Kapitel 33

Berlin, Deutsches Reich,
Juli 1908

Gemeinsam mit ihren Schülern war Demy vom Teich unter das Vordach des Mausoleums geflüchtet und hatte dort das Ende der gleißenden Blitze und gewaltigen Donnerschläge abgewartet sowie auf ein Nachlassen des vom Himmel prasselnden Regens gehofft. Wegen dem Unwetter wurde es früh dunkel, und sie begleitete deshalb ihre Schüler fürsorglich auf ihrem Heimweg. Sie und die beiden Scheffler-Zwillinge brachten Wilhelmine nach Hause, wobei Demy das erste Mal seit Wochen wieder Wilhelmines und Hennys Mutter traf. Die Frau, Henny äußerlich sehr ähnlich, begegnete ihr mit so viel Ehrerbietung, dass es Demy peinlich war.

Sie war doch auch nur eine Angestellte, wenngleich eine privilegierte. Der Unterricht mit den Kindern bereitete ihr Freude und sorgte, neben den Besuchen bei Nathanael im Säuglingsheim, für etwas mehr Abwechslung in ihrem eintönigen Tagesablauf. Zudem saugte sie die Zuneigung der Kinder förmlich in sich auf, erfuhr sie im Hause Meindorff doch nur Kälte und Gleichgültigkeit. Und seit ihrem ziemlich temperamentvollen Gespräch mit Tilla über die hinter ihrem Rücken geschmiedeten Verlobungspläne sprach ihre Schwester nur noch das Nötigste mit ihr.

Eilig hatte sie sich von Wilhelmine und ihrer Mutter verabschiedet und war nun in Richtung Scheunenviertel unterwegs. Gemeinsam mit den Zwillingen lief sie durch die Gassen und ließ sich, bei der Hinterhofwohnung der Schefflers angekommen, von Willi dazu überreden, sie hineinzubegleiten. In der Wohnung trafen sie zu Demys Erleichterung lediglich auf Lieselotte.

So kam es, dass Demy wieder einmal an dem verschrammten Esstisch der Familie saß. Prüfend sah sie sich um. Nichts hatte sich seit ihrem letzten Aufenthalt geändert – und doch so viel. Die kleine Helene fehlte, der fröhliche Sonnenschein der Schefflers.

Das Gespräch zwischen den beiden Mädchen verlief erschreckend oberflächlich. Demy konnte und wollte Lieselotte nicht in die neuesten Veränderungen in ihrem Leben einweihen, vor allem aus der Furcht heraus, wie sie als Frauenrechtlerin auf die arrangierte Verlobung reagieren würde.

Der Freundin schien es, was die Auswahl an Gesprächsthemen betraf, ähnlich zu ergehen, ahnte sie doch, dass Demy für ihre Ansichten und Parolen nicht uneingeschränkt empfänglich war und hütete sich deshalb, ihre selten gewordenen Zusammentreffen durch kämpferische Reden zu stören. Allerdings führte die Zurückhaltung der beiden Mädchen dazu, dass sie sich bald schon nichts mehr zu sagen hatten, und so nahm Demy die vorgerückte Stunde als Vorwand, um sich zu verabschieden.

»Ich begleite dich noch ein Stück, wenn es dir recht ist«, bot Lieselotte an. Hintereinander verließen sie die muffige Zweizimmerwohnung, wobei Demy zögernd im dunklen Flur verharrte, denn die gegenüberliegende Wohnungstür stand weit offen. Im Lichtschein, der aus dem nobel hergerichteten Raum auf den schmutzigen Flurboden fiel, zeichnete sich der Schatten eines innig umschlungenen Paares ab.

In Erinnerung an den hochrangigen Begleiter, mit dem Julia bei Tillas Hochzeit erschienen war, drückte sie sich vorsichtshalber gegen die Wand und hoffte, unentdeckt zu bleiben. Keinesfalls wollte sie Rathenau hier im Scheunenviertel begegnen, der irgendwann ihr Zusammentreffen bei einem Gespräch mit den Meindorffs erwähnen könnte. Andererseits – er würde sich vermutlich hüten, davon zu reden, dass er an einem solchen Ort verkehrte.

