10
Im Morgengrauen schlugen Lauri und seine Begleiterin ihr Lager in einem tiefen, von Wasser und Wind in die Sandsteinfelsen geschnittenen Cañon auf, dessen oberer Teil sich über ihnen zu einem Schirm wölbte, der sie vor der Sonne schützte und dem Blickfeld möglicher Aufklärungsflugzeuge entzog. Sie schliefen eine Weile. Nach dem Aufwachen tranken sie Wasser und aßen einen Teil ihres noch übrigen Proviants.
Leicht verlegen stellte Lauri plötzlich fest, dass sie sich noch gar nicht vorgestellt hatten. Das war ja nun wieder ziemlich finnisch, dachte er etwas betreten. Ein Wort am Vormittag und zwei gegen Abend, vor dem Schlafengehen.
»Ich heiße übrigens Lauri«, sagte er. »Lauri Nurmi.«
Die Frau sah ihn lächelnd an.
»Ich bin Khadidja. Also Khadidja, so wie die erste Frau des Propheten. Khadidja Ahmed.«
»Bist du mit Scheich Azhrawi verwandt?«
»Er ist gewissermaßen mein Vater«, bestätigte Khadidja. »Beziehungsweise mein Stiefvater.«
Khadidja erklärte die Sache nicht genauer, sondern zeigte auf Lauris blutigen Verband an seinem Arm.
»Wir sollten uns vielleicht einmal deine Wunde ansehen.«
»Da kann man ja doch nichts machen«, zierte sich Lauri. »Unter diesen Umständen.«
»Schauen wir trotzdem mal nach.«
Lauri streckte seinen Arm aus und ließ Khadidja die Knoten lösen, die den Verband zusammenhielten. Khadidja öffnete den Verband und betrachtete prüfend die Wunde. Darauf hatte sich eine dicke schwarze Schicht aus geronnenem Blut und Wundwasser gebildet, durch die weder Blut noch Gewebeflüssigkeit austrat. Khadidja tastete die Wundränder vorsichtig mit dem Finger ab. Die Haut war weder sehr stramm noch nenneswert angeschwollen, und sie fühlte sich auch nicht heiß an. Khadidja nickte zufrieden.
»Sie ist nicht entzündet, jedenfalls noch nicht«, sagte sie. »Wir sollten den Verband wohl nicht noch einmal öffnen. Wir müssen nur abwarten und sehen, was daraus wird.«
Khadidja wickelte die Binde zurück an ihren Platz. Lauri holte aus seinem Rucksack eine Tüte mit Datteln und bot Khadidja davon an. Dann nahm er selbst ein paar. Khadidja betrachtete Lauri nachdenklich und abschätzend.
»Na?«, fragte Lauri fordernd. »Was jetzt?«
»Hör mal, du Europäer, ich habe mich wohl ein bisschen in dich verguckt«, sagte Khadidja. »Ich würde sogar sagen, dass ich, wenn ich nicht so viel Respekt vor meinem Vater hätte, vielleicht bereit wäre, mit dir die von Allah gegebenen Gesetze über Mann und Frau zu brechen. Vielleicht.«
Lauri bekam ein Stück Dattel in den falschen Hals und fing an zu husten.
»Hoffentlich ist das nicht ansteckend«, kommentierte Khadidja. »Die Imohagh waren seinerzeit nicht bereit, während der Malariazeit weißen Europäern Zutritt zu ihrem Gebiet zu gewähren. Ihr wart ja so schwach, dass ihr euch sofort alle möglichen Malariaansteckungen zugezogen habt und dazu noch viele andere Erkrankungen.«
»Das sollte bestimmt ein Kompliment sein!«
»Der Teil, der die Malaria betrifft, war es nicht, aber das Übrige kannst du als Kompliment betrachten.«
»Abu Hassan hat mich vor den Tuaregfrauen gewarnt«, bemerkte Lauri.
Khadidja lachte.
