KAPITEL 3
Ewigkeit und Unendlichkeit: Das Inflations-Multiversum
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gelangte eine Gruppe von Physik-Pionieren zu einer wichtigen Erkenntnis: Würde man die Sonne abschalten, alle anderen Sterne aus der Milchstraße entfernen und sogar die weiter entfernten Galaxien wegwischen, wäre der Weltraum nicht schwarz. Dem menschlichen Auge würde er zwar schwarz erscheinen, aber wenn man Strahlung im Mikrowellenbereich des Spektrums sehen könnte, würde man ein einheitliches Glimmen erkennen, ganz gleich, in welche Richtung man sich wendet. Woher dieses Glimmen kommt? Ganz vom Anfang. Denn bemerkenswerterweise entdeckten diese Physiker, dass ein umfassendes Meer von Mikrowellenstrahlung den Weltraum erfüllt, das von der Schöpfung des Universums herrührt. Die Geschichte dieses Durchbruchs ist eine phänomenale Leistung der Urknallmodelle und offenbarte im Laufe der Zeit zugleich eine grundlegende Schwäche dieser Modelle; damit ebnete sie nach den Pionierarbeiten von Friedmann und Lemaître den Weg für die nächste wichtige Erkenntnis der Kosmologie: die Inflationsmodelle.
Die kosmische Inflation ergänzt die Urknallmodelle: Sie postuliert für die ersten Augenblicke des Universums eine kurze Phase ungeheuer schneller kosmischer Expansion. Wie wir noch genauer erfahren werden, erweist sich diese Ergänzung als notwendig, um einige ansonsten rätselhafte Merkmale der kosmischen Hintergrundstrahlung zu erklären. Darüber hinaus stellt die Inflation aber auch ein entscheidendes Kapitel in unserer Geschichte dar: Während der letzten Jahrzehnte sind die Wissenschaftler zunehmend zu der Erkenntnis gelangt, dass die überzeugendsten Versionen der Theorie zu einer riesigen Sammlung von Paralleluniversen führen. Damit wandelt sich das Erscheinungsbild der Wirklichkeit radikal.
Überreste eines heißen Anfangs
George Gamow, ein hünenhafter, fast 1,90 Meter großer russischer Physiker, war so scharfsinnig wie lebenslustig, obwohl sein Leben nicht leicht verlief. (Im Jahr 1932 versuchte er, zusammen mit seiner Frau aus der Sowjetunion zu fliehen. Dazu paddelten sie in einem Kajak, das mit einem ordentlichen Vorrat an Schokolade und Brandy beladen war, über das Schwarze Meer. Als sie wegen schlechten Wetters eilig an die Küste zurückkehren mussten, konnte Gamow die Behörden mit einem Märchen über die unglücklicherweise gescheiterten wissenschaftlichen Experimente beschwatzen, die er auf dem Meer durchführen wollte.) Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte er sich mit wichtigen Beiträgen zur Quanten- und Atomphysik einen Namen gemacht. In den vierziger Jahren, nachdem er erfolgreich (trockenen Fußes und mit weniger Schokolade) durch den Eisernen Vorhang geschlüpft war und an der Washington University in St. Louis ein neues Zuhause gefunden hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit der Kosmologie zu. Mit der unentbehrlichen Unterstützung seines phänomenal begabten Doktoranden Ralph Alpher gelangte Gamow durch seine Forschungsarbeiten zu einem weitaus detaillierteren und realistischeren Bild von den ersten Augenblicken des Universums, als es Friedmann (der in Leningrad Gamows Lehrer gewesen war) und Lemaître mit ihren früheren Arbeiten geliefert hatten. Mit einigen modernen Ergänzungen sieht das Bild von Gamow und Alpher ungefähr folgendermaßen aus:
Kurz nach seiner Geburt war das ungeheuer heiße und dichte Universum ein Ort hektischer Aktivität. Der Raum dehnte sich rapide aus und kühlte sich dabei ab, so dass sich aus dem Urplasma ein Gemisch von Teilchen zusammenballen konnte. Während der ersten drei Minuten war die rasch sinkende Temperatur immer noch so hoch, dass das Universum wie ein kosmischer nuklearer Ofen wirkte, in dem die einfachsten Atomkerne entstanden – außer Wasserstoff noch Helium und Spuren von Lithium. Aber schon nach wenigen weiteren Minuten fiel die Temperatur auf etwa 108 Kelvin (K), knapp das 10 000-Fache der Oberflächentemperatur unserer Sonne. Damit war das Universum nach heutigen Maßstäben immer noch sehr heiß, die Temperatur war aber zu niedrig, als dass pausenlos Kernreaktionen hätten ablaufen können; von diesem Zeitpunkt an klang der Tumult unter den Beteiligten also im Wesentlichen ab. Anschließend geschah erst einmal nicht viel, außer dass der Raum sich immer weiter ausdehnte und das Teilchengemisch sich weiter abkühlte.
Rund 380 000 Jahre später hatte das Universum sich auf rund 3000 K abgekühlt, etwas mehr als die Hälfte der Sonnen-Oberflächentemperatur. Nun wurde das kosmische Einerlei durch eine entscheidende Wendung der Ereignisse unterbrochen. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Raum von einem Plasma aus Teilchen angefüllt gewesen, die elektrische Ladungen trugen, vor allem Protonen und Elektronen. Da elektrisch geladene Teilchen die einzigartige Fähigkeit haben, Photonen – Lichtteilchen – zu absorbieren und wieder auszusenden, sah das Plasma in der Frühzeit undurchsichtig aus; die Fortbewegung der Photonen wurde unablässig von Elektronen und Protonen gestört, und so entstand ein diffuses Glimmen, das aufgeblendeten Scheinwerfern eines Autos bei dichtem Nebel ähnelt. Als die Temperatur aber unter 3000 K sank, verlangsamte sich auch die Bewegung der Elektronen und Atomkerne so weit, dass sie sich zu Atomen zusammenfinden konnten; Elektronen wurden von den Atomkernen eingefangen und in Umlaufbahnen gezogen. Das war ein entscheidender Wandel. Da Protonen und Elektronen gleich große, aber entgegengesetzte Ladungen tragen, sind die durch ihre Vereinigung entstehenden Atome elektrisch neutral. Und da Photonen durch ein Gas aus elektrisch neutralen, zusammengesetzten Gebilden hindurchgehen wie ein heißes Messer durch Butter, konnte der kosmische Nebel durch die Bildung der Atome aufklaren, und das leuchtende Echo des Urknalls wurde freigesetzt. Seither strömen die Photonen aus dieser Frühphase weitgehend ungehindert durch das All.
Allerdings mit einer wichtigen Einschränkung. Die Photonen werden zwar nicht mehr durch elektrisch geladene Teilchen beeinflusst, sie unterliegen jetzt aber einer anderen wichtigen Einwirkung: Mit der Expansion des Raumes werden alle Dinge, die darin sind, verdünnt und abgekühlt, auch die Photonen. Aber im Gegensatz zu Materieteilchen werden Photonen beim Abkühlen nicht langsamer; als Lichtteilchen bewegen sie sich immer mit Lichtgeschwindigkeit fort. Stattdessen nimmt mit der Abkühlung der Photonen ihre Schwingungsfrequenz ab, das heißt, sie verändern ihre Farbe. Violette Photonen werden blau, dann grün, dann gelb, rot und schließlich infrarot (so dass man sie mit Nachtsichtgeräten sehen kann); dann folgen der Mikrowellenbereich (die Wellen, die im Mikrowellenofen das Essen erwärmen) und schließlich der Bereich der Radiofrequenzen.
Was das bedeutet, erkannte Gamow als Erster. Alpher und sein Mitarbeiter Robert Herman arbeiteten es dann genauer aus: Wenn die Urknallmodelle stimmen, sollte der Raum heute überall mit Photonen angefüllt sein, die vom Schöpfungsereignis übrig geblieben sind. Diese Photonen laufen planlos durcheinander; dabei hängt ihre Schwingungsfrequenz davon ab, wie stark sich das Universum in den Jahrmilliarden seit ihrer Freisetzung ausgedehnt und abgekühlt hat. Wie sich durch mathematische Berechnungen zeigen lässt, sollten die Photonen sich heute bis nahe an den absoluten Nullpunkt abgekühlt haben, womit sich ihre Frequenzen in den Mikrowellenbereich verschoben hätten. Aus diesem Grund bezeichnet man sie auch als kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung oder, kürzer, als kosmische Hintergrundstrahlung.
Kürzlich las ich noch einmal die Fachaufsätze von Gamow, Alpher und Herman, in denen sie Ende der vierziger Jahre ihre Erkenntnisse veröffentlicht und erklärt hatten. Es handelt sich um Wunderwerke der theoretischen Physik. Die dort ausgeführten Rechnungen setzen kaum mehr voraus als Grundkenntnisse aus den ersten Semestern des Physikstudiums, und doch sind die Ergebnisse tiefschürfend. Die Autoren erklärten, wir alle badeten in Photonen, die ein kosmisches Erbe darstellen, das uns von der feurigen Geburt des Universums geblieben ist.
Vor diesem Hintergrund wundert man sich vielleicht, dass die Artikel zu jener Zeit weitgehend unbeachtet blieben. Das lag vor allem daran, dass sie in einer Ära entstanden, in der Quanten- und Kernphysik die beherrschende Rolle spielten. Die Kosmologie hatte sich als quantitative Naturwissenschaft noch nicht durchgesetzt, und deshalb war die Aufnahmebereitschaft der Physiker für theoretische Untersuchungen, die am Rande des Fachgebietes zu liegen schienen, äußerst begrenzt. Bis zu einem gewissen Grade blieben die Aufsätze auch deshalb unbeachtet, weil Gamow sich eines ungewöhnlich spielerischen Stils bediente (einmal zog er bei einem Aufsatz, den er zusammen mit Alpher schrieb, seinen Freund, den späteren Nobelpreisträger Hans Bethe, als Koautor hinzu, nur, damit die Autorenliste des Aufsatzes mit »Alpher, Bethe, Gamow« an die drei ersten Buchstaben des griechischen Alphabets erinnert). Manche Physiker nahmen ihn nicht so ernst, wie er es verdiente. Trotz aller Bemühungen konnten Gamow, Alpher und Herman zunächst niemanden für ihre Befunde interessieren und erst recht nicht die Astronomen dazu veranlassen, nennenswerte Anstrengungen auf den Nachweis der von ihnen vorhergesagten Reststrahlung zu verwenden. Die Aufsätze gerieten schnell in Vergessenheit.
Als die Physiker Robert Dicke und Jim Peebles von der Princeton University sich Anfang der sechziger Jahre in eine ähnliche Richtung bewegten, kannten sie die früheren Arbeiten nicht, aber auch ihnen wurde klar, dass das Vermächtnis des Urknalls in einer allgegenwärtigen Hintergrundstrahlung bestehen sollte, die das All erfüllt.1 Im Gegensatz zu Gamow und seinen Mitstreitern war Dicke jedoch ein allgemein anerkannter Experimentalphysiker, und deshalb brauchte er niemanden zu überzeugen, sich mit geeigneten Beobachtungsinstrumenten auf die Suche nach der Strahlung zu machen. Er konnte selber auf die Suche gehen. Zusammen mit seinen Studenten David Wilkinson und Peter Roll entwickelte Dicke einen Versuchsaufbau, mit dem sie einige übrig gebliebene Photonen vom Urknall einfangen wollten. Aber bevor die Wissenschaftler in Princeton ihren Plan in die Tat umsetzen konnten, erhielten sie einen der berühmtesten Anrufe der Wissenschaftsgeschichte.
Während Dicke und Peebles ihre Berechnungen anstellten, hatten sich die Physiker Arno Penzias und Robert Wilson von den Bell Labs, die keine fünfzig Kilometer von Princeton entfernt lagen, mit einer Antenne herumgeschlagen (deren grundlegendes Konstruktionsprinzip übrigens in den vierziger Jahren von Dicke entwickelt worden war). Ganz gleich, welche Einstellungen sie vornahmen, immer war mit der Antenne ein gleichmäßiges Hintergrundrauschen zu hören. Penzias und Wilson waren überzeugt, mit ihren Apparaturen sei etwas nicht in Ordnung. Doch dann folgte durch glückliche Zufälle eine ganze Reihe von Gesprächen. Sie wurde durch einen Vortrag ausgelöst, den Peebles im Februar 1965 an der Johns Hopkins University hielt. Unter den Zuhörern war der Radioastronom Kenneth Turner von der Carnegie Institution, und der erwähnte die Befunde, die Peebles vorgetragen hatte, gegenüber seinem Kollegen Bernard Burke vom Massachusetts Institute of Technology. Burke wiederum stand in Kontakt mit Penzias von den Bell Labs. Als die Arbeitsgruppe an den Bell Labs von den Forschungsarbeiten in Princeton hörte, wurde den Beteiligten klar, dass ihre Antenne aus einem guten Grund rauschte: Sie fing die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung auf. Penzias und Wilson riefen bei Dicke an, und der bestätigte sehr schnell, dass sie unwissentlich den Widerhall des Urknalls hörbar gemacht hatten.
