisierte seine eigene Definition
dieser Kunstströmung und ihrer ideologischen Unterströme und
äußerte sich über die Gründe seiner Abkehr von der Romantik. Im .
Abschnitt des dritten Teils des Geleitbriefes 4, in dem Pasternak seine Beziehungen zur Romantik
darlegt, schreibt er:
»Außerhalb der Legende ist das romantische
Konzept falsch. Der Dichter, der diesem Konzept zugrundeliegt, ist
undenkbar ohne die Nicht-Dichter, die ihn konturieren, denn dieser
Dichter ist keine lebendige, von sittlichen Erkenntnissen
durchdrungene Person, sondern sichtbar-biographisches Emblem, das
einen Hintergrund zu seiner Konturierung braucht. Im Unterschied zu
Passionsspielen, die den Himmel benötigen, um vernommen zu werden,
benötigt dieses Drama das Übel der Mittelmäßigkeit, um gesehen zu
werden, so braucht die Romantik stets das Philistertum;
verschwindet das Spießbürgertum, verliert sie die Hälfe ihres
Inhalts.«
Diese Passage kann nicht nur als eine
allgemeintheoretische Stellungnahme gelten, sondern auch als
konkrete Parole des Autors für Die Geschichte einer
Kontra-Oktave.
Unter Romantik verstand Pasternak »nicht die
einst dagewesene Strömung, nicht die tatsächliche Schule, nicht den
Grad der Kunstentwicklung, sondern die Romantik als Prinzip: das
Abgeleitete, das Nichtursprüngliche, Literatur über Literatur;
wogegen das schöpferische Kunstgenie ein Kunstverachter und
Lebensanbeter durch Kunst ist.« 5 Seine
Absage an die romantische Manier und ihre Wurzeln, die romantische
Ideologie, begründet Pasternak im Geleitbrief:
»Aber unter der romantischen Manier, die ich
mir von nun an versagte, barg sich eine ganze Weltauffassung. Es war
die Auffassung vom Leben als dem Leben des Dichters. Wir hatten sie
von den Symbolisten übernommen, die sie von den Romantikern,
hauptsächlich von den Deutschen, geerbt hatten.« Und weiter: »Eine
Biographie als Schauspiel aufzufassen, war unserer Zeit eigen. Ich
teilte diese Konzeption mit allen anderen. Ich trennte mich von ihr
noch in jenem vagen, unverbindlichen Stadium, als sie noch nicht
Heroismus voraussetzte, noch nicht nach Blut roch.«
Es ist nicht schwer zu erraten, von welchen
fürchterlichen Folgen der romantischen Ideologie hier die Rede
ist.
3.
Betrachten wir schrittweise den Lösungsprozeß
von der Romantik an den drei ersten erhalten gebliebenen
Erzählungen Die Geschichte einer Kontra-Oktave (93), Die Linie
des Apelles (95) 6 und Briefe aus
Tula (98) 7.
In Die Linie des Apelles erwies sich
schließlich der romantische Dichter Relinquimini, der Heinrich
Heine literarisch herausforderte, als der Genarrte, denn Heine
verlagerte die Herausforderung aus der Literatur in die
Wirklichkeit. Auf den Haupthelden Heinrich Heine lassen sich die
eben zitierten Worte anwenden: »ein schöpferisches Kunstgenie, ein
Kunstverachter und Lebensanbeter durch Kunst«.
Es ist klar, daß in diesem Streit zwischen
Leben und Kunst, zwischen Realist und Romantiker der Sieg dem
Realisten zufällt, obwohl der andere, Relinquimini, ein
Lieblingsheld frühester ProsaFragmente Pasternaks ist und sogar als
Autor nicht erhaltener früher Arbeiten fungiert 8. Im Unterschied zur Geschichte einer
Kontra-Oktave denkt Pasternak sich hier keine neue Person aus. Er
nimmt Heinrich Heine so, wie dieser sich selbst in den »Reisebilder
III. Italien.« schildert. Als Motiv verwendet der Autor die Fabel
von der Herausforderung des griechischen Malers Apelles durch
seinen Rivalen Zeuxis, sich und seine Kunst in einer einzigen Linie
vollkommen zu offenbaren. Apelles nahm die Herausforderung an,
besuchte Zeuxis, als dieser nicht zu Hause war, und verführte
dessen Frau. Pasternak hat Heine die Rolle des Apelles im realen
Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugewiesen. Er macht den
Auferstandenen zum Partner einer sinnverwirrenden Liebesaffäre und
läßt ihn »zu Lebzeiten des Dichters ungedruckte Verse« schreiben
und veröffentlichen.