In diesem Moment beendete der Mann den leidenschaftlichen Kuss, nur um sich nun über den Hals der Frau herzumachen, während er seine Hand fordernd auf ihre unter dem dünnen Seidenstoff deutlich sichtbare Brust presste. Abgestoßen von der Gier des Mannes wollte sie sich schnell an dem Paar vorbeidrücken. In diesem Augenblick hob der Mann den Kopf. Demy erkannte ihn sofort.

***

Ihr Atem ging heftig und rasend schnell. Das erhitzte Gesicht dem kräftigen Nachtwind zugewandt lag ihr gehetzter Blick auf den vom Mond beschienenen Wellen der Spree. Gewaltige Wolkenberge zogen über den Himmel und ließen Mond und Sternen nur gelegentlich die Chance zu einem Aufblinken. Vom nahen Park klang der tiefe, einsame Ruf eines Kauzes herüber.

Demys Hände klammerten sich um zwei Eisenstangen des Brückengeländers, als habe sie Angst davor, von den Fluten erfasst zu werden. Über das entfernte Geräusch einer vorbeirollenden Kutsche hinweg vernahm sie eilige Schritte, deren Echo vom Granit der Häuser, Mauern, Brücken und Säulen widerhallte.

»Hier bist du!« Lieselotte verlangsamte ihre Schritte, stellte sich neben sie an die Brüstung und ergriff sie am Arm. Fürchtete ihre Freundin, sie würde von der Brücke springen?

»Diese Julia Romeike …?«, stieß Demy aus und schnappte nach Luft.

Lieselotte lachte hell auf. »Was hattest du gedacht, womit sie ihren Lebensunterhalt verdient, Kleine?«

»Hör mal, ich bin ja nicht dumm. Dass eine Frau von solcher Schönheit und mit so modischer, wertvoller Garderobe eigentlich gar nicht in das Scheunenviertel passt, war mir auch klar.«

»Man munkelt, sie unterhalte schon lange eine andere Wohnung in einer guten Wohngegend. Ich vermute jedoch, viele ihrer Freier bevorzugen die Anonymität dieser Hinterhofwohnung.«

»Das scheint mir auch so!« Wütend trat Demy mit dem linken Stiefel gegen die ineinanderverschlungenen Stäbe der Eisenbrüstung.

»Du kennst den Mann, von dem Julia an der Tür beinahe aufgefressen wurde? Einer deiner Freunde aus den gutsituierten Familien? Magst du ihn vielleicht selbst ein bisschen?« Lieselotte lachte noch immer. Offenbar entging dem Mädchen völlig, wie aufgewühlt Demy war.

»Nein, Lieselotte, ich mag ihn nicht. Kein bisschen. Er ist mir zutiefst unsympathisch. Er ist überheblich, er ist großspurig … und er ist Joseph Meindorff!«

Lieselottes Lachen ging in ein ersticktes Husten über. Als sie wieder in der Lage war zu sprechen, murmelte sie: »Da hat die Julia sich aber einen dicken Fisch an Land gezogen! Joseph Meindorff der Jüngere! Meine Güte!«

»Dicker Fisch …? Lieselotte, du bewunderst die Frau doch nicht etwa für ihr Tun? Er ist der Ehemann meiner Schwester!«