Die beiden Arbeitsgruppen einigten sich darauf, ihre Artikel gleichzeitig in dem angesehenen Fachblatt Astrophysical Journal zu veröffentlichen. Die Gruppe aus Princeton erläuterte ihre Theorie über den kosmologischen Ursprung der Hintergrundstrahlung, und das Team von den Bell Labs berichtete in höchst vorsichtigen Formulierungen und ohne jede Erwähnung der Kosmologie über die Entdeckung einer gleichmäßigen Mikrowellenstrahlung, die den Weltraum erfüllt. In keinem der beiden Aufsätze wurden die früheren Arbeiten von Gamow, Alpher und Herman erwähnt. Penzias und Wilson erhielten 1978 für ihre Entdeckung den Physik-Nobelpreis.
Gamow, Alpher und Herman waren zutiefst bestürzt und bemühten sich in den nachfolgenden Jahren mit aller Kraft um die Anerkennung ihrer Arbeiten. Erst allmählich und viel zu spät räumte die Fachwelt ihnen die Vorreiterrolle bei dieser epochemachenden Entdeckung ein.
Die gespenstische Einheitlichkeit uralter Photonen
In den Jahrzehnten seit ihrer Entdeckung ist die kosmische Hintergrundstrahlung für die Kosmologen zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel geworden. Der Grund liegt auf der Hand. In vielen Bereichen der Wissenschaft würden Forscher brennend gern einen ungehinderten, direkten Blick in die Vergangenheit werfen. In der Regel müssen sie stattdessen Überreste – verwitterte Fossilien, halb zerfallene Pergamente oder Mumien – untersuchen und daraus ein Bild der früheren Zeiten rekonstruieren. Die Kosmologie ist das einzige Fachgebiet, in dem wir tatsächlich Augenzeugen der Geschichte werden können. Die Lichtpunkte des Sternenhimmels, die wir mit bloßem Auge sehen können, sind Photonenströme, die einige Jahre oder Jahrtausende zu uns auf dem Weg waren. Das Licht noch weiter entfernter Objekte, das mit leistungsfähigen Teleskopen eingefangen wird, ist schon viel länger – manchmal seit Milliarden von Jahren – zu uns unterwegs. Wenn man derart altes Licht betrachtet, sieht man ganz buchstäblich in diese ferne Vergangenheit. Was dort passiert, spielt sich zwar weit von uns entfernt ab, aber die Gleichmäßigkeit des Universums spricht nachdrücklich dafür, dass das, was dort geschehen ist, im Durchschnitt auch in unserer kosmischen Heimatregion vor sich gegangen ist. Wenn wir nach oben blicken, blicken wir zurück.
Die Photonen der kosmischen Mikrowellenstrahlung eröffnen uns die Möglichkeit, diesen Blick in die Vergangenheit voll und ganz auszunutzen. Ganz gleich, wie weit die Technologie sich noch entwickeln mag, die Mikrowellenphotonen sind die ältesten, die wir je zu Gesicht bekommen können: Ihre noch älteren Vettern waren in dem Nebel, der in früheren Zeiten herrschte, gefangen. Wenn wir die Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung untersuchen, verschaffen wir uns direkte Informationen darüber, welche Verhältnisse vor fast 14 Milliarden Jahren herrschten.
Wie man aus Berechnungen weiß, flitzen heute rund 400 Millionen solcher kosmischen Mikrowellenphotonen durch jeden Kubikmeter des Weltraums. Mit den Augen können wir sie zwar nicht sehen, aber ein altmodischer Röhrenfernseher ist dazu in der Lage. Ungefähr ein Prozent des »Schnees«, der auf einem Fernsehgerät zu sehen ist, wenn es nicht an eine Antenne angeschlossen oder nicht auf die Frequenz eines aktiven Senders eingestellt ist, entsteht durch den Empfang der Urknall-Photonen. Es ist schon ein seltsamer Gedanke: Die Wellen, die endlose Wiederholungen von Ein Herz und eine Seele oder den Simpsons in unser Wohnzimmer bringen, sind mit einigen der ältesten Fossilien des Universums durchsetzt – ihre Photonen übermitteln ein Drama, das sich abspielte, als der Kosmos erst wenige hunderttausend Jahre alt war.
Die richtige Vorhersage des Urknallmodelle, wonach der Weltraum mit einer Mikrowellen-Hintergrundstrahlung angefüllt ist, war ein wissenschaftlicher Triumph. In nur dreihundert Jahren gelangte unsere Spezies, die zuvor nur durch einfache Fernrohre geblickt und Bälle von schiefen Türmen geworfen hatte, durch wissenschaftliches Denken und technischen Fortschritt zu einem Verständnis für physikalische Prozesse, die sich kurz nach der Geburt des Universums abgespielt haben. Die weitere Analyse der Daten warf allerdings auch eine offenkundige Schwierigkeit auf. Man nahm – nicht mit Fernsehgeräten, sondern mit einigen der genauesten jemals gebauten astronomischen Instrumente – immer feinere Messungen der Temperatur dieser Strahlung vor, und dabei stellte sich heraus, dass die Strahlung im gesamten Weltraum durch und durch und geradezu gespenstisch einheitlich ist. Ganz gleich, wohin man den Detektor richtet, die Temperatur der Strahlung liegt immer bei 2,275 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Die rätselhafte Frage lautet: Wie kam es zu einer solchen unglaublichen Einheitlichkeit?
Vor dem Hintergrund der in Kapitel 2 dargelegten Gedanken (und meiner Anmerkungen vier Absätze zuvor) kann ich schon hören, wie manch einer sagt: »Nun, da wirkt eben das kosmologische Prinzip. Kein Ort im Universum ist im Vergleich zu irgendeinem anderen etwas Besonderes, deshalb sollte auch die Temperatur überall gleich sein.« Stimmt schon. Aber erinnern wir uns: Das kosmologische Prinzip war eine vereinfachende Annahme, auf die Einstein und andere Physiker zurückgriffen, um die mathematische Analyse der Evolution des Universums besser handhaben zu können. Die Beobachtung, dass die kosmische Hintergrundstrahlung tatsächlich im gesamten Weltraum einheitlich ist, ist ein überzeugendes Indiz für die Richtigkeit des kosmologischen Prinzips, und sie stärkt unser Vertrauen in die Schlussfolgerungen, die mithilfe des Prinzips gezogen wurden. Die erstaunliche Einheitlichkeit der Strahlung rückt jedoch auch das kosmologische Prinzip selber ins Rampenlicht. Das kosmologische Prinzip mag sich vernünftig anhören, aber welcher Mechanismus hat im gesamten Kosmos für jene Einheitlichkeit gesorgt, die unsere Beobachtungen uns zeigen?
Schneller als die Lichtgeschwindigkeit
Schon jeder hatte einmal das leicht beunruhigende Erlebnis: Wir schütteln einem anderen die Hand und stellen fest, dass sie sehr warm (nicht so schlecht) oder eiskalt (eindeutig schlechter) ist. Würden wir aber die Hand festhalten, so könnten wir feststellen, dass der geringfügige Temperaturunterschied sehr schnell verschwindet. Wenn Gegenstände einander berühren, wandert Wärme von der wärmeren zur kälteren Seite, bis beide die gleiche Temperatur haben. Das erleben wir ständig. Aus diesem Grund kühlt sich der Kaffee, den wir auf dem Schreibtisch stehen lassen, irgendwann auf Raumtemperatur ab.
Mit ähnlichen Überlegungen, so scheint es, kann man auch die Einheitlichkeit der kosmischen Hintergrundstrahlung erklären. Wie bei festgehaltenen Händen und stehen gelassenem Kaffee dürfte sich in der Einheitlichkeit die altvertraute Rückkehr der Umgebung zu einer gemeinsamen Gesamttemperatur widerspiegeln. Das einzig Neue daran ist, dass diese Rückkehr über kosmische Entfernungen hinweg stattgefunden haben muss.
Aber in den Urknallmodellen versagt diese Erklärung.
Damit Orte oder Gegenstände eine gemeinsame Temperatur annehmen können, ist gegenseitiger Kontakt eine unabdingbare Voraussetzung. Dabei kann es sich wie beim Händeschütteln um einen direkten Kontakt handeln, zumindest müssen aber Informationen ausgetauscht werden, damit sich die Verhältnisse an verschiedenen Orten einander angleichen können. Nur durch gegenseitige Beeinflussung können sich gemeinsame Umgebungsbedingungen einstellen. Eine Thermosflasche ist dazu konstruiert, die für den Temperaturausgleich nötigen Wechselwirkungen zu verhindern: So behindert sie das Bestreben nach Einheitlichkeit und erhält den Temperaturunterschied aufrecht.
Diese einfache Beobachtung macht deutlich, welches Problem die naive Erklärung für die einheitliche Temperatur des Kosmos aufwirft. Orte im Weltraum, die sehr weit voneinander entfernt sind – beispielsweise ein Punkt sehr weit zu unserer Rechten und so weit von uns entfernt, dass das erste Licht, das er ausgesandt hat, uns gerade eben erreicht, und ein zweiter, ähnlich weit entfernter Punkt zu unserer Linken –, sind nie miteinander in Wechselwirkung getreten. Wir können zwar beide sehen, aber das Licht von jedem der beiden muss noch eine gewaltige Entfernung überbrücken, bevor es den jeweils anderen erreicht. Hypothetische Beobachter an diesen weit entfernten Punkten rechts und links von uns haben einander also noch nicht gesehen, und da die Lichtgeschwindigkeit für jede Bewegung das absolute Tempolimit darstellt, können sie noch nicht in Wechselwirkung getreten sein. Oder, um die Formulierung aus dem vorherigen Kapitel zu verwenden: Sie befinden sich jeweils hinter dem kosmischen Horizont des anderen.
Diese Beschreibung macht deutlich, worin das Rätsel besteht. Wenn Bewohner dieser weit entfernten Orte die gleiche Sprache sprechen würden und Bibliotheken mit den gleichen Büchern besäßen, wären wir sprachlos. Wie kann ohne Kontakt ein gemeinsames Erbe entstehen? Ebenso sprachlos wären wir, wenn wir erführen, dass solche weit voneinander getrennten Regionen auch ohne erkennbaren Kontakt eine gemeinsame Temperatur haben, die sich typischerweise auf bis zu drei Stellen nach dem Komma nicht voneinander unterscheidet.
Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal von diesem Rätsel erfuhr, war ich tatsächlich sprachlos. Bei weiterem Nachdenken war mir aber das Rätsel selbst ein Rätsel. Wie können zwei Objekte, die früher einmal dicht zusammen waren – was nach unserer Kenntnis zum Zeitpunkt des Urknalls für alle Dinge im beobachtbaren Universum gilt –, sich so schnell getrennt haben, dass Licht, das vom einen ausgesandt wird, das andere nicht mehr erreicht? Licht gibt das absolute Tempolimit vor. Wie also konnten die Objekte eine räumliche Entfernung zueinander erlangen, die größer ist als die Strecke, die das Licht in der gleichen Zeit zurücklegen kann?
Die Antwort macht einen Gedanken deutlich, der häufig nicht angemessen betont wird. Die vom Licht festgelegte Geschwindigkeitsbegrenzung gilt ausschließlich für die Bewegung von Objekten durch den Raum. Galaxien jedoch entfernen sich nicht voneinander, weil sie durch den Raum wandern würden – Galaxien haben keine Düsentriebwerke –, sondern weil der Raum selbst größer wird und weil die Galaxien von der Gesamtbewegung mitgezogen werden.2 Und tatsächlich erlegt die Relativitätstheorie der Geschwindigkeit, mit der der Raum expandieren kann, keine Begrenzung auf – das Tempo, mit dem die von der Ausdehnung auseinandergezogenen Galaxien sich voneinander entfernen, unterliegt also keiner Beschränkung. Die Bewegung, durch die sich zwei beliebige Galaxien voneinander entfernen, kann also jede Geschwindigkeit überschreiten, auch die des Lichtes.
Tatsächlich kann man mit den mathematischen Methoden der Allgemeinen Relativitätstheorie zeigen, dass der Raum sich in den allerersten Augenblicken des Universums so schnell ausdehnte, dass bestimmte Regionen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit auseinanderstoben. Deshalb konnten sie auch keinerlei Einfluss aufeinander ausüben. Die schwierige Frage lautet also: Wie konnten sich in voneinander unabhängigen Regionen des Kosmos die gleichen Temperaturen einstellen? Dieses Rätsel bezeichnet man in der Kosmologie als Horizontproblem.
Horizonterweiterung
Im Jahr 1979 kam Alan Guth (der damals am Stanford Linear Accelerator Center arbeitete) auf eine Idee, die zusammen mit späteren, entscheidenden Verfeinerungen durch Andrei Linde (damals als Forscher am Lebedew-Institut in Moskau tätig) sowie durch Paul Steinhardt und Andreas Albrecht (einen Professor und einen Studenten, die zu jener Zeit an der University of Pennsylvania arbeiteten) nach allgemeiner Einschätzung das Horizontproblem löste. Diese Lösung, kosmische Inflation genannt, greift auf einige raffinierte Aspekte von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie zurück, die ich in Kürze genauer beschreiben werde. In groben Umrissen kann man sie leicht zusammenfassen.
