Von Genf nach Brüssel

Martha wird Mutter

In Genf brachte Martha am 28. März 1964 eine Tochter zur Welt. Sie stand kurz vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag und hatte das Gefühl, das Leben zerrinne ihr zwischen den Fingern. Ganz allmählich begann sie zu begreifen, dass nicht alles im Leben dem eigenen Willen unterliegt. Immerhin hielten ihr die Freunde die Treue, und Juanita zeigte sich von unerwartet zartfühlender Seite. Chen, der sowohl aus beruflichen Gründen als auch wegen fehlender Papiere in Amerika geblieben war, hatte sein Einverständnis zu dem Vornamen Lyda gegeben, der auf Lyda Fournier zurückging, die Frau des Cellisten Pierre Fournier. Diese kosmopolitische, leicht überspannte Russin besaß eine äußerst scharfe Zunge und sprach alles, was ihr durch den Kopf ging, mit entwaffnender Spontaneität laut aus. Ihre Untreue war notorisch: Sowohl der Geiger Jascha Heifetz als auch der Schauspieler Rudolph Valentino waren ihrem Charme erlegen und hatten unter ihrer Oberflächlichkeit gelitten. Lyda war auch mit dem Cellisten Gregor Piatigorsky verheiratet gewesen und machte Fournier verrückt damit, dass sie ständig ihrer beider Spielkunst miteinander verglich. Martha mochte sie
sehr.

Zehn Tage nach der Geburt musste das Baby wegen akuter Verdauungsprobleme zurück in die Klinik, sodass die Pianistin allein mit ihrer Mutter zu Hause blieb. Juanita ergriff die Chance, um sie von der Teilnahme am internationalen Con-
cours Reine Elisabeth in Brüssel zu überzeugen, der im Mai stattfinden sollte. Martha hatte seit drei Jahren kein einziges Konzert mehr gegeben, sie musste ein wenig angeschoben werden, um wieder in den Sattel zu steigen. Nicht zu reden davon, dass sie mittlerweile eine Familie hatte, die sie ernähren musste! Just zu dieser Zeit bezog Nelson Freire eine kleine Wohnung in Genf, nachdem er sich mehrere Monate in Brasilien unsterblich gelangweilt hatte. Sein Studium in Wien hatte zu keinem konkreten Ergebnis geführt, und seine Karriere kam nicht recht ins Laufen. Martha überredete ihn, sie nach Brüssel zu begleiten, damit sie sich beide bei dem Wettbewerb präsentierten. Juanita würde in Genf bleiben und sich um das Baby kümmern, das aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit in einer speziellen Einrichtung für Säuglinge und Kleinstkinder untergebracht wurde. Die beiden Pianisten wählten als ihr Domizil das Haus der Villa-Lobos aus (die weder verwandt noch verschwägert mit dem Komponisten waren), einem Musik liebenden brasilianischen Diplomatenehepaar, das einen Steinway besaß.

Ein paar Tage vor Beginn des Wettbewerbs war sich Martha noch immer nicht sicher, ob sie wirklich daran teilnehmen sollte. Wozu schon wieder ein Wettbewerb? Ganz wie es ihrer Gewohnheit entsprach, fragte sie ihre Freunde nach ihrer Meinung, ohne jedoch eine Entscheidung treffen zu können. Vollkommen desorientiert flog sie zu Fou Ts’ong nach London. »Du hast ein Kind. Du hast seit Monaten kein Klavier mehr angefasst. Du musst etwas tun!«, redete er ihr ins Gewissen. Am nächsten Tag brachte er sie zum Flughafen und sprach noch immer auf sie ein. Als sie am Zoll das Ausreiseformular ausfüllte, blickte Fou Ts’ong ihr über die Schulter. In die Spalte »Beruf« hatte sie »Studentin« geschrieben. Trotz ihrer Erfolge, trotz ihrer Reputation hatte sie dieses Bild von sich. Vermutlich hat sich bis heute nur wenig daran geändert.

