Lunch
Ich sitze mit Christopher Armstrong, der auch bei P & P arbeitet, im DuPlex, dem neuen Restaurant von Tony McManus in Tribeca. Wir waren zusammen in Exeter, er ging dann zur University of Pennsylvania und nach Wharton, bevor er nach Manhattan zog. Unerklärlicherweise konnten wir keine Reservierung im Subjects bekommen, weswegen Armstrong diesen Laden hier vorschlug. Armstrong trägt einen Vierknopf-Zweireiher mit Kreidestreifen, ein Hemd aus reiner Baumwolle von Christian Dior und eine breite Seidenkrawatte mit Paisley-Muster von Givenchy Gentleman. Sein lederner Terminplaner und die lederne Mappe, beide von Bottega Veneta, liegen auf dem dritten Stuhl an unserem Tisch, ein guter, direkt vorne am Fenster. Ich trage einen Kammgarn-Anzug mit Nagelkopfmuster und Überkaro von DeRigueur von Schoeneman, ein Hemd aus Baumwoll-Broadcloth von Bill Blass, eine Macclesfield-Seidenkrawatte von Savoy und ein Baumwoll-Einstecktuch von Ashear Bros. Eine Muzak-Version der Filmmusik von Les Misérables durchsäuselt leise das Restaurant. Armstrongs Freundin ist Jody Stafford, die früher mit Todd Hamlin zusammen war, und allein das erfüllt mich mit kaltem Grausen, dazu die von der Decke hängenden Bildschirme, auf denen man den Köchen in der Küche bei der Arbeit zusehen kann. Armstrong kommt gerade von den Inseln zurück und ist – genau wie ich selbst – tief, tief gebräunt.
»Und wie war’s auf den Bahamas?« frage ich, nachdem wir bestellt haben. »Bist gerade zurückgekommen, oder?«
»Stimmt genau, Taylor«, setzt Armstrong an und starrt auf einen Punkt irgendwo hinter mir knapp über meinem Kopf – auf die Säule im Terrakotta-Look oder vielleicht auf die unverkleideten Lüftungsrohre, die quer unter der Decke hängen. »Wer in diesem Sommer den perfekten Urlaub sucht, tut gut daran, sich nach Süden zu orientieren, wobei Süden die Bahamas oder die Karibischen Inseln meint. Es gibt mindestens fünf gute Gründe, in die Karibik zu fahren, darunter das Wetter, die Festivals und Veranstaltungen, die vergleichsweise weniger überfüllten Hotels und Sehenswürdigkeiten, die Preise und die einzigartige Lebensweise. Während viele Urlauber aus den Städten fliehen, um es in den Sommermonaten angenehm kühl zu haben, gibt es nur wenige, die wissen, daß in der Karibik übers ganze Jahr Temperaturen von 25 bis 30 Grad herrschen und daß die Inseln ständig von Passatwinden gekühlt werden. Im Norden ist es oft heißer …«
Das Thema der Patty Winters Show heute morgen waren Morde an Kleinkindern. Die Eltern der entführten, gefolterten und ermordeten Kinder bildeten das Publikum im Studio, während auf der Bühne eine Schar Psychiater und Kinderärzte versuchte, ihnen dabei zu helfen, ihre Verwirrung und ihren Zorn aufzuarbeiten – ziemlich vergeblich, was mich sehr freute, muß ich hinzufügen. Doch was mich wirklich fertigmachte, waren die drei verurteilten Kindermörder vor der Hinrichtung, die wegen ziemlich komplizierter rechtlicher Schlupflöcher auf Haftverschonung plädierten und sie vermutlich auch bekommen werden. Aber irgend etwas lenkte mich ab, während ich beim Frühstück – Kiwischeiben und japanische Apfelbirnen, Evian-Wasser, Mehrkorn-Muffins, Sojamilch mit Zimtsplittern – auf den riesigen Sony-Fernseher schaute, störte mein Amüsement über die sich grämenden Mütter, und erst als die Show fast zu Ende war, fand ich heraus, was: der Riß über meinem David Onica, den ich bereits dem Portier gemeldet hatte, damit der Hausmeister ihn repariert. Als ich an diesem Morgen beim Herausgehen in der Lobby stehenblieb, um mich beim Portier zu beschweren, wurde ich mit einem Neuen konfrontiert, der zwar in meinem Alter war, aber kahl, spießig und fett. Auf dem Tisch vor ihm neben der Post, die auf den Comic-Seiten aufgeschlagen war: drei glasierte Marmeladen-Donuts und zwei dampfende Tassen extra-dunkler Kakao. Es verblüffte mich, daß ich soviel besser aussah, erfolgreicher und wohlhabender war, als es dieser arme Hund jemals sein würde, und so lächelte ich ihn mit einem vorübergehenden Anflug von Sympathie an und nickte ihm ein kurzes, aber nicht unhöfliches guten Morgen entgegen, ohne meine Beschwerde anzubringen. »Ach wirklich«, höre ich mich – völlig uninteressiert – laut zu Armstrong sagen.