Für die herkömmlichen Urknallmodelle stellt das Horizontproblem eine Schwierigkeit dar, weil die Raumregionen sich so schnell voneinander entfernen, dass sich keine thermische Gleichförmigkeit einstellen kann. Die Inflationsmodelle lösen dieses Problem, indem sie für den allerersten Anfang von einer sehr viel geringeren Expansionsgeschwindigkeit ausgehen, so dass den Regionen genug Zeit blieb, die gleiche Temperatur anzunehmen. Nachdem dieses »kosmische Händeschütteln« abgeschlossen war, gab es der Theorie zufolge eine kurze Phase ungeheuer schneller, sich immer stärker beschleunigender Ausdehnung – die Inflationsphase –, die den langsamen Anfang mehr als wettmachte und die betreffenden Regionen schnell in sehr weit voneinander entfernte Positionen beförderte. Damit stellen die beobachteten, einheitlichen Bedingungen kein Rätsel mehr dar: Die gemeinsame Temperatur stellte sich ein, bevor die Regionen schnell auseinandergetrieben wurden.3 Das ist die Grundidee der Inflationsmodelle. d
Dabei gilt es aber zu bedenken, dass Physiker dem Universum nicht vorschreiben können, wie schnell es sich auszudehnen hat. So weit wir es aufgrund unserer besten Beobachtungen beurteilen können, gelten dafür Einsteins Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Ob das Inflationsszenario möglich ist, hängt also davon ab, ob sich die darin vorgeschlagene Abwandlung der herkömmlichen kosmischen Expansion in den von Einstein vorgegebenen mathematischen Rahmen einfügt. Das ist auf den ersten Blick alles andere als klar.
In einem bin ich mir zum Beispiel ziemlich sicher: Würden wir Newton heute mit einer fünfminütigen Einführung über die Allgemeine Relativitätstheorie auf den neuesten Stand bringen und ihm in groben Zügen den gekrümmten Raum und das expandierende Universum erklären, würde er die nachfolgende Beschreibung über die Vorstellung von der Inflation ziemlich absurd finden. Newton würde steif und fest behaupten, die Gravitation sei ungeachtet aller raffinierten mathematischen Verfahren und neumodischen Einsteinschen Formulierungen nach wie vor eine Anziehungskraft. Die Gravitation, so würde er mit einem Faustschlag auf den Tisch behaupten, ziehe demnach alle Objekte zueinander hin, so dass sie jede kosmische Expansion verlangsamt. Eine Expansion, die zögernd beginnt und sich dann für kurze Zeit stark beschleunigt, möge zwar das Horizontproblem lösen, sei aber reines Wunschdenken. Newton würde erklären: Genau wie die Gravitationsanziehung dafür sorgt, dass die Geschwindigkeit eines geschlagenen Baseballs sich auf dem Weg nach oben verringert, so besagt sie auch, dass die kosmische Ausdehnung im Laufe der Zeit abgebremst werden muss. Und wenn die Expansionsrate schließlich bis auf Null zurückgegangen ist, muss die Expansion in ein kosmisches Sich-Zusammenziehen übergehen; diese Implosion kann sich dann im Laufe der Zeit beschleunigen, ganz ähnlich wie die Geschwindigkeit des Balls auf dem Weg zur Erde immer weiter ansteigt. Aber die Geschwindigkeit der nach außen gerichteten Expansion des Raums kann nicht weiter ansteigen.
Damit begeht Newton einen Fehler, den man ihm jedoch nicht vorwerfen kann. Der Haken liegt in der stark verkürzten Zusammenfassung der Allgemeinen Relativitätstheorie, die wir ihm vermittelt haben. Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass wir uns in nur fünf Minuten (von denen eine dazu dient, den Baseball zu erklären) auf die gekrümmte Raumzeit als Verkörperung der Gravitation konzentriert haben. Newton selbst hatte darauf aufmerksam gemacht, dass man keinen Mechanismus für eine Übertragung der Gravitation kennt, und hatte dies immer als große Lücke in seiner eigenen Theorie betrachtet. Natürlich wollten wir ihm Einsteins Lösung zeigen. Aber Einsteins Gravitationstheorie beschränkte sich bei Weitem nicht darauf, eine Lücke in der Newtonschen Physik zu schließen, und in unserem Zusammenhang verdient ein anderer Aspekt besondere Betonung.
In Newtons Theorie ergibt sich die Stärke der Gravitationsanziehung ausschließlich aus der Masse eines Objekts. Je größer die Masse, desto größer ist auch die Anziehungskraft des Objekts. In Einsteins Theorie ergibt sich die Stärke der Gravitation aus Masse (und Energie) eines Objekts sowie aus seinem Druck. Angenommen, wir wiegen einen verschlossenen Beutel voller Kartoffelchips. Dann wiegen wir ihn noch einmal, aber dieses Mal quetschen wir den Beutel so zusammen, dass die Luft darin unter hohem Druck steht. Nach Newton ist das Gewicht beide Male gleich, denn die Masse hat sich nicht verändert. Nach Einstein dagegen wiegt der zusammengequetschte Beutel ein wenig mehr, da die Masse zwar gleich geblieben ist, der Druck aber zugenommen hat.4 Im Alltag bemerken wir das nicht, weil der Effekt für gewöhnliche Gegenstände ungeheuer gering ist. Aber die Allgemeine Relativitätstheorie und die Experimente, mit denen sie bestätigt wurde, besagen ganz eindeutig, dass der Druck zur Gravitation beiträgt.
Diese Abweichung von Newtons Theorie ist von entscheidender Bedeutung. Luftdruck, ob in einem Beutel mit Kartoffelchips, einem aufgeblasenen Luftballon oder dem Zimmer, in dem Sie jetzt gerade lesen, ist immer positiv – das heißt, die Luft drückt nach außen. Nach der Allgemeinen Relativitätstheorie trägt positiver Druck ebenso wie positive Masse auch positiv zur Gravitation bei, was zu einem höheren Gewicht führt. Während aber Masse immer positiv ist, kann Druck in manchen Situationen negativ sein. Stellen wir uns beispielsweise ein gedehntes Gummiband vor. Seine gestreckten Moleküle drücken nicht nach außen, sondern sie ziehen nach innen und üben damit einen negativen Druck aus, wie die Physiker ihn nennen (ein anderer Ausdruck dafür ist Spannung). Und genau wie die Allgemeine Relativitätstheorie zeigt, dass positiver Druck anziehende Gravitation entstehen lässt, so zeigt sie auch, dass negativer Druck das Gegenteil erzeugt: abstoßende Gravitation.
Abstoßende Gravitation?
Das würde Newton umhauen. Für ihn war Gravitation ausschließlich eine Anziehungskraft. Aber wir können ruhig stehen bleiben: Diese seltsame Klausel im Vertrag der Allgemeinen Relativitätstheorie mit der Gravitation ist uns bereits begegnet. Erinnern wir uns noch einmal an Einsteins kosmologische Konstante, von der im vorangegangenen Kapitel die Rede war. Wie ich dort erläutert habe, führt die kosmologische Konstante eine im Raum gleichmäßig verteilte Energie ein und erzeugt, wenn man ihren Wert geeignet wählt, abstoßende Gravitation. Bei dieser ersten Begegnung hatte ich aber nicht erklärt, wie das funktioniert. Das kann ich jetzt nachholen. Eine kosmologische Konstante verleiht dem Raum nicht nur Energie, deren Dichte durch den Wert der Konstante (der Zahl in der dritten Zeile der zweifelhaften Relativitäts-Steuererklärung) bestimmt wird, sondern sie erfüllt den Raum auch mit einem einheitlichen negativen Druck (warum, werden wir in Kürze erfahren). Und wie gerade erwähnt, hat negativer Druck im Hinblick auf die jeweils entstehende Gravitationskraft die umgekehrte Wirkung wie positive Masse und positiver Druck: Er lässt abstoßende Gravitation entstehen.e
Einstein nutzte die abstoßende Gravitation nur für einen einzigen, falschen Zweck. Er schlug vor, man solle den negativen Druck, der sich durch das All zieht, extrem präzise auf die Gegebenheiten abstimmen und damit sicherstellen, dass die abstoßende Gravitation ein genaues Gegengewicht zu der Gravitationsanziehung bildet, die von der im Universum enthaltenen herkömmlichen Materie ausgeht; dann würde sich insgesamt ein unveränderliches Universum ergeben. Wie wir bereits erfahren haben, widerrief er später diesen Gedanken. Sechs Jahrzehnte später formulierten die Urheber der Inflationsmodelle eine Form der abstoßenden Gravitation, die sich von Einsteins Version ungefähr ebenso stark unterscheidet wie das Finale von Mahlers Achter Symphonie vom Summen einer Stimmgabel. Statt des bescheidenen, stetigen Drucks nach außen, der das Universum stabilisieren würde, postulieren die Inflationsmodelle eine kurze Phase ungeheuer starker abstoßender Gravitation. Zuvor hatten die Raumregionen mehr als genug Zeit gehabt, um die gleiche Temperatur anzunehmen, und während der Inflationsphase überwanden sie so gewaltige Distanzen, dass sie ihre heutigen Positionen am Himmel einnehmen konnten.
An dieser Stelle würde Newton uns sicher einen weiteren missbilligenden Blick zuwerfen. Als ewiger Skeptiker würde er in der Erklärung eine weitere Schwierigkeit finden. Nachdem er einen Schnelldurchgang durch die gängigen Lehrbücher hinter sich gebracht und damit auch die komplizierteren Details der Allgemeinen Relativitätstheorie begriffen hat, dürfte er wohl die seltsame Tatsache anerkennen, dass Gravitation – im Prinzip – auch eine Abstoßungskraft sein kann. Aber, so würde er fragen, was soll eigentlich das ganze Gerede über negativen Druck, der sich durch den Raum zieht? Den Zug eines gedehnten Gummibandes als Beispiel für negativen Druck anzuführen, ist das eine. Ganz etwas anderes ist aber die Argumentation, der Raum sei vor Jahrmilliarden, ungefähr zur Zeit des Urknalls, für kurze Zeit von einem gewaltigen, einheitlichen negativen Druck erfüllt gewesen. Welches Ding, welcher Prozess oder welches Gebilde ist in der Lage, einen so flüchtigen und doch so allumfassenden negativen Druck auszuüben?
Die Pioniere der Inflationsmodelle vollbrachten die geniale Leistung, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Wie sie nachweisen konnten, ergibt sich der negative Druck, der für eine Welle der abstoßenden Gravitation notwendig ist, ganz natürlich aus einem neuartigen Mechanismus, bei dem sogenannte Quantenfelder eine Rolle spielen. In unserem Zusammenhang sind die Details von entscheidender Bedeutung, denn der Weg, auf dem es zur inflationären Expansion kommt, spielt für die aus den Inflationsmodellen erwachsenden Paralleluniversen eine entscheidende Rolle.
Quantenfelder
Zu Newtons Zeit beschäftigte sich die Physik mit der Bewegung von Gegenständen, die man sehen kann, Steinen, Kanonenkugeln, Planeten. Dieses Thema spiegelt sich auch in den Gleichungen wider, die er entwickelte. Newtons Bewegungsgesetze verkörpern in mathematischer Form eine Antwort auf die Frage, wie solche greifbaren Körper sich bewegen, wenn sie gestoßen, gezogen oder durch die Luft geschossen werden. Über ein Jahrhundert lang war das ein großartiger, fruchtbarer Ansatz. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts jedoch setzte der britische Wissenschaftler Michael Faraday ein Umdenken in Gang: Er entwickelte den schwer fassbaren, aber nachweislich höchst nützlichen Begriff des Feldes.
Nehmen wir einen starken Magneten von der Magnettafel und halten wir ihn ein paar Zentimeter über eine Büroklammer. Was dann geschieht, weiß jeder: Die Büroklammer springt in die Höhe und bleibt an der Oberfläche des Magneten kleben. Diese Vorführung ist so alltäglich, so ganz und gar vertraut, dass man leicht übersieht, was für ein bizarrer Vorgang das ist. Ohne die Büroklammer zu berühren, sorgt der Magnet dafür, dass sie sich bewegt. Wie ist das möglich? Wie kann ohne jeden Kontakt ein Einfluss ausgeübt werden? Diese und eine Fülle ähnlicher Überlegungen veranlassten Faraday zu seinem Postulat: Der Magnet selbst berührt die Büroklammer zwar nicht, er erzeugt aber etwas, das sie berührt. Dieses Etwas bezeichnete Faraday als Magnetfeld.
Die Felder, die von Magneten erzeugt werden, können wir nicht sehen und nicht hören; keines unserer Sinnesorgane ist auf sie abgestimmt. Aber daran zeigen sich lediglich unsere physiologischen Beschränkungen, mehr nicht. Ähnlich wie eine Flamme Wärme erzeugt, erzeugt ein Magnet ein magnetisches Feld. Das Magnetfeld reicht über den Magneten selbst in den Raum hinaus und ist damit eine Art »Nebel« oder eine »Essenz«, die den Raum erfüllt und nach der Pfeife des Magneten tanzt.
Magnetfelder sind nur eine Form von Feldern. Andere werden von geladenen Teilchen erzeugt: elektrische Felder, die beispielsweise dafür verantwortlich sind, dass wir manchmal einen elektrischen Schlag bekommen, wenn wir in einem Zimmer mit einem Teppichboden aus Wolle einen Metalltürknauf anfassen. Faradays Experimente führten zu der unerwarteten Erkenntnis, dass elektrische und magnetische Felder eng zusammenhängen: Wie er feststellte, erzeugt ein zeitlich veränderliches elektrisches Feld ein Magnetfeld, und umgekehrt. Ende des neunzehnten Jahrhunderts lieferte James Clerk Maxwell eine mathematische Begründung für solche Befunde: Er beschrieb elektrische und magnetische Felder mithilfe von Zahlen, die jedem Punkt im Raum zugeordnet werden; in den Zahlenwerten spiegelt sich die Fähigkeit des Feldes wider, an dem betreffenden Ort im Raum einen Einfluss auszuüben. An Orten im Raum, an denen die Zahlenwerte des Magnetfeldes so groß sind wie beispielsweise im Hohlraum eines Kernspintomographen, spüren Gegenstände aus Metall einen starken Zug oder Druck. An Orten im Raum, an denen die Zahlenwerte eines elektrischen Feldes groß sind wie beispielsweise im Inneren einer Gewitterwolke, können kräftige elektrische Entladungen stattfinden.