»Er hat sicherlich ein wenig übertrieben, das solltest du bedenken. Die Beziehungen zwischen den Imohagh und den Arabern sind nicht immer sonderlich herzlich. Aber obwohl du so krankhaft blass bist, tut es mir doch fast leid, dass du dir einbildest, Jesus sei der Sohn Gottes gewesen, anstatt einzugestehen, dass Gott nun einmal existiert und dass alle Menschen, zu denen er spricht, wie zum Beispiel Jesus und Mohammed, nur seine Propheten sind. Was nun vom Standpunkt eines auch nur ein wenig nachdenkenden Menschen völlig plausibel und unumstritten sein sollte. Wenn du nicht an solchen kindischen und abergläubischen Unsinn glauben würdest, dann könnten wir wenigstens für eine Weile heiraten und zusammen sein wie Mann und Frau.«
Lauri schnappte nach Luft, denn Khadidjas Art zu sprechen war für Frauen in arabischen Ländern nicht gerade typisch. Khadidja packte den restlichen Proviant in ihre Satteltasche und bestieg ihr Kamel.
»Aber ich kenne dich doch gar nicht«, protestierte Lauri.
»Auf diese Art und Weise lernt man sich doch kennen! Und ich habe sehr wohl gesehen, wie du mich dort im Zelt meines Vaters angesehen hast.«
Khadidja lenkte ihr Kamel auf den Sand. Lauri bestieg sein eigenes Reittier und folgte ihr.
»Aber ich war doch nur neugierig«, verteidigte sich Lauri. »Verzeihung, das war wohl jetzt unhöflich. Aber du bist doch wohl daran gewöhnt, dass die Männer sich nach dir umdrehen?«
Khadidja sah Lauri von ihrem Kamel her an.
»Allerdings ist der Blick mancher Männer sengender als der von anderen. Obwohl du, ehrlich gesagt, für meinen Geschmack etwas zu blass bist. Hab ich das schon gesagt?«
»Das weiß ich nicht mehr«, sagt Lauri ziemlich säuerlich.
»Habt ihr Bewohner des Nordens alle die Tuberkulose, oder wohnt ihr in finsteren Höhlen, sodass ihr nicht genug Sonne bekommt? So wie die Würmer und die Grottenolme?«
Lauri konnte immer noch nicht durchschauen, wann Khadidja es ernst meinte und wann sie sich auf seine Kosten lustig machte. Im Grunde wusste er nicht, ob Abu Hassan wirklich übertrieben hatte, als er von den Tuaregfrauen erzählt hatte. Friede seiner Asche!
Lauri richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den überraschenden Formenreichtum der Landschaft. Bei ihrem Eintreffen in der Sandwüste waren sie nur auf halbmondförmige Dünen gestoßen. Lauri wusste, dass sie Barchane oder Bogendünen hießen. Ihre Hörner zeigten in die Windrichtung, und sie wanderten meistens in eine bestimmte Richtung. Ihre Windseite war sanft abfallend, die dem Wind abgewandte Seite dagegen oft steil, was sie für unvorsichtige Wanderer lebensgefährlich machte. Besonders ein Auto, das bei Sandsturm oder im Dunkeln unterwegs war, konnte plötzlich mit den Vorderrädern in der Luft hängen, wenn es aus Versehen mit zu hoher Geschwindigkeit auf den Grat einer Bogendüne geraten war.
Lauri wusste, dass die Bogendünen niemals sehr groß waren. Dort, wo er und Khadidja das Sandmeer erreicht hatten, waren sie zwanzig oder dreißig Meter hoch und höchstens einige hundert Meter lang gewesen. Aber stellenweise waren sie zu komplizierten Netzwerken zusammengewachsen, und Lauri und Khadidja hatten immer wieder lange Strecken zurücklegen können, indem sie vom Grat einer Bogendüne zur nächsten balancierten, ohne auch nur ein einziges Mal in die Täler zwischen den Dünen hinabsteigen zu müssen.