»Genau wie in den Vereinigten Staaten feiert man die Sommermonate mit Festivals und besonderen Veranstaltungen, darunter Konzerte, Kunstausstellungen, Straßenmärkte und Sportwettkämpfe, und da die üblichen Menschenmassen woanders hinfahren, sind die Inseln weniger überfüllt, bieten einen besseren Service und es gibt keine Warteschlangen vor diesem Segelbootverleih oder jenem Restaurant. Wie ich meine, sind die meisten Leute daran interessiert, die Kultur, die einheimische Küche, die Landesgeschichte zu erleben …«
Auf dem Weg zur Wall Street heute morgen blieb der Firmenwagen im Stau stecken, und ich mußte aussteigen, und als ich auf der Suche nach einer U-Bahn-Station über die Fifth Avenue ging, kam ich an einer Art Halloween-Parade vorbei, die mir etwas merkwürdig erschien, weil ich mir ziemlich sicher war, daß erst Mai ist. Als ich stehenblieb, stellte es sich heraus, daß sich das Ganze »Gay Pride Parade« nannte, und mir drehte sich der Magen um. Homosexuelle marschierten stolz über die Fifth Avenue, rosa Winkel schmückten pastellfarbene Windjacken, einige hielten sogar Händchen, die meisten sangen inbrünstig und schräg »Somewhere«. Ich stand vor Paul Smith, sah mir das alles mit einer gewissen traumatisierten Faszination an und rang mit der Vorstellung, wie ein menschliches Wesen, ein Mann, stolz darauf sein kann, einen anderen in den Arsch zu ficken, doch als mir während des Refrains »There’s a place for us, Somewhere a place for us« ältliche Bademeister-Typen mit Walroßschnäuzern ausgelassene Pfiffe hinterherschickten, sprintete ich zur Sixth Avenue, entschloß ich mich, zu spät ins Büro zu kommen, und fuhr mit dem Taxi zurück in mein Apartment, wo ich einen frischen Anzug (von Cerrutti 1881) anzog, mir eine Pediküre verpaßte und den kleinen Hund zu Tode quälte, den ich Anfang der Woche in einer Tierhandlung auf der Lexington gekauft hatte. Armstrong brabbelte weiter.
»Wassersport steht natürlich im Vordergrund. Doch auch die Golf- und Tennisplätze sind exzellent, und die Lehrer in vielen der Ferienzentren haben während des Sommers mehr Zeit für individuelle Betreuung. Außerdem sind viele Plätze mit Flutlicht ausgestattet, so daß man auch nachts spielen …«
Schnauze … Armstrong, denke ich, während ich aus dem Fenster auf den Stau an der Kreuzung und die auf der Church Street vorbeiziehenden Penner schaue. Die Vorspeisen kommen: Brioche mit sonnengetrockneten Tomaten für Armstrong. Poblano-Chilies mit einem zwiebligen orange-purpurnen Chutney für mich. Ich hoffe, daß Armstrong nicht vor hat zu zahlen, weil ich diesem trüben Schwachkopf unbedingt zeigen muß, daß ich wirklich eine Platin-American-Express-Card habe. Aus unerfindlichen Gründen bin ich augenblicklich sehr niedergeschlagen, ich höre Armstrong zu, und mir steckt ein Kloß im Hals, doch ich schlucke, trinke etwas Corona und das Gefühl geht vorbei, und während einer Pause, in der er kaut, frage ich fast unwillkürlich, obwohl ich weiß Gott an anderes denke: »Und das Essen? Wie ist das Essen?«
»Gute Frage. Zum Essengehen ist die Karibik noch reizvoller geworden, da sich die heimische Inselküche und europäische Eßkultur aufs Angenehmste ergänzen. Zahlreiche Restaurants werden von amerikanischen, britischen, französischen, italienischen und sogar holländischen Auswanderern geführt …« Dankenswerterweise legt er eine Pause ein, beißt ein Stück aus seinem Brioche, der aussieht wie ein in Blut getränkter Schwamm – sein Brioche sieht aus wie ein großer blutiger Schwamm –, und spült es mit einem Schluck Corona runter. Ich bin an der Reihe.
»Wie steht’s mit Ausflügen?« frage ich desinteressiert und widme mich den dunklen Chilies, dem gelblichen Chutney, das den Teller in einem kunstvollen Achteck umrahmt; Koriander-Blätter umrahmen die Marmelade, wiederum umrahmt von Chilisprossen.