Lieselotte musterte die aufgebrachte Demy einen Moment lang und stemmte dann ihre kräftigen Hände in die Hüfte. »Hör mir mal gut zu, kleine Demy van Campen.« Lieselotte kam mit ihrem Gesicht nah an Demys, damit sie gegen das Brausen des Windes und des Wassers nicht anschreien musste. »Julia ist eine Waise. Sie wurde durch verschiedene Einrichtungen geschleust, bis sie genug davon hatte, dass irgendwelche geilen Aufseher sie begrabschten. Sie hat sich eine Existenz aufgebaut und überlebt, und das nicht einmal schlecht. Nicht jeder wird in einem feinen Haus geboren und heiratet dann einen Mann, der an einem Tag mehr Geld für sein Vergnügen ausgibt, als andere im Jahr verdienen. Und sei doch einmal ehrlich: Wenn Meindorff sich so kurz nach der Eheschließung mit Julia vergnügt, bedeutet das entweder, die beiden waren schon vorher zusammen und haben ihre Liebschaft beibehalten, oder seine Frau stellt sich im Bett ungeschickt an. Vielleicht kann sie einem Mann nicht das geben, was er braucht?«

Demy, deren Atem und Herzschlag sich inzwischen wieder beruhigt hatten, kräuselte ihre Nase und verschränkte ihre Arme abwehrend vor ihrer Brust. »Was fällt dir ein …«

»Ach? Darf ich so nicht über die hochwohlgeborenen Meindorffs reden? Steht das dem zerlumpten, dummen Arbeitermädchen aus dem Hinterhof nicht zu?«

»Du bist kein zerlumptes, dummes Arbeitermädchen. Du bist meine Freundin. Aber Tilla hat es nicht verdient, dass so über sie geurteilt wird. Würde es dir gefallen, wenn ich in so hässlicher Form über deine Brüder sprechen würde?«

Lieselotte musterte sie noch intensiver als zuvor, nickte dann aber. »Du hast recht. Das war gemein von mir. Und du bist zu Recht erschrocken darüber, deinen Schwager mit einer Prostituierten zu sehen.«

»Ich fühle mich grauenvoll. Was mache ich jetzt nur?«

»Hör mal, Demy. Ich möchte nur, dass du Julia nicht verurteilst. Sieh her.«

Folgsam hob Demy den Kopf und folgte mit den Augen Lieselottes ausgestrecktem Arm, mit dem sie an den erhabenen Bauten vorbei in Richtung Scheunenviertel zeigte, das direkt hinter diesem Straßenzug begann. Dunkel lag es vor ihnen; eine Ansammlung von primitiven Häusern, hastig errichteten Notbaracken und heruntergekommenen Unterkünften mit ineinander übergehenden Hinterhöfen. Durch sie hindurch wand sich ein Labyrinth aus schmutzigen Gassen und gefährlichen Winkeln, in denen eine viel zu große Anzahl Menschen unterschiedlichster Herkunft hauste, die sich teilweise bis aufs Blut verachtete. Das Ganze wirkte wie eine eigene, in sich abgeschlossene Welt.

»Und jetzt schau in die andere Richtung.«

Erneut gehorchte Demy und blickte auf die herrschaftlichen Bauten, geschmückt mit Säulen, Stuckornamenten und kleinen Türmchen, erleuchtet von modernen Elektrolampen in breiten, sauberen Straßen, umgeben von sorgsam gestutzten Hecken.

»Du stehst hier auf dieser Brücke; dort drüben ist die helle, saubere Welt mit bestem Essen, schöner Kleidung und großen Häusern, und hier drüben ist die andere, düstere Welt, ohne Hoffnung auf ein besseres Leben, wo die Menschen trotz harter Arbeit immer im Mangel leben, und jeden Tag Angst davor haben, ihre Arbeit zu verlieren, ihre Kinder hungern zu sehen. Du hast die Wahl. Wohin wirst du gehen?«

Bedrückt senkte Demy den Kopf und blickte auf das unter der Brücke hindurchrauschende schwarze Nass. Lieselotte kannte natürlich ihre Antwort. Ihre Freundin lebte zwischen den schimmelnden, düsteren Mauern wie eine Gefangene. Dort gab es wenig Grund zur Freude. Das Leben war geprägt von harter Arbeit, Not und Angst und von den immer gleichen Stimmen. Diese hielten ein intelligentes Mädchen wie Lieselotte klein, sagten ihr, sie sei nicht zu Höherem bestimmt.

