6
Ein einsamer Hubschrauber jagte über die von Termitenbauten, Akazienwald und niedrigem Gebüsch gesprenkelte Savanne. An dem Hubschrauber gab es keinerlei Kennzeichen. Außer dem Piloten saßen noch zwei weitere Personen darin. Beide waren sonnengebräunte Männer um die fünfzig und von westlichem Aussehen. Beide trugen eine Sonnenbrille. Der eine war fast kahl, der andere hatte dichtes schwarzes Haar, das an den Schläfen bereits ergraut war, und trug einen gepflegten Bart.
»Werden wir auch wirklich dorthin finden?«, fragte der Bärtige.
Die Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Mach dir keinen Stress, Richard. Die Anweisungen waren ziemlich genau«, sagte sein kahlköpfiger Reisegefährte.
Michael Cheney griff nach seiner grünen Schirmmütze, um seinen Schädel vor der prallen Sonne zu schützen, aber der durch das offene Fenster eindringende Wind packte sie und riss sie mit sich fort.
»Mist!«, fluchte Cheney.
»Hoffentlich schießt uns niemand mit einer tragbaren Rakete ab«, sagte Richard Brunel. »Der Sudan ist eine ziemlich unruhige Gegend!«
»Nicht dieses Gebiet hier. Die Kämpfe konzentrieren sich auf Darfur und auf die Sümpfe des Sudd.«
Die Ebene erstreckte sich bis zum Horizont. Aber darin waren jetzt auch zwei einsame, hohe Hügel zu erkennen.
»Das muss die Stelle sein«, sagte der Pilot.
»Mir gefällt das überhaupt nicht«, bemerkte Brunel.
»Du wirst doch jetzt nicht kneifen!«, rief Cheney aus. »Rate mal, was es gekostet hat, dieses Treffen zu arrangieren!«
»Wen treffen wir?«
»Keine Ahnung. Wohl kaum jemanden, der wirklich wichtig ist. Aber hoffentlich ist es jemand, der über die Kette eine Nachricht weitergeben kann. Sodass sie zu den eigentlichen Entscheidungsträgern gelangt.«
»An diesem Deal ist etwas faul«, murmelte Brunel unzufrieden.
Er betrachtete die unter ihnen dahingleitenden unregelmäßigen Reihen von Akazien und rötlichen Termitenbauten. Hier und dort gab es auch Dörfer aus runden, strohgedeckten Lehmhütten. Um jedes Dorf herum lag ein Flickenteppich kleiner Äcker.
Brunel bemerkte, dass einige Dörfer wüst zu liegen schienen. Die Dächer der Hütten waren verkohlt und eingestürzt, sodass nur die runden, schlammigen Wände übrig waren. Lag Cheney wirklich richtig, wenn er behauptete, das Gebiet sei sicher?
»Und wenn Nurmi das Angebot nun gar nicht annimmt?«, fragte Brunel herausfordernd.
»Er wird es annehmen«, sagte Cheney überzeugt. »Glaub mir. Ich kenne ihn. Meinst du, ich hätte meinen Arsch bis hierhergeschleppt, wenn es nicht unbedingt sein müsste?«
Als sie sich den Hügeln näherten, sahen sie, dass an den Hängen einige Dutzend Zelte aus schwarzem Stoff aufgeschlagen waren. Hier und dort standen angepflockte Pferde, Kamele und kleine Herden von weißen, schwarzen und bunten Ziegen.
Der Hubschrauber landete bei den Hügeln. Alle drei stiegen aus. Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel, und sofort brach ihnen der Schweiß aus.
»Und nun?«, fragte Brunel.
»Jetzt warten wir, bis jemand kommt und uns begrüßt.«
»Oder uns eine Kugel in den Kopf jagt!«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Cheney. »Sie brauchen Geld.« Aber er klang nicht sehr überzeugend.
Einen Augenblick später näherten sich ihnen drei in lange weiße Burnusse gekleidete Gestalten. Jede von ihnen trug ein Sturmgewehr.
»Das sieht nicht gut aus«, fand Brunel.
»Im Gegenteil, das stand zu erwarten«, versicherte Cheney. »Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn sie keine Waffen trügen. Warte hier, ich geh und rede mit ihnen.«
Cheney eilte den Ankömmlingen entgegen. Er vermutete, dass der Mann, der vor den anderen herging, der Anführer war, und steuerte auf ihn zu.