Maxwell entdeckte einen Satz von Gleichungen, die heute seinen Namen tragen. Sie sagen etwas darüber aus, wie die Stärke elektrischer und magnetischer Felder sich von einem Punkt im Raum zum anderen und von einem Zeitpunkt zum anderen unterscheiden. Genau die gleichen Gleichungen gelten für das Meer der selbstständig oszillierenden elektrischen und magnetischen Felder, der sogenannten elektromagnetischen Wellen, von denen wir alle umgeben sind. Wenn wir ein Handy, ein Radio oder einen drahtlos vernetzten Computer einschalten, stellen die von diesen Geräten empfangenen Signale einen winzigen Anteil aus dem Dickicht der elektromagnetischen Übertragungen dar, die in aller Stille in jeder Sekunde an uns vorüber- und durch uns hindurchlaufen. Und was am verblüffendsten ist: Maxwells Gleichungen zeigen, dass auch sichtbares Licht eine elektromagnetische Welle ist, und zwar eine, für die wir im Laufe der Evolution ein geeignetes Sinnesorgan entwickelt haben: Unsere Augen können diese Sorte elektromagnetischer Wellen direkt wahrnehmen.
In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vereinigten Physiker das Konzept der Felder mit ihrem wachsenden Kenntnisstand über die Welt des Allerkleinsten, der sich in der Quantenmechanik verkörpert. Das Ergebnis, Quantenfeldtheorie genannt, bildet einen mathematischen Rahmen für die derzeit am weitesten entwickelten Theorien über Materie und Naturkräfte. Von diesen Theorien geleitet, konnten Physiker nachweisen, dass es neben elektrischen und magnetischen Feldern noch eine ganze Reihe weiterer gibt; sie tragen Namen wie starke und schwache Kernfelder sowie Elektronen-, Quark- und Neutrinofelder. Ein Feld, das bis heute rein hypothetischer Natur ist, das Inflatonfeld, könnte die Antriebskraft der kosmischen Inflation liefern.f
Quantenfelder und Inflation
Felder besitzen Energie. Qualitativ wissen wir das, weil Felder Aufgaben erfüllen, die Energie erfordern: Sie sorgen beispielsweise dafür, dass Gegenstände (zum Beispiel Papierschnipsel) sich bewegen. Quantitativ zeigen uns die Gleichungen der Quantenfeldtheorie, wie man die in einem Feld enthaltene Energiemenge berechnen kann, wenn man an jedem Ort den Zahlenwert des Feldes kennt. Je größer diese Zahlenwerte sind, desto größer ist in der Regel auch die Energie. Der Zahlenwert eines Feldes kann von Ort zu Ort unterschiedlich sein, wenn er aber überall gleich ist (wenn also allen Orten der gleiche Zahlenwert zugeordnet ist), dann enthält der Raum auch an allen Stellen die gleiche Energie. Hier gewann Guth die entscheidende Erkenntnis: Eine solche einheitliche Feldkonfiguration erfüllt den Raum nicht nur mit einheitlicher Energie, sondern auch mit einem einheitlichen negativen Druck. Damit hatte Guth einen physikalischen Mechanismus gefunden, der abstoßende Gravitation erzeugt.
Wenn man erkennen will, warum ein einheitliches Feld negativen Druck liefert, kann man sich zunächst einmal eine vertrautere Situation mit positivem Druck vorstellen: das Öffnen einer Flasche Dom Pérignon. Wenn man langsam den Korken herauszieht, spürt man, wie der positive Druck des Kohlendioxids im Champagner nach außen drückt: Er presst den Korken aus der Flasche und in unsere Hand. Wie man dabei sofort sieht, entzieht diese auswärts gerichtete Bewegung dem Champagner ein wenig Energie. Fast jeder hat wohl schon einmal die Dampfschwaden gesehen, die aus dem Flaschenhals steigen, wenn der Korken herausgezogen wurde. Sie entstehen, weil der Verlust der Energie, die der Champagner beim Herausdrücken des Korkens aufgewendet hat, die Temperatur sinken lässt; das wiederum führt ganz ähnlich wie bei unserem Atem an einem Wintertag dazu, dass der Wasserdampf in der Umgebung kondensiert.
Jetzt stellen wir uns vor, dass wir an die Stelle des Champagners etwas weniger Festliches, dafür aber didaktisch Wertvolleres setzen: ein Feld, dessen zugeordneter Zahlenwert in der ganzen Flasche der gleiche ist. Wenn wir dieses Mal den Korken herausziehen, passiert etwas ganz anderes. Sobald wir den Korken nach außen bewegen, schaffen wir in der Flasche ein wenig zusätzliches Volumen, das von dem Feld durchdrungen werden kann. Da einem konstanten Feld an jeder Stelle die gleiche Energie entspricht, wird die Gesamtenergie in der Flasche umso größer, je größer das vom Feld ausgefüllte Volumen ist. Im Gegensatz zum Champagner führt das Herausziehen des Korkens hier also dazu, dass das Flascheninnere an Energie gewinnt.
Wie kann das sein? Woher kommt die Energie? Nun, denken wir einmal daran, was geschieht, wenn der Inhalt der Flasche den Korken nicht nach außen drückt, sondern nach innen zieht. Dann muss man am Korken ziehen, um ihn zu entfernen – ein Arbeitsaufwand, durch den Energie von unseren Muskeln auf den Flascheninhalt übertragen wird. Um die Zunahme der Energie in der Flasche zu erklären, müssen wir also zu dem Schluss gelangen, dass ein konstantes Feld nicht wie Champagner nach außen drückt, sondern nach innen zieht. Das aber entspricht exakt der Aussage, dass ein konstantes Feld keinen positiven, sondern einen negativen Druck erzeugt.
Auch wenn es keinen Sommelier gibt, der den Kosmos entkorkt, gilt hier die gleiche Erkenntnis: Wenn ein Feld – in diesem Fall das hypothetische Inflatonfeld – in einer Raumregion einen konstanten Wert hat, erfüllt es diese Region nicht nur mit Energie, sondern auch mit negativem Druck. Und wie wir mittlerweile wissen, liefert ein solcher negativer Druck abstoßende Gravitation, die eine sich ständig beschleunigende Expansion des Raumes antreibt. Als Guth in Einsteins Gleichungen für Energie und Druck des Inflatons die Zahlenwerte eintrug, die dem extremen Umfeld des frühen Universums entsprechen sollten, führten ihn seine Rechnungen zu der Erkenntnis, dass daraus eine ungeheuer starke abstoßende Gravitation erwächst. Sie war um viele Zehnerpotenzen stärker als die Abstoßungskraft, die Einstein sich Jahre zuvor in seinen Gedankenspielen mit der kosmologischen Konstante vorgestellt hatte, und sie würde eine spektakulär rasche Expansion des Raumes herbeiführen. Schon das war spannend. Wie Guth aber außerdem erkannte, ergab sich zwangsläufig noch ein weiterer wichtiger Nutzen.
Die gleichen Überlegungen, mit denen man erklären kann, warum ein konstantes Feld einen negativen Druck hat, treffen auch auf eine kosmologische Konstante zu. (Wenn die Flasche leeren Raum enthält, dessen kosmologische Konstante ungleich null ist, und wenn man dann den Korken langsam herauszieht, trägt der dadurch verfügbare zusätzliche Raum in der Flasche zusätzliche Energie bei. Die einzige Quelle für diese Energie sind unsere Muskeln, die demnach gegen einen nach innen gerichteten, negativen Druck anarbeiten mussten, der von der kosmologischen Konstante ausgeht.) Und wie das konstante Feld, so erzeugt auch der einheitliche negative Druck der kosmologischen Konstante abstoßende Gravitation. Das Entscheidende sind hier allerdings nicht die Ähnlichkeiten, sondern die Aspekte, in denen sich eine kosmologische Konstante und ein konstantes Feld unterscheiden.
Eine kosmologische Konstante ist genau das: eine Konstante, ein Zahlenwert, der in der dritten Zeile der Relativitätstheorie-Steuererklärung eingetragen wurde und heute die gleiche abstoßende Gravitation erzeugt wie vor Jahrmilliarden. Der Wert eines Feldes dagegen kann sich mit der Zeit verändern und tut das in der Regel auch. Wenn wir den Mikrowellenofen einschalten, verändern wir das elektromagnetische Feld in seinem Innenraum; wenn eine Assistentin den Kernspintomographen einschaltet, verändert sie das elektromagnetische Feld in seinem Hohlraum. Ähnlich, so Guths Erkenntnis, könnte sich auch ein Inflatonfeld verhalten, das den Raum erfüllt – es wird für die Dauer der Inflationsphase ein- und dann gleich wieder ausgeschaltet; damit würde die Möglichkeit geschaffen, dass die abstoßende Gravitation nur während eines kurzen Zeitraums wirksam ist. Das ist von entscheidender Bedeutung. Eines ist aufgrund der Beobachtungen klar: Wenn das plötzliche Wachstum des Raumes überhaupt stattgefunden hat, muss es sich vor Jahrmilliarden abgespielt haben, und anschließend muss die Expansionsrate stark zurückgegangen sein, so dass sich die gemächlichere Ausdehnung einstellte, die man heute durch genaue astronomische Messungen nachweisen kann. Der Inflationsgedanke hat also den entscheidenden Aspekt, dass die starke abstoßende Gravitation nur während einer vorübergehenden Ära herrschte.
Der Mechanismus, durch den die Welle der Inflation ein- und wieder ausgeschaltet wurde, geht auf ein physikalisches Szenario zurück, das ursprünglich von Guth entwickelt worden war; beträchtlich verfeinert wurde es später von Albrecht und Steinhardt. Um uns einen Eindruck von ihrem Vorschlag zu verschaffen, können wir uns eine Kugel oder, noch besser, den fast kugelrunden Eric Cartman aus der Zeichentrickserie South Park vorstellen, der wackelig auf einem der schneebedeckten Berge von South Park kauert. Ein Physiker würde sagen: In dieser Lage wohnt Cartman eine beträchtliche Energie inne. Genauer gesagt, besitzt er potenzielle Energie, also Energie, die ohne Weiteres angezapft werden kann – am einfachsten dadurch, dass er bergab rollt, wobei sich die potenzielle Energie in Bewegungsenergie (kinetische Energie) verwandelt. Wie wir aus Erfahrung wissen und mit den Gesetzen der Physik genau beschreiben können, ist dies ein typischer Vorgang. Ein System, das potenzielle Energie enthält, wird jede Gelegenheit nutzen, diese Energie freizusetzen. Oder, kurz gesagt: Dinge fallen nach unten.

Abbildung 3.1 Die in einem Inflatonfeld enthaltene Energie (senkrechte Achse) für verschiedene Werte des Feldes (waagerechte Achse).
Auch die Energie in einem Feld, das nicht den Wert null hat, ist potenzielle Energie: Man kann sie anzapfen, und das führt zu einer exakten Analogie zu Cartman. Wie rasch Cartmans potentielle Energie ansteigt, wenn er den Berg hinaufklettert, hängt von der Form der Böschung ab – in flachem Gelände verändert sich die potenzielle Energie beim Gehen nur geringfügig, weil er kaum an Höhe gewinnt; ist der Abhang steil, steigt die potenzielle Energie während seines Aufstiegs schnell an. Die potenzielle Energie eines Feldes kann man grafisch in einer Weise beschreiben, die an Cartmans Hügel erinnert: mithilfe einer sogenannten Potenzialkurve. Ein Beispiel ist in Abbildung 3.1 dargestellt; die Kurve zeigt an, wie sich die potenzielle Energie eines Feldes in Abhängigkeit von seinem Wert verändert.
Machen wir es nun einmal wie die Pioniere der kosmischen Inflation und stellen wir uns vor, dass der Raum in den ersten Augenblicken des Kosmos von einem gleichförmigen Inflatonfeld erfüllt ist, dessen Werte einer großen Menge potenzieller Energie entsprechen. Und, so legen uns diese Physiker nahe, stellen wir uns weiterhin vor, dass die Potenzialkurve sich (wie in Abbildung 3.1) abflacht und ein sanftes Plateau bildet, so dass das Inflaton sich irgendwo in der Nähe des Höchstwertes befinden kann. Was geschieht unter diesen hypothetischen Bedingungen?
Zwei Dinge, und beide sind von entscheidender Bedeutung. Wenn sich das Inflaton auf dem Plateau befindet, erfüllt es den Raum mit einer großen potenziellen Energie und negativem Druck, die eine kurze Phase heftiger inflationärer Expansion antreiben. Aber genau wie Cartman seine potenzielle Energie freisetzt, indem er den Abhang hinunterrollt, so setzt auch das Inflaton seine potenzielle Energie frei, wenn sein Feld (über den ganzen Raum hinweg) zu immer geringeren Werten hin abnimmt. Damit verflüchtigen sich auch die in ihm enthaltene Energie und der negative Druck, so dass die Phase der raschen Expansion zu Ende geht. Ebenso wichtig ist, dass die vom Inflatonfeld freigesetzte Energie natürlich nicht verloren geht – wie ein Dampfstrom, der sich abkühlt und dabei zu Wassertropfen kondensiert, so kondensiert auch die Energie des Inflatons zu einem Sammelsurium aus Teilchen, die den Raum in einheitlicher Weise ausfüllen. Dieser zweistufige Prozess – eine kurze, aber sehr schnelle Expansion, gefolgt von der Umwandlung der Energie in Teilchen – lässt eine riesige, räumliche Weite mit einheitlichen Eigenschaften entstehen, die mit dem Rohstoff für vertraute Strukturen wie Sterne und Galaxien angefüllt ist.