Bereits bei ihrem ersten Treffen hatte die junge Frau Demy verraten, wie sehr sie sich auf den Umzug in die Stadt gefreut hatte; schließlich war ihre Familie auf dem Land von der Gunst des Gutsherrn abhängig gewesen, vom Wetter und der Gesundheit ihrer Milchkühe. Kleingeistigkeit, Engstirnigkeit, der Druck einer strengen Erziehung durch das Elternhaus, durch die Lehrer und den Dorfgeistlichen hatte Lieselottes nach Freiheit strebenden Geist fast verkümmern lassen.

Was aber war aus ihren Träumen geworden? Anstatt sich weiterzubilden, schuftete sie in einer Fabrik, deren Eigentümer sie einen Sklaventreiber nannte. Die Löhne waren miserabel, die Arbeitsbedingungen nicht besser, und jeden Tag warteten Hunderte von Leuten vor den Fabriktoren darauf, ihren Platz einzunehmen.

Als Lieselotte zu reden fortfuhr, riss sie Demy aus ihren Überlegungen. »Julia Romeike befand sich ebenfalls auf dieser Brücke. Sie stand vor der Wahl zu springen – oder nach links oder nach rechts zu gehen. Der Weg nach links war ihr von Geburt aus nicht offen. Also ging sie nach rechts, behielt das linke Ufer aber immer im Blick. Sie ließ nichts unversucht, um sich einen reichen Mann zu angeln, der ihr ein angenehmeres Leben bieten würde. Mit Sicherheit gab es vor oder neben Meindorff andere Kerle. Aber wenn du mich fragst, besitzt sie ihre noble Wohnung am linken Ufer zu Recht und braucht das rechte nur noch für ihr Versteckspiel.«

»Ich verstehe ihren Wunsch nach einem besseren Leben durchaus. Aber deshalb muss ich ihren Weg nicht gutheißen!«

»Nein, Demy, das musst du nicht. Ihr Kapital ist ihre Schönheit, ihre Anmut, mit der sie auf jedem Ball des Adels für Aufsehen sorgen – oder besser: gar nicht auffallen würde! Dieses Kapital hat sie investiert. Wer weiß, womöglich hatte sie ursprünglich vor, sich einfach einen gutsituierten Mann zu schnappen. Vielleicht ließ der sie fallen. Es könnte auch sein, dass er ihr eine Ehefrau und Kinder verschwieg. Wenn du Julias Tun verurteilst, musst du auch diejenigen verurteilen, die sie ausnutzen, ebenso wie die, die nicht bereit sind, ein Stück ihres Wohlstands abzugeben. Übrigens solltest du dann auch mich verdammen. Denn auch ich richte den Blick auf die linke Seite. Weil auch ich Nahrung, Bildung, Sicherheit, ein Wahlrecht und vieles mehr will.«

»Du solltest Reden halten.«

»Das tue ich doch.« Lieselotte lachte trocken auf und hakte sich bei ihr unter.

»Aber was fange ich jetzt mit meinem Wissen über Joseph und Julia Romeike an?«, seufzte Demy bedrückt. Gemeinsam blickten die beiden Mädchen auf das Wasser und ließen den Wind an ihren Haaren, Blusen und Röcken zerren.

»Das ist wieder so eine Brückensituation, die dich zu einer Entscheidung zwingt. Entweder du gehst in die eine Richtung und teilst deiner Schwester deine Entdeckung mit – mit allem, was daraus folgt –, oder du schweigst und alle behalten ihr kleines Stück vom Glück.«

»Wie kann ich das entscheiden?«

»Ich weiß es nicht.« Lieselotte zuckte so heftig mit den Achseln, dass Demy ihre Bewegung an ihrer Schulter fühlte. »Du bist noch jung. Viel zu jung für ein solches Geheimnis und diese Fragen. Auf der anderen Seite bist du wiederum ungewöhnlich reif und nachdenklich für dein Alter. Du sagtest mir einmal, dass eine deiner Schwestern dir beigebracht hätte, bei anstehenden Entscheidungen Gott um Rat zu fragen. Wenn du daran glaubst, was hindert dich daran, es jetzt auch zu tun?«

»Vielleicht die Angst davor, wie die Antwort aussehen wird …«

***

Tief in Gedanken versunken ging Demy durch die nassen Straßen und wich den Pfützen aus, in deren Wasser sich das Licht des Mondes und die schnell ziehenden Wolken spiegelten.

