Montevideo
»Hans Dampf«
Hatten die verwirrenden Reize ihrer
seelenverwandten Liebe zu Kovacevich Martha Argerich 1969 dazu
gebracht, eine Verbindung mit einem starken Gegenpol einzugehen?
Wenn es ihrer
Beziehung zu Stephen an »Polaritäten« gefehlt hat (um ihre
eigene Ausdrucksweise zu zitieren), so sollte ihr Verhältnis zu dem
Dirigenten Charles Dutoit genau davon bestimmt sein.
Nordpol und Südpol waren einander erstmals 1958
in Genf begegnet. Südpol hatte gerade im Alter von sechzehn Jahren
den ersten Preis des berühmten Klavierwettbewerbs jener Stadt
gewonnen. Nordpol hatte Südpols Darbietung im Radio gehört. Er war
dahingeschmolzen. Mit einundzwanzig Jahren hatte er sein
Dirigierstudium am Genfer Konservatorium mit Auszeichnung
abgeschlossen. Sein Mentor war der Schweizer Ernest Ansermet, einer
der bedeutendsten Dirigenten des zwanzigsten Jahrhunderts, auch
genannt »der Poet der Genauigkeit«. Als Mathematiker, Philosoph und
Komponist war Ansermet der musikalische Direktor der Ballets Russes
von Diaghilew gewesen, bevor er das Orchestre de la Suisse Romande
gründete, das er ein halbes Jahrhundert lang auf höchstem Niveau
halten konnte. Präzision, Ausgewogenheit, eine warme Tonfarbe –
dies waren seine Hauptqualitäten, die ihn zu einem der unum-
strittensten Heroen der französischen Musikszene machten. Charles
Dutoit hat seinen raffinierten Stil übernommen und ihn an seine
nicht ganz so geradlinige Persönlichkeit angepasst.
Eines Abends im Jahr 1958 sah Martha den jungen Maestro in die Genfer Wohnung hineinstolpern, die sie mit ihrer Landsmännin, der Pianistin María Rosa Oubiña (alias Cucucha), teilte. Sie hatte sich gerade die Haare gewaschen, alles mit Wasser vollgespritzt und suchte verzweifelt nach einer Zigarette. Er war lustig, sensibel, auch wenn er ein wenig irritiert wirkte. Sie wurden auf der Stelle Freunde.
Im
Januar 1959 gab Charles Dutoit sein erstes professionelles Konzert
mit dem Orchestre de Lausanne, in dessen Reihen er häufig die
Bratsche gespielt hatte. Um ihn zu unterstützen, hatte Martha
versprochen, mit ihm zusammen und zum ersten Mal in ihrem Leben
Ravels Klavierkonzert G-Dur
zu spielen – ohne zu ahnen, dass
sie dieses Werk später gemeinsam auf sämtlichen Bühnen der Welt
aufführen würden. Bei der Probe ohne Orchester (Magaloff hatte sich
bereit erklärt, die zweite Klavierstimme zu übernehmen) war sie so
nervös, dass sie sich weigerte, den langsamen Satz zu spielen.
Dieses sublime Konzert, eines der inspiriertesten Werke Ravels,
beginnt mit einem Solopart für Klavier, bis dann sozusagen auf
halber Strecke die Holzbläser und Streicher hinzukommen. Bei der
Probe mit Orchester erwies sich die Gestaltung der beiden schnellen
Sätze als recht delikate Angelegenheit, weil die Pianistin sich für
ein extremes Tempo entschieden hatte. Der Fagottist war grün vor
Angst: »Sucht euch einen anderen! Bei dem Tempo komme ich nicht
mit!« Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte Martha sich erneut
geweigert, sich mit dem Adagio zu beschäftigen, was große Unruhe
unter den Musikern auslöste, die ihren Part nun ohne die Solistin
spielen sollten. Abends brachte Charles sie zu seinen Eltern, die
in Écublens lebten, einem kleinen Ort in der Nähe von Lausanne.