Die genauen Details sind abhängig von Faktoren, die man bisher weder durch theoretische Überlegungen noch durch Beobachtungen ermitteln konnte (der Anfangswert des Inflatonfelds, die genaue Form der Potenzialkurve und so weiter),5 aber in typischen Vertretern der Inflatonmodelle zeigen die mathematischen Berechnungen, dass die Energie des Inflatons in einem winzigen Sekundenbruchteil – einem Zeitraum in der Größenordnung von 10-35 Sekunden – die Böschung hinunterrollt. Während dieses kurzen Zeitraums dehnt sich der Raum um einen ungeheuren Faktor von vielleicht 1030 oder noch mehr aus. Das sind derart extreme Zahlen, dass man dafür keinen Vergleich finden kann. Sie besagen, dass eine Raumregion von der Größe einer Erbse sich zu Ausmaßen aufbläht, die größer sind als das ganze heute sichtbare Universum, und zwar in einem derart kurzen Zeitraum, dass man ihn mit einem Augenzwinkern um einen Faktor von mehr als einer Million Milliarden Milliarden Milliarden überschätzen würde.
So schwierig es auch sein mag, sich solche Größenordnungen vorzustellen, entscheidend ist etwas anderes: Die Raumregion, aus der das beobachtbare Universum hervorging, war so klein, dass sie ohne Weiteres eine einheitliche Temperatur annehmen konnte, bevor sie sich durch die schnelle Aufblähung zu ihrer jetzigen kosmischen Größe erweiterte. Die inflationäre Expansion und Jahrmilliarden der nachfolgenden kosmologischen Evolution führten dazu, dass diese Temperatur beträchtlich absank, aber die einmal erreichte Gleichförmigkeit ist bis heute bestehen geblieben. Damit ist die rätselhafte Frage, wie die beobachtbare Gleichförmigkeit des Kosmos entstanden ist, beantwortet. Den Inflationsmodellen zufolge muss die Temperatur im gesamten beobachtbaren Weltraum zwangsläufig mit großer Genauigkeit die gleiche sein.6
Immerwährende Inflation
In den nahezu drei Jahrzehnten seit ihrer Entdeckung ist die Inflation zu einem festen Bestandteil der gängigen kosmologischen Modelle geworden. Wenn man sich aber vom Spektrum der Forschungstätigkeit ein zutreffendes Bild machen will, sollte man sich bewusst sein, dass die Inflation zwar einen Rahmen vorgibt, aber kein eindeutiges kosmologisches Modell darstellt. Auch bei der Inflation führen viele Wege zum Ziel; sie unterscheiden sich in Details wie der Zahl der Inflatonfelder, die den negativen Druck erzeugen, dem Verlauf der Potenzialkurven für die einzelnen Felder und einigem mehr. Glücklicherweise haben die vielfältigen Spielarten der Inflation einige Gemeinsamkeiten, so dass wir auch ohne eine definitive Version unsere Schlussfolgerungen ziehen können.
Eine davon, die erstmals von Alexander Vilenkin von der Tufts University in vollem Umfang erkannt und später von anderen, insbesondere von Linde, weiterentwickelt wurde, ist von großer Bedeutung.7 Ihretwegen habe ich die erste Hälfte dieses Kapitels darauf verwendet, das Gedankengebäude der Inflation zu erläutern.
In vielen Inflationsmodellen ist die Phase rascher, beschleunigter Expansion kein einmaliges Ereignis. Der Prozess, durch den unsere Region des Universums entstanden ist – rasche Expansion des Raumes, gefolgt vom Übergang zu einer eher normalen, langsameren Expansion in Verbindung mit der Entstehung von Teilchen –, kann sich in weit voneinander entfernten Abschnitten des Kosmos immer und immer wieder wiederholen. Aus der Vogelperspektive würde es dann so aussehen, als sei der Kosmos mit unzähligen, weit voneinander entfernten Regionen übersät, von denen jede das Ergebnis einer eigenen Inflationsphase ist. Unser Bereich, den wir immer für das Universum gehalten haben, wäre demnach nur eine dieser vielen Regionen, und er würde in einer viel größeren Weite schweben. Wenn es in den anderen Regionen intelligentes Leben gibt, würden diese Wesen mit der gleichen Sicherheit ihr Universum ebenfalls für das Universum halten. Die Inflationsmodelle führen uns geradewegs zur zweiten Variation über das Thema Paralleluniversen.
Um zu verstehen, wie es zu dem inflationären Multiversum kommt, müssen wir uns mit zwei Komplikationen beschäftigen, über die ich in meinem Vergleich mit Cartman hinweggegangen bin.
Erstens ist das Bild von dem hoch auf einem Berggipfel kauernden Cartman eine Analogie zu einem Inflatonfeld, das eine beträchtliche potenzielle Energie und negativen Druck enthält, so dass es im Begriff steht, zu niedrigeren Werten hinunterzurollen. Aber während Cartman auf einem einzigen Gipfel thront, hat das Inflatonfeld an jeder Stelle im Raum einen Wert. Die Theorie postuliert, dass das Inflatonfeld innerhalb einer Anfangsregion an jeder Stelle zunächst den gleichen Wert hat. Wollen wir unsere Analogie präzisieren, dann gelangen wir zu einem eher seltsamen Bild: viele Cartman-Klone sitzen innerhalb eines Raumbereiches auf vielen dicht nebeneinander stehenden, genau gleich aussehenden Berggipfeln.
Und zweitens war bisher noch kaum von der Quantennatur der Quantenfeldtheorie die Rede. Wie alles in unserem Quantenuniversum, so unterliegt auch das Inflatonfeld der Unschärferelation. Sein Wert unterliegt also zufälligen Fluktuationen, steigt zwischenzeitlich hier ein wenig an und sinkt dort ein wenig ab. In Alltagssituationen sind die Quantenfluktuationen so gering, dass man sie nicht bemerkt. Wie man aber durch Berechnungen zeigen kann, werden die durch die Unschärferelation verursachten Fluktuationen umso größer, je mehr Energie das Inflaton besitzt. Und da der Energiegehalt des Inflatons während der Inflationsphase sehr hoch war, erlebte das frühe Universum entsprechend große Fluktuationen.8
Wir sollten uns also nicht nur eine Kompanie von Cartmans ausmalen, die hoch oben auf gleichartigen Berggipfeln sitzen, sondern wir sollten uns auch vorstellen, dass sie alle einer zufälligen Folge von Erdbeben ausgesetzt sind – hier stärker, dort schwächer, da drüben vielleicht sehr stark. Mit diesem Szenario können wir nun feststellen, was geschehen wird. Die einzelnen Cartman-Klone bleiben unterschiedlich lange auf ihren Berggipfeln sitzen. An manchen Stellen wirft ein starkes Erdbeben die meisten von ihnen den Abhang hinunter; an anderen geraten nur wenige von ihnen durch ein schwaches Erdbeben ins Trudeln, und an wieder anderen werden manche von ihnen, die bereits im Herunterrollen begriffen waren, durch ein starkes Erdbeben wieder nach oben geschleudert. Nach einiger Zeit ist das Gelände in eine Zufallsanordnung verschiedener Regionen unterteilt wie die Vereinigten Staaten in ihre Bundesstaaten. In manchen davon sitzt überhaupt kein Cartman mehr auf den Berggipfeln, in anderen harren noch viele Cartmans auf ihren Aussichtspunkten aus.
Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt man wegen der zufälligen Natur der Quantenfluktuation auch für das Inflatonfeld. Dieses befindet sich zu Beginn überall im Raum ganz oben auf der Energieböschung. Die Quantenfluktuationen wirken dann wie Erdbeben. Wie man in Abbildung 3.2 erkennt, gliedert sich die Weite des Raumes aus diesem Grund schon wenig später in Bereiche mit unterschiedlichen Eigenschaften: In manchen davon sorgen die Quantenfluktuationen dafür, dass das Feld den Abhang hinunterrollt, in anderen bleibt es oben.
So weit, so gut. Aber jetzt gut aufgepasst: An dieser Stelle besteht zwischen Kosmologie und Cartmans ein Unterschied. Ein Feld, das sich ganz im oberen Bereich seiner Energiekurve befindet, übt auf sein Umfeld einen viel größeren Einfluss aus als ein Cartman in ähnlicher Position. An unserem altbekannten Mantra – die einheitliche Energie und der negative Druck eines Feldes erzeugen abstoßende Gravitation – erkennen wir, dass die Region, durch die das Feld sich zieht, sich mit ungeheurer Geschwindigkeit ausdehnt. Demnach wird die räumliche Entwicklung des Inflatonfelds von zwei entgegengesetzten Prozessen vorangetrieben: Quantenfluktuationen stoßen das Feld in der Regel von seinem erhöhten Platz hinunter und verringern damit die Menge des Raumes, die von der hohen Feldenergie durchtränkt ist. Die inflationäre Expansion vergrößert sehr schnell die Bereiche, in denen das Feld noch seinen erhöhten Platz innehat, und steigert das Raumvolumen, in dem sich eine hohe Feldenergie befindet.
Welcher Prozess behält die Oberhand?
In den allermeisten vorgeschlagenen Versionen des inflationären Kosmos läuft die Zunahme mindestens ebenso schnell ab wie die Abnahme. Der Grund: Ein Inflatonfeld, das sich allzu leicht von seinem erhöhten Platz hinunterstoßen lässt, erzeugt zu wenig inflationäre Expansion und kann damit das Horizontproblem nicht lösen; in kosmologisch erfolgreichen Versionen der Inflation gewinnt daher die Zunahme gegenüber der Abnahme, und damit ist dafür gesorgt, dass das Gesamtvolumen derjenigen Raumregion, in der die Feldenergie hinreichend hoch ist, im Laufe der Zeit zunimmt. Berücksichtigt man, dass eine solche Konfiguration des Feldes weitere inflationäre Expansion verursacht, dann wird klar, dass die Inflation, wenn sie denn einmal begonnen hat, niemals enden wird.

Abbildung 3.2 Verschiedene Bereiche, in denen das Inflatonfeld den Abhang hinuntergerollt ist (dunkelgrau) oder bei einem höheren Wert bleibt (hellgrau).
Das Ganze ähnelt einer Virusepidemie. Um die Gefahr zu beseitigen, muss man das Virus schneller ausrotten, als es sich fortpflanzen kann. Das Inflationsvirus »pflanzt sich fort« – ein hoher Feldwert bewirkt eine rasche Expansion des Raumes und durchtränkt damit einen noch größeren Bereich mit dem gleichen hohen Feldwert, und das geht schneller als seine Beseitigung durch den Konkurrenzprozess. Das Inflationsvirus widersteht sehr wirksam der Ausrottung.9
Schweizer Käse und der Kosmos
Zusammengenommen zeigen diese Erkenntnisse, dass die Inflationsmodelle zu einem ganz neuen Bild von den Ausmaßen der Wirklichkeit führen. Am leichtesten begreift man das mit einer einfachen visuellen Hilfestellung. Stellen wir uns das Universum einmal als riesiges Stück Schweizer Käse vor; die Käseteile sind Regionen, in denen das Inflatonfeld einen hohen Wert hat, im Bereich der Löcher ist der Wert niedrig. Die Löcher sind Regionen wie die unsere, die den Übergang von der superschnellen zur eher gemächlichen Expansion bereits hinter sich gebracht haben, wobei die Energie des Inflatonfelds sich in ein Meer von Teilchen verwandelt hat, die sich im Laufe der Zeit zu Galaxien, Sternen und Planeten zusammenfinden können. Wie wir erfahren haben, bilden sich in dem kosmischen Käse dieses Bildes mit der Zeit immer mehr Löcher, weil Quantenprozesse den Wert des Inflatons an zufällig ausgewählten Stellen im Raum nach unten treiben. Gleichzeitig dehnen sich aber auch die Käseteile immer weiter aus, weil sie der inflationären Expansion unterliegen, die durch den in ihnen enthaltenen hohen Wert des Inflatonfelds angetrieben wird. Gemeinsam erzeugen die beiden Prozesse ein ständig wachsendes kosmisches Käsestück, das mit einer immer größeren Zahl von Löchern durchsetzt ist. In der Sprache der Kosmologie ist für solche Löcher auch der Begriff Blasenuniversum üblich. Jedes davon ist eine Öffnung innerhalb der sich superschnell ausdehnenden kosmischen Weite (Abbildung 3.3).

Abbildung 3.3 Das inflationäre Multiversum entsteht, indem sich in einer räumlichen Umgebung, die fortwährend expandiert und von einem Inflatonfeld durchzogen ist, Blasenuniversen bilden.
Die nicht unanschauliche, aber auch etwas verniedlichende Bezeichnung »Blasenuniversum« sollte uns nicht täuschen. Unser Universum ist riesengroß. Dass es vielleicht nur eine einzige Region darstellt, die in eine noch größere kosmische Struktur eingebettet ist – eine einzige Blase in einem gewaltigen Stück kosmischen Käses –, spricht für die fantastische Ausdehnung, die der Kosmos insgesamt nach der Vorstellung der Inflationsmodelle hat. Das Gleiche gilt für andere Blasen. Jede wäre ebenso ein Universum – eine reale, riesengroße, dynamische Weite – wie unseres.