Was mochte auf Tillas und Josephs Hochzeitsreise vorgefallen sein? Seit ihrer Rückkehr spürte sie eine eisige Kälte zwischen den Eheleuten, zudem sah ihre Halbschwester noch immer bemitleidenswert schlecht aus.

Demy öffnete einen Flügel des großen Pfortentors, schlüpfe hindurch und schloss es hinter sich. Ein kaum wahrnehmbarer Pfiff brachte sie zum Stehen. Prüfend neigte sie den Kopf zur Seite und lauschte. Ein weiterer Pfiff – eine Spur fordernder als zuvor – jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Wer versteckte sich im Vorhof und versuchte anhand der Pfiffe auf sich aufmerksam zu machen? Sollte ein heimliches Treffen stattfinden? Hier im Garten der Meindorffs?

Wieder drang der hohe, unnatürliche Laut zwischen den Bäumen hindurch, gleich darauf folgte ein verhaltenes Zischen. War sie gemeint? Demy glaubte ihren Namen zu hören.

Zögernd verließ sie den gepflasterten Weg und trat auf die Wiese, die nach dem Regenguss so aufgeweicht war, dass sie ihre Schuhe zu verschlingen drohte. Die Erde gab ihren Fuß mit einem schmatzenden Geräusch wieder frei, das ihr in Anbetracht des Schmutzes, der nun an ihm klebte, nahezu höhnisch klang.

Mehr ärgerlich als ängstlich blieb sie neben einer Gruppe von sich im Wind wiegenden Birken stehen. Sie sah sich um und beobachtete, wie sich die einzeln stehende Weißtanne und die beiden Buchen in einer Bö schüttelten.

»Hallo?« Ihr zaghafter Ruf kam Demy entsetzlich laut vor. Am liebsten wollte sie sich umdrehen und so schnell, wie ihre Füße sie trugen, zum Haus laufen. Doch da bemerkte sie eine Bewegung neben einem Buchenstamm mit gewaltigem Umfang. Ein schwarzer Schatten löste sich aus dem Dunkel. Für den Bruchteil eines Augenblicks tauchte der Mond die Gestalt in sein fahles Licht, bevor er sich wieder hinter einer dunklen Wolke verbarg.

***

Der Dunkelheit und dem Wind zum Trotz, der durch die Gassen pfiff und allerlei Unrat aufwirbelte, setzte Lieselotte gemächlich einen Fuß vor den anderen. Umgeben von den Mauern des Scheunenviertels fühlte sie sich fast geborgen, ganz anders als in der schillernden Welt der Paläste der Reichen. Ihre Augen hatten sich längst an die Dunkelheit und die bizarren Schatten gewöhnt, sodass sie traumwandlerisch sicher den Weg zurück zu ihrer Hinterhofwohnung fand. Dort erwarteten sie die bedrückende Enge ihrer winzigen, erbarmungswürdigen Behausung, die müde, ausgelaugte Mutter und der vermutlich wieder betrunkene Vater.

Im Flur hielt sie nicht vor der allmählich vermodernden Tür zu ihrer Wohnung, sondern vor der frisch gestrichenen von Julia an.

Das ausgelassene Gelächter der Prostituierten und die fordernden Rufe ihres Besuchers drangen bis zu ihr hinaus, was Lieselotte die Augenbrauen heben ließ. Die arme Demy war fassungslos geflohen, als sie mitansehen musste, wie ihr Schwager …

Lieselottes Kopf ruckte hoch und mit offenem Mund starrte sie in die Dunkelheit. Weshalb war ihr diese überraschende Information nicht gleich aufgefallen, als Demy sie in ihrem aufgewühlten Zustand versehentlich verraten hatte? Ihre Freundin hatte nicht von ihrer gnädigen Frau, sondern von ihrer Schwester gesprochen! Das Mädchen war nicht einfach nur die Gesellschafterin der Frau Meindorff, sondern deren Schwester! Demy – von Geburt eine Dame aus erstklassigem Hause?