In der Erzählung Briefe ans Tula nimmt
Pasternak dem echten Künstler die romantischen Attribute und macht
ihn zu einem von niemandem beachteten, von allen vergessenen alten
Mann. Dagegen stattet er eine bramabarsierende Gruppe aufgeblasener
Filmdarsteller mit jenen Attitüden aus, die prahlerisch
Zugehörigkeit zur Kunstund Kulturwelt demonstrieren. Dem Autor am
nächsten ist der »junge Dichter«. Er »beobachtet sich selbst an dem
geschmacklosen Gehabe der Schauspieler, an dem schändlichen Stück,
das seine Zeitgenossen und seine Zeit entlarvt«. In der Wendung
eines Schauspielers an ihn als »Kollegen« erblickt er den Beweis
dafür, daß auch seine eigene Arbeit nichtswürdig sei. In
Gewissensqualen denkt er über seine Kunst nach, darüber, wie er auf
den einzig echten Weg gelangen könne. Ein alter arbeitsloser
Schauspieler hatte den ganzen Tag über die Filmleute bei ihren
Außenaufnahmen zu einem historischen Film zugeschaut – entsetzt von
der Trivialität der Szenen und tief verstört. Er findet erst wieder
zu sich selbst, als er allein in seinem Hotelzimmer eine Szene
spielt, in der er längst vergangene Tage wieder aufleben läßt, er
hört und sieht sich und seine verstorbene Frau in ihrer Jugend.
Diese Episode illustriert Pasternaks Gedanken über eine der
wichtigsten Funktionen der Kunst: Gesehenes, Erlebtes in Leben zu
verwandeln. Kunst, die auf dieses Ziel gerichtet ist, und fähig, es
zu erreichen, bezeichnet Pasternak als realistische Kunst, deren
unerläßliche Voraussetzung Unversehrtheit des historischen
Bewußtseins sei.
»Realismus ist wahrscheinlich jenes Maß an
schöpferischer Detaillierung, das vom Künstler weder banale
ästhetische Regeln verlangt, noch jeweils ihm zeitgenössische Hörer
und Zuschauer. Gerade an diesem Punkt jedoch verharrt immer die
Kunst der Romantik, sie begnügt sich mit oberflächlicher
Zeitgenossenschaf. Wie wenig ist nötig, auf daß sie blühe! In ihren
Verlautbarungen ist schwülstiges Pathos, verlogener Tiefgang und
verspielte Lieblichkeit – alle Formen des Gekünstelten stehen ihr
zu Gebote.
Der Realist befindet sich in einer völlig
anderen Lage. Sein Tun ist Kreuz und Prädestination. Nicht ein
Schatten von Willkür, von kapriziöser Laune. Wie kann er spielen,
wenn seine Zukunf selbst mit ihm spielt, wenn er ihr Spielzeug ist!
Und vor allem. Was macht den Künstler zum Realisten? Was erschaf
ihn? Uns scheint, frühe Beeindruckbarkeit in der Kindheit und
zeitgerechte Gewissenhafigkeit im Mannesalter. Eben diese beiden
Faktoren sind Impulse seiner Arbeit. Dem romantischen Künstler sind
sie unbekannt, für ihn
sind sie nicht verpflichtend. Den Realisten treiben seine
Erinnerungen auf das Gebiet der technischen Entdeckungen, er
braucht sie unabdingbar, um seine Erinnerungen zu reproduzieren.
Künstlerischer Realismus, so scheint uns, ist die Tiefe der
biographischen Prägung, die zur wichtigsten den Künstler bewegenden
Kraf wird und ihn zu Neuerung und Originalität treibt.«
9
4.
Ein Teilergebnis der Beschäfigung mit
Pasternaks Realismus ist die Möglichkeit, in seinen Texten genaue
Merkmale konkreter Sachverhalte zu finden, die mit der einen oder
anderen beschriebenen Begebenheit verbunden sind.
