KAPITEL 2
An diesem Abend, als die letzten Boote ihre Passagiere und das Gepäck beim Konvoi abgeliefert hatten, befahl der Bootsmann der Calliope seine Männer in die Takelage. Dreißig andere Seeleute kamen aufs untere Deck und lichteten den Anker. Die Passagiere im unteren Zwischendeck durften ihr Quartier erst verlassen, als die Segel gesetzt waren, und Sharpe saß auf seiner Truhe und lauschte den Schritten über ihm, dem Scharren von Tauen an Deck und dem Ächzen der Holzbalken des Schiffs.
Eine halbe Stunde nach dem Lichten des Ankers rief Binns, der junge Offizier, dass das Deck betreten werden durfte, und Sharpe stieg die Treppe hinauf und sah, dass das Schiff noch nicht auf dem offenen Meer war. Schwarze Wolken trieben vor einer roten Sonne, die über den Dächern und Palmen von Bombay zu schweben schien. Sharpe nahm den Geruch des Landes stark wahr. Er bezweifelte, dass er es wiedersehen würde, und er bedauerte, es zu verlassen.
Das Takelwerk knarrte und das Wasser gurgelte an der Seite des Schiffes. Auf dem Achterdeck, wo die wohlhabenderen Passagiere Luft schöpften, winkte eine Frau zur zurückbleibenden Küste. Das Schiff neigte sich unter einer Böe, und die Lafettenräder einer Kanone schrammten auf dem Deck, bis sie von den Brooktauen gestoppt wurden.
Die Fahrrinne führte näher an die Küste heran und brachte das Schiff in die Nähe eines Tempelturms mit bunt bemalten Schnitzereien von Affen, Göttern und Elefanten.
Hinter der Calliope verließen die anderen großen Schiffe des Konvois ihren Ankerplatz. Eine Fregatte der East India Company, die den Konvoi bis zum Kap der Guten Hoffnung eskortieren würde, segelte vor der Calliope, und die dreizehn Streifen von Rot und Weiß mit der Unionsflagge im linken oberen Feld leuchteten im Glühen des Abendrots.
Sharpe hielt nach Captain Joel Chases Schiff Ausschau, aber das einzige Schiff der Königlichen Marine, das er sehen konnte, war ein kleiner Schoner mit vier Kanonen.
Die Matrosen der Calliope brachten das Deck in Ordnung und überprüften die Sicherung der Beiboote, die auf den Ersatzmasten wie auf großen Flößerholzstämmen zwischen dem Achterdeck und dem Vordeck lagerten.
Ein dunkelhäutiger Mann in einem Fischerkanu paddelte dem Schiff aus dem Weg und starrte dann offenen Mundes zu der großen schwarzweißen Wand empor, die an ihm vorbeizog. Der Tempel verblasste jetzt in der Abendsonne, aber Sharpe sah den dunklen Umriss des Turms und empfand so etwas wie Abschiedsschmerz. Er hatte Indien gemocht, es als Spielplatz für Krieger, Prinzen, Schufte und Abenteurer kennen gelernt. Er hatte hier Wohlstand gefunden, war hier zum Offizier geworden, hatte in den Hügeln und auf den alten Brustwehren seiner Festungen gekämpft. Er verließ dort Freunde und Geliebte und mehr als einen Feind in seinem Grab. Aber wofür? Für Britannien, wo niemand auf ihn wartete, keine Feinde von den Hügeln ritten und keine Tyrannen hinter Festungswällen lauerten?
Einer der wohlhabenden Passagiere kam mit einer Frau am Arm die steile Treppe vom Achterdeck herab. Wie die meisten Passagiere der Calliope war er ein Zivilist und elegant gekleidet mit dunkelgrünem Gehrock, weißer Hose und einem altmodischen Dreispitz. Die Frau an seinem Arm war pummelig, blond und in hauchdünnem Weiß gekleidet. Die beiden sprachen miteinander in einer Sprache, die Sharpe nicht kannte. Deutsch, Holländisch? Schwedisch? Die Frau lachte. Alles, was das ausländische Paar sah, angefangen von den Käfigen mit den Hühnern bis zum ersten seekranken Passagier an der Reling, schien sie zu amüsieren. Der Mann erklärte seiner Gefährtin das Schiff. »Bumm!«, stieß er hervor und zeigte auf eines der Geschütze. Dann wankte er, als das Schiff unter einer Windböe schlingerte. Die Frau lachte gespielt alarmiert auf und klammerte sich an den Ellbogen des Mannes.
»Sie wissen, wer das ist?« Es war Braithwaite, Lord William Hales Sekretär, der unbemerkt an Sharpes Seite getreten war.
»Nein«, sagte Sharpe brüsk. Er hatte instinktiv eine Abneigung gegen alles, was mit Lord William in Zusammenhang stand.
»Das ist der Baron von Dornberg«, sagte Braithwaite, als erwarte er, dass Sharpe beeindruckt war. Der Sekretär beobachtete, wie der Baron seiner Dame auf das Vordeck half, wo ein anderer Windstoß drohte, ihr den breitkrempigen Hut vom Kopf zu fegen.
»Nie von ihm gehört«, sagte Sharpe mürrisch.
»Er ist ein Nabob.« Braithwaite sprach das Wort ehrfürchtig aus, meinte damit, dass der Baron in Indien sagenhaft reich geworden war und jetzt seinen Wohlstand mit nach Europa nahm. Solch eine Karriere war ein Glücksspiel. Man starb entweder in Indien oder wurde reich. Die meisten starben.
»Führen Sie Güter mit sich?«, erkundigte sich Braithwaite.
»Güter?«, fragte Sharpe und fragte sich, warum sich Braithwaite so bemühte, freundlich zu ihm zu sein.
»Zum Verkaufen«, sagte Braithwaite ungeduldig, als sei Sharpe absichtlich begriffsstutzig. »Ich habe Pfauenfedern«, fuhr er fort. »Fünf Kisten voll. Die Federn erzielen in London einen Wahnsinnspreis. Hutmacher kaufen sie. Ich bin übrigens Malachi Braithwaite.« Er streckte Sharpe die Hand hin. »Lord Williams Privatsekretär.«
Sharpe schüttelte widerwillig die dargebotene Hand.
»Ich habe diesen Brief nicht abgeschickt«, sagte Braithwaite und lächelte bedeutungsvoll. »Ich habe es ihm bestätigt, aber nicht getan.« Braithwaite neigte sich näher. Er war ein wenig größer als Sharpe, jedoch viel dünner und hatte ein schwermütiges Gesicht mit unruhigen Augen, deren Blicke nie lange auf Sharpe ruhten, bevor sie zur Seite glitten, als erwarte er, jeden Augenblick angegriffen zu werden. »Seine Lordschaft wird nur annehmen, dass Ihr Colonel den Brief nie erhalten hat.«
»Warum haben Sie ihn nicht abgeschickt?«, fragte Sharpe.
Braithwaite wirkte gekränkt durch Sharpes schroffen Tonfall. »Wir werden Reisegefährten sein«, erklärte er ernst. »Für wie lange? Drei, vier Monate? Und ich reise nicht im Achterschiff wie seine Lordschaft, sondern muss im Zwischendeck schlafen, und obendrein noch im unteren! Nicht mal im oberen!« Es war ihm anzusehen, dass er diese Demütigung kaum ertragen konnte. Der Sekretär war wie ein Gentleman gekleidet, mit steifem Kragen und kunstvoll gebundener Krawatte, doch das Tuch seiner schwarzen Jacke war abgetragen, die Manschetten waren abgescheuert und sein Hemdkragen war verschlissen. »Warum sollte ich mir unnötig Feinde machen, Mister Sharpe?«, fragte Braithwaite. »Eine Hand wäscht die andere, und vielleicht könnten Sie mir auch einen Gefallen tun.«
»Zum Beispiel?«
Braithwaite zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, was alles passieren kann«, sagte er leichthin. Dann wandte er sich um und beobachtete, wie Baron von Dornberg den Niedergang zum Vordeck hinabstieg. »Man sagt, er hat ein Vermögen in Diamanten gemacht«, flüsterte er Sharpe zu, »und sein Diener braucht nicht im Zwischendeck zu schlafen, sondern hat einen Platz in der großen Kabine.« Diese letzte Information spuckte er fast heraus, dann verschloss sich sein Gesicht, und er trat vor, um den Baron abzufangen.