»Ganz oben auf dem Besichtigungsprogramm stehen die Zeugnisse europäischer Kultur, im 17. Jahrhundert wurden viele Inseln zu Festungen ausgebaut. Der Tourist kann die verschiedenen Stellen besuchen, an denen Columbus gelandet ist, und da sich der vierhundertste Jahrestag seiner ersten Seereise von 1590 nähert, findet die Kultur und Geschichte, die ein integraler Bestandteil des Insellebens ist, gesteigerte Aufmerksamkeit …«
Armstrong, du … Arschloch. »Ja, ja«, nicke ich. »Äh …« Paisley-Schlipse, karierte Anzüge, meine Aerobic-Stunden, Videokassetten zurückgeben, Gewürze von Zabars abholen, Bettler, weiße Schoko-Trüffel … Der modrige Geruch von Drakkar Noir, das Christopher aufgelegt hat, weht mir ums Gesicht und vermischt sich mit dem Geruch des Chutney, des Korianders, der Zwiebeln und der schwarzen Bohnen. »Ja, ja«, sage ich noch einmal.
»Der Aktivurlauber kann bergsteigen, Höhlen erforschen, segeln, reiten und auf einem Floß über reißende Flüsse fahren, und wer sein Glück beim Spiel auf die Probe stellen will, hat dazu in den vielen Kasinos auf den Inseln Gelegenheit …«
Flüchtig stelle ich mir vor, mein Messer zu zücken, ein Handgelenk aufzuschlitzen, meines, die sprudelnde Vene auf Armstrongs Kopf oder besser noch auf seinen Anzug spritzen zu lassen, und frage mich, ob er selbst dann noch weiterreden würde. Ich spiele mit dem Gedanken, ob ich kommentarlos aufstehen und mit einem Taxi zu einem anderen Restaurant fahren soll, irgendwo in SoHo, vielleicht etwas weiter uptown, um dort etwas zu trinken, auf die Toilette zu gehen, vielleicht Evelyn anzurufen, um dann ins DuPlex zurückzukommen, und ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, daß Armstrong dann immer noch von seinem Urlaub auf den verdammten Bahamas quasseln würde, wo offenbar nicht nur er, sondern die ganze Welt Ferien gemacht hat. Irgendwann zwischendurch räumt der Kellner die halbvollen Vorspeisenteller ab, serviert neue Coronas, Freilandhähnchen mit Johannisbeer-Essig und Guacamole, Kalbsleber mit Shadrogen und Lauch, und ich bin mir nicht sicher, wer was bestellt hatte, aber das spielt keine Rolle, da beide Teller ohnehin genau gleich aussehen. Ich erwische das Freilandhähnchen mit einer Extraportion Tomatillosauce, glaube ich.
»Besucher der Karibik brauchen keinen Paß – lediglich einen Nachweis ihrer U.S.-Staatsbürgerschaft –, und was noch viel besser ist, Taylor, die Sprache bedeutet überhaupt kein Hindernis. Englisch wird überall gesprochen, selbst auf diesen Inseln, wo die Landessprache Französisch oder Spanisch ist. Die meisten Inseln sind ehemalige britische …«
»Mein Leben ist eine einzige Hölle«, bemerke ich beiläufig, während ich gleichgültig den Porree auf meinem Teller herumschiebe, der übrigens ein Porzellandreieck ist. »Und es gibt noch viel mehr Menschen, die ich, äh, … ja, umbringen will.« Ich sage das mit Betonung auf den letzten beiden Worten und schaue direkt in Armstrongs Gesicht.
»Die Verbindungen auf die Inseln haben sich verbessert, seit sowohl American Airlines wie Eastern Airlines San Juan zum Drehkreuz gemacht haben und Anschlußflüge zu den Inseln anbieten, die sie nicht direkt anfliegen. Mit dem zusätzlichen Dienst von BWIA, Pan Am, ALM, Air Jamaica, Bahamas Air und Cayman Airways sind die meisten Inseln leicht zu erreichen. Es gibt von LIAT und BWIA zusätzliche Verbindungen innerhalb der Inseln, was eine Serie von planmäßigen Flügen von Insel zu Insel garantiert …«
Ich glaube, es ist Charles Fletcher, der da herüberkommt, während Armstrong weiterredet, und er klopft mir auf die Schulter und sagt »Hey Simpson« und »Bis dann im Fluties«, und dann trifft er an der Tür eine gutaussehende Frau – dicke Titten, blond, enges Kleid, weder seine Sekretärin noch seine Frau –, und sie verlassen das DuPlex zusammen und steigen in eine schwarze Limosine. Armstrong ißt immer noch, schneidet in den exakten Quadraten seiner Kalbsleber herum, und er redet weiter, während ich immer trübsinniger werde.
»Urlauber, denen eine ganze Woche zu lang ist, werden feststellen, daß die Karibik wie geschaffen für ein verlängertes Wochenende ist. Eastern Airlines bietet ihren Weekender Club an, der viele Zielorte in der Karibik umfaßt und dazu berechtigt, vielerlei Orte zu extrem reduzierten Preisen zu besuchen, was ja nichts heißen mag, aber wie ich glaube, werden viele Urlauber das Angebot