Die Tür zur elterlichen Wohnung sprang auf und ein fahler Lichtschein fiel auf die abgewetzten Bodenbretter des Flurs. Eilig setzte Lieselotte sich in Bewegung.

»Kommst du endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, Tochter.«

»Entschuldigung, Frau Mutter. Ich musste länger in der Fabrik bleiben«, log Lieselotte.

»Dieser Halsabschneider. Du bist doch noch ein Kind. Niemals hätte ich dich dort hinbringen sollen.«

»Wir brauchen das Geld.«

Ihre Mutter stieß einen Zischlaut aus, ein deutliches Zeichen für das Mädchen, dass ihr Vater in der Küche diese Worte keinesfalls zu Gehör bekommen sollte.

Sie trat ein, und ihre Mutter schloss hinter ihr die Tür. Direkt vor ihren Füßen lag die gammelige Matratze, auf der die Zwillinge schliefen. Allerdings konnte sie an einem kurzen Blinzeln von Willi erkennen, dass zumindest er noch wach war.

»Guten Abend, Herr Vater«, grüßte sie den Mann, der mit dem Rücken zu ihr am Tisch saß.

Er drehte sich langsam zu ihr um, als schmerze ihn jede Bewegung, und musterte sie mit geringschätzigem Blick. »Wo warst du so spät noch? Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, zu welcher Tageszeit junge Mädchen im Schutz ihrer Familien sein sollen?«

»Doch, das tatet Ihr, Herr Vater. Leider bekam es der Besitzer der Brauerei von seinem Vater nicht gelehrt.«

Die Faust des Vaters donnerte auf den Tisch. »So sprichst du mir nicht über deinen Brötchengeber. Er verdient deinen Dank und Respekt. Er hat es nicht nötig, dich undankbare Kröte zu beschäftigen, stehen ihm doch Tausende von Arbeitswilligen zur Verfügung. Doch er gibt dir Arbeit, weshalb ihm deine Loyalität gebührt. Loyalität, Ehrerbietung und Respekt, wie du sie auch deinen Eltern gegenüber zeigen sollst!«

Lieselotte, eingeschüchtert durch sein Gebrüll, gleichzeitig aber auch innerlich kochend vor Wut über die unterwürfige Haltung des Vaters, zog es vor zu schweigen. Sie ging in den Küchenbereich, wo Waschwasser für sie bereitstand. Wie an jedem Abend knöpfte sie ihre Bluse auf und zog sich dann das Unterhemd über den Kopf.

»Was soll diese Zurschaustellung deines Körpers?«, fuhr ihr Vater sie an.

Nun vollkommen verwirrt drehte Lieselotte ihrem Vater vorsichtshalber den Rücken zu. »Wenn ich mich wasche, ist der Herr Vater gewöhnlich nicht in der Wohnung. Entschuldigen Sie bitte.«

»Was soll ich davon halten, wenn meine fast volljährige Tochter sich ungeniert vor einem Mann entblößt? Dass sie das gewohnt ist? Bietest du, wie die Romeike da drüben, deinen Körper den Männern feil? Kommst du deshalb so spät nach Hause?«

»Nein, Herr Vater!«, stieß Lieselotte entsetzt aus. Ihre Stimme bebte. Was sollte sie tun? Offenbar machte sie an diesem Abend alles falsch. Mit einer Hand griff sie nach ihrer Bluse und streifte sie sich eilig über. Ihre Finger zitterten, was das Schließen der Knöpfe nicht einfacher machte.

Plötzlich stand er hinter ihr; sie spürte seinen Atem, der am heutigen Abend nicht nach Alkohol stank, in ihrem Nacken. Blanke Angst überfiel sie. Seit sie in Berlin lebten, hatte ihr Vater seinen Kindern wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Tat er es doch, dann nur, um sie auszuschimpfen und zu strafen.