Der Concours Reine Elisabeth galt im damaligen Brüssel als das Kulturevent der Saison. Die einzelnen Darbietungen wurden von einem Musikkritiker im Radio kommentiert und das Finale auf einem besonderen Sendeplatz einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Nicht selten kam es vor, dass sich selbst Taxifahrer für den einen oder anderen Kandidaten begeisterten und die Ergebnisse diskutierten, als handelte es sich um ein Fahrradrennen. Der einzige belgische Fernsehsender strahlte täglich eine Sendung zum Thema aus, die in den Abendnachrichten noch einmal zusammengefasst wurde. Man erkannte die Teilnehmer auf der Straße und wünschte ihnen viel Glück. Der Durchgang von 1964 wurde durch die Auswahl der Jurymitglieder für Klavier besonders interessant: Leon Fleisher, Emil Gilels, Eduardo del Pueyo, Alexander Brailowsky (ein Pole, der sich so sehr mit Chopin identifizierte, dass er bei Konzerten Blut zu spucken pflegte) und Stefan Askenase zählten zu der illustren Runde. Vollkommen unbeeindruckt vom Medienrummel und ohne jede Überzeugung in der Brust, begab sich Martha zum Konservatorium, wo der Wettbewerb stattfinden sollte. An ihrer Seite Martín Tiempo, der sich extra einen Tag freigenommen hatte, um sie zu begleiten. Als die Reihe an ihr war, entschuldigte sie sich bei den Organisatoren mit der Ausrede, sie fühle sich nicht inspiriert. Ihr Fernbleiben löste insbesondere bei Stefan Askenase Enttäuschung aus, der ihrem Talent eine große Bewunderung entgegenbrachte. Dennoch setzte sie sich ins Pu-
blikum, um sich die anderen Kandidaten anzuhören und Nelson Freire zu unterstützen, der unglücklicherweise gleich in der ersten Runde ausschied. Es heißt, dass der Königin seine Darbietung sehr gefallen habe, aber allein die Tatsache, dass er eines der Jurymitglieder nicht überzeugt hatte, war ausschlaggebend für seinen Ausschluss aus dem weiteren Wettbewerb. Martha war vollkommen außer sich über diese Entscheidung. Bei viel Wein verbrachten die drei Freunde den Abend in tiefer Depression – sie drei gegen den Rest der Welt.

An den folgenden Tagen entzückte sich das belgische Pu-
blikum an dem Wettstreit, der sich zwischen zwei russischen Pianisten abspielte. Der Favorit Nikolai Petrov, ein echtes Produkt der sowjetischen Klavierschule, profitierte von der Anwesenheit seines Professors Yakov Zak in der Jury, während Evgeny Mogilevsky, der von den Apparatschiks als Außenseiter betrachtet wurde, in der Klasse des großen Heinrich Neuhaus einen viel raffinierteren und weniger überladenen Stil erlernt hatte. Martha begeisterte sich für Letzteren und verteidigte ihn mit Verve. Ihr Enthusiasmus amüsierte Martín Tiempo: Mogilevsky hatte große schwarze Augen und ein romantisches Profil, während Petrov dick und unattraktiv war. Beim Finale im Palais des Beaux-Arts vereinigte Mogilevsky mit seiner fantastischen Interpretation von Rachmaninows
Klavierkonzert Nr. 3 alle Stimmen auf sich. Er errang den ersten Platz, während sein Rivale sich mit dem zweiten Platz begnügen musste, was in der russischen Delegation für einigen Unmut sorgte. In den folgenden Jahren gehörte Petrov zu den wenigen Privilegierten, die außerhalb der UdSSR konzertieren durften, während die meisten ausländischen Einladungen, die der am Moskauer Konservatorium lehrende Mogilevsky erhielt, unberücksichtigt blieben. Trotzdem konnte dieser 1973 bei einem Auftritt in den USA, erneut mit dem Klavierkonzert Nr. 3 von Rachmaninow unter Leitung von Kyrill Kondraschin und mit den Moskauer Philharmonikern, einen großen Erfolg erzielen. 1991 war es ihm dank Perestroika endlich möglich, den Eisernen Vorhang zu überwinden und sich in Brüssel niederzulassen, wo er am Königlichen Konservatorium sofort eine Stelle als Klavierprofessor erhielt. Sein Sohn Alexander Mogilevsky erwies sich ebenfalls als hochtalentierter Pianist.*

* Er hat in der CD-Reihe Martha Argerich Presents bei EMI ein wunderschönes Recital herausgebracht.

Kurz nach seiner Brüsseler Demütigung gewann Nelson Freire beim Internationalen Wettbewerb Vianna da Motta in Portugal den ersten Preis, was seine Karriere endlich in Schwung brachte. Martha stand auch auf der Teilnehmerliste, weil ihre Mutter sie eingeschrieben hatte, doch dieses Mal ging die argentinische Pianistin gar nicht erst hin. Ihre Gedanken waren auf Warschau gerichtet, denn Stefan Askenase, mit dem sie freundschaftlich verbunden war, hatte sie dazu überredet, am Chopin-Wettbewerb teilzunehmen, der im Februar 1965 beginnen sollte.