In manchen Inflationsmodellen ist die Inflation nicht immerwährend. Wenn kluge Theoretiker mit Details wie der Zahl der Inflatonfelder und der Form der Potenzialkurven herumspielen, können sie es so einrichten, dass das Inflaton zu gegebener Zeit überall von seinen erhöhten Plätzen hinuntergestoßen wird. Aber solche Vorschläge sind eher die Ausnahme als die Regel. Die Feld-Wald-und-Wiesen-Inflationsmodelle erzeugen eine ungeheure Zahl von Blasenuniversen, die in einer sich ewig ausdehnenden räumlichen Weite ausgehöhlt werden. Wenn die Inflationsmodelle also auf der richtigen Spur sind und wenn ihre physikalisch bedeutsame Verwirklichung immerwährend ist – worauf viele theoretische Untersuchungen schließen lassen –, ergibt sich als Konsequenz zwangsläufig die Existenz eines inflationären Multiversums.
Wechselnde Perspektiven
Als Vilenkin in den achtziger Jahren erkannte, dass die inflationäre Expansion und die daraus erwachsenden Paralleluniversen immerwährend sind, war er ganz aufgeregt und stattete Alan Guth am Massachusetts Institute of Technology einen Besuch ab, um ihm davon zu erzählen. Mitten in seinen Erklärungen fiel Guths Kopf nach vorn: Er war eingeschlafen. Das war nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen; Guth ist bekannt dafür, dass er während physikalischer Seminare einnickt – auch bei meinen Vorträgen fielen ihm einige Male die Augen zu –, aber wenn er dann plötzlich die Augen wieder öffnet, stellt er häufig besonders kenntnisreiche Fragen. Insgesamt waren die Physiker aber nicht begeisterter als Guth. Also ließ Vilenkin seine Gedanken in der Schublade verschwinden und wandte sich anderen Projekten zu.
Heute trifft die Idee der Inflation auf eine ganz andere Resonanz. Als Vilenkin zum ersten Mal über das inflationäre Multiversum nachdachte, sprachen nur spärliche Belege unmittelbar für die kosmische Inflation. Deshalb kamen Gedanken über die inflationäre Expansion und die daraus erwachsende riesige Ansammlung von Paralleluniversen auch den wenigen, die ihnen überhaupt Beachtung schenkten, wie wild aufeinandergetürmte Spekulationen vor. In den seither vergangenen Jahren jedoch sprachen immer mehr auf Beobachtungen gegründete Argumente für die Inflation. Eine wichtige Rolle spielte dabei die immer genauere Vermessung der kosmischen Hintergrundstrahlung. Die beobachtete Homogenität dieser Strahlung war zwar eines der wichtigsten Motive für die Entwicklung der Inflationsmodelle. Den beteiligten Physikern war aber schon frühzeitig klar, dass eine rasche Expansion nicht zu einer vollkommen gleichmäßigen Strahlung führen würde. Stattdessen, so argumentierten sie, sollten quantenmechanische Fluktuationen, die durch die inflationäre Ausdehnung vergrößert werden, sich zu winzigen Temperaturabweichungen überlagern wie kleine Wellen auf der ansonsten glatten Oberfläche eines Teiches. Dies erwies sich als spektakuläre, ungeheuer einflussreiche Erkenntnis,g und zwar aus folgendem Grund:
Die Unschärferelation führt dazu, dass der Wert des Inflatonfelds fluktuiert. Wenn die Inflationsmodelle zutreffen, kam die kurze Phase der inflationären Expansi8on in unserer kosmischen Nachbarschaft gerade deswegen zu einem Ende, weil eine hinreichend große Quantenfluktuation das Inflaton vor knapp 14 Milliarden Jahren irgendwo in unserer Nähe von seinem Hochsitz stieß. Das ist aber noch nicht alles. Während der Wert des Inflatons geradewegs seinen Abhang hinunterrollte, bis er die Inflation in unserem Blasenuniversum zum Abschluss brachte, wurde er von Quantenfluktuationen beeinflusst. Diese wiederum ließen den Wert des Inflatons hier ein wenig steigen und da ein wenig sinken wie die wellige Oberfläche eines Lakens, das wir über die Matratze breiten. Dies führte zu geringen Unterschieden der Energiemenge, die das Inflaton an verschiedenen Stellen des Raumes besaß. Solche Quantenfluktuationen sind normalerweise so winzig und spielen sich in einem derart kleinen Maßstab ab, dass sie für kosmologische Entfernungen ohne Bedeutung sind. Die inflationäre Expansion ist aber alles andere als normal.
Während der Inflationsphase und auch noch während des darauf folgenden Überganges dehnt sich der Raum so schnell aus, dass das mikroskopisch Kleine zu makroskopischer Größe heranwächst. Und wie eine winzige Schrift, die auf einen schlaffen Luftballon geschrieben wurde und immer leichter lesbar wird, je stärker die Ballonoberfläche durch hineingeblasene Luft gedehnt wird, so wird auch der Einfluss der Quantenfluktuationen immer leichter erkennbar, wenn die Raumregionen, in welche die Fluktuationen eingebettet sind, durch die inflationäre Expansion immer größer werden. Genauer gesagt, wachsen winzige, durch Quantenfluktuationen erzeugte Energieunterschiede zu Temperaturabweichungen heran, die sich in der kosmischen Hintergrundstrahlung bemerkbar machen. Wie man aus Berechnungen weiß, wären diese Temperaturunterschiede nicht gerade riesig, sie könnten aber immerhin die Größenordnung von einem tausendstel Grad erreichen. Wenn die Temperatur also in einer Region bei 2,725 K liegt, könnten die »aufgeblasenen« Quantenfluktuationen dazu führen, dass es in der Nachbarschaft beispielsweise mit 2,7245 K einen Hauch kühler oder mit 2,7255 K geringfügig wärmer ist.
Nach solchen Temperaturschwankungen hat man mit hochpräzisen astronomischen Beobachtungsmethoden gesucht. Und man hat sie auch gefunden. Genau wie die Theorie es vorhersagt, liegen sie im Bereich von einem tausendstel Grad (siehe Abbildung 3.4). Und was noch beeindruckender ist: Die winzigen Temperaturunterschiede bilden am Himmel ein Muster, dessen grundlegende Eigenschaften sich mit den Berechnungen bis ins Detail erklären lassen. Abbildung 3.5 zeigt den Vergleich zwischen den theoretischen Vorhersagen für die Temperaturschwankungen in Abhängigkeit vom Abstand zwischen zwei Regionen (gemessen als Winkel zwischen den jeweiligen Blickrichtungen von der Erde aus) und den tatsächlichen Messungen. Die Übereinstimmung ist verblüffend.
Im Jahr 2006 wurden George Smoot und John Mather mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet. Die beiden hatten Anfang der neunziger Jahre als Leiter des Satellitenprojekts »Cosmic Background Explorer« mit einem Team von über tausend Wissenschaftlern erstmals Temperaturunterschiede in den kosmischen Hintergrundstrahlung nachgewiesen. In den letzten zehn Jahren haben immer neue, genauere Messungen, die Daten wie die in Abbildung 3.5 eingezeichneten lieferten, zu immer genaueren Bestätigungen der vorhergesagten Temperaturschwankungen geführt.
Diese Arbeiten waren der bisherige Höhepunkt einer spannenden Entdeckungsgeschichte, die mit den Erkenntnissen von Einstein, Friedmann und Lemaître begann, durch die Berechnungen von Gamow, Alpher und Herman kräftig vorangetrieben wurde, durch die Ideen von Dicke und Peebles neuen Auftrieb bekam, durch die Beobachtungen von Penzias und Wilson auf eine solide Grundlage gestellt wurde und nun in der harten Arbeit ganzer Heerscharen von Astronomen, Physikern und Ingenieuren gipfelt: Diese maßen mit gemeinsamer Anstrengung eine fantastisch kleine kosmische Spur, die vor Jahrmilliarden entstanden ist.
Auf einer eher qualitativen Ebene sollten wir alle für die Flecken in Abbildung 3.4 dankbar sein. Als die Inflation in unserem Blasenuniversum zu Ende ging, übten Regionen mit geringfügig höherem Energiegehalt (die gemäß E = mc2 Regionen mit geringfügig größerer Massendichte entsprechen) eine etwas stärkere Gravitationsanziehung aus; sie zogen mehr Teilchen aus ihrer Umgebung an und wuchsen dementsprechend an. Das größere Aggregat übte seinerseits eine noch stärkere Gravitation aus, zog weitere Materie an und wuchs immer weiter. Dieser Schneeballeffekt führte im Laufe der Zeit dazu, dass sich Materie- und Energieklumpen bildeten, aus denen in Jahrmilliarden die Galaxien und ihre Sterne wurden. Deshalb stellt die kosmische Inflation eine bemerkenswerte Verbindung zwischen den größten und kleinsten Strukturen im Kosmos her. Dass es überhaupt Galaxien, Sterne, Planeten und Leben gibt, ist eine Folge mikroskopisch kleiner Quantenfluktuationen, die durch die inflationäre Expansion verstärkt wurden.

Abbildung 3.4 Durch die ungeheure Expansion des Raumes während der kosmologischen Inflation werden Quantenfluktuationen von winzigen Ausmaßen zu makroskopischer Größe gedehnt. Die Folge sind beobachtbare Temperaturschwankungen in der kosmischen Hintergrundstrahlung (dunklere Bereiche sind geringfügig kälter als helle).

Abbildung 3.5 Die Verteilung der Temperaturunterschiede in der kosmischen Hintergrundstrahlung. Die Temperaturschwankungen sind auf der senkrechten Achse verzeichnet, der Abstand zwischen zwei Himmelsregionen (gemessen als Winkel zwischen den Blickrichtungen von der Erde zu den entsprechenden Orten am Himmel – links größere Winkel, rechts kleinere) auf der waagerechten Achse.10 Der auf Grundlage der Inflationsmodelle vorhergesagte Kurvenverlauf ist als durchgezogene Linie eingezeichnet, die aus den Beobachtungen abgeleiteten Werte sind als Punkte eingetragen.
Die theoretischen Grundlagen der Inflation sind möglicherweise nur vorläufiger Natur: Immerhin ist das Inflaton ein hypothetisches Feld, dessen tatsächliche Existenz bisher nicht nachgewiesen wurde; der Verlauf seiner Potenzialkurve wurde nicht aufgrund von Beobachtungen ermittelt, sondern lediglich postuliert; irgendetwas muss dafür sorgen, dass sich das Inflaton zu Beginn in einer bestimmten Raumregion oben auf dem Plateau seiner Energiekurve befindet, und so weiter. Trotz alledem und selbst wenn manche Details der aktuellen Inflationsmodelle nicht ganz stimmen, haben die Übereinstimmungen zwischen Theorie und Beobachtung viele Fachleute überzeugt, dass der Inflationsgedanke eine tief greifende Wahrheit im Zusammenhang mit der Evolution des Kosmos enthält. Und da die Inflation in vielen der verschiedenen Modelle etwas Immerwährendes ist, das eine ständig wachsende Zahl von Blasenuniversen entstehen lässt, stellen Theorie und Beobachtung gemeinsam ein indirektes, aber überzeugendes Argument für diese zweite Version der Parallelwelten dar.
Erfahrungen mit dem inflationären Multiversum
Im Patchwork-Multiversum gibt es keine scharfe Trennlinie zwischen den einzelnen Paralleluniversen. Alle sind Teil einer einzigen räumlichen Weite, deren allgemeine qualitative Merkmale von Region zu Region ähnlich sind. Die Überraschung steckt in den Details. Die meisten Menschen würden nicht damit rechnen, dass Welten sich wiederholen; wir würden nicht damit rechnen, dass wir hier und da auf Versionen unserer selbst, unserer Freunde oder unserer Familien stoßen. Aber wenn wir weit genug reisen könnten, würde genau das geschehen.
Die Einzeluniversen, die das inflationäre Multiversum bilden, sind im Gegensatz dazu streng voneinander getrennt. Jedes ist ein Loch im kosmischen Käse, und von den anderen ist es durch Bereiche getrennt, in denen das Inflaton noch einen hohen Wert hat. Da solche Zwischenregionen ihrerseits inflationäre Expansion durchmachen, werden die Blasenuniversen schnell auseinandergetrieben, und die Geschwindigkeit, mit der sie sich voneinander entfernen, ist proportional zum Ausmaß des expandierenden Raumes zwischen ihnen. Je weiter sie bereits voneinander entfernt sind, desto größer ist die Expansionsgeschwindigkeit; dies führt letztlich dazu, dass sich weit voneinander entfernte Blasen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit voneinander entfernen. Selbst wenn Lebensdauer und Technologie nicht an Grenzen stießen, gäbe es keinen Weg, eine solche Entfernung zu überbrücken. Man kann nicht einmal ein Signal in eines der anderen Universen senden.
Immerhin können wir uns aber in unserer Fantasie eine Reise zu dem einen oder anderen derartigen Blasenuniversum ausmalen. Was würden wir auf einer solchen Expedition finden? Da alle Blasenuniversen durch den gleichen Prozess entstehen – dadurch, dass das Inflaton von seiner erhöhten Position hinuntergestoßen wird und so eine Region entsteht, die sich aus der inflationären Expansion ausklinkt –, gelten in all diesen Universen die gleichen physikalischen Gesetze. Aber genau wie sich das Verhalten eineiiger Zwillinge aufgrund von Umweltunterschieden tief greifend unterscheiden kann, so können identische physikalische Gesetze sich in unterschiedlichen Umfeldern auf ganz unterschiedliche Weise manifestieren.