Vater Dutoit war sofort von der Pianistin eingenommen. Als sie
während des Essens aufstand, um im Garten einem natürlichen
Bedürfnis nachzugehen, erklärte er, noch nie jemanden kennengelernt
zu haben, der so spontan sei. Vorgewarnt bezüglich Marthas
nächtlicher Gewohnheiten, hatten die Gastgeber sich darauf
eingerichtet, an dem Abend erst sehr spät zu Bett zu gehen. Was für
eine Überraschung, als die Pianistin sich bereits um neun Uhr in
ihr Schlafzimmer zurückzog, weil angeblich die Müdigkeit sie
übermannt hätte! Anhand des Lichtscheins, der nach ein Uhr nachts
noch immer unter ihrer Zimmertür hervordrang, begriff Charles
schließlich, dass sie nichts anderes tat, als mit äußerster
Sorgfalt Ravels Klavierkonzert zu verinnerlichen, das sie noch nie
in der Öffentlichkeit gespielt hatte. Besondere Aufmerksamkeit
legte sie dabei auf den langsamen Satz,
von dem der Komponist behauptet hatte, ihn unter allergrößten
Qualen Note für Note aufs Papier gebracht zu haben, ohne je zu
wissen, welches die nächste Note sein würde. Charles Dutoit war
nicht weniger nervös als sie, denn am nächsten Abend würde er den
zentralen Teil dieses Meisterwerks improvisieren müssen, für den es
bekanntlich keine Proben gegeben hatte. Eine Aufnahme, die in Japan
herausgekommen ist, hat jenes historische Konzert, das in seiner
Fragilität an eine Flamme im Wind erinnert, für die Ewigkeit
festgehalten. Der langsame Satz fasziniert durch seine Zartheit,
seine filigrane Leichtigkeit und das mozartische Licht, das er
verbreitet: Jede einzelne Note scheint Ausdruck eines überstandenen
Schmerzes.
So
wie andere Paare »ihr« Lied haben, ist Ravels Klavierkonzert G-Dur für Martha Argerich und Charles Dutoit »ihr«
Stück geblieben. Auf sämtlichen Kontinenten traten sie mit dieser
unvergänglichen Freundschaftshymne auf, die einmal sogar einen
handfesten Streit zwischen ihnen zu schlichten vermochte. Es war in
den Achtzigerjahren beim Festival von Montreux – nachdem sie
mehrere Tage lang kein Wort miteinander gesprochen hatten. Bei der
Generalprobe zitterten noch alle, ob die Pianistin nun kommen würde
oder nicht. Charles Dutoit trug eine betont heitere Miene zur
Schau, plauderte und scherzte mit den Musikern – und warf ständig
unruhige Blicke in Richtung Tür. Spürhunde wurden auf die Abwesende
angesetzt. Irgendjemand fand sie schließlich, wie sie barfuß um den
See herumspazierte. Mit dem Rückweg ließ sie sich ordentlich Zeit,
strich hier über
die Rinde eines Baumes, flocht dort ein paar Wiesenblumen in
ihr Haar (und klagte, dass sie es nicht mehr waschen könne). Hinter
den Kulissen wurden Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, als sie
auftauchte, aber aus Angst, sie könnte ihre Meinung noch einmal
ändern, taten alle so, als sei nichts gewesen. Im Konzertsaal hatte
das Orchester bereits zu spielen begonnen. Sie trat auf das Klavier
zu und setzte sich geräuschlos auf ihren Hocker. Als wäre ein
Stromschlag durch das Orchester hindurchgegangen, modellierten die
Streicher auf einmal die Farbenflut ihrer Töne, ließen die
Holzbläser ihr maliziöses Lachen erklingen, trompetete das Blech
seine Freude heraus – und plötzlich bemerkte
auch der in die Partitur vertiefete Charles Dutoit, dass sie da
war. Ohne im Dirigieren innezuhalten, warf er ihr einen kurzen
Blick zu, den er so neutral wie möglich hielt. Sie war in das
Konzert hineingebrochen wie ein Sonnenstrahl. Lächelnd nahm Martha
das stumme, nur mit den Lippen formulierte »Alles in Ordnung?« des
Orchesterchefs entgegen, als dieser sich ihr erneut zuwandte – so
als hätten sie sich am Vorabend zuletzt gesprochen und sie hätte
sich bloß einen kleinen Scherz erlaubt.