»Michael Cheney.«
Cheney streckte die Hand aus, aber der Mann ergriff sie nicht.
»Sprich«, forderte er ihn auf.
Das Gesicht des Mannes war ausdruckslos. Als würde man zu einer Betonwand sprechen, dachte Cheney. Er schluckte ein paarmal, ehe er anfangen konnte.
»Wir haben ein gemeinsames Problem«, sagte er und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. »Du verstehst sicherlich, was ich meine.«
»Das ist möglich.«
Da soll sich einer mit diesen verdammten Kameltreibern auskennen, dachte Cheney gequält. Scheiße, Dick hatte recht, wir hätten nicht hierherkommen sollen.
»Ich meine das Ungeheuer, das gerade bei der Oase Siwa entsteht«, erklärte Cheney. »Das ist für uns ein großes Problem. Und wie ich glaube, wird es auch für euch ein großes Problem werden.«
»Warum willst du mit mir darüber sprechen? Und warum sagst du, dass der sogenannte Kleine Finger Gottes auch für uns ein Problem ist?«
Der Mann sprach gebrochen Englisch mit arabischem Akzent und wirkte nicht besonders interessiert. Cheney schwitzte immer heftiger in der brennenden Sonne.
»Wenn der Strompreis zusammenbricht, wer will dann noch zweihundert Dollar für ein Barrel Öl bezahlen?«, sagte er.
Der Mann rieb sich das Kinn. Cheney fand, dass er jetzt zum ersten Mal etwas neugierig wirkte.
»Hast du einen Vorschlag?«
»Wir schlagen ein taktisches Bündnis vor. Im Geist von Kautilya und Arthashastra. Der Feind meines Feindes und so weiter.«
Das Gesicht des Arabers verzog sich zu einem angespannten Lächeln.
»Du schlägst uns ... ein taktisches Bündnis mit der amerikanischen Großindustrie vor?«
Der Gedanke schien ihn höchlich zu amüsieren.
»Ist das denn so befremdlich?«, wunderte sich Cheney.
Der Araber lachte laut auf. Auch seine Begleiter grinsten. Dann wurden sie ernst.
»Wenn ihr uns helft, können wir zumindest die Kosten abdecken, die durch die Arbeit möglicherweise entstehen. Vielleicht auch etwas mehr.«
»Erklär das.«
Konzentriert hörte der Mann zu, als Cheney seinen Vorschlag erläuterte.
Dann fragte er:
»Warum macht ihr das nicht selbst?«
»Es ist besser, wenn die Attentäter so aussehen wie Einheimische«, erklärte Cheney. »Wenn Vertreter westlicher Konzerne Eigentum der ägyptischen Regierung zerstören, ist die Wirkung vielleicht nicht die gewünschte.«
Der Araber nickte.
»Ich verstehe, was du meinst. Aber warum sollte euer Atomkraftwerk für uns weniger nachteilig sein als Gottes Kleiner Finger?«
Wieder wischte sich Cheney den Schweiß von der Stirn.
»Wenn die Elektroautos nicht mit Öl konkurrieren können, dann bekommt ihr für den Rest eures Öls die zweihundert Dollar pro Barrel«, sagte er. »Vielleicht auch ein bisschen mehr. Sonst könnte ein großer Teil eures geliebten Öls sogar im Boden bleiben. Das Geld entscheidet.«
Der Araber sah Cheney ungläubig an und schüttelte den Kopf.
»Eine solche Frage kann ich nicht allein entscheiden«, sagte er dann. »Warte hier.«
Cheney blickte zu der am Himmel glühenden Sonne hinauf.
»Hier ist es verdammt heiß. Könnte ich nicht mit ins Zelt kommen?«
»Wenn du willst. Aber wenn du siehst, wer alles dort ist, müssen wir dich töten.«
»Das war doch bestimmt ein Witz?«, fragte Cheney leicht besorgt.
Das Gesicht des Arabers war wie versteinert.
»Dann bleibe ich vielleicht hier«, brummte Cheney.