Am 7. September 1964, auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Hochzeit, traf Robert Chen am Flughafen von Genf ein. Er hatte sich mit den amerikanischen Behörden arrangiert und ein Touristenvisum für die Schweiz bekommen. Martha hatte ihm jede Menge zärtliche Briefe geschrieben, und er brannte darauf, seine Tochter endlich kennenzulernen. Mit fünf Monaten befand sich die kleine Lyda noch immer unter Beobachtung in der Spezialklinik für gesundheitsgefährdete Kleinkinder. Während ihre Mutter in Brüssel wieder auf den Geschmack des Klavierspiels gekommen war, wachte Großmutter Juanita strengen Auges über die Entwicklung der Kleinen und das Erzieherteam. Sie empfing ihren Schwiegersohn ohne jede Herzlichkeit, und es dauerte nicht lange, bis es in ihrem Verhältnis zu einem ernsthaften Zerwürfnis kam. Von Juanita angefeindet, weil er sein Kind zweimal am Tag besuchte, verlangte Robert Chen von Martha, zwischen ihm und Juanita zu vermitteln. Doch die Pianistin, die Angst vor einem Streit mit ihrer Mutter hatte, wollte nicht Position beziehen. Im Dezember war sie noch immer nicht aus Brüssel gekommen, um Lyda wiederzusehen, die inzwischen acht Monate alt war. Von Juanitas Machtwillen und ihrer unverhohlenen Verachtung ihm gegenüber an den Rand der Verzweiflung gebracht, setzte Robert alle Hebel in Bewegung, das alleinige Sorgerecht für seine Tochter zu erhalten. Martha brachte Verständnis für seine Haltung auf, doch weil sie sich zwischen den Fronten befand, fühlte sie sich nicht in der Lage zu intervenieren. »Du benimmst dich wie Pontius Pilatus!«, warf ihr Mann ihr am Telefon vor. Kaum hatte Juanita von der Absicht ihres Schwiegersohnes erfahren, begab sie sich in die Einrichtung und nahm, ohne das Misstrauen der Erzieher zu erregen, ihre Enkelin mit nach Hause. Mit dem Baby machte sie sich umgehend auf den Weg nach Brüssel zu Martha. Auch die Zollbeamten schöpften keinen Verdacht. Robert blieb nichts anderes übrig, als die Justiz zu bemühen und die Scheidung zu beantragen. Gegen Juanita wurde seitens der Schweizer Polizeibehörden ein Verfahren wegen Kindesentführung eingeleitet. Wenige Monate später klingelte Interpol an der Haustür der Villa-Lobos’, um die Herausgabe von Lyda zu verlangen und sie zurück in die Genfer Einrichtung zu bringen. Ein paar Wochen danach gelang es Juanita erneut, ihre Enkelin aus der Krippe zu entführen. Diesmal wurde sie jedoch am Münchner Flughafen von der deutschen Polizei abgefangen. Als Angehörige des diplomatischen Dienstes blieb ihr eine Gefängnisstrafe erspart, Martha indes verlor sämtliche sorgerechtlichen Befugnisse bezüglich ihrer Tochter. Im Rahmen des Scheidungsverfahrens wurde ihr sogar das Besuchsrecht entzogen. Robert, unter dessen Sorgerecht das Kind nun stand, bekam somit automatisch einen Schweizer Pass, doch weil seine berufliche Situation instabil blieb, wurde ihm die Personensorge verwehrt. Am Abend der Urteilsverkündung rief Martha bei ihm an: »Können wir trotzdem Freunde bleiben?« Er knallte wortlos den Hörer auf die Gabel.

Unter die Vormundschaft des Schweizer Staates gestellt, wurde Lyda bei einer Bekannten des Familienrichters untergebracht, die Robert ein Zimmer vermietete, sodass Vater und Tochter unter demselben Dach leben konnten. Im Alter von fünf Jahren wurde Lyda den Schwestern Seidel anvertraut, drei freundlichen Genfer Calvinistinnen der besseren Gesellschaft,
die ihr das Lesen beibrachten. Sie erinnert sich, einmal eine Schachtel mit bunten Kreidestiften von ihnen überreicht bekommen zu haben, ein Geschenk von einer Mutter, die sie nicht kannte und über die der Vater nie ein einziges Wort verlor.

Den richterlichen Urteilsspruch im Rücken, verweigerte Robert Chen Martha jeglichen Kontakt zu ihrer Tochter. Eines Tages jedoch ließ er sich erweichen und brachte das Mädchen zu Marthas Freundin Diane, bei der die Pianistin sich zur Erholung befand. Lyda kann sich nur noch an die Hand ihres Vaters erinnern, die sie nicht loslassen wollte, und an das Gesicht ihrer Mutter im Halbdunkel des Zimmers, das hinter dichtem Zigarettenqualm verborgen war. Nicht lange danach erkrankte die älteste der Seidel-Schwestern, und das Kind wurde der Obhut der Nonnen vom Institut Catholique La Salésienne anvertraut. Robert sah seine Tochter nur noch am Wochenende. Sie hatte viel zu beklagen: Das Essen schmecke ihr nicht, die Mittagsruhe sei endlos und ständiges Beten Pflicht. Mit sieben Jahren wurde Lyda bei Genfer Pflegeeltern untergebracht, die auch zwei eigene Kinder hatten. Lyda besuchte die École primaire Contamines, die sich in der Nähe der Wohnung ihrer Mutter befand.

Robert Chen war sich durchaus darüber im Klaren, dass seine Tochter nicht glücklich war. An dem Tag, an dem er erfuhr, dass ihre »böse Stiefmutter« sie geohrfeigt hatte, reichte er einen Antrag beim Jugendgericht ein. Er konnte Lyda zu sich nehmen, deren Leben endlich begann.