Damals, zur Zeit ihres ersten gemeinsamen Konzerts, waren die beiden jungen Leute »nur Freunde, weiter nichts«. Von gleicher Körpergröße, tauschten sie aus Spaß die Kleider miteinander. Und dann gingen sie jeweils ihrer Wege. Die Karriere von Charlie nahm ihren rasanten Anfang. Martha dachte darüber nach, die ihre zu unterbrechen, ohne jedes Gespür für die Faszination, die sie überall auslöste. »Sie flüchtete vor ihrer Mutter, sie flüchtete vor dem Klavier, sie flüchtete vor der ganzen Welt!« Nach ihrer New Yorker Enttäuschung zurück in Europa und schwanger mit Lyda, traf Martha Charlie auf ein Stück Kuchen in einem Berner Mövenpick. Er sollte Friedrich Gulda in Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll dirigieren. »Kaum kam das Gespräch auf Gulda, war Martha sofort total aufgedreht!« Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, stieg sie in sein Auto, um das Konzert miterleben zu können. Nach dem Mozart waren sie mehr als nur Freunde …
Als Martha 1965 wieder begann, Recitals zu geben, wollte sie dies nicht mehr alleine tun. Also begleitete Charlie sie bei ihren Konzertauftritten, wann immer es ihm möglich war, in seinem gelben Porsche 911 S, mit offenem Verdeck. »Die Strecke Hamburg–Basel haben wir in vier Stunden zurückgelegt«, behauptet er mit stolzgeschwellter Brust. Er war derjenige, der Zuversicht ausstrahlte, der alles auf sich nahm, den Chauffeur spielte – und gelegentlich auch den Konzertveranstalter benachrichtigte, wenn sie am Abend nicht spielen wollte. »Ich fühlte mich verantwortlich, wenn sie eine Stunde vor dem Auftritt absagte.« Doch der Schweizer hatte eine gute Konstitution, er liebte seine Martha zärtlich und war der Ansicht, dass der Moment, da sie dann endlich auf der Bühne stand, jede vorherige Mühe wert gewesen sei. Er brachte sie überallhin, innerhalb von ganz Europa. Einmal hielt die britische Polizei sie auf dem Weg nach Edinburgh an, als der Tacho 180 Stundenkilometer anzeigte. »Gott sei Dank gibt’s beim Klavier keine Geschwindigkeitsbegrenzung!«, dachte sie nur. Die Polizisten wollten nicht glauben, dass sie es mit Musikern zu tun hatten. Sie dachten vielmehr an die Entführung eines naiven Mädchens aus Osteuropa, das von einem skrupellosen Zuhälter zur Prostitution gezwungen wurde. Die besorgte Miene von Charlie trug mitnichten dazu bei, sie eines Besseren zu belehren. Er hatte nur eines im Sinn: »Hauptsache, sie spielt heute Abend und sagt nicht ab!«
Hin und wieder gab es für ihn auch positive Überraschungen. 1996, aus Anlass der großen Fernosttournee des Orchestre National de France, dessen musikalischer Leiter Charles Dutoit war, hatte Martha das Klavierkonzert Nr. 1 von Liszt einstudiert. Der Dirigent hatte es extra so eingerichtet, dass seine Solistin nur jeden zweiten Abend spielen musste. In Peking waren für das erste von zwei Konzerten lediglich ein paar reine Orchesterstücke vorgesehen. Daraufhin beschwerte sich die Pianistin, die sich in bester Form fühlte, über ihren erzwungenen Müßiggang. Abends in der Großen Halle des Volkes am Tian’anmen-Platz wurde eine Programmänderung verkündet, die einen wahren Freudentaumel im Publikum auslöste: Martha Argerich spielt! Am nächsten Tag verausgabte sie sich erneut und mit der gleichen Leidenschaft bei Liszts Klavierkonzert Nr. 1. Gibt es dazu mehr zu sagen? Es handelte sich um ein echtes Geschenk – ohne dass die Gage verdoppelt wurde.