Als sie aber weiter in die Wüste hineingekommen waren, wo die Winde mit noch viel größeren Sandmassen spielen konnten, waren die einheitlichen Reihen von Barchanen erstaunlich verschiedenartigen Dünengebilden gewichen. Immer wieder waren sie auf gewaltige Längsdünen gestoßen, die sich nach Norden wie nach Süden anscheinend bis zum Horizont erstreckten.
Außerdem hatten sie solche Barchane gesehen, die sich gewissermaßen an einer Stelle festgesetzt hatten und aus denen in einem Winkel von neunzig Grad lang gestreckte sogenannte Seif-Dünen gewachsen waren. Sie hatten stern- und pyramidenförmige Dünen sowie Parabeldünen und sogar fast fünfhundert Meter hohe Echodünen gesehen, die dann entstanden, wenn sich vorwärtswälzende Sandmassen auf ein noch höheres, unnachgiebiges Hindernis trafen. Manchmal war es sehr schwer, sich vorzustellen, auf welche Weise und infolge welcher Dynamik einzelne Dünen entstanden waren.
Lauri lenkte sein Kamel neben das von Khadidja.
»Du bist sicherlich selbst eine Tuareg?«, fragte Lauri.
»Eigentlich bin ich mehr eine Teda«, antwortete Khadidja. »Allerdings bin ich auch ein wenig das, was du Tuareg nennst, und zum Teil auch Araberin, vor allem jedoch eine Teda.«
»Moment mal, ich konnte dir nicht folgen«, klagte Lauri.
»Genau genommen war die Mutter meiner Mutter eine Teda, und der Vater meiner Mutter war zur Hälfte ein Teda und zur Hälfte ein Imohagh von l’Air. Mein Vater gehörte zu den ältesten arabischen Familien von Ägypten. Ich bin also eine Teda-Imohagh-Araberin. Ich habe aber als Kind und als Jugendliche so viel Zeit im Stein verbracht, dass das der Ort ist, wo ich am meisten zu Hause bin.«
»Nicht so schnell, bitte«, bat Lauri. »Was ist der Stein? Und was ist ein Imohagh?«
»Der Stein ist das, was du das Tibesti-Massiv nennen würdest, das höchste Gebirge der Sahara, das hauptsächlich im Tschad, aber zum Teil auch im Niger und in Libyen liegt.«
»Und Imohagh?«
»Imohagh, Imajughen, dass ist ein und dasselbe. Die Menschen, die du Tuareg nennst.«
»Aha. Aber mir hat man gesagt, dass die Bewohner des Tibesti Tubu heißen.«
»Tubu, Toubou oder Tibou, das sind alles Namen, die andere uns gegeben haben. Wir selbst nennen uns Teda oder Tu Reshadi, Menschen aus dem Stein, Volk aus dem Stein.«
»Und wie heißt eure Sprache?«
»Tedaga.«
»Ist sie nahe verwandt mit dem Tuareg?«
Khadidja schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Eine solche Sprache gibt es gar nicht. Tuareg ist ein arabischer Schimpfname, der ›die von Gott Verlassenen‹ bedeutet, und die Imohagh mögen den Namen nicht. Imohagh bedeutet die Edlen, die von edler Herkunft. Die Sprache der Imohagh heißt Tamascheq. Oder, geschrieben, Tifinagh. Aber sie ist mit dem Teda verwandt.«
»Ziemlich kompliziert«, kommentierte Lauri.
»Na ja, doch nicht so schrecklich kompliziert. Wenn du etwas wirklich Kompliziertes hören möchtest, dann kann ich dir die Prinzipien des staatlichen Systems der Teda erklären. Aber du solltest vielleicht wissen, dass viele Wörter, die sich auf die Sahara beziehen, im Grunde aus dem Tamascheq stammen. Zum Beispiel geht das arabische Wort für Wüste, sahra, von dem Sahara abgeleitet ist, auf das Tamascheq-Wort sahar zurück.«
»Bedeutet das auch Wüste?«
»Na ja, gewissermaßen. Wörtlich bedeutet es: bloßer Sand, ohne Steine, Felsen oder Wasser, ohne feste Wege oder Pfade, und ebener Horizont.«
»Das alles passt in fünf Buchstaben hinein?«, fragte Lauri verblüfft, denn das war schwer zu glauben.