Stellen wir uns beispielsweise vor, eines der anderen Blasenuniversen sähe ganz ähnlich aus wie unseres: Es ist mit Galaxien durchsetzt, die Sterne und Planeten enthalten, aber mit einem entscheidenden Unterschied. Durch das gesamte Universum zieht sich ein Magnetfeld, das tausend Mal stärker ist als das Feld in unseren am höchsten entwickelten Kernspintomographen, und es kann im Gegensatz zu jenem nicht durch einen Techniker abgeschaltet werden. Ein solches starkes Magnetfeld würde das Verhalten vieler Dinge beeinflussen. Gegenstände aus Eisen hätten nicht nur die unangenehme Angewohnheit, in Richtung des Feldes davonzufliegen, sondern bereits die grundlegenden Eigenschaften von Teilchen, Atomen und Molekülen wären deutlich andere. Ein ausreichend starkes Magnetfeld würde die Zellfunktion so beeinträchtigen, dass Leben, wie wir es kennen, nicht Fuß fassen könnte.
So wie innerhalb eines Kernspintomographen die gleichen physikalischen Gesetze gelten wie außerhalb des Geräts, so sind auch die physikalischen Gesetze in diesem magnetischen Universum genau die gleichen wie in unserem. Die Diskrepanzen bei experimentellen Befunden und beobachtbaren Merkmalen wären ausschließlich auf einen Aspekt der Umwelt zurückzuführen: auf das starke Magnetfeld. Begabte Wissenschaftler in einem solchen magnetischen Universum könnten diesen Umweltfaktor früher oder später in ihren Modellen berücksichtigen und würden zu den gleichen mathematischen Gesetzen gelangen, die wir entdeckt haben.
Argumente für ein ganz ähnliches Szenario haben Wissenschaftler im Laufe der letzten vierzig Jahre für unser eigenes Universum gesammelt. Die am besten bestätigte (und mit den meisten Preisen bedachte) grundlegende Theorie der Physik, das Standardmodell der Teilchenphysik, postuliert, dass wir von einem exotischen Nebel umgeben sind, dem Higgs-Feld (der Name geht auf den englischen Physiker Peter Higgs zurück, der in den sechziger Jahren auf dem Gebiet Pionierarbeit leistete; Robert Brout, François Englert, Gerald Guralnik, Carl Hagen und Tom Kibble lieferten aber ebenfalls wichtige Beiträge). Higgs-Felder sind wie Magnetfelder unsichtbar und können deshalb den Raum erfüllen, ohne dass ihre Gegenwart sich unmittelbar bemerkbar macht. Nach der modernen Theorie der Teilchenphysik tarnt ein Higgs-Feld sich jedoch noch viel umfassender. Wenn die Teilchen sich durch ein konstantes, den Raum ausfüllendes Higgs-Feld bewegen, werden sie weder beschleunigt noch verlangsamt, und sie werden auch nicht auf eine bestimmte Bahn gezwungen, wie es manchen von ihnen beispielsweise in einem starken Magnetfeld widerfahren würde. Stattdessen, so die Theorie, werden sie auf eine viel raffiniertere, tief greifendere Weise beeinflusst.
Wenn Elementarteilchen durch ein Higgs-Feld pflügen, nehmen sie gerade die Masse an, die sie den experimentellen Befunden zufolge besitzen, und behalten sie auch. Wenn man diesem Gedanken zufolge Druck auf ein Elektron oder ein Quark ausübt, um seine Geschwindigkeit zu verändern, ist der dabei spürbare Widerstand auf eine Art »Reibung« zwischen dem Teilchen und dem zähflüssigen Higgs-Feld zurückzuführen. Diesen Widerstand bezeichnen wir als Masse des Teilchens. Könnte man das Higgs-Feld aus einer Region komplett entfernen, so hätten die Teilchen, die diesen Bereich durchqueren, plötzlich keine Masse mehr. Verdoppelte man in einer anderen Region den Wert des Higgs-Feldes, dann betrüge die Masse der Teilchen, die sie durchqueren, plötzlich das Doppelte des Normalwertes.h
Solche willkürlichen Veränderungen des Higgs-Feldes sind allerdings rein hypothetischer Natur, denn die Energie, die notwendig wäre, um den Wert eines Higgs-Feldes auch nur in einer kleinen Region des Raumes nennenswert zu beeinflussen, liegt weit jenseits von allem, was uns Menschen zu Gebote steht. (Darüber hinaus sind die Veränderungen auch deshalb hypothetischer Natur, weil die Frage, ob Higgs-Felder überhaupt existieren, noch offen ist. Die Theoretiker freuen sich eifrig auf höchst energiereiche Zusammenstöße zwischen Protonen im Teilchenbeschleuniger LHC, denn dabei sollten in den kommenden Jahren kleine Stücke des Higgs-Feldes – Higgs-Teilchen – so herauspräpariert werden können, dass man sie nachweisen kann.) In vielen Inflationsmodellen jedoch hätte das Higgs-Feld von Natur aus von Blasenuniversum zu Blasenuniversum verschiedene Werte.
Ganz ähnlich wie das Inflatonfeld hat auch das Higgs-Feld eine Potenzialkurve, die angibt, wie viel Energie das Feld bei den verschiedenen Werten, die es annehmen kann, enthält. Zur Potenzialkurve des Inflatonfelds besteht dabei aber ein entscheidender Unterschied: Das Higgs-Feld bleibt in der Regel nicht beim Wert null liegen (wie in Abbildung 3.1), sondern rollt in eine der Vertiefungen, die in Abbildung 3.6(a) wiedergegeben sind. Stellen wir uns nun einmal zwei Blasenuniversen, unseres und ein anderes, im Frühstadium vor. In beiden sorgt heiße, stürmische Hektik dafür, dass der Wert des Higgs-Feldes wild fluktuiert. Wenn die beiden Universen hinreichend weit expandiert sind und sich entsprechend abgekühlt haben, beruhigt sich das Higgs-Feld, und sein Wert rollt in eine der Vertiefungen wie in Abbildung 3.6(a). In unserem Universum kommt der Wert des Higgs-Feldes beispielsweise in der linken Vertiefung zur Ruhe, und es entstehen die Teilcheneigenschaften, die uns aus unseren experimentellen Beobachtungen vertraut sind. In dem anderen Universum jedoch führt die Bewegung des Higgs-Feldes vielleicht dazu, dass es am Ende in der rechten Vertiefung liegen bleibt. Wenn das der Fall ist, hat dieses andere Universum Eigenschaften, die sich deutlich von denen unseres eigenen unterscheiden. Die grundlegenden Gesetze wären zwar in beiden Universen die gleichen, die Masse und verschiedene andere Eigenschaften der Teilchen aber nicht.
Schon ein geringfügiger Unterschied in den Eigenschaften der Teilchen hätte gewichtige Folgen. Wäre die Masse eines Elektrons in einem anderen Blasenuniversum nur wenige Male größer als hier, hätten Elektronen und Protonen das Bestreben, miteinander zu verschmelzen. Dabei würden Neutronen entstehen, und Wasserstoff wäre in dem entsprechenden Universum so gut wie ausgestorben. Auch die grundlegenden Kräfte – die elektromagnetische Kraft, die Kernkräfte und (wie wir glauben) die Gravitation – werden von Teilchen übertragen. Ändern sich deren Eigenschaften, so kommt es auch zu einem drastischen Wandel in den Eigenschaften der Kräfte. Je schwerer beispielsweise ein Kraftteilchen ist, desto träger bewegt es sich und desto kürzer ist die Entfernung, über die es die zugehörige Kraft überträgt. Die Entstehung und Stabilität der Atome in unserem Blasenuniversum ist abhängig von den Eigenschaften der elektromagnetischen Kraft und der Kernkräfte. Werden diese nennenswert abgewandelt, fallen die Atome auseinander, oder – wahrscheinlicher – sie finden sich überhaupt nicht erst zusammen. Eine merkliche Veränderung der Teilcheneigenschaften würde also gerade jene Prozesse beeinträchtigen, die unserem Universum seine vertrauten Eigenschaften verleihen.

Abbildung 3.6 (a) Eine Potenzialkurve eines Higgs-Feldes mit zwei Vertiefungen. Die vertrauten Eigenschaften unseres Universums entsprechen dem Feld, das in der linken Vertiefung zur Ruhe gekommen ist; in einem anderen Universum jedoch könnte sich das Feld stattdessen in der rechten Vertiefung niedergelassen haben, was zu anderen physikalischen Eigenschaften führt. (b) Ein Beispiel für eine Potenzialfläche in einer Theorie mit zwei Higgs-Feldern.

Abbildung 3.7 Da die Felder in den einzelnen Blasenuniversen bei verschiedenen Werten zur Ruhe kommen können, haben die Universen im inflationären Multiversum unter Umständen unterschiedliche physikalische Eigenschaften, obwohl in allen die gleichen grundlegenden physikalischen Gesetze gelten.
Abbildung 3.6(a) zeigt nur den einfachsten Fall mit einem einzigen Higgs-Feld. In der theoretischen Physik hat man aber auch kompliziertere Szenarien untersucht, in denen mehrere verschiedene Higgs-Felder existieren (wie wir in Kürze erfahren werden, ergeben sich solche Möglichkeiten ganz von selbst aus der Stringtheorie); diese lassen sich in eine noch reichhaltigere Sammlung unterschiedlicher Blasenuniversen umsetzen. Ein Beispiel mit zwei Higgs-Feldern zeigt Abbildung 3.6(b). Die verschiedenen Vertiefungen stellen wie zuvor Werte des Higgs-Feldes dar, bei denen dieses oder jenes Blasenuniversum zur Ruhe kommen könnte.
Solche Universen, durch die sich Higgs-Felder mit nicht vertrauten Werten ziehen, würden sich von unserem beträchtlich unterscheiden; dies ist in Abbildung 3.7 symbolisch dargestellt. Damit würde eine Reise durch das inflationäre Multiversum zu einem gefährlichen Unternehmen. Viele andere Universen wären vielleicht nicht gerade der Ort, den man auf einer solchen Expedition gern aufsuchen würde: Die dortigen Bedingungen wären mit den biologischen Prozessen, die für das Überleben unentbehrlich sind, unvereinbar, womit das alte Sprichwort, es sei nirgendwo so schön wie zu Hause, eine ganz neue Bedeutung bekommt. Im inflationären Multiversum könnte unser Universum durchaus eine Insel der Fruchtbarkeit in einem riesigen, aber weitgehend unbewohnbaren kosmischen Archipel sein.
Universen in einer Nussschale
Wegen der grundlegenden Unterschiede mag es so aussehen, als hätten das Patchwork- und das inflationäre Multiversum nichts miteinander zu tun. Die Patchworkvariante ergibt sich, sobald der Raum unendlich groß ist; die inflationäre Form erwächst aus der immerwährenden, inflationären Expansion. Dennoch besteht zwischen beiden eine tief verankerte und höchst befriedigende Verbindung, mit der sich der Kreis der Erörterung aus den beiden letzten Kapiteln schließt. Die Paralleluniversen, die durch die Inflation entstehen, erzeugen ihre Patchwork-Vettern. Der Schlüssel zu diesem Zusammenhang ist die Zeit.
Von den vielen seltsamen Dingen, die Einstein mit seinen Arbeiten offenbarte, ist die Wandelbarkeit der Zeit am schwierigsten zu begreifen. Während wir aufgrund unserer Alltagserfahrung überzeugt sind, dass es einen objektiven Ablauf der Zeit gibt, zeigt uns die Relativitätstheorie, dass dies in Wirklichkeit eine Täuschung ist, begünstigt durch das Leben bei niedriger Geschwindigkeit und schwacher Gravitation. Wer sich der Lichtgeschwindigkeit nähert oder in ein starkes Gravitationsfeld eintaucht, für den löst sich die vertraute Vorstellung einer universellen Zeit in Luft auf. Wenn ein anderer an mir vorübereilt, scheinen ihm Dinge, die sich nach meiner festen Überzeugung im gleichen Augenblick abgespielt haben, zu verschiedenen Zeiten geschehen zu sein.
Eine Stunde auf der Uhr eines Astronauten, der sich am Rand eines Schwarzen Lochs herumtreibt, vergeht auf meiner eigenen Uhr, die ich ablese, während ich dem Astronauten aus großer Entfernung zusehe, deutlich langsamer. Das sind keine Zaubertricks oder geschickte Suggestionen eines Hypnotiseurs. Wie die Zeit abläuft, hängt von den Besonderheiten dessen ab, der sie misst – davon, wie er sich bewegt, und von der Gravitation, die er erlebt.11
Wendet man solche Erkenntnisse auf das Universum als Ganzes an oder, im Rahmen des inflationären Multiversums, auf unsere Blase, wirft dies sofort eine Frage auf: Wie verträgt sich eine solche formbare, maßgeschneiderte Zeit mit der Vorstellung von einer absoluten kosmologischen Zeit? Wir sprechen freizügig vom »Alter« unseres Universums, aber angesichts der Tatsache, dass Galaxien sich relativ zueinander mit einer hohen Geschwindigkeit bewegen, die durch ihre Abstände bestimmt wird, stellt sich die Frage: Wirft die Relativität der Zeit nicht für jeden potenziellen kosmischen Zeitmesser entsetzliche Berechnungsprobleme auf? Zugespitzt gefragt: Wenn wir davon sprechen, das Universum sei »14 Milliarden Jahre alt«, messen wir dann in diesem Zeitraum mit einer bestimmten Uhr?