»Malachi Braithwaite, Privatsekretär von Lord William Hale«, stellte er sich vor und nahm den Hut ab, »sehr geehrt, Eure Lordschaft zu treffen.«
»Die Ehre und das Vergnügen sind ganz meinerseits«, antwortete Baron von Dornberg in ausgezeichnetem Englisch, dann erwiderte er Braithwaites Höflichkeit, indem er seinen Dreispitz abnahm und sich tief verneigte. Als er sich aufrichtete, sah er Sharpe an, und Sharpe hatte das Gefühl, ein vertrautes Gesicht zu erkennen, allerdings war dieses Gesicht jetzt mit einem großen, gewachsten Schnurrbart verziert. Er schaute den Baron an, und der Baron blickte einen Moment erstaunt, doch dann erholte er sich von seiner Überraschung und zwinkerte Sharpe zu.
Sharpe wollte etwas sagen, befürchtete jedoch, in lautes Lachen auszubrechen, und so begnügte er sich damit, dem Baron steif zuzunicken.
Doch von Dornberg wollte von Sharpes Förmlichkeit nichts wissen. Er breitete die Arme aus und nahm Sharpe in eine bärenartige Umarmung.
»Dies ist einer der tapfersten Männer in der britischen Armee«, sagte er zu seiner Frau, und dann flüsterte er in Sharpes Ohr: »Kein Wort, ich bitte Sie, kein Sterbenswörtchen.« Er trat zurück. »Darf ich Ihnen die Baroness von Dornberg vorstellen? Dies ist Mister Richard Sharpe, Mathilde. Ein Freund und ein Feind vor langer Zeit. Erzählen Sie mir nicht, Sie reisen im Zwischendeck, Mister Sharpe!«
»So ist es, Mylord.«
»Ich bin schockiert. Die Briten wissen nicht, wie sie ihre Helden behandeln sollten. Aber ich weiß es. Sie werden mit uns in der Kapitänskajüte dinieren. Ich bestehe darauf!« Er grinste Sharpe an, bot Mathilde den Arm, verneigte sich vor Braithwaite und ging davon.
»Sie sagten doch, Sie würden ihn nicht kennen«, beschwerte sich Braithwaite.
»Ich habe ihn mit dem Hut nicht erkannt«, sagte Sharpe. Er wandte sich ab, denn nun konnte er ein Grinsen nicht mehr unterdrücken.
Von Dornberg war kein Baron, und Sharpe bezweifelte, dass er jemals im Diamantenhandel tätig gewesen war, ganz gleich, wie viel er davon im Gepäck hatte, denn von Dornberg war ein Gauner. Mit richtigem Namen hieß er Anthony Pohlmann, und er war einst Gefreiter in der Hannoveranischen Armee gewesen, bevor er desertierte und einem indischen Prinzen diente. Sein Talent der Kriegsführung hatte ihm eine schnelle Beförderung eingebracht, bis er eine Zeitlang eine Marathen-Armee befehligt hatte, die in ganz Zentralindien gefürchtet war. Dann, eines heißen Tages, stieß seine Truppe zwischen zwei Flüssen und einem Ort namens Assaye auf eine viel kleinere britische Armee, die ihn mit Sepoys und schottischen Highlandern vernichtend schlug. Pohlmann selbst war spurlos untergetaucht, und jetzt war er hier auf der Calliope ein gefeierter Passagier.
»Wie haben Sie ihn kennen gelernt?«, fragte Braithwaite.
»Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern«, antwortete Sharpe vage. Er wandte sich um und blickte zur Küste. Das Land war jetzt dunkel, gesprenkelt von Lichtpunkten unter einem grauen Himmel und dem Rauch einer Stadt. Er wünschte, wieder dort zu sein, doch dann hörte er Pohlmanns laute Stimme, wandte sich um und sah, dass der Deutsche seine Frau Lady Grace Hale vorstellte.
Sharpe spähte zu Ihrer Ladyschaft. Sie befand sich oberhalb von ihm auf dem Achterdeck und nahm anscheinend die Leute, von denen es auf dem Hauptdeck wimmelte, gar nicht wahr. Sie gab Pohlmann die Hand, neigte ihren Kopf zu der blonden Frau und wandte sich dann ohne ein Wort ab.
»Das ist Lady Grace«, sagte Braithwaite mit ehrfürchtiger Stimme.
»Jemand hat mir erzählt, sie soll krank sein«, sagte Sharpe.
»Nur äußerst nervös.« Es klang, als wolle Braithwaite Grace verteidigen. »Sehr schöne, sensible Frauen neigen zu Unpässlichkeit, und ich finde, Ihre Ladyschaft ist wirklich eine empfindsame Schönheit.« Er sprach herzlich und konnte nicht den Blick von Lady Grace nehmen, die hinüber zur zurückbleibenden Küste blickte.
Eine Stunde später herrschte völlige Dunkelheit. Indien war verschwunden, und Sharpe segelte unter den Sternen.
»Der Krieg ist verloren«, erklärte Captain Peculiar Cromwell, »verloren.« Er sprach mit harter Stimme und blickte dann mit gerunzelter Stirn auf das Tischtuch. Es war der dritte Tag nach dem Auslaufen aus Bombay, und das Schiff segelte vor einer leichten Brise. Es war, wie Captain Chase Sharpe gesagt hatte, ein schnelles Schiff, und die Fregatte der East India Company hatte Cromwell befohlen, tagsüber einige Segel zu reffen, damit sie den langsameren Schiffen nicht davonfuhr. Cromwell hatte über den Befehl gemurrt, dann hatte er so viele Segel reffen lassen, dass die Calliope jetzt am Schluss des Konvois segelte.
Anthony Pohlmann hatte Sharpe eingeladen, in der Kapitänskajüte zu Abend zu speisen, wo Kapitän Cromwell abends über diejenigen wohlhabenden Passagiere präsidierte, die es sich leisten konnten, in den luxuriösen Heckkabinen zu reisen. Die Kapitänskajüte befand sich darüber auf dem Quarterdeck, dem höchsten Teil des Schiffes. Lord William Hale und der Baron von Dornberg bewohnten die größten, luxuriösesten und teuersten Kajüten, während unter ihnen, auf dem Hauptdeck, die große Kabine in vier Abteile für andere wohlhabende Passagiere des Schiffes aufgeteilt war. Einer war ein Nabob mit seiner Frau, der nach zwanzig profitablen Jahren in Indien in seine Heimat Cheshire zurückkehrte, ein anderer war ein Rechtsanwalt, der im Obersten Gerichtshof in Bengalen praktiziert hatte, der Dritte war ein grauhaariger Major, der seinen Abschied von der Armee genommen hatte, und die letzte Kabine gehörte Pohlmanns Diener, der nicht zum Essen in die Kapitänskajüte eingeladen worden war.
Es war der schottische Major, ein stämmiger Mann namens Arthur Dalton, der bei Peculiar Cromwells Erklärung, dass der Krieg verloren war, die Stirn runzelte.
»Wir haben die Franzosen in Indien besiegt«, protestierte er, »und ihre Marine in die Knie gezwungen.«
»Wenn ihre Marine in die Knie gezwungen worden ist«, grollte Cromwell, »warum segeln wir dann im Konvoi?« Er blickte Dalton streitlustig an, wartete auf eine Antwort, doch der Major weigerte sich, den verbalen Kampf aufzunehmen, und Cromwell blickte triumphierend in die Runde. Er war ein großer, schwergewichtiger Mann, und sein schwarzes, von weißen Strähnen durchzogenes Haar fiel bis auf seine Schultern. Er hatte ein eckiges Kinn, lange gelbe Zähne und streitlustig blickende Augen. Seine Hände, groß und kraftvoll, waren ständig geschwärzt vom geteerten Takelwerk. Sein Uniformrock aus dickem, blauem Wollstoff war mit großen Messingknöpfen verziert, die das Symbol der Company - ein Löwe, der eine Krone hält - trugen. Jeder nannte das Symbol »die Katze und der Käse«. Cromwell schüttelte den massigen Kopf. »Der Krieg ist verloren«, wiederholte er. »Wer wird den Kontinent Europa regieren?«
»Die Franzosen«, sagte der Rechtsanwalt, »doch es wird nicht lange so bleiben. Alles Strohfeuer ohne Substanz. Überhaupt nichts dahinter.«
»Die ganze Küste von Europa ist in feindlichen Händen«, sagte Cromwell eisig und ignorierte den Einwand. Er verstummte, als ein knirschendes, schabendes Geräusch die Kabine erfüllte. Es dauerte einen Moment, bis Sharpe erkannte, dass es das Geräusch des Ruderreeps war, das zwei Decks unter ihm verlief. Cromwell blickte zum Kompass hinauf, der an der Decke montiert war, sagte sich, dass alles in Ordnung war, und sprach weiter. »Europa ist, wie gesagt, in feindlicher Hand. Die Amerikaner mit ihrer Überheblichkeit sind uns feindlich gesinnt, und so ist unser Heimatmeer, Sir, eine feindliche See. Wir segeln dort, weil wir mehr Schiffe haben, aber Schiffe kosten Geld, und wie lange wird das britische Volk für Schiffe zahlen?«
»Da sind noch die Österreicher«, sagte Major Dalton. »Und die Russen.«
»Die Österreicher, Sir!« Cromwell lachte spöttisch. »Die Österreicher bekämpfen erst eine Armee, wenn sie vernichtet ist! Und die Russen? Würden Sie den Russen vertrauen, Europa zu befreien, wenn sie sich nicht mal selbst befreien können? Sind Sie schon mal in Russland gewesen, Sir?«
»Nein«, gab Major Dalton zu.