Im
Mai 1969 beschlossen Martha Argerich und Charles Dutoit, in Buenos
Aires zu heiraten. Martha freute sich, ihren Vater wiederzusehen,
der seinerseits eine neue Ehe eingegangen war, und Charlie brannte
darauf, Argentinien kennenzulernen. Um das Angenehme mit dem
Nützlichen zu verbinden, hatte er eingewilligt, ein Konzert in
Rosario zu geben, bei dem sie beide ein paar Tage nach der
Hochzeitszeremonie auf der Bühne vereint sein würden. Die Gage
sollte an Juanita gehen, die sich stets darüber beschwerte, zu
knapp bei Kasse zu sein. Das war zweifellos das Lockmittel, mit dem
er Martha dazu gebracht hatte, auf dieses Angebot einzugehen. In
der Nacht ihrer Ankunft auf argentinischem Boden entlud sich ein
heftiges Gewitter über dem Land, sodass das Flugzeug nur unter
größten Schwierigkeiten landen konnte. Ein weiteres Hindernis
erwartete sie: Der Bürgermeister von Buenos Aires weigerte sich,
sie zu verheiraten, weil sie beide geschieden waren. Das junge Paar
beschloss daraufhin, weiter nach Asunción in Paraguay zu fliegen,
doch
kamen sie zu spät an den Flughafen, und aus diesem Vorhaben wurde
nichts. Stattdessen ging ein Flieger nach Montevideo, der
Hauptstadt von Uruguay. Dort tauschten sie dann ein paar Stunden
später die Ringe. Der Abend wurde in einer sehr kosmopolitischen
Gesellschaft aus lauter Intellektuellen und Künstlern verbracht, in
der das jungvermählte Paar auch der Enkeltochter von Lew Tolstoi
begegnete. Pikantes Detail am Rande: Laut Schweizer Gesetz war
Charles Dutoit für ein paar Monate Bigamist. Tatsächlich wurde
seine Scheidung erst in dem Moment für rechtsgültig erklärt, da er
sich neun Monate hintereinander nicht mehr in der Schweiz
aufgehalten hatte, um die Rechte eines eventuell in dieser Periode
geborenen Kindes zu gewährleisten. Martha blieb eine Zeit lang in
Buenos Aires und gab sogar ein Recital im Teatro Colón. Das
Programm bestand aus den Funérailles von
Liszt, Jeux d’eau von Ravel sowie dem Scherzo Nr. 2 und
der Ballade Nr. 3 von Chopin.
Die Hochzeitsreise war für Ende des Jahres vorgesehen. Nach einem Auftritt mit dem Klavierkonzert Nr. 3 von Prokofjew zusammen mit Abbado in Paris begab sich Martha auf ihre erste Recitaltournee in Japan. Charlie stieß in Tokio zu ihr, nach einem Zwischenstopp in Anchorage in Alaska. Reichlich niedergeschlagen aufgrund ihrer schlechten Laune, folgte er ihr nach Fukuoka im Süden des Landes, um – völlig erschöpft durch den Jetlag – mitten in Beethovens Waldsteinsonate einzuschlafen. Dieser Zwischenfall, der sie normalerweise zum Lachen gebracht hätte, löste eine unglaubliche Wut in ihr aus.
Die Tournee endete in Osaka mit einem Konzert,
das Charlie dirigierte. Anschließend begab sich das Paar auf eine
touristische Rundreise quer durch Asien. Von Seoul ging es nach
Pusan durch ein Korea, das noch von den Spuren des Krieges
gezeichnet war, dann nach Taiwan, Hongkong, Kalkutta, Kathmandu,
Delhi, Afghanistan und Taschkent in Usbekistan. Als sie die
Sicherheitskontrolle passieren wollten, um nach Moskau zu fliegen,
zuckten die usbekischen Zollbeamten bei der
Kontrolle der Visa zurück, die vom sowjetischen Konsulat in Japan
ausgestellt worden waren. Charles Dutoit konnte noch so sehr darauf
verweisen, dass sie von der Aeroflot bestätigt worden seien – es
war nichts zu machen. Aufgrund der späten Stunde war niemand mehr
von der Verwaltung zu erreichen, sodass die beiden Jungvermählten
die Nacht im Gefängnis verbringen mussten. Martha, die schwanger
mit Annie war, rührte die schmale Kost nicht an, die man ihnen zum
Abendessen servierte. Sie hatte vor der Abreise keine Zeit
gefunden, alle nötigen Impfungen vornehmen zu lassen, und
befürchtete eine Infektion. Als er sich allein in der Nachbarzelle
befand, ließ Charles seinen Tränen der Wut und Ohnmacht freien
Lauf. Am nächsten Morgen schickten die Zollbeamten, die keine
offizielle Bestätigung der Visa erhalten hatten, sie nach Wien, von
wo aus sie endgültig in die russische Hauptstadt ausreisen durften.