»Bist du eine Sünderin, Tochter? Muss ich dich zu einem Geistlichen schleppen, damit du deine Sünden bekennst und bereust und er dir dein Seelenheil wiedergibt?«

»Ich habe nichts Unrechtes getan, Herr Vater«, flüsterte sie, ihm noch immer den Rücken zugewandt.

»Du wagst es nicht einmal, mich bei dieser Beteuerung anzusehen!«, brüllte er.

Etwas schnalzte durch die Luft und einen Wimpernschlag später fuhr Lieselotte ein brennender Schmerz über den Rücken. Ihr Schrei mischte sich mit dem ihrer Mutter. Aber diese hielt sich zurück, ließ ein weiteres Mal schweigend geschehen, dass der Vater eines der Kinder mit dem Gürtel züchtigte.

»Ich werde dir für lange Zeit die Lust nehmen, auf dem Rücken zu liegen und die Beine breitzumachen.«

»Ich bitte den Herrn Vater, mich nicht zu schlagen! Ich habe nichts dergleichen getan«, flehte Lieselotte unterwürfig, bevor ein zweiter Hieb mit dem Riemen sie traf und den Schmerz noch unerträglicher machte. Keuchend rang sie nach Atem und suchte mit ihren Händen verzweifelt einen Halt.

»Dich vor mir und den Jungen auszuziehen! Was denkst du, was in den Köpfen der Burschen vor sich geht, wenn sie dich so sehen? In ein paar Jahren werden sie sich versündigen, angeregt durch dein Tun!«

Ein dritter Schlag ließ ihre Haut aufplatzen, und sie spürte Blut über ihren Rücken laufen. »Belassen wir es dabei und hoffen, es war dir Lehre genug, Tochter.«

Lieselotte schloss die Augen, schwankte und wusste doch, was von ihr verlangt wurde. Mühsam und unter Schmerzen drehte sie sich um und knickste vor dem Mann, der sie soeben erniedrigt und geschlagen hatte.

»Ich danke dem Herr Vater für seine Ermahnung und die Gnade, die Strafe verkürzt zu haben.«

Ihre Stimme zitterte, obwohl sie laut und deutlich sprechen wollte, denn zaghaft vorgebrachte Worte würden ihren Vater vermuten lassen, sie meine sie nicht ernst genug. So war es immer gewesen. Bei ihr und ihren Brüdern, bei ihrem Vater oder ihrer Mutter, als diese selbst noch Kinder waren, bei den Nachbarn im Dorf und vielleicht auch hier, in den beengten Wohnverhältnissen des Scheunenviertels. In Berlin verhinderten freilich die Anonymität und die Überbevölkerung, dass Kinder den anderen im Unterricht oder bei der Arbeit auf dem Feld ansehen konnten, ob sie am Vortag vom Hausvorstand gezüchtigt worden waren.

***

Die Schmerzen trieben Lieselotte immer wieder die Tränen in die Augen. Es half auch nicht, dass Peter, sobald die Eltern in das angrenzende Zimmer gewechselt hatten, von seiner Matratze aufstand und sich zu ihr auf die Couch drückte. Vermutlich brauchte der verstörte Junge vielmehr ihren Trost und das Gefühl von Geborgensein, als dass er sie trösten wollte.

Die junge Frau kämpfte nicht mehr gegen ihren wachsenden Hass auf das Erziehungssystem an, das wohl zu ihrer Zeit gehörte. Dabei wusste sie sehr gut zu unterscheiden, was ihr Vater von seinem Vater und seiner Generation übernommen hatte und was in der Verzweiflung und der tagtäglichen Demütigung begründet war, unter denen er hier in Berlin litt.