Der Araber ging zu einem Zelt und hob den Stoff an, der die Türöffnung bedeckte. Im Inneren schwebte stark duftender, süßlicher Rauch. Dort hielt sich nur ein einziger Mann auf. Sein Gesicht war übersät von entstellenden Narben, und einer seiner Arme endete oberhalb des Ellbogens. Sein richtiger Name war Midhat Mursi al-Sayid Umar, aber die ganze Welt kannte ihn unter einem anderen Namen. Abu Khalib al-Masri war der Leiter der Abteilung, die bei al-Qaida für die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zuständig war. Die Welt glaubte, er sei im Januar 2006 bei einem Angriff der amerikanischen Kampfflugzeuge auf das Dorf Damadola in der nordwestlichen Provinz Pakistans ums Leben gekommen. In Wirklichkeit hatte Al-Masri jedoch nur einen Arm verloren. Außerdem war seine Wirbelsäule gebrochen, und er hatte an verschiedenen Stellen in seinem Körper Metallsplitter, von denen man nur einen Teil hatte entfernen können.
»Was will er, Fouad?«, fragte al-Masri.
Al-Masri änderte seine Lage auf den Kissen. Die Bewegung war langsam und vorsichtig, aber trotzdem verzog sich sein Gesicht vor Schmerzen zu einer Grimasse. Fouad Badou sah seinen Chef mitfühlend an.
»Sie wollen unsere Hilfe«, antwortete er.
»Was meinst du damit?«, fragte al-Masri, und die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Al-Masri keuchte ein wenig, und Fouad wusste, dass das von den ständigen Schmerzen in den Verletzungen herrührte. Nicht einmal das Opium, das al-Masri fast pausenlos rauchte, konnte die Schmerzen im Zaum halten. Fouad wusste, dass al-Masri nur am Leben blieb und weiterlebte, um seine wichtigste Aufgabe zum Abschluss zu bringen. Sobald die Arbeit getan wäre, würde er gerne gehen. Der Tod würde für al-Masri in erster Linie die Befreiung von den endlosen Qualen bedeuten, die von den Verletzungen herrührten, die er in Damadola davongetragen hatte.
»Sie wollen, dass wir ihnen helfen, die Bauarbeiten am Sonnenkraftwerk Wahat Siwah zu stoppen«, erläuterte Fouad. »Sie sind bereit zu zahlen. Viel Geld.«
Al-Masris Miene wurde schwer durchschaubar. Er sagte nichts, sondern griff stumm nach seiner Pfeife. Fouad sah, wie diese Bewegung eine neue Welle von Schmerz in ihm auslöste. Al-Masris ganzer Körper krümmte sich gleichsam im eisernen Griff dieses Schmerzes zusammen. Als die Welle abebbte, stopfte al-Masri sich seine Pfeife mit Opium.
»Sie bitten uns um Hilfe?«, sagte er schwärmerisch. »Das ist schwer zu glauben! Dass sie nicht verstehen, was wir planen. Obwohl al-Zarqawi in seiner Dummheit schon alles einem windigen jordanischen Journalisten ausgeplaudert hat.«
Al-Masri zündete sich seine Pfeife an und sog probehalber eine kleine Menge Rauch ein.
»Glaubst du, das ist eine Intrige?«, fragte Fouad.
Al-Masri machte gierige Lungenzüge. Fouad sah, dass er allmählich Erleichterung spürte. Die Verkrampfung des Körpers ließ nach, und al-Masri entspannte sich. Sein Blick suchte das Schachbrett, das auf einem niedrigeren Diwan lag.
Al-Masri stand auf, ohne sich um die Schmerzen zu kümmern, und schleppte sich zu dem Schachbrett hin. Er betrachtete es einen Augenblick lang und entfernte dann die beiden weißen Türme, die weiße Königin, einen Läufer und einen Springer.
»Dies war es, wovon wir ausgegangen sind«, sagte al-Masri. »Wir waren sehr schwach, geschwächt von der langen Unterdrückung zuerst durch die Türken und dann durch die Briten. Wir sollten überhaupt keine Chance haben.«
Ein müdes Lächeln flog über al-Masris von Narben und Furchen gezeichnetes Gesicht. Er nahm die schwarze Königin vom Brett, die beiden schwarzen Türme und einen der beiden schwarzen Springer.
»Doch dann wendete sich unser Schicksal, und Gott schenkte uns die Schlüssel zum Sieg«, sagte al-Masri.
Einen Augenblick lang klang er fast froh.
Al-Masri sah, dass Fouad Badou ihn mit abgöttischer Verehrung im Blick ansah. Er wandte sich dem jungen Mann zu, und auf seinem Gesicht lagen plötzlich eine überraschende Wärme und Zärtlichkeit.
»Also: Was genau schlagen sie vor?«, fragte al-Masri.