Im Hotel Metropol angelangt, in der Nähe des Roten Platzes, wagten
sie nicht, miteinander zu sprechen, aus Angst vor den Wanzen, mit
denen das Zimmer gespickt sein konnte. Mit unterdrückter Stimme
fluchte Charlie: »In Sachen Luxusreise bin ich bedient!«
Am 4. Oktober 1970 ereignete sich in der Frauenklinik von Bern, der Stadt, deren Orchester Charles ganzjährig dirigierte, und wo Martha sich mit einem musikbegeisterten Gynäkologen zusammengetan hatte, der schönste Moment in ihrer gemeinsamen Geschichte: Annie Dutoit wurde geboren. Martha war schon einmal schwanger von Charles gewesen, hatte aber unter seinem massiven Druck abgetrieben, was sie ihm extrem verübelt hatte. Nachdem Juanita, die immer mit der Nase in einem Astrologiebuch steckte, das Kind geküsst hatte, sagte sie: »Waage, Aszendent Schütze. Viel Verantwortungsgefühl und geleitet von Liebe.« Offiziell wurde die zweite Tochter Marthas Anne-Catherine getauft, weil das kleinliche Berner Standesamt der Ansicht war, Annie sei eine Verniedlichungsform und kein anerkannter Vorname. Eine Zeit lang hatten sie über Anne-Caroline nachgedacht, wegen Charlie, den Martha »Carolus« nannte. Doch für die ganze Welt heißt sie nun Annie.
Kaum vom Wochenbett genesen, begab sich die Pianistin erneut in das Veranstaltungsgetriebe: Dutoit hatte sie für mehrere Konzerte verpflichtet, die er dirigierte. Da sie keine Verträge mehr unterzeichnete, um sich die Freiheit zu bewahren, in letzter Minute absagen zu können, verhandelte er ihre Mitwirkung heimlich und stellte sie dann vor vollendete Tatsachen. Martha, die gehofft hatte, Zeit mit ihrem Baby verbringen zu können, sah sich erneut in der Falle. Seine Überaktivität machte sie verrückt, ihre Trägheit brachte ihn auf die Palme. Er hatte sie »Bleiarsch« getauft, sie ihn »Hans Dampf«.
Im
selben Jahr wollte Charles Dutoit, dass sie Tschaikowskys
Klavierkonzert Nr. 1 aufnahm. »Es war eine Staatsaffäre, sie dazu zu
bringen.« Martha weigerte sich hartnäckig. Er bestand darauf. Sie
wehrte sich. Obgleich sie zugeben musste, dass sie prädestiniert
für die Interpretation dieses so virtuosen Werkes war. Doch in
ihrer skrupulösen Art sah sie keinen rechten Grund, das Konzert
einzuspielen, das sie zwar technisch perfekt beherrschte, aber
nicht wirklich bis in die Tiefe erfühlen konnte. Nachdem er in der
sicheren Annahme, sein Ziel doch noch zu erreichen, Tonstudio und
Orchester gebucht hatte, erlitt Charles Dutoit einen Autounfall.
Wenn das Korsett, das man ihm zur Vermeidung von Spätfolgen
verpasst hatte, ihn auch daran hinderte, sich frei zu bewegen, so
verfehlte es indes nicht seine Wirkung auf die Pianistin, die sich
schließlich widerwillig in das Tonstudio in England begab, wo das
Royal Philharmonic
Orchestra schon auf sie wartete. Wie um zu beweisen, dass ihre
anfängliche Weigerung nicht Ausdruck einer Laune oder Pose gewesen
war, sollte sie das Stück nur zwei weitere Male im Laufe ihrer
Karriere öffentlich spielen. Doch die Platte machte ihren Siegeszug
um die Welt und begeistert noch heute die Liebhaber eines
entfesselten Klavierspiels. Niemand – außer Vladimir Horowitz –
hatte Tschaikowskys Klavierkonzert Nr.
1 bisher mit einer solchen
Verve gespielt. Das war mehr als bloße Virtuosität!