Im Laufe unserer Arbeiten machten wir die
Erfahrung, daß es bei Pasternak keine sogenannten allgemeinen Orte
gibt; und eine Periode, die beim flüchtigen Lesen den Eindruck
schöner poetischer Umschweife hervorruf, enthält fast immer im
einzelnen die exakte Beschreibung psychologischer Phänomene, beruht
auf historischer Untersuchung, auf Recherchen in geographischen
oder naturwissenschaflich-historischen Atlanten oder schließlich
auf wie durch ein Wunder von ihrer melodramatischen
Oberflächlichkeit befreiter protokollarischer
Zeitungsmeldung.
An biographischer Realität liegen der
Geschichte einer Kontra-Oktave hauptsächlich die beiden
Deutschlandaufenthalte von 906 und 92 zugrunde.
Von der ersten Reise erzählt der Bruder
Alexander Leonidowitsch ausführlich in seinen Erinnerungen. Nach
der Ankunf in Berlin im Januar 906 wohnte die Familie zunächst im
Hotel Fürst Bismarck, am Knie. Später übersiedelten die Eltern mit
den beiden Töchtern in eine Pension und mieteten die Söhne in einem
billigen Quartier bei einer Obstund Südfrüchte-Händlerin, »die
Witwe« genannt, in der Kurfürstenstraße ein. In der Wohnung der
Obsthändlerin gab es ein Klavier. Boris gab der Tochter des Hauses
Unterricht und benutzte das Instrument auch selbst, sowohl zum
Improvisieren wie zu ernsthafer Komposition unter der brieflichen
Anleitung von Ju. D. Engel. Die Brüder spazierten viel durch die
Stadt, saßen im Tiergarten, lasen Reclam-Hefe und besuchten die
vormittäglichen Sinfonie-Konzerte. Als Alexander Leonidowitsch
dieses Kapitel seiner Erinnerungen niederschrieb, ahnte er nicht,
daß ich das Manuskript dieser Erzählung aufewahrt hatte. Es wird
daher nicht uninteressant sein, einen Abschnitt aus diesem Kapitel
mit dem Anfang der Erzählung zu vergleichen: »Hier in Berlin ging
ich mit meinem Bruder of in eine nahegelegene Kirche, sie trug den
ungewöhnlich gotischen Namen ›Gedächtniskirche‹. Diese Kirche, Gott
allein weiß, in welchem Stil sie erbaut ist, war ebenso berühmt für
ihren Organisten wie für ihre Akustik. Der Organist war
außerordentlich begabt und von hoher musikalischer Kultur. Später,
als wir mit den Gebräuchen in dieser Kirche vertraut waren, gingen
wir manchmal auch alltags hin; dann gab es keinen Gottesdienst, und
es waren auch keine Besucher da. Wir gingen hin, wenn der Organist,
als sei er bei sich zu Hause, auf der Orgel übte, etwas Neues
einstudierte oder einzelne Melodien Bachs in verschiedener Weise
interpretierte.
Zu Höhepunkten in seinem Bachspiel kam es
meistens am Schluß des Gottesdienstes, beim Ausklang. Dann, als
erglühe Bach in seinem Appell an den Weltenherrscher, gelangte er
in seinem Trotz fast bis zum Schrei; und die Musik ließ die Mauern
erbeben, fand nicht genug Platz in ihren Grenzen, bewegte sie, wie
ein tiefer Seufzer den Brustkorb bewegt. Die Orgel und Bach – indem
sie die Tone immer stärker komprimierten, verdichteten zu zweit die
Substanz so sehr, daß wir unsere Erdenschwere verloren und uns von
der Dichte der Töne in geistigem Schweben gewiegt fühlten. Es
schien, als verschwinde alles ringsum in einer allgemeinen
Endlosigkeit der Welten, irgend etwas hielt uns in mächtigen Armen
und stützte uns in diesem gewaltigen Brausen der Orgelbässe. Wenn
der Organist, längst jenseits aller denkbaren Erdenkraf, die
letzten Akkorde gegriffen hatte, schwieg die Orgel plötzlich und
abrupt und lauschte dem Nachhall ihrer eigenen Klänge von den
Wänden, Vitragen und Säulen, der die Kirche belebte. Erschöpf
gingen wir als die letzten hinaus, verwundert, daß Häuser und
Straßen noch da waren. Wir gingen langsam nach Hause und
schwiegen.« Die Beschreibung der Studentenzeit in Marburg im
Sommersemester 92 umfaßt ein Drittel des Geleitbriefs. In der
Hoffnung, daß dieses Werk deutschen Lesern in den, leider gekürzten,
deutschen Übersetzungen bekannt ist, erlaube ich mir, ergänzend aus
einem Marburger Brief Pasternaks an seinen Freund K. G. Loks, der
im Geleitbrief erwähnt wird, zu zitieren:
»Ich kann mir schwer einen Ort auf der Welt
vorstellen, der in höherem Grade illustriert ist als Marburg. Und
das ist nicht jenes oberflächlich Malerische, von dem wir sagten,
daß es entweder entzückend oder allerliebst sei. Die lange
erprobten, in Jahrhunderten erstarkten Schönheiten dieser Stadt –
von der Legende der Heiligen Elisabeth beschützt –, haben
irgendeine dunkle und gebieterische Neigung zur Orgel, zur Gotik,
zu etwas Unterbrochenem, nie zu Ende Gebrachtem, das hier vergraben
liegt. Mit diesem Zug ersteht die Stadt. Aber sie ist nicht belebt.