Ja. Und wenn man sorgfältig über solche kosmischen Zeiträume nachdenkt, erkennt man eine unmittelbare Verbindung zwischen den Paralleluniversen der inflationären und der Patchwork-Variante.
Bei allen Methoden, mit denen wir die Zeit messen, orientieren wir uns an Veränderungen, die sich in einem bestimmten physikalischen System abspielen. Bei einer gewöhnlichen Wanduhr verfolgen wir die Veränderung der Zeigerposition. Bedienen wir uns der Sonne, beobachten wir die Veränderung ihrer Position am Himmel. Mit Kohlenstoff-14 untersuchen wir, welcher Prozentsatz einer ursprünglichen Menge sich durch radioaktiven Zerfall in Stickstoff verwandelt hat. Historische Vorbilder und allgemeine Bequemlichkeit haben dazu geführt, dass wir die Rotation und den Umlauf der Erde als physikalische Maßstäbe verwenden, denen wir unsere üblichen Begriffe von »Tag« und »Jahr« verdanken. Wenn wir aber in kosmischen Maßstäben denken, gibt es zur Zeitmessung noch eine andere, nützlichere Methode.
Wie wir bereits erfahren haben, entstehen durch die inflationäre Expansion riesige Regionen mit im Durchschnitt gleichförmigen Eigenschaften. Misst man Temperatur, Druck und durchschnittliche Materiedichte in zwei großen, aber getrennten Regionen innerhalb eines Blasenuniversums, werden die Ergebnisse übereinstimmen. Im Laufe der Zeit können sie sich zwar verändern, aber da im großen Maßstab Einheitlichkeit herrscht, ist dafür gesorgt, dass die Veränderung hier im Durchschnitt der Veränderung dort entspricht. Ein typisches Beispiel ist die Massendichte in unserem Blasenuniversum: Sie ist im Laufe unserer viele Milliarden Jahre langen Geschichte durch die unaufhaltsame Expansion des Raumes stetig gesunken, doch da die Veränderung sich einheitlich abgespielt hat, ist unsere Blase auf großen Skalen betrachtet nach wie vor homogen.
Das erweist sich als wichtige Erkenntnis: Genau so, wie die stetig abnehmende Menge des Kohlenstoffs-14 in organischem Material auf der Erde ein Werkzeug zur Zeitmessung darstellt, so kann man die stetig abnehmende Massendichte als Werkzeug zur kosmischen Zeitmessung nutzen. Und da diese Veränderung überall im Raum gleich abgelaufen ist, kann man dieses Werkzeug in unserem gesamten Blasenuniversum zur Zeitmessung verwenden. Wenn alle ihre Uhren sorgfältig nach der durchschnittlichen Massendichte stellen (und sie nach Expeditionen zu Schwarzen Löchern oder einer Reise mit nahezu Lichtgeschwindigkeit jeweils aufs Neue stellen), ist die Synchronisierung unserer Zeitmesser über das gesamte Blasenuniversum hinweg gewährleistet. Wenn wir vom Alter des Universums sprechen – womit wir das Alter unserer Blase meinen –, stellen wir uns vor, dass die abgelaufene Zeit mithilfe solcher kosmisch geeichten Uhren gemessen wird; nur in Bezug auf diese Uhren ist die kosmische Zeit ein sinnvoller Begriff.
Die gleichen Überlegungen galten auch in der frühesten Epoche unseres Blasenuniversums, allerdings mit einer kleinen Abwandlung. Die gewöhnliche Materie hatte sich noch nicht gebildet, und deshalb können wir nicht von einer durchschnittlichen Massendichte reden. Stattdessen trug das Inflatonfeld den gesamten Energievorrat unseres Universums in sich – Energie, die sich kurz darauf in die vertrauten Teilchen verwandeln sollte; wir müssen uns also vorstellen, dass wir die Uhr an der Energiedichte des Inflatonfelds auszurichten haben.
Nun wird die Energie des Inflatons aber ihrerseits durch den Wert des Inflatonfelds bestimmt – den genauen Zusammenhang können wir auf der einige Abschnitte zuvor gezeigten Potenzialkurve ablesen. Um an einem bestimmten Ort in unserem Blasenuniversum die Zeit abzulesen, müssen wir also den Wert des Inflatonfelds an diesem Ort in Erfahrung bringen. Und wie zwei Bäume das gleiche Alter haben, wenn sie die gleiche Zahl von Baumringen aufweisen, und wie zwei Proben von Gletschersediment gleich alt sind, wenn sie den gleichen Prozentsatz an radioaktivem Kohlenstoff enthalten, so durchlaufen auch zwei Orte im Raum in dem Moment den gleichen Zeitpunkt, wenn das Inflatonfeld an beiden Orten den gleichen Wert hat. Auf diese Weise können wir die Uhren in unserem Blasenuniversum stellen und synchronisieren.
Dass ich all diese Überlegungen hier anführe, hat einen Grund: Wenn man sie auf den Schweizer Käse des inflationären Multiversums anwendet, führen sie zu einer verblüffenden, der Intuition widersprechenden Folgerung. Ganz ähnlich wie Hamlet in seinem berühmten Ausspruch »ich könnte in eine Nussschale eingeschlossen sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten«, so scheint auch jedes Blasenuniversum eine endliche räumliche Ausdehnung zu haben, wenn man es von außen betrachtet, bei Betrachtung von innen jedoch scheint seine räumliche Ausdehnung unendlich zu sein. Das ist eine erstaunliche Erkenntnis. Unendliche räumliche Ausdehnung ist genau das, was wir für Patchwork-Paralleluniversen brauchen. So fügt sich das Patchwork-Multiversum nahtlos in die Geschichte der kosmischen Inflation ein.
Die extreme Diskrepanz zwischen der Sichtweise von außen und der innen kommt dadurch zustande, dass beiden ein völlig unterschiedlicher Zeitbegriff zugrunde liegt. Diese Aussage liegt zwar durchaus nicht auf der Hand, wie wir aber jetzt erfahren werden, erscheint das, was für den Außenstehenden endlose Zeit zu sein scheint, dem inneren Beobachter zu jedem Zeitpunkt als endloser Raum.12
Raum im Blasenuniversum
Um zu begreifen, wie es dazu kommt, stellen wir uns einmal Folgendes vor: Marge schwebt in einer vom Inflaton erfüllten Raumregion, die schnell expandiert, und sieht zu, wie in der Nähe ein Blasenuniversum entsteht. Sie richtet ihr Inflaton-Meter auf die wachsende Blase und kann so unmittelbar verfolgen, wie sich der Wert des Feldes verändert. Die Region – das Loch im kosmischen Käse – ist zwar dreidimensional, einfacher ist es aber, sich auf einen eindimensionalen Querschnitt zu beschränken, der mitten durch die Blase, also genau entlang des Durchmessers, führt. Das tut Marge, dokumentiert die Werte des Inflatonfelds entlang dieser Linie und zeichnet dabei die in Abbildung 3.8(a) wiedergegebenen Daten auf. Die Reihen zeigen von unten nach oben den Wert des Inflatons zu aufeinanderfolgenden Zeitpunkten aus Marges Sicht. Wie man an der Abbildung erkennt, sieht Marge zu, wie das Blasenuniversum – das in der Abbildung durch die helleren Stellen mit einem niedrigeren Wert des Inflatons dargestellt ist – immer größer wird.
Nun stellen wir uns vor, dass Homer dasselbe Blasenuniversum beobachtet, aber von innen; er ist angestrengt damit beschäftigt, mit seinem eigenen Inflaton-Meter detaillierte astronomische Beobachtungen anzustellen. Im Gegensatz zu Marge hält er sich dabei aber an einen Zeitbegriff, der am Wert des Inflatons ausgerichtet ist. Das ist der Schlüssel zu der Schlussfolgerung, um die es uns geht, und deshalb müssen wir uns darauf einlassen. Wer mag, kann sich vorstellen, dass jeder im Blasenuniversum eine Uhr trägt, die den Wert des Inflatons misst und anzeigt. Wenn Homer eine Party gibt, sollen die Gäste bei ihm erscheinen, wenn der Wert des Inflatons bei 60 liegt. Da die Uhren aller Beteiligten auf den gleichen einheitlichen Standard – den Wert des Inflatonfelds – geeicht sind, kann die Party reibungslos losgehen: Alle erscheinen im gleichen Augenblick, weil alle sich auf den gleichen Begriff der Gleichzeitigkeit eingestellt haben.

Abbildung 3.8(a) Jede Zeile hält den Wert des Inflatons zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Sicht eines Außenstehenden fest. Höhere Zeilen entsprechen späteren Zeitpunkten. Die Spalten zeigen die Positionen im Raum an. Eine Blase ist eine Raumregion, in der die Inflation durch das Absinken des Inflatonfelds zum Stillstand gekommen ist. Die helleren Felder geben den Wert des Inflatonfelds in der Blase wieder. Aus Sicht des außenstehenden Beobachters wird die Blase mit der Zeit immer größer.
Vor diesem Hintergrund ist es für Homer einfach, die Größe des Blasenuniversums zu jedem per Inflaton-Meter bestimmten Zeitpunkt zu ermitteln. Eigentlich ist es sogar ein Kinderspiel: Homer muss nur nach Zahlen malen. Er verbindet alle Punkte, an denen das Inflatonfeld den gleichen Zahlenwert hat, und kann damit alle Orte in der Blase zu einem einzigen Zeitpunkt beschreiben. Das ist seine Zeit. Die Zeit des Insiders.
Homers Zeichnung in Abbildung 3.8(b) sagt alles. Jede Kurve, die Punkte mit dem gleichen Wert des Inflatonfelds verbindet, repräsentiert den gesamten Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wie man an der Abbildung ablesen kann, erstreckt sich jede Kurve unendlich weit, das heißt, das Blasenuniversum hat für seine Bewohner eine unendliche Größe. Darin spiegelt sich die Tatsache wider, dass die endlos fortschreitende Zeit des Außenstehenden, die Marge in Abbildung 3.8(a) als endlose Anzahl von Zeilen sehen kann, einem Insider wie Homer zu jedem Zeitpunkt als endloser Raum erscheint.

Abbildung 3.8(b) Die gleiche Information wie in Abbildung 3.8(a) wird von jemandem im Inneren der Blase anders organisiert. Übereinstimmende Inflaton-Werte entsprechen für solch einen Beobachter gleichen Zeitpunkten. Die hier eingezeichneten Kurven verbinden also alle Punkte im Raum, die zum gleichen Zeitpunkt existieren. Kleinere Inflaton-Werte entsprechen späteren Zeitpunkten. Wichtig ist, dass man die Kurven unendlich weit fortsetzen kann; von innen betrachtet, ist der Raum also unendlich.
Das ist eine folgenschwere Erkenntnis. Wie wir in Kapitel 2 erfahren haben, war das Patchwork-Universum einheitlich, was den unendlich großen Raum anging, und das könnte hier, wie wir jetzt erörtert haben, der Fall sein oder auch nicht. Wir wissen jetzt, dass jede Blase im inflationären Multiversum von außen gesehen räumlich begrenzt ist, von innen gesehen aber räumlich unendlich. Wenn das inflationäre Multiversum Wirklichkeit ist, sind die Bewohner einer Blase – also wir – nicht nur Bewohner eines inflationären Multiversums, sondern auch eines Patchwork-Multiversums.13
Als ich die Theorien über Patchwork und inflationäre Multiversen erstmals kennenlernte, erschien mir die inflationäre Variante plausibler. Die Inflationsmodelle lösen eine Reihe alter Rätsel und liefern gleichzeitig Vorhersagen, die gut mit den Beobachtungen übereinstimmen. Und nach den hier dargelegten Gedankengängen ist die Inflation natürlicherweise ein Prozess, der nie zu Ende geht; sie lässt ein Blasenuniversum nach dem anderen entstehen, und wir bewohnen nur eines davon. Das Patchwork-Multiversum dagegen entfaltet seine ganze Wirkung nur dann, wenn der Raum nicht nur groß, sondern wirklich unendlich ist (in einem großen Universum kann es zwar auch Wiederholungen geben, aber garantiert sind sie nur in einem unendlichen). Deshalb erschien es mir zweifelhaft: Immerhin könnte es sein, dass das Universum eine endliche Größe hat. Wie wir aber jetzt erkennen, sind die Blasenuniversen der immerwährenden Inflation, wenn wir sie ordnungsgemäß aus Sicht ihrer Bewohner betrachten, räumlich tatsächlich unendlich. Inflationäre Paralleluniversen bringen Patchwork-Paralleluniversen hervor.
Die beste verfügbare kosmologische Theorie zur Erklärung der besten verfügbaren kosmologischen Daten führt zu der Vorstellung, dass wir in einem riesigen inflationären System eines von vielen Paralleluniversen bewohnen, von denen jedes seine eigene, riesige Ansammlung von Patchwork-Paralleluniversen enthält. Neueste Forschungsergebnisse führen also zur Vorstellung von einem Kosmos, in dem es nicht nur Paralleluniversen, sondern parallele Paralleluniversen gibt. Sie legen die Vermutung nahe, dass die Wirklichkeit nicht nur groß ist, sondern geradezu überwältigend groß.