„War notwendig“, entschuldigte er sich und bückte sich nach der zuvor auf dem Tisch liegenden Karte. „Wenn der Junge nicht daran glaubt, dann ist er nutzlos.“
McCoy stülpte sich seinen Hut über. Die Hautfarbe des jungen Mannes erinnerte an erstarrten Kalk. „Wo haben Sie die Scheiße gelernt?“, hustete er und starrte David aus großen Augen an.
„Berufsgeheimnis“, grinste er und hielt die Karte ins Licht. „Hattet ihr eigentlich, einmal abgesehen von den vermissten Farmern, noch andere ... ich meine andere die verschwunden sind?“
„Keine, von denen wir wüsten“, sagte Mathew.
„Das heißt?“
„Das heißt“, meldete sich McCoy zu Wort, „wenn uns niemand benachrichtigt oder eine Vermisstenanzeige aufgibt, dann ...“, er zuckte mit den Schultern, „...sind wir relativ ahnungslos.“
„Das heißt, es könnten schon andere verschwunden sein“, schlussfolgerte David. Er kaute auf der Zunge, suchte nach einem möglichen Hinweis. „Was ist mit Touristen?“
„Sind abgecheckt“, erklärte Mathew, „vermisste Touris wären eine Katastrophe. Selbst diese Abenteuerverrückten, die sich bis tief ins Outback vorwagen, müssen jeden Tag einen Rapport machen.“
In Davids Pupillen glimmte plötzlich ein Feuer auf. Er torkelte über einige herumliegende Ordner und kramte aus einer der Ecken einen dunkelgrünen Rucksack hervor. „Was ist mit den Ureinwohnern?“
„Den Aborigines?“ Mathews Mund blieb zu einem O geöffnet. „Es gibt einige Hundert die, es vorziehen den Weg ihrer Ahnen zu bestreiten, aber wir können nicht einsehen ...“
„Keine Treffen oder gelegentliche gedankliche Austausche?“
„Selten, hin und wieder taucht mal einer auf ... die sind halt lieber unter sich.“
David blätterte hektisch die Seiten um, stieß dann plötzlich einen findigen Ausspruch aus, und knallte das aufgeschlagene Buch auf den Tisch.
Die beiden Gesetzeshüter drängten sich zu ihm und lugten mit gespannten Gesichtern zu der offenbarten, zwei Seiten füllenden Zeichnung.
„Was zum Henker ist das für ein Vieh?“, stellte McCoy selbige Frage, die Wahrscheinlich auch seinem Vorgesetzten durch den Kopf schwirrte.
David beantwortete die Frage nicht direkt, sondern ging auf eine vorangegangene Beobachtung ein. „Er hat sich zuerst die geholt, deren Verschwinden nicht auffällt.“
Keiner der beiden anderen Männer erwiderte etwas.
„Ihr habt selbst gesagt, dass die Aborigines
die Abgeschiedenheit vorziehen. Es würde also nicht auffallen, wenn
man einige Wochen nichts von ihnen hören würde.“
Mathew kräuselte die Lippen. Die Finger des Sheriffs trommelten
nervös auf der freien Hand. „Was denkst du?“
David hob eine Augenbraue. „Ich denke, dass dieser verfluchte Schweinepriester“, er schlug auf die aufgeschlagene Seite, „gar nicht mal blöd ist, sich heimlich im Hintergrund hält und dabei eine verdammt große Sache plant.“
McCoy lehnte sich ein Stück vor. Seine Augen waren nur auf die Zeichnung gerichtet. „Und was genau plant diese Vieh?“
Mathew schluckte einen dicken Kloß runter. „Er baut eine Armee auf“, sagte er mit Bestimmtheit und zischte bei Davids nickender Bestätigung, einen leisen Fluch.
„Er nennt sich Vincent“, brach David nach einigen Minuten das Schweigen.
Mathew sah ihn verdutzt an. „Woher ...?“
„Am Flughafen – er hat sich mir praktisch aufgedrängt. Ich wusste, dass mit ihm was nicht stimmte, aber diese Typen verstanden es von jeher, ihre Kräfte im Zaum zu halten.“ Er setzte ein mürrisches Grinsen auf. „Wollte wohl sicher gehen, ob ich ihm einen würdigen Kampf liefern würde.“
McCoy sprang auf, trat den eh schon umgekippten Papiereimer zu Seite und legte seine Arme auf das Fensterbrett. „Das ist doch alles Mist“, kommentierte er Davids Worte. „Dieses komische Ding da, in deinem Wälzer, es ... es ...“
„...zeigt Fenrir – Gott aller Lykaner und das größte Arschloch unter Gottes Sonne.“
Mathew schnappte sich das Buch, drehte es einmal um sich selbst. „Lykaner?“
„Werwölfe, Gestaltenwandler – die gesamte Palette.“
„Sieht mir aber nicht nach einem Werwolf aus?“
McCoy hatte seinen Fensterplatz verlassen und ließ sich von ihm das Buch aushändigen. „Er hat recht“, sagte er schließlich, „das ist alles, aber kein Wolfsmensch.“
Davids Grinsen wurde noch mürrischer. „Ihr müsst alles, und damit meine ich wirklich alles, was ihr bisher über diese Wesen zu Wissen glaubtet, aus euren Köpfen vertreiben. Die Bezeichnung Werwolf setzt sich aus dem lateinischen Wort Vir für Mann, und dem deutschen Wort für Wolf zusammen. Vor langer Zeit fielen mir Aufzeichnungen in die Hände, die von einer ersten großen Plage sprachen. Lange vor dem kirchlichen Glauben musste in vielen Teilen der Welt – nicht nur dem europäischen Raum, ein unergründlich böses Übel umgegangen sein. Dämonen halb Mensch, halb Tier. Sie jagten die Sterblichen, machten sie entweder zu ihres Gleichen oder labten sich an ihrem Fleische.“
„Aber etwas hat sie doch aufgehalten.“ McCoys Augen hefteten sich an Murphys Mund.