Zu
Beginn ihres Zusammenlebens hatte sich das Paar in Jouxtens in der
Schweiz niedergelassen. Man kann ihr Haus in dem Dokumentarfilm
sehen, den der Fernsehsender Télévision Suisse Romande 1972 über
sie ausgestrahlt hat. Martha spielt dort Mozart vor der Kamera: ein
paar Takte aus der Sonata facile
KV 545
und dem Rondo a-Moll.
Charlie studiert eine Partitur. Eine Ahnung von Glück … Danach
kauften sie einen Bauernhof aus dem siebzehnten Jahrhundert in dem
Waldenser Einhundert-Seelen-Dorf Chavannes-le-Veyron. Die
Einheimischen konnten erleben, dass mitten in der Nacht eine Horde
aus der ganzen Welt stammender Musiker in ihr Dorf einfiel, und von
Weitem über das stille Land hinweg die heiligen Klänge eines
konvulsiven, trun-
kenen Klaviers vernehmen. Martha Argerichs Charme erlegen, nannte
der Bürgermeister seine größte Kuh, ein wahres Prachtexemplar, wie
gemacht für eine Viehschau, dann auch »Martha«.
Ihr Leben als Paar hatte mit der ruhigen,
beschaulichen Existenz, von der der Schweizer Dirigent zweifellos
geträumt hatte, nicht viel zu tun. Wenn Martha zu Bett ging, stand
er auf, inmitten von überquellenden Aschenbechern, leeren Gläsern
und über die Sofas verteilten schlafenden Menschen. Dreimal in der
Woche, wenn er von seinen Proben zurückkehrte, füllte er den
Kofferraum seines Peugeot 504 bis an den Rand mit Nahrungsmitteln,
um die Gäste seiner Frau zu bewirten. Er versuchte, ihr das
Autofahren beizubringen, um sich von dieser Last zu befreien, doch
zutiefst gekränkt, weil er ihr einen Automatik-
wagen vorschlug, wollte sie kein Wort mehr darüber hören. »Sie hat
sich nur deshalb nicht mit unserem Waldenser Haus anfreunden
können, weil ohne Auto das nächste Tabakgeschäft zu weit weg war!«,
scherzt Charles Dutoit gern.
Durch ihre Ehe mit Charles Dutoit war Martha Schweizer Staatsbürgerin geworden. Der Schweizer Pass vereinfachte das Reisen für sie und ließ sie leichter an Arbeitsvisa herankommen. Doch was Juanita ein Gefühl der Sicherheit verlieh und Charles mit Stolz erfüllte, war ihr selbst vollkommen gleichgültig. Sich über ihren Ehemann mokierend, bringt sie ihre Beziehung auf den Punkt: »Er hat mir beigebracht, eine Carte Bleue zu benutzen und Kontaktlinsen zu tragen.« Bevor sie ihn kennenlernte, hatte sie sich ihre Gage immer bar auszahlen lassen, um genug Geld für ihre täglichen Ausgaben in der Tasche zu haben. Doch um nicht ungerecht zu sein: Das Klavierkonzert Nr. 3 von Beethoven, de Fallas Nächte in spanischen Gärten und Mozarts Klavierkonzert Nr. 25 C-Dur hätte sie nie im Leben in der Öffentlichkeit gespielt, wenn er nicht unermüdlich und hartnäckig darauf gedrungen hätte.
Obwohl er so oft mit ihr gespielt und sie von ihren intimsten Seiten kennengelernt hat, fühlt Charles Dutoit sich bis heute nicht in der Lage, Martha Argerichs Talent zu definieren: »Ein Mysterium.« Bei der Erinnerung an einen gemeinsamen Auftritt in Philadelphia mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 1, bei dem ihre Kadenz klang wie von einer Harfe gespielt, füllen sich seine Augen mit Tränen. Er musste sich damals extra umdrehen, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht täuschte. »Sie ist anders strukturiert als wir und gibt sich unendliche Mühe, dem unglaublichsten aller musikalischen Talente einen Rahmen zu verleihen.« Bevor er stirbt, möchte er noch einmal ihr Nocturne Des-Dur op. 27, 2 von Chopin hören.