Khadidja lachte über Lauris Ungläubigkeit.
»Im Tamascheq gibt es viele verschiedene Wörter für unterschiedliche Teile der Sahara. Serir, Kiesebene. Warr, eine etwas gröbere Kiesebene, wo es jedoch schon einige Steinbrocken gibt, sodass es schwierig ist, sie zu durchqueren. Reg oder areg, ein Gebiet, das nur aus Steinen und Felsbrocken besteht, also dasselbe wie hamada. Wishek, ein Gebiet, das früher fruchtbar war, jetzt aber infolge von menschlicher Tätigkeit oder aus anderen Gründen Wüste ist, subhkar oder Salzebene, Wadi oder ...«
»Schon gut, schon gut, ich gebe es auf!«
Die Sprachwissenschaftler hatten wahrscheinlich recht, als sie sagten, dass Sprachen sich nicht überschneiden, dachte Lauri.
Sie setzten ihren Weg fort und sprachen lange Zeit nichts. Die schaukelnde Bewegung der Kamele wirkte hypnotisch und einschläfernd. Die Sahara ist gewaltig, dachte Lauri. Sie ist in der Realität viel größer als der kleine gelbe Fleck auf der Landkarte.
Plötzlich hielt Khadidja ihr Kamel an und beugte sich hinab, um etwas aus dem Sand aufzuheben. Als Lauri näher kam, sah er, dass in Khadidjas Hand etwas gelbgrün, hell und durchsichtig Schimmerndes funkelte. Glasstücke?
»Grünes Wüstenglas«, sagte Khadidja.
Sie drehte und wendete die seltsamen Glasstückchen in der Hand.
»Mein Vater hat gesagt, dies sei nahezu reines Silizium«, erklärte Khadidja. »Seiner Ansicht nach bestehen diese Stücke wirklich aus einem besonderen Material.«
»Wie sind sie entstanden?«, fragte Lauri.
»Das weiß niemand. Es ist ein Rätsel! Aber von diesem grünen Glas gibt es im Sandmeer stellenweise ganz beachtliche Mengen. Die Menschen in alter Zeit schätzten es, weil man daraus gute Messer und andere Werkzeuge sowie schöne Schmuckstücke herstellen konnte. Sie fanden sich auch im Grab des Pharaos Tutanchamun.«
Khadidja trat zu Lauri und reichte ihm die Glasstücke.
»Eines der wichtigsten Gebiete, in denen Wüstenglas vorkommt, hat ungefähr die Form eines Ovals«, erzählte Khadidja. »Ein anderes ist quasi ein sechs Kilometer breiter Ring mit einem Durchmesser von zwanzig Kilometern. Aus irgendeinem Grund findet sich im Inneren des Rings überhaupt kein grünes Glas.«
»Merkwürdig«, sagte Lauri.
Er hielt den grünlichen Glassplitter gegen das Sonnenlicht. Er hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem anderen Material, das er jemals gesehen hatte.
»Du kannst sie behalten«, sagte Khadidja. »Ich habe schon eine große Sammlung davon.«
Khadidja stieg wieder auf ihr Kamel. Lauri schob die Glasstückchen in die Tasche seines Umhangs.
»Deine Eltern ... Ehen zwischen Teda und Angehörigen der ägyptischen Oberschicht können nicht sehr häufig sein?«
Khadidja lächelte.
»Nein, das sind sie wirklich nicht. Zumal die meisten Teda erst im Verlauf der letzten fünfzig Jahre zum Islam übergetreten sind.«
»So? Das klingt ja fast unglaublich!«
»Das würdest du verstehen, wenn du den Stein sähest«, erwiderte Khadidja. »Du würdest verstehen, warum der Stein die Herzen der römischen Generäle und der Generäle des osmanischen Reichs so gebrochen hat, dass sie bittere Tränen weinten und nach Hause zurückkehrten.«