David faltete die Hände ineinander, knetete sie beunruhigt durch. „Nachdem sie den europäischen Raum eingenommen hatten, fielen sie in den Nahen Osten ein ...“, er machte eine Pause, versuchte sich die alten Aufzeichnungen bildlich ins Gedächtnis zurückzurufen, „... mehr weiß ich nicht.“
McCoy warf seinen Kopf zurück. „Das ist doch nicht dein ernst. Ich meine, vielleicht hatten die Menschen irgendeine Waffe oder setzten sich aus – Klerikern – zusammen, aber ...“
„Sie müssen auf etwas Ebenbürtiges getroffen sein.“, beendete er den Wortschwall des Jungspundes „Etwas so Furchteinflößendes, dass Fenrir sich geschlagen geben musste, und sich nebenher auch noch eine ganze Weile aus dem Geschäft zurückzog. Dass er jetzt auf einmal wieder auf der Bildfläche erscheint ... zu einem Zeitpunkt, wo es in einigen Teilen der Erde eh drunter und drüber geht ...“
„New York“, sagte Mathew trocken.
Seine Stimme wurde eisern. „New York, weiß der Teufel was dort abgeht – aber um auf das Wesentliche zurückzukommen, ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Machtverhältnisse verschoben haben. Fenrir weiß etwas und dieses Wissen will er ausspielen.“
„Warum gerade hier?“ Mathew trat ihm gegenüber. Die Stimmung war auf einem Tiefpunkt gefallen. „Warum hat er sich ausgerechnet diesen Ort dafür ausgesucht?“
Davids Blick wurde glasig. „Vielleicht wollte er zu Anfangs nicht zuviel Aufmerksamkeit auf sich lenken.“ Er hielt inne. In seinem Kopf hatte sich ein Schalter umgelegt. „Oder er rechnete fest damit, dass du mich benachrichtigen würdest.“
*
„An der Sache ist mehr dran, als es den Anschein hat“, Barker hielt für einen Moment inne. „Viel mehr.“
Nathalie wischte sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht. Ihre großen traurigen Rehaugen suchten den Kontakt zu Barker. Er tolerierte den Blick und sah wie sich sein alterndes Antlitz in dem dunklen See ihrer Pupillen wieder spiegelte. „Was will Harris damit bezwecken?“, stellte sie die Frage, welche ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf stob. Aber er wusste keine Antwort. Alles erschien surreal, verworren und in keiner Weise einleuchtend.
„Das mit der Suspendierung tut mir leid.“
Barker brachte ein steriles Lächeln zustande. „Mir nicht“, sagte er, und stocherte dabei in seinem Kuchen rum. „Ich hasste diesen Job und die Menschen mit denen ich arbeiten musste. – Das heißt den Großteil von ihnen.“
„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, piepste eine adrette Kellnerin. Die Frau wirkte trotz ihres freundlichen Auftretens seltsam angespannt. Ihre Augen rollten unruhig in den Höhlen umher und bedachten jeden neu erscheinenden Gast mit Argwohn. Anders wie die meisten Cafes, war der Besitzer darauf bedacht die Öffnungszeiten aufrecht zu erhalten. Der Frau blieb also nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Barker fiel auch ein kleines Kreuz auf, welches in einer silbernen Kette von ihrem Hals baumelte. „Sie sind gläubig?“, fragte er unverhohlen und wartete gespannt auf die Reaktion der Frau.
„Wie ...?“ Sie blickte zuerst zu Barker, dann zu Nathalie, fast so, als erwartete sie, dass die vermeintliche Tochter sich für ihren senilen Vater entschuldige.
„Das Kreuz, deswegen die Frage. Man sieht heutzutage nicht mehr viele Leute in ihrem Alter, die sich auf die – verstaubten - Riten der Kirche berufen.“
Die Mundwinkel der Kellnerin fielen steil nach unten. „Ich trage es seit dem Feuer ... das am Himmel, Sie wissen schon.“
Barker nickte ruhig. „Natürlich“, entgegnete er ruhig.
„Also“, sie setzte wieder ihr Kundenfreundliches Lächeln auf, „kann ich ihnen beiden noch etwas bringen?“
„Vielleicht noch einen Kaffee“, er sah zu Nathalie, welche verneinend abwinkte. „Gut, dann bitte nur einen Kaffee.“
Nathalie wartete bis die Kellnerin außer Hörweite war und beugte sich dann zu Barker rüber. Der Arzt schien mit seinen Gedanken woanders. Sein Blick deutete ins Nichts, so als würde sein Gehirn begierig an der Lösung eines schwierigen Prozessarbeiten. „Erklären Sie es mir?“, sie fasste ihn beim Arm.
Barker verspürte bei dieser Berührung eine wollige Wärme in sich aufsteigen. Ein Gefühl, welches er schweren Herzens von sich abstreifte und in die hinterste Schublade seines geistigen Archivs verdrängte. „Ist es Ihnen noch nicht aufgefallen? Die Menschen haben Angst. Unser aller Weltanschauung ist innerhalb einer Woche ins Wanken geraten. Wir erlebten, die wahrheitsgetreue Auslebung der biblischen Plagen. Und ähnlich wie Rinder, die zur Schlachtbank geführt werden, wissen wir, dass, das Ende unabwendbar scheint.“
„Sie machen mir Angst.“
„Ich denke, wir können uns nicht vorstellen, was wahre Angst ist.“ Er kramte das zerknitterte Flugticket