Da ist keine Lebendigkeit. Es ist irgendeine dumpfe Bemühung des
Archaischen. Die Bemühung alles zu erschaffen: die Dämmerung, den
Duf der Gärten, die säuberliche Menschenleere in der Mittagsstunde,
die nebligen Abende. Geschichte ist hier irdisch manifest geworden.
Das wissen, das fühlen alle.« Diese Zeilen können als erklärende
Formel für den Inhalt der Geschichte einer Kontra-Oktave gelten,
für ihren Entwurf oder auch für ihre sujetlose Gliederung. Zudem
begegnen wir hier wieder einem Grundmotiv Pasternaks: dem
Bestreben, das Unbeseelte, Abgelebte zu beleben und, es ausgrabend
wie einen archäologischen Schatz, zum Gegenstand des geistigen
Lebens späterer Generationen zu machen.
Die Handlung spielt im 8. Jahrhundert in
einer fiktiven kleinen hessischen Stadt, die bei Pasternak den
Namen Ansbach trägt. Um die deutschen Leser nicht mit falschen
geographischen Vorstellungen zu irritieren, haben wir uns
entschlossen, sie hier Ambach zu nennen.
Moskau, Mai 975 Jewgenij Pasternak
Anmerkungen
. Pis'ma k gruzinskim druz'jam (deutsch von
Heddy Pross-Weerth: Briefe nach Georgien. Frankfurt/Main
968).
2. Istorija odnoj kontroktavy. In: Izvestija
akademii nauk SSSR. Serija literatuy i jazyka, tom 33, Moskau 974,
Nr. 2. (Die Geschichte einer Kontra-Oktave. In: Mitteilungen der
Akademie der Wissenschafen der UdSSR. Serie Literatur und
Sprache.)
3. Bliznec v tučach. Lirika. Moskau 94 (Der
Zwilling in den Wolken. Lyrik.)
4. Ochrannaja gramota. Leningrad 93
(deutsch von Gisela Drohla: Der Geleitbrief. Köln 958, von
Johannes v. Guenther: Sicheres Geleit. Frankfurt/Main 959.)
5. Renate Schweitzer: Freundschaf mit Boris
Pasternak. München 963.
6. Apellesova čerta (Die Linie des Apelles).
In: Vozdušnye puti (Lufwege), Moskau 933, unter dem Titel: Il
tratto di Apelles in: Rasskazy (Erzählungen) 925.
7. Pis'ma iz Tuly. Moskau 922 (deutsch von
Heddy Pross-Weerth: Briefe aus Tula. In: Neue deutsche Hefte, Nr.
5, 958.)
8. Frühe Prosa-Fragmente. Unveröffentlicht.
Archiv Boris Pasternak, Moskau. Relinquimini war das Pseudonym des
jungen Pasternak. In Erinnerungen von Freunden und Verwandten
werden fantastische Geschichten und Märchen erwähnt, die mit diesem
Namen signiert sind.
9. Chopin. In: Literaturnaja Rossija (Das
literarische Rußland), Moskau, 9. 4. 965. Vgl. Josefine
Pasternak: Neunzehnhundertzwölf. In: Alma Mater Philippina. Marburg
97/72. 0. Alexander Leonidowitsch Pasternak, geb. 892,
bedeu-
tender Architekt, lebt in Moskau. Seine
literarisch hoch-
interessanten Memoiren sind mit Ausnahme
weniger Ka-
pitel bisher nicht veröffentlicht.
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