»Ein Land von Sklaven«, sagte Cromwell spöttisch.
Man hätte von Lord William Hale, einem der sechs Mitglieder des Kontrollausschusses der East India Company, vielleicht erwartet, dass er sich an dieser Unterhaltung beteiligte, denn er musste mit der Denkweise der britischen Regierung vertraut sein, doch er gab sich damit zufrieden, mit der Andeutung eines amüsierten Lächelns zuzuhören. Nur bei Cromwells Äußerung, dass die Russen eine Nation von Sklaven sei, hob er eine Augenbraue.
»Die Franzosen, Sir«, fuhr Cromwell hitzig fort, »stehen einem Pöbelhaufen von Feinden an ihren östlichen Grenzen gegenüber, aber keinem an ihren westlichen. Sie können deshalb ihre Armeen konzentrieren, sicher in dem Wissen, dass keine britische Armee jemals ihre Küste angreifen wird.«
»Niemals?«, fragte der Händler, ein gediegener Mann namens Ebenezer Fairley, sarkastisch.
Cromwells Kopf ruckte zu seinem neuen Widersacher herum. Er betrachtete Fairley eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Die Briten, Fairley, mögen keine Armeen. Sie halten nur eine kleine Armee. Eine kleine Armee kann Napoleon niemals besiegen. Ergo ist Napoleon sicher. Ergo ist der Krieg verloren. Guter Gott, Mann, sie könnten bereits in Britannien eingefallen sein!«
»Ich bete, dass dies nicht der Fall sein wird«, sagte Major Dalton inbrünstig.
»Ihre Armee ist bereit«, sagte Cromwell dröhnend, weil er anscheinend sonderbaren Geschmack an diesem Gerede von einer britischen Niederlage empfand, »und alles, was sie brauchen, ist die Hoheit über den Ärmelkanal.«
»Die sie nicht gewinnen werden«, warf der Rechtsanwalt ruhig ein.
Cromwell ignorierte den Anwalt und fuhr fort: »Und selbst wenn sie die Invasion nicht in diesem Jahr machen, dann werden sie in dieser Zeit eine Marine aufbauen, die in der Lage ist, unsere zu besiegen. Und wenn dieser Tag kommt, wird Britannien Frieden suchen. Britannien wird zu seiner natürlichen Haltung zurückkehren, und die natürliche Haltung ist, eine kleine und unbedeutende Insel zu sein, abgeschnitten vom großen Kontinent.«
Lady Grace sprach zum ersten Mal an diesem Abend. Sharpe war überrascht und erfreut gewesen, sie beim Abendessen zu sehen, denn Captain Chase hatte gesagt, dass sie Gesellschaft mied, doch sie schien sich in der Kapitänskajüte wohl zu fühlen, obwohl sie sich ebenso wenig an der Unterhaltung beteiligt hatte wie ihr Mann. »So sind wir also zur Niederlage verdammt, Captain?«, fragte sie.
»Nein, Ma'am«, antwortete Cromwell, und zähmte seine Kampfeslust, nachdem er mit seinem Titel angesprochen worden war. »Wir sind zu einem realistischen Friedensschluss verdammt, wenn die Politiker erst erkannt haben, was klar vor ihren Augen liegt.«
»Und was ist das?«, fragte Fairley.
»Dass die Franzosen mächtiger sind als wir, natürlich«, grollte Cromwell. »Und bis wir Frieden schließen, macht der kluge Mann Geld, denn wir werden Geld brauchen, wenn die Welt von den Franzosen beherrscht wird. Deshalb ist Indien wichtig. Wir sollten es aussaugen, bevor die Franzosen es uns wegnehmen.« Cromwell schnippte mit den Fingern, um die Stewards anzuweisen, die Teller abzuräumen. Es hatte Rindfleischragout gegeben. Sharpe hatte mit dem schweren Silberbesteck ungeschickt hantiert und sich gewünscht, sein Taschenmesser nehmen zu können, das er bei Mahlzeiten benutzte, wenn seine Vorgesetzten nicht anwesend waren.
Mathilde, die Baroness von Dornberg, lächelte dankbar, als der Captain ihr Weinglas auffüllte. Die Baroness, die höchstwahrscheinlich keine war, saß an Captain Cromwells linker Seite, während an seiner andere Grace Hale saß. Pohlmann, strahlend in einem mit Spitze besetzten Seidenrock, saß neben Lady Grace, während Lord William links von Mathilde saß. Sharpe, die unwichtigste anwesende Person, saß am unteren Ende des Tisches.
Die Kapitänskajüte war ein eleganter Raum, mit Holz getäfelt, das erbsengrün und golden angestrichen war, und ein messingfarbener Kerzenleuchter ohne Kerzen hing von einem Balken nahe des großen Heckfensters. Wenn der Raum nicht sanft geschaukelt und sich gelegentlich ein Weinglas auf dem Tisch verschoben hätte, dann hätte Sharpe sich wie an Land gefühlt.
Den ganzen Abend hatte er nichts gesagt, sich damit zufriedengegeben, die bleiche und zurückhaltende Lady Grace anzuschauen, die ihn ignoriert hatte, seit man ihn ihr vorgestellt hatte. Sie hatte ihm höflich eine behandschuhte Hand gereicht, ihm einen ausdruckslosen Blick geschenkt und sich dann abgewandt. Ihr Mann hatte bei Sharpes Anwesenheit die Stirn gerunzelt und dann wie seine Frau getan, als nähme er ihn gar nicht wahr.
Ein Dessert aus Orangen und Karamell wurde serviert. Pohlmann löffelte den gebrannten Zucker genüsslich und blickte dann Sharpe an. »Was meinen Sie, Sharpe? Ist der Krieg verloren?«
»Ich, Sir?« Sharpe war überrascht, angesprochen zu werden.
»Sie, Sharpe, ja, Sie«, sagte Pohlmann.
Sharpe zögerte, sagte sich, dass es das Klügste wäre, etwas Harmloses zu sagen und die Unterhaltung ohne seine Beteiligung weitergehen zu lassen, doch er fühlte sich durch Cromwells Defätismus fast beleidigt. »Er ist gewiss noch nicht verloren, Mylord«, sagte er zu Pohlmann.
Cromwell missfiel die Kritik. »Was meinen Sie damit, Sir? Erklären Sie das.«
»Ein Kampf ist erst verloren, wenn er zu Ende ist, Sir«, sagte Sharpe, »und dieser hat noch nicht stattgefunden.«
»Sprach der Ensign«, murmelte Lord William spöttisch.
»Sie meinen, eine Ratte hat eine Chance gegen einen Terrier?«, fragte Cromwell genauso spöttisch.
Pohlmann hob die Hand, bevor Sharpe etwas erwidern konnte. »Ich bin sicher, Ensign Sharpe weiß viel übers Kämpfen, Captain«, sagte der Deutsche. »Als ich ihn kennen lernte, war er Sergeant, und jetzt ist er zum Offizier aufgestiegen.« Er legte eine Pause ein und ließ die Überraschung dieser Äußerung einwirken. »Wie kommt es, dass ein Sergeant zum Offizier der britischen Armee wird?«
»Verdammtes Glück«, sagte Lord William lakonisch.
»Es erfordert eine Tat von herausragender Tapferkeit«, bemerkte Major Dalton mit ruhiger Stimme. Er hob sein Weinglas und prostete Sharpe zu. »Ich bin geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sharpe. Ich wusste Ihren Namen nicht einzuordnen, als wir vorgestellt wurden, aber jetzt erinnere ich mich an ihn. Ich bin geehrt.«
Pohlmann genoss es, dass er mit seinen Worten Zwietracht gesät hatte, und prostete Sharpe zu. »Was ist also Ihre Tat von herausragender Tapferkeit gewesen, Mister Sharpe?«
Sharpe schoss das Blut in die Wangen. Lady Grace starrte ihn an. Es war das erste Mal, seit sich die Gesellschaft zum Essen gesetzt hatte, dass sie Notiz von ihm nahm.
»Nun, Sharpe?«, fragte Captain Cromwell.
Sharpe brachte kein Wort hervor. Er wurde jedoch von Major Dalton gerettet.
»Er hat Sir Arthur Wellesley das Leben gerettet«, sagte Dalton mit ruhiger Stimme.
»Wie? Wo?«, fragte Pohlmann.
Sharpe fing den Blick des Deutschen auf. »Bei einem Ort namens Assaye, Sir.«
»Assaye?« Pohlmann furchte leicht die Stirn. Es war bei Assaye gewesen, wo seine Armee geschlagen und seine Ambitionen durch Wellesley vernichtet worden waren. »Nie gehört«, sagte er leichthin und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
»Und sie waren der Erste auf den Mauern von Gawilgarh, Sharpe«, sagte der Major, »das stimmt doch?«
»Ich und Captain Campbell, wir waren die Ersten, Sir. Aber die Mauer der Festung, die wir erstürmten, wurde nur unzulänglich verteidigt.«
»Haben Sie sich dabei die Narbe geholt?«, fragte der Major, und alle am Tisch schauten Sharpe an.
Er fühlte sich unbehaglich, doch er wusste, dass die Narbe auf Gewalt schließen ließ und er sie nicht wegleugnen konnte. »Sie stammt nicht von einer Kugel, habe ich recht?«, sagte der Major. »Kugeln verursachen keine solche Narben.«
»Es war ein Schwert, Sir«, antwortete Sharpe. »Das Schwert eines Mannes namens Dodd.« Während er sprach, blickte er Pohlmann an, und Pohlmann, der einst den Abtrünnigen Dodd befehligt und tiefe Abneigung gegen ihn gehabt hatte, lächelte schmal.
»Und lebt Mister Dodd noch?«, fragte der Deutsche.
»Er ist tot, Sir«, sagte Sharpe.
»Gut.« Pohlmann hob sein Glas und prostete Sharpe zu.
Der Major wandte sich an Cromwell. »Mister Sharpe ist ein bedeutender Soldat, Captain. Sir Arthur hat mir erzählt, dass man in einer schlimmen Schlacht keinen Besseren als ihn an seiner Seite haben kann.«
Die Äußerung, dass General Wellesley so etwas gesagt hatte, gefiel Sharpe, doch Captain Cromwell ließ sich nicht von seinem Thema ablenken. Er sah Sharpe finster an. »Sie meinen, dass die Franzosen besiegt werden können?«
»Wir sind im Krieg mit ihnen, Sir«, erwidert Sharpe, »und man führt keinen Krieg, wenn man nicht gewinnen will.«
»Man führt Krieg«, sagte Lord William eisig, »weil Kleingeister keine Alternative sehen.«
»Und jeder Krieg hat einen Gewinner«, sagte Cromwell. »Zwangsläufig muss es auch einen Verlierer geben. Wenn Sie meinen Rat hören wollen, junger Mann, dann sollten Sie die Armee verlassen, bevor irgendein Politiker Sie mit einem unbesonnenen Angriff auf Frankreich umbringt. Oder, wahrscheinlicher, die Franzosen in Britannien einfallen und Sie mit dem Rest der Rotröcke umbringen.«
Kurze Zeit später zogen sich die Damen zurück, und die Männer tranken ein Glas Portwein, doch die Atmosphäre war steif, und Pohlmann, sichtlich gelangweilt, entschuldigte sich bei der Gesellschaft und forderte Sharpe mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Er führte Sharpe zu seiner Kabine ein Deck tiefer, wo Mathilde jetzt auf einem mit Seide bezogenen Sofa lag. Ihr gegenüber saß auf einem identischen Sofa ein älterer Mann, der lebhaft auf Deutsch mit ihr sprach. Sofort erhob er sich und verneigte sich respektvoll.
Pohlmann wirkte überrascht, ihn zu sehen, und winkte ihn zur Tür. »Ich werde Sie heute Abend nicht brauchen«, sagte er auf Englisch.
»Sehr gut, Mylord«, antwortete der Mann, offenbar Pohlmanns Diener, in derselben Sprache, warf einen Blick auf Sharpe und verließ die Kabine. Pohlmann befahl Mathilde gebieterisch, etwas Luft auf dem Achterdeck zu schöpfen. Als sie fort war, schenkte er zwei große Brandys ein und grinste Sharpe an. »Ich hätte fast einen Herzschlag bekommen, als ich Sie an Bord sah«, sagte er und hielt dramatisch eine Hand auf seine Brust.
»Was würde es schon ausmachen, wenn man wüsste, wer Sie in Wirklichkeit sind?«, fragte Sharpe.
Pohlmann grinste. »Wie viel Kredit werden Händler einem Sergeant Anthony Pohlmann geben? Wohl keinen, wie? Aber dem Baron von Dornberg! Aaah! Sie stehen Schlange, um dem Baron Kredit zu geben. Sie fallen über ihre fetten Füße, um Guineen in seine Tasche zu schütten.«
Sharpe ließ seinen Blick durch die große Kabine schweifen. Sie war mit zwei Sofas, einem Sideboard, einem niedrigen Tisch, einer Harfe und einem breiten Bett aus Teak mit Schnitzereien auf dem Kopfbrett eingerichtet. »Es muss Ihnen in Indien gut gegangen sein.«
Pohlmann lachte. »Für einen ehemaligen Sergeant, wie? Ich habe einigen Kies gemacht, mein lieber Sharpe. Aber nicht so viel, wie ich mir gewünscht habe, und nicht annähernd so viel, wie ich bei Assaye verloren habe. Aber ich kann mich nicht beschweren. Wenn ich sparsam bin, werde ich nie wieder arbeiten müssen.« Er blickte auf den Saum von Sharpes rotem Rock, wo die eingenähten Juwelen kleine Beulen in dem abgetragenen Stoff bildeten. »Ich sehe, Ihnen ist es in Indien ebenfalls gut gegangen, wie?«
Sharpe war sich bewusst, dass der ausgefranste, abgenutzte Stoff des Rocks ein unsicherer Platz als Versteck für die Diamanten, Smaragde und Rubine war, aber darüber wollte er nicht mit Pohlmann sprechen. Stattdessen wies er auf die Harfe. »Sie spielen?«
»Mein Gott, nein! Mathilde spielt. Sehr schlecht, aber ich sage ihr, dass es wundervoll ist.«
»Sie ist Ihre Frau?«
»Bin ich ein Schwachkopf? Ein Blödmann? Würde ich heiraten? Ha! Nein, Sharpe. Sie war die Hure eines Radschas, und als er ihrer überdrüssig war, übernahm ich sie. Sie stammt aus Bayern und will Babys, also ist sie doppelt blöde, doch sie wird mir das Bett wärmen, bis ich in der Heimat bin, und dann werde ich eine Jüngere finden. Sie haben also Dodd gekillt?«
»Ich nicht, ein Freund hat ihn getötet.«
»Er hatte den Tod verdient. Ein schrecklicher Mann.« Pohlmann schauderte es. »Und Sie? Sie reisen allein?«
»Ja.«
»Im Rattenloch, wie?« Er blickte zum Saum von Sharpes Uniformrock. »Sie behalten Ihre Juwelen, bis Sie in England sind, und reisen im unteren Zwischendeck. Aber wichtiger, mein vorsichtiger Freund, werden Sie verraten, wer ich bin?«
»Nein«, erwiderte Sharpe mit einem Lächeln. Er hatte Pohlmann, den Hannoveraner, zum letzten Mal gesehen, als er sich in einer Bauernhütte in Assaye versteckt hatte. Sharpe hätte ihn festnehmen und die Lorbeeren einheimsen können, weil er den Kommandeur der besiegten Armee gefangen genommen hätte, doch er hatte fortgeblickt und den großen Mann entkommen lassen. »Aber ich nehme an, mein Schweigen ist Ihnen etwas wert«, fügte Sharpe hinzu.
»Sie wollen Mathilde, sagen wir jeden Freitag?« Pohlmann, sicher, dass sein Geheimnis bei Sharpe gut aufgehoben war, konnte seine Erleichterung nicht verbergen.
»Vielleicht ein paar Einladungen zum Abendessen.«
Pohlmann war überrascht von Sharpes bescheidener Bitte. »Sie lieben also Captain Cromwells Gesellschaft?«
»Nein.«
Pohlmann lachte. »Lady Grace«, sagte er leise. »Ich habe gesehen, Sharpe, wie Ihnen die Zunge heraushing wie einem scharfen Hund. Sie lieben die Damen schlank und zart, nicht wahr?«
»Mir gefällt sie.«
»Ihr Mann ist nicht so begeistert von ihr«, sagte Pohlmann. »Wir hören sie durch die Trennwand.« Er wies auf die Wand, die die große Kabine teilte. Sie bestand aus dünnem Paneelholz, das ausgebaut werden konnte, wenn nur ein Passagier in den Luxusquartieren wohnte. »Der Steward des Kapitäns sagte mir, dass seine Kabine doppelt so groß wie diese und geteilt ist. Er hat eine Seite und sie die andere. Sie sind wie - wie sagt man? - Hund und Katze?«
Sharpe nickte.
»Er bellt und sie faucht. Ich wünsche Ihnen trotzdem Spaß. Die Götter wissen, was die Frauen aus uns machen. Sie denken vermutlich, wir sind Bullen und sie Kühe. Sollen wir uns zu Mathilde aufs Deck gesellen?« Pohlmann nahm zwei Zigarren vom Sideboard. »Der Kapitän sagt, wir sollen nicht an Bord rauchen. Wir müssen uns mit Kautabak begnügen, aber er kann beim Bumsen qualmen.« Er zündete die Zigarren an, reichte eine Sharpe und führte ihn dann die Treppe hinauf zum Achterdeck.
Mathilde stand an der Reling und starrte auf einen Seemann hinab, der die Lampe im Kompasshaus anzündete, das einzige Licht, das auf dem Schiff in der Dunkelheit erlaubt war, während Lady Grace an der Heckreling unter der großen Hecklaterne stand, die auf dieser Reise nicht angezündet werden würde, solange die Gefahr bestand, dass die Revenant oder ein anderes französisches Schiff den Konvoi entdeckte.
»Gehen Sie zu ihr und reden Sie mit ihr«, sagte Pohlmann grinsend und stieß Sharpe mit dem Ellbogen an.
»Ich wüsste ihr nichts zu sagen.«
»Sie sind also nicht wirklich tapfer«, meinte Pohlmann. »Ich wage zu sagen, Sie würden nicht zweimal überlegen, ob Sie eine Linie von Geschützen angreifen, wie ich sie bei Assaye hatte, aber bei einer schönen Frau trauen Sie sich nicht.«
Lady Grace stand einsam da, eingehüllt in einen Mantel. Ein Dienstmädchen stand abseits von ihr auf dem Deck, als sei es nervös und fürchte sich vor ihr.
Sharpe war ebenfalls nervös. Er wünschte, mit ihr zu reden, doch er wusste, dass er ins Stammeln geraten würde. So blieb er neben Pohlmann und starrte zu den Segeln der anderen Schiffe des Konvois hinüber, die gerade noch zu erkennen waren. Auf dem Vordeck wurde Violine gespielt, und eine Gruppe Matrosen tanzte einen alten Matrosentanz.
»Sind Sie wirklich aus den Mannschaften heraus zum Offizier aufgestiegen?«, fragte eine kühle Stimme. Sharpe wandte sich um und sah Lady Grace, die zu ihm gekommen war.
Im ersten Augenblick war er sprachlos vor Überraschung, doch dann schaffte er es, zu nicken und zu sagen: »Ja, Ma'am, Mylady.«
Sie blickte in seine Augen. Sie war groß genug, um nicht zu ihm aufsehen zu müssen. Die Farbe ihrer großen Augen war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, aber beim Abendessen hatte Sharpe gesehen, dass sie grün waren. »Es müssen problematische Umstände gewesen sein«, sagte sie, immer noch mit kühler, distanzierter Stimme, als sei sie zu dieser Unterhaltung gezwungen worden und nur widerwillig dazu bereit.
»Ja, Ma'am«, sagte Sharpe von Neuem und kam sich wie ein Dummkopf vor. Er war angespannt, ein Muskel zuckte in seinem linken Bein, sein Mund war trocken und in seinem Bauch war ein unbehagliches Gefühl, die gleichen Empfindungen, die er immer hatte, wenn er auf die Schlacht wartete. »Bevor es geschah, Ma'am«, platzte er heraus, denn er wollte etwas anderes als eine einsilbige Antwort geben, »habe ich es mir erträumt, aber danach? Ich glaube, ich hätte es mir gar nicht erst wünschen sollen.«
Ihr Gesicht war ausdruckslos. Schön, aber ausdruckslos. Sie ignorierte Pohlmann und Mathilde, sondern schaute nur übers Achterdeck, bevor sie wieder Sharpe anblickte. »Wer macht es so problematisch?«, fragte sie. »Die einfachen Soldaten oder die Offiziere?«
»Beide, Ma'am«, sagte Sharpe. Er bemerkte, dass der Rauch seiner Zigarre ihr unangenehm war, und so warf er sie über Bord. »Die ehemaligen Kameraden bezweifeln, dass man ein richtiger Offizier ist, und die Offiziere - nun, es ist, als ob es sich ein Arbeitshund plötzlich auf dem feinen Kaminvorleger bequem gemacht hätte. Da werden die Schoßhunde neidisch.«
Sie lächelte leicht. »Sie müssen mir erzählen«, sagte sie mit einer Stimme, die immer noch darauf schließen ließ, dass sie nur höflich plauderte, »wie Sie Arthur das Leben gerettet haben.« Sharpe sah, wie an ihrem linken Auge aus Nervosität ein Muskel zuckte. »Er ist ein Cousin von mir«, fuhr sie fort, »aber ein sehr entfernter. Keiner von der Familie dachte, dass er es je zu etwas bringt.«
Es hatte ein paar Sekunden gedauert, bis Sharpe erkannt hatte, dass sie Sir Arthur Wellesley meinte, den kalten Mann, der Sharpe befördert hatte. »Er ist der beste General, den ich je kennen gelernt habe, Ma'am«, sagte er.
»Das meinen Sie wirklich?«, fragte sie skeptisch.
»Ja, Ma'am«, bekräftigte Sharpe, »das meine ich.«
»Wie haben Sie ihm das Leben gerettet?«
Sharpe zögerte. Der Duft ihres Parfüms war schwer. Er hätte fast etwas Vages über die Verwirrung während der Schlacht und über mangelnde Erinnerung gesagt, doch in diesem Augenblick tauchte Lord William auf dem Achterdeck auf, und ohne ein Wort wandte sie sich zur Treppe. Sharpe blickte ihr nach, und sein Herz schlug heftig. Er war immer noch aufgewühlt. Ihre Nähe hatte ihn schwindlig gemacht.
Pohlmann lachte leise. »Sie mag Sie, Sharpe.«
»Seien Sie nicht blöde.«
»Sie ist scharf auf Sie«, sagte Pohlmann.
»Mein lieber Sharpe! Mein lieber Sharpe!« Es war der Schotte, Major Dalton, der vom Achterdeck herabstieg. »Da sind Sie ja! Sie waren so schnell verschwunden! Ich möchte mit Ihnen reden, wenn Sie so freundlich wären, mir ein paar Minuten zu widmen. Wie Sie, Sharpe, war ich bei Assaye dabei, und ich bin über die Geschehnisse dort immer noch verwirrt. Mein lieber Baron, Baroness ...«, er nahm den Hut ab und verneigte sich, »... seien Sie gegrüßt. Vielleicht werden Sie verzeihen, wenn zwei Soldaten in Erinnerungen schwelgen?«
»Ich werde Ihnen verzeihen, Major«, sagte Pohlmann überschwänglich. »Aber ich werde Sie ebenfalls verlassen, denn ich habe keine Ahnung vom Soldatentum, nicht die geringste! Ihre Unterhaltung wäre ein großes Geheimnis für mich. Komm, mein Liebchen, komm.«
So erzählte Sharpe in der tropischen Dunkelheit von der Schlacht bei Assaye.
»Geschütz Nummer vier!«, rief Tufnell, der Erste Leutnant der Calliope. »Feuer!«
Das 18-Pfünder-Geschütz sprang zurück und ruckte zu einem Halt, als die Brooktaue den Rückstoß abfingen. Weiße Fragmente des Anstrichs flogen von dem gespannten Hanf, denn Captain Cromwell bestand darauf, dass die Brooktaue wie jedes andere Ausrüstungsstück an Deck weiß angestrichen waren. Es war der Grund dafür, dass nur ein einziges Geschütz feuerte, denn Cromwell wollte nicht die anderen einunddreißig Kanonen einsetzen, die polierte Rohre und frisch angestrichene Brooktaue hatten, sodass jede Geschützmannschaft, zur Hälfte gebildet aus der Schiffscrew und zur Hälfte aus Passagieren, sich abwechselte, um Geschütz Nummer vier abzufeuern. Das 18-Pfünder-Geschütz, das Rohr vom Pulver geschwärzt, zischte, als das Rohr ausgewischt wurde. Eine große Rauchwolke zog hinter dem Schiff her und zerfaserte im Wind.
»Der Schuss war zu kurz, Sir!«, meldete Binns, der junge Offizier vom Heck aus, wo er, ausgerüstet mit einem Fernrohr, den Einschlag der Kugel beobachtet hatte. Die Chatham Castle, ein anderes Schiff des Konvois, ließ regelmäßig leere Fässer ins Kielwasser nieder, die dem Geschütz der Calliope als Ziel dienten.
Jetzt war die Mannschaft des Geschützes Nummer fünf mit dem Schießen an der Reihe. Der befehlshabende Seemann war ein verhutzelter Mann mit langen grauen Haaren, das er zu einem großen Knoten gebunden hatte. »Sie ...«, er wies auf Malachi Braithwaite, von dem zu seinem größten Unbehagen erwartet wurde, ein Geschütz zu bedienen, obwohl er der Privatsekretär eines Lords war, »... schieben zwei der schwarzen Beutel in das Rohr, wenn ich es sage. Er ...«, er zeigte auf einen Laskar, einen indischen Seemann, »... rammt sie fest, und Sie ...«, er wies wieder auf Braithwaite, »... schieben die Kugel ins Rohr. Der Schwarze rammt sie mit dem Ansetzer fest, und keiner von euch Landratten kommt ihm in den Weg. Und Sie ...«, er sah Sharpe an, »... zielen mit dem Geschütz.«
»Ich dachte, das sei Ihr Job«, sagte Sharpe.
»Ich bin halb blind.« Der Seemann grinste zahnlos und wandte sich an die anderen drei Passagiere. »Der Rest von euch hilft den anderen Blackies, das Geschütz vorwärts auf diese beiden Linien dort zu schieben, und wenn ihr das getan habt, tretet ihr verdammt aus dem Weg und haltet euch die Ohren zu. Wenn es zu einem Gefecht kommt, fallt ihr am besten auf die Knie und betet zum Allmächtigen, dass wir kapitulieren. Sie werden das Geschütz abfeuern, Sir?«, fragte er Sharpe. »Und Sie wissen, dass Sie auf einer Seite der Kanone stehen müssen, es sei denn, Sie wünschen ein Grab in der See. Am besten feuern Sie, wenn das Schiff in der Aufwärtsbewegung auf dem Wasser liegt, wenn Sie uns nicht wie Landratten aussehen lassen wollen. Sie werden ohnehin nichts treffen, Sir, weil das noch keinem gelungen ist. Wir üben nur, weil die Company das für nötig hält, aber wir haben noch keinen Schuss im Ernstfall abgegeben, und ich hoffe und bete, dass das niemals der Fall sein wird.«
Die Kanone war mit einem Steinschloss ausgestattet, genau wie eine Muskete. Das Pulver, eingehüllt in Riedgras, wurde in das Zündloch eingeführt. Wenn das Geschütz geladen war, brauchte Sharpe es nur noch auszurichten, zur Seite zu treten und die Abzugsleine zu ziehen. Braithwaite und der Laskar gaben das Pulver und die Kanonenkugel in den Lauf, der Laskar rammte sie fest, Sharpe stieß einen angespitzten Stift durch das Zündloch, um den Pulverbeutel zu durchlöchern, dann schob er das Zündröhrchen hinein. Die anderen Mannschaftsmitglieder schoben das Geschütz vor, bis das Rohr aus der geöffneten Stückpforte ragte. Es standen Handspaken zur Verfügung, große, keulenartige Holzhebel, die benutzt werden konnten, um das Geschütz nach links oder rechts auszurichten, aber keiner von den Mannschaften benutzte sie. Sie zielten nicht ernsthaft mit dem Geschütz, sondern erfüllten nur die obligatorischen Schritte der Übung, sodass im Logbuch bestätigt werden konnte, dass die Vorschriften der Company erfüllt worden waren.
»Da ist euer Ziel!«, rief Captain Cromwell. Sharpe, der durch die Stückpforte starrte, sah ein winziges Fass auf den Wellen schaukeln. Er hatte keine Ahnung, wie groß die Entfernung war, konnte nur warten, bis das Fass in die Schusslinie schwamm, und dann wiederum warten, bis sich das Schiff im Wellengang aufwärts bewegte. Dann sprang er gewandt zur Seite und zog an der Abzugsleine. Das Steinschloss schlug nach vorn, ein kleiner Feuerstrahl zuckte aus dem Zündloch, und dann polterte das Geschütz auf seinen kleinen Rädern zurück und sein Rauch wehte fast bis zur Hälfte des Hauptsegels hinauf, als die Pulverflamme durch die weiße Wolke stach. Die dicken Brooktaue erzitterten, Teilchen der Anstrichfarbe wirbelten durch die Luft, und Mister Binns rief aufgeregt vom Achterdeck: »Ein Treffer, Sir, ein Treffer! Ein Treffer! Voll drauf, Sir! Ein Treffer!«
»Wir haben Sie schon beim ersten Mal gehört, Mister Binns«, grollte Cromwell.
»Aber es ist ein Treffer, Sir!«, protestierte Binns und dachte, dass niemand ihm glaubte.
»Rauf auf den Großmast!«, fuhr Cromwell Binns an. »Ich habe Ihnen befohlen, still zu sein. Wenn Sie nicht lernen können, Ihre Zunge zu hüten, Junge, dann gehen Sie rauf und schreien Sie die Wolken an. Rauf!« Er wies zur Spitze des Großmasts. »Und Sie bleiben dort, bis ich Ihre übel riechende Anwesenheit wieder ertragen kann.«
Mathilde hatte vom Achterdeck begeistert applaudiert. Lady Grace war ebenfalls dort, und Sharpe war sich beim Zielen Ihrer Anwesenheit sehr bewusst gewesen.
»Das war verdammtes Glück«, sagte der alte Seemann.
»Reines Glück«, stimmte Sharpe zu.
»Und Sie haben den Käptn zehn Guineen gekostet«, fügte der alte Mann kichernd hinzu.
»Was habe ich?«
»Er hat mit Mister Tufnell gewettet, dass niemand das Ziel jemals treffen wird.«
»Ich dachte, das Wetten und Spielen ist an Bord verboten.«
»Es ist vieles verboten, aber das schließt nicht aus, dass es passiert.«
Sharpe dröhnte und klingelte es noch in den Ohren, als er vom rauchenden Geschütz wegtrat.
Tufnell, der Erste Offizier, bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln, und wollte nichts von seiner Behauptung wissen, dass es reines Glück gewesen war. Dann trat Tufnell zur Seite, denn Captain Cromwell kam vom Achterdeck herunter und näherte sich Sharpe.
»Haben Sie schon einmal eine Kanone abgefeuert?«, fragte der Captain grimmig.
»Nein, Sir.«
Cromwell spähte zur Takelage hinauf, dann sah er seinen Ersten Offizier an. »Mister Tufnell?«
»Sir?«
»Ein gebrochenes Tau. Da, am Marssegel!« Cromwell wies hin, und Sharpe folgte seinem ausgestreckten Finger und sah, dass eines der Fußpferde, auf denen die Matrosen in der Takelage bei der Arbeit standen, gerissen war. »Ich will kein marodes Schiff befehligen, Mister Tufnell«, schnarrte Cromwell. »Dies ist kein Lastboot mit Heu auf der Themse, Mister Tufnell, sondern ein Ostindienfahrer! Lassen Sie das flicken, Mann, bringen Sie das in Ordnung!«
Tufnell schickte zwei Matrosen hoch, um das gebrochene Tau zu ersetzen, während Cromwell der nächsten Mannschaft zuschaute, die das Geschütz abfeuerte. Die Kanone prallte zurück, der Rauch quoll auf, und die Kugel schlug gut hundert Yards von dem auf und ab schaukelnden Fass entfernt ein.
»Ziel verfehlt!«, meldete Binns vom Großmast.
»Ich habe ein Auge für Mängel«, sagte Cromwell mit seiner rauen, tiefen Stimme, »wie Sie zweifellos auch, Mister Sharpe. Sie sehen an die hundert Mann bei einer Parade, und bestimmt fällt Ihr Blick auf einen schlampigen Soldaten mit einer dreckigen Muskete. Habe ich recht?«
»Ich hoffe es, Sir.«
»Ein gebrochenes Tau kann einen Mann töten. Er kann deswegen aufs Deck stürzen und sich den Hals und seiner Mutter das Herz brechen. Ihr Sohn wollte mit seinem Fuß Halt finden, und da war nichts als Leere unter ihm. Wollen Sie, dass Ihrer Mutter das Herz bricht, Mister Sharpe?«
Sharpe sagte sich, das dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um zu erklären, das er seit langer Zeit eine Waise war. »Nein, Sir.«
Cromwell ließ seinen Blick auf dem Hauptdeck schweifen, das voller Männer war, die zu den Geschützmannschaften zählten. »Was fällt Ihnen bei diesen Männern auf, Mister Sharpe?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Sir.«
»Diese Männer sind in Hemdsärmeln, Mister Sharpe. Alle außer Ihnen und mir sind in Hemdsärmeln. Ich lasse meinen Rock an, Sharpe, weil ich Kapitän dieses Schiffs bin und es sich schickt, förmlich gekleidet vor seinen Männern zu erscheinen. Aber warum, frage ich mich, lässt Mister Sharpe an einem heißen Tag seinen wollenen Rock an? Halten Sie sich für den Käptn?«
»Mir ist es nur kalt, Sir«, log Sharpe.
»Kalt?« Cromwell schnaubte. Er stellte seinen rechten Fuß auf eine Spalte zwischen den Decksplanken. Als er den Fuß hob, haftete ein Streifen von geschmolzenem Teer an seiner Schuhsohle. »Es ist Ihnen nicht kalt, Mister Sharpe, Sie schwitzen. Schwitzen! Also kommen Sie mit mir, Mister Sharpe.«
Der Captain wandte sich um und führte Sharpe zum Achterdeck hinauf. Die Passagiere, die bei der Schießübung zuschauten, machten Platz für die beiden Männer. Sharpe nahm plötzlich das Parfüm von Lady Grace wahr, und dann folgte er Cromwell den Niedergang hinab zur großen Kabine, dem Quartier des Kapitäns. Cromwell schloss die Tür auf, schob sie auf und forderte Sharpe mit einer Geste auf, einzutreten.
»Mein Heim«, brummte der Captain.
Sharpe hatte erwartet, dass der Kapitän eine der Heckkabinen mit ihren großen, breiten Fenstern hatte, doch es war wohl profitabler, solche Quartiere an Passagiere zu vergeben, und Cromwell gab sich mit einer kleineren Kabine auf der Backbordseite zufrieden. Dennoch war es eine komfortable Kabine. Eine Schlafkoje war in eine Bücherwand eingefügt, und auf einem Tisch lagen Karten, die mit drei Laternen und einem Paar langläufiger Pistolen beschwert waren. Das Tageslicht strömte durch ein geöffnetes Fenster, über dem sich die See an der weiß getünchten Decke widerspiegelte.
Cromwell schloss einen kleinen Schrank auf und entnahm ihm ein Barometer und etwas, das wie eine dicke Uhr aussah, die von einem Haken hing. »Dreihundertzwanzig Guineen«, sagte Cromwell und klopfte auf das Stück.
»Ich habe nie eine Uhr besessen«, erwiderte Sharpe.
»Es ist keine Uhr, Mister Sharpe«, sagte Cromwell, und es klang fast angewidert, »sondern ein Chronometer. Ein Wunder der Wissenschaft. Ich bezweifle, dass es mehr als zwei Sekunden zwischen hier und Britannien verlieren wird. Es ist diese Maschine, Mister Sharpe, die uns mitteilt, wo wir sind.« Er blies ein Staubkörnchen von dem Chronometer, klopfte leicht auf das Barometer, schob dann sorgfältig das Schränkchen zu und verschloss es. »Ich sichere meine Schätze, Mister Sharpe. Sie, andererseits, stellen Ihre zur Schau.«
Sharpe sagte nichts, und der Captain wies auf den einzigen Sessel in der Kabine. »Nehmen Sie Platz, Mister Sharpe. Wundern Sie sich wegen meines Namens?«
Sharpe fühlte sich unbehaglich. »Ihr Name ist - ungewöhnlich, Sir«, sagte er mit einem Schulterzucken.
»Er ist sonderbar«, sagte Peculiar Cromwell und fügte ein Lachen hinzu, das keine Heiterkeit verriet. »Meine Familie, Mister Sharpe, waren leidenschaftliche Christen, und sie nannten mich nach der Bibel. Nach dem fünften Buch Mose, Kapitel vierzehn, Vers zwei. Es ist nicht leicht, Mister Sharpe, mit einem solchen Namen zu leben. Er lädt zu Lächerlichkeiten ein. Meistens hat mich dieser Name zu einer Lachnummer gemacht!« Er sagte es so heftig, als ärgere er sich immer noch über alle Leute, die ihn jemals verspottet hatten, aber Sharpe, der angespannt auf der Kante des Sessels hockte, konnte sich nicht vorstellen, dass sich jemand über Peculiar Cromwell, den hartgesichtigen Mann mit der rauen Stimme, jemals lustig gemacht hatte.
Cromwell setzte sich auf seine Koje, legte die Ellbogen auf die Karten und heftete den Blick auf Sharpe. »Ich wurde für Gott beiseitegeschoben, und das trägt zu einem einsamen Leben bei. Mir wurde eine richtige Bildung versagt. Andere Leute studieren in Oxford oder Cambridge, werden mit Wissen vollgestopft, doch ich wurde zur See geschickt, weil meine Eltern glaubten, ich wäre, fern von jeder Küste, gegen jede irdische Versuchung gefeit. Doch ich habe mich selbst gebildet, Mister Sharpe. Ich habe aus Büchern gelernt ...«, er wies auf die Bücherregale, »... und herausgefunden, dass ich einen passenden Namen habe. Ich bin peculiar, absonderlich, in meinen Meinungen, Ansichten und Entscheidungen, Mister Sharpe.« Er schüttelte den Kopf, und sein langes Haar, das bis auf die Schultern seines schweren blauen Rocks fiel, geriet in Wallung. »Rings um mich sehe ich gebildete Männer, rational denkende, vernünftige Männer, vor allem gesellige Männer, aber ich habe festgestellt, dass keiner jemals eine große Tat vollbrachte. Nur die Einsamen, Mister Sharpe, bringen es zu wahrer Größe.« Er blickte finster drein, als sei diese Last fast zu schwer zu tragen. »Ich glaube, Sie sind ebenfalls ein absonderlicher Mann«, fuhr Cromwell fort. »Das Schicksal hat Sie von Ihrem natürlichen Platz aus dem Bodensatz der Gesellschaft gezerrt und zu einem Offizier gemacht. Und dies ...«, er lehnte sich vor und stieß einen Finger in Sharpes Richtung, »... muss Sie einsam machen.«
»Es hat mir nie an Freunden gemangelt«, sagte Sharpe, der die Unterhaltung peinlich fand.
»Sie haben Selbstvertrauen, Mister Sharpe«, sagte Cromwell dröhnend und ignorierte Sharpes Worte, »so wie ich mir Selbstvertrauen in der Erkenntnis angeeignet habe, dass man keinem anderen trauen kann. Wir sind beiseitegestellt worden, Sie und ich, als einsame Männer dazu verdammt, das Treiben derjenigen zu beobachten, die nicht peculiar, absonderlich, sind. Aber heute, Mister Sharpe, werde ich darauf bestehen, das Sie Ihr Misstrauen zurückstellen. Ich verlange, dass Sie mir vertrauen.«
»Wobei, Sir?«
Cromwell blickte auf den Kompass, der über der Koje befestigt war. »Ein Schiff ist eine kleine Welt, Mister Sharpe«, sagte er, »und ich bin auf diesem Schiff der Herr über alles, habe sogar die Macht über Leben und Tod. Aber ich sehne mich nicht nach dieser Macht. Meine Sehnsucht ist die Ordnung, Mister Sharpe. Ordnung!« Er schlug mit einer Hand auf die Karten. »Und ich werde keinen Diebstahl auf meinem Schiff dulden!«
Sharpe setzte sich empört auf. »Diebstahl! Wollen Sie damit sagen ...«
»Nein!«, unterbrach Cromwell ihn. »Natürlich beschuldige ich Sie nicht. Aber es wird Diebstahl geben, Mister Sharpe, wenn Sie weiterhin Ihren Wohlstand so zur Schau stellen.«
Sharpe lächelte. »Ich bin ein Ensign, Sir, der Niedrigste der Offiziere. Sie sagen selbst, dass mich das Schicksal aus meinem natürlichen Platz in der Gesellschaft angehoben hat, und Sie wissen, dass es dort unten kein Geld gibt. Ich bin nicht wohlhabend.«
»Und was, Mister Sharpe, ist dann in die Säume Ihres Rockes eingenäht?«, fragte Cromwell.
Sharpe schwieg. Eine Riesensumme war in die Säume seines Rocks, oben in seine Stiefel und in den Hosenbund eingenäht, und die Juwelen in seinem Rock waren zu erahnen, weil der rote Stoff so abgetragen war.
»Seeleute sind scharfsichtig, Mister Sharpe«, grollte Cromwell. Er wirkte verärgert, als das Geschütz auf dem Hauptdeck feuerte, als hätte ihn der Lärm beim Denken gestört. »Seeleute müssen scharfsichtig sein«, fuhr er fort, »und meine sind clever genug, um zu wissen, dass ein Soldat seine Beute an seinem Körper versteckt, und sie sind scharfsichtig genug, um zu bemerken, dass Mister Sharpe seinen Rock nicht auszieht. Eines Nachts, Mister Sharpe, wenn Sie an Deck frische Luft schöpfen, wird ein scharfsichtiger Matrose hinter Ihnen auftauchen. Ein Messerstich oder ein Schlag auf Ihren Schädel. Ein Platschen in der Dunkelheit und gute Nacht. Wer würde Sie vermissen?« Er enthüllte bei seinem Lächeln lange gelbe Zähne und berührte dann eine der Pistolen auf dem Tisch. »Wenn ich Sie jetzt erschieße, Ihre Leiche ausziehe und dann durch das Fenster werfe, wer würde es wagen, meine Geschichte anzuzweifeln, dass Sie mich angegriffen haben?«
Sharpe sagte nichts.
Cromwells Hand blieb auf der Pistole. »Sie haben eine Truhe in Ihrer Kabine?«
»Ja, Sir.«
»Aber Sie vertrauen meinen Matrosen nicht. Sie wissen, dass sie das Schloss binnen Sekunden aufbrechen könnten.«
»Das würden sie auch«, sagte Sharpe.
»Aber sie werden es nicht wagen, meine Truhe aufzubrechen!«, erklärte Cromwell und wies unter den Tisch, wo eine große, eisenbeschlagene Truhe aus Teak stand. »Ich will, dass Sie mir Ihren Schatz jetzt übergeben, Mister Sharpe, und ich werde Ihnen das schriftlich bestätigen, ihn aufbewahren und an unserem Zielort zurückgeben. Es ist eine normale Prozedur.« Erst jetzt zog er die Hand von der Waffe, griff in das Bücherregal und nahm eine kleine Schachtel, die mit Papieren gefüllt war. »Ich habe etwas Geld von Lord William Hale in dieser Truhe, sehen Sie?« Er überreichte Sharpe eines der Papiere. Darauf war der Erhalt von hundertsiebzig Guineen in indischer Währung bestätigt. Das Papier war von Peculiar Cromwell unterzeichnet und im Namen Lord Williams von Malachi Braithwaite. »Ich habe Besitz von Major Dalton«, sagte Cromwell und zeigte ein anderes Blatt Papier. »Und Juwelen, die dem Baron von Dornberg gehören.« Er reichte Sharpe die Quittung. »Und weitere Juwelen, die Mister Fazackerly gehören.« Fazackerly war der Anwalt. Cromwell trat gegen die Truhe. »Dies ist der sicherste Aufbewahrungsplatz auf diesem Schiff, und wenn einer meiner Passagiere Wertsachen mit sich herumschleppt, dann möchte ich, dass sie sicher aufbewahrt werden und meine Mannschaft oder irgendeinen Passagier nicht in Versuchung führen. Habe ich mich verständlich gemacht, Mister Sharpe?«
»Jawohl, Sir.«
»Aber Sie denken, dass Sie mir nicht vertrauen können?«
»Nein, Sir«, sagte Sharpe, der genau dies dachte.
»Ich habe Ihnen gesagt«, grollte Cromwell, »es ist eine normale Prozedur. Sie vertrauen mir Ihre Wertsachen an, und ich, als Captain im Dienst der East India Company, gebe Ihnen eine Quittung. Wenn ich die Wertsachen verliere, Mister Sharpe, wird die Company Sie entschädigen. Sie können sie nur verlieren, wenn das Schiff sinkt oder dem Feind in die Hände fällt. In diesem Fall müssten Sie sich an die Versicherung wenden.« Cromwell lächelte schmal, denn er wusste nur zu gut, dass Sharpes Schatz nicht versichert sein würde.
Sharpe sagte immer noch nichts.
»Bis jetzt, Mister Sharpe«, sagte Cromwell, »habe ich Sie gebeten, meinen Wünschen zu entsprechen. Wenn nötig, kann ich auch darauf bestehen.«
»Nicht nötig, darauf zu bestehen, Sir«, sagte Sharpe, denn Cromwell hatte recht mit seiner Behauptung, dass jeder scharfsichtige Seemann die schlecht versteckten Juwelen bemerken würde. Tag für Tag war sich Sharpe der Edelsteine bewusst. Sie waren eine Belastung für ihn und würden das bleiben, bis er sie in London verkaufen konnte, und diese Belastung würde von ihm genommen werden, wenn er die Steine in die Obhut der Company geben würde. Außerdem war es beruhigend für ihn, dass Pohlmann dem Captain so viele Juwelen anvertraut hatte. Wenn Pohlmann, der sich von keinem reinlegen ließ, Cromwell vertraute, dann konnte er, Sharpe, das ebenfalls.
Cromwell gab ihm eine kleine Schere, und Sharpe schnitt den Saum seines Rocks auf. Er gab weder die Steine in seinem Hosenbund noch die in seinen Stiefeln preis, denn sie waren selbst bei einem suchenden Blick nicht zu erkennen, doch er legte einen wachsenden Haufen von Rubinen, Diamanten und Smaragden aus den Säumen des roten Rocks auf den Tisch.
Cromwell teilte die Steine in drei Haufen und wog dann jeden Haufen auf einer kleinen Feinstwaage. Nachdem er sorgfältig die Resultate notiert hatte, schloss er die Edelsteine fort und gab Sharpe ein Übergabeprotokoll, das sie beide unterschrieben.
»Ich danke Ihnen, Mister Sharpe«, sagte Cromwell ernst, »denn Sie haben mir die Sorgen genommen. Der Proviantmeister wird einen Seemann finden, der Ihren Rock nähen kann«, fügte er hinzu und stand auf.
Auch Sharpe erhob sich. Er zog unter den niedrigen Deckenbalken den Kopf ein. »Danke, Sir.«
»Ich sehe Sie bald bestimmt beim Dinner. Der Baron mag anscheinend Ihre Gesellschaft. Sie kennen ihn gut?«
»Wir sind uns ein paarmal in Indien begegnet, Sir.«
»Er scheint ein seltsamer Mann zu sein, nicht dass ich ihn überhaupt kenne. Aber ein Aristokrat? Der seine Hände mit Handel schmutzig macht?« Cromwell schauderte es. »Ich nehme an, die Dinge laufen in Hannover anders.«
»Das könnte ich mir vorstellen, Sir.«
»Danke, Mister Sharpe.« Cromwell steckte seine Schlüssel ein und nickte zum Zeichen, dass Sharpe gehen konnte.
Major Dalton war auf dem Achterdeck und genoss die Schießübung. »Niemand kam an Ihre Schießkunst heran, Sharpe«, sagte der Schotte. »Ich bin stolz auf Sie! Sie haben die Ehre der Armee hochgehalten.«
Lady Grace schenkte Sharpe einen ihrer desinteressierten Blicke, dann wandte sie sich ab, um wieder auf den Horizont zu schauen. »Sagen Sie mir, Sir«, sagte Sharpe zu dem Major, »würden Sie einem Captain der East India Company trauen?«
»Wenn Sie solch einem Mann nicht trauen können, Sharpe, wäre das wie das Ende der Welt.«
»Das wollen wir doch nicht, oder?«
Sharpe blickte zu Lady Grace. Sie stand neben ihrem Mann und berührte leicht seinen Arm, um auf dem leicht schaukelnden Deck ihr Gleichgewicht zu bewahren. Hund und Katze, dachte er, und er fühlte sich wie von Krallen gekratzt.