Die Ehe hielt fünf Jahre. 1974, während einer
Tournee durch Kanada und Japan, spürte Martha plötzlich eine
Veränderung in Charlies Verhalten. Es roch nach Verrat in der
Flugzeug-
kabine. Sie durchlöcherte ihn mit Fragen. Er stritt alles ab. Nach
ihrem Auftritt in Ottawa, mitten in der Nacht, gestand er ihr
endlich ein, dass es da jemand anderen gebe. Erbarmungslos setzte
sie ihre Attacke fort: »Wer ist es?« Doch Charles, aus Erfahrung
klug geworden, hüllte sich in Schweigen. Er wusste nur allzu gut,
dass sie nicht eher ruhen würde, bis ihre Neugier gestillt wäre,
ohne sich um den weiteren Verlauf der Tournee zu scheren. Und in
Japan kommt die Annullierung eines Auftritts in etwa einer
Kriegserklärung gleich. Auf dem Flug von Vancouver nach Japan wurde
das enervierende Fragespiel, die
nicht enden wollende Raterei fortgesetzt. In Tokio, im Hotel New
Otani, knallten die Türen. Weil er weiterhin stumm blieb,
durchwühlte Martha seine Sachen und fand schließlich einen
kompromittierenden Brief. Sie warf ihm ihren Ehering vor die Füße –
den einzigen, den sie je getragen hat – und nahm das erstbeste
Flugzeug zurück nach Europa. Der Brief stammte von der koreanischen
Geigerin Kyung-Wha Chung, einer beachtlichen Musikerin und
Schwester des Dirigenten Myung-Whun Chung. Laut Martha war sie
»seine große Liebe«. Sie sagt es ohne jede Bitterkeit,
wahrscheinlich aus dem Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit
heraus, denn sie fand damals recht bald zu Stephen Kovacevich
zurück, mit dem sie immer wieder stundenlange
Telefonate geführt hatte.
Nach jenen quälenden Ereignissen erwies sich eine einvernehmliche Scheidung als die beste Lösung. Die Freundschaft zwischen ihnen blieb bestehen. Auf den Treppenstufen, die aus dem Gerichtsgebäude führten, in Anwesenheit ihrer völlig konsternierten Anwälte, drehte sie sich zu dem Mann um, mit dem sie seit wenigen Minuten nicht mehr verheiratet war, und sagte zu ihm: »Hey, Charlie, was hältst du davon, wenn wir heute ins Kino gehen?«
Ein paar Jahre später verbrachten sie gemeinsam
mit ihrer Tochter Annie einen Campingurlaub in den Kanadischen
Rocky Mountains. Charles Dutoit träumt noch heute davon, Martha die
Galapagosinseln zu zeigen, schmiedet Pläne für eine gemeinsame
Durchquerung Russlands mit der Transsibirischen Eisenbahn, denkt
darüber nach, mit ihr auf immer demselben Längengrad von Adelaide
nach Darwin in Australien zu fahren, plant einen Aufstieg auf das
Dach der Welt in Tibet. Sie hört sich seine Vorschläge an, als
würde er Chinesisch mit ihr sprechen. Er findet es vollkommen
normal, dass sie ihn weiterhin
auf seinen zahlreichen Tourneen begleitet. Jedes Jahr verlangt er
nach ihr, vereinbart Termine und regt sich auf, wenn es ihr
gelingt, sich seinen Plänen zu widersetzen. »Sie hat mir achtzehn
Konzerte im letzten Jahr abgesagt!«
2007 rechnete er fest mit ihrer Präsenz:
Philadelphia, New York, Boston. Martha wehrte sich: Der Geburtstag
ihres Enkels Roman, Sohn von Stéphanie, fiel in diese Zeit. Also
empörte sich Charlie: »Wie stehe ich denn da, wenn du nicht
kommst!?« Endlich, nach vielen Tränen und Schmollerei, sagte sie
für Philadelphia und New York zu, durfte aber im Gegenzug Boston
ausschlagen. Dieser Kompromiss verbitterte sie beide. Sie
beschwerte sich, dass sie Stunden in der amerikanischen Botschaft
hätte zubringen müssen, um ihr Visum zu erhalten. Er murrte weiter:
»Sie hat noch nie mit dem Chicago Symphony gespielt!«, als wäre das
eine nationale Katastrophe, kombiniert mit einem persönlichen
Affront. Am Ende beruhigte er sich wieder, weil
er ihr die Zusage abringen konnte, endlich ihr Debüt in Hongkong zu
geben.
Aber wenn er nicht wäre? Wer würde sich dann darum bemühen, dass sie auftritt?