Da mochten die Redner auf den Versammlungen des Arbeiterjugendvereins wieder und wieder propagieren, die Herrscher und ihre Gefolgsleute sollten vom Thron gestoßen werden, damit das Volk die Geschicke des Landes leiten könne. Solange in den Familien die Männer in derselben Selbstverständlichkeit über die ihnen anvertrauten Familienmitglieder herrschten, sie unterdrückten und züchtigten und jeden Versuch einer Mitbestimmung, jedes kritische Wort übelnahmen, konnte sich doch in dem großen Getriebe der Politik eines Landes nichts ändern!

Vielleicht musste die Veränderung aus den Keimzellen der Familien kommen; die Revolution gegen die Eltern, gegen die Ehemänner, gegen die Lehrer, gegen die Ortsvorsteher beginnen und sich dann erst auf die obersten Ebenen eines Staates konzentrieren?

Unter Zuhilfenahme ihres Fußes schob Lieselotte Peter ein Stück von sich an die feuchte, muffige Zimmerwand. Ihr war heiß und der Schweiß, der ihr über den Rücken in die Wunden lief, vervielfachte ihren Schmerz.

Ob ihre Überlegung zutreffend war? Wenn in den Familien eines Landes Unterdrückung und Anarchie herrschten, führte das dazu, dass ein ganzer Staat unter Unterdrückung und Anarchie litt? Hieß das im Rückschluss, dass sich ein Staat, dessen Familien in Liebe und Frieden, in Gleichberechtigung und einem respektvollen Miteinander zusammenlebten, durch dieselben Eigenschaften auszeichnete?

Diese Fragen musste sie demnächst einmal Minna Cauer und Hedwig Dohm stellen, vielleicht auch in einem Artikel der Zeitung Frauenwohl thematisieren, nahm Lieselotte sich vor.

Mit einem unterdrückten Aufstöhnen drehte sie sich auf die andere Seite. Der Schmerz in ihrem Rücken und die Demütigung in ihrem Herzen hinderten sie am Schlafen.

So wandten sich ihre Gedanken irgendwann Demy zu. War das Mädchen in den Niederlanden freier erzogen worden, als es die Kinder im Deutschen Reich erlebten? Demy schmunzelte oft über die Ernsthaftigkeit Lieselottes, über ihre Korrektheit und Steifheit und ihre fast zwanghafte Bereitschaft – so nannte Demy es –, sich unterzuordnen.

Lieselotte richtete ihre Augen auf die letzten roten Glutnester hinter der halb geöffneten Backofentür. Damit würde es bald vorbei sein, nahm sie sich fest vor. Sie würde sich nicht länger unterordnen, weder ihrem Vater noch der Herrschaft der Männer oder einer Regierung, die sich wenig darum kümmerte, was der Wille des Volkes war. Die Kaiserfamilie und die sie wie Schmeißfliegen umschwirrenden Adeligen mussten vom Thron gestoßen werden.

Wütend presste Lieselotte ihre Lippen aufeinander. Seit heute wusste sie: auch ihre Freundin Demy gehörte der privilegierten Klasse an! Aber Demy verhielt sich so ganz anders. Sie sorgte sich um sie und um die Zwillinge. Sie hatte für Helene Hilfe geholt, selbst wenn diese zu spät gekommen war, und sie hatte mehr als einmal über ihren Tod geweint. Ob es noch mehr von ihrer Sorte gab?

Ihre Überlegungen drifteten zu Joseph Meindorff ab, Demys Schwager. Trotz ihrer Schmerzen huschte ein triumphierendes Lächeln über Lieselottes Gesicht. Sie verfügte über ein Wissen, welches ihr, zur rechten Zeit gebraucht, einmal Vorteile verschaffen konnte.

Joseph Meindorff, der Junior-Chef von Meindorff-Elektrik, der sich mit einer Brauerei in einer zusätzlichen Branche versuchte und damit ihr und ihrer Mutter Arbeitgeber war, leistete sich ein delikates Geheimnis: Julia Romeike. Durch dieses Wissen hielt sie eine nicht zu verachtende Macht über den Mann in ihren Händen, dessen war sich Lieselotte sicher.

Himmel ueber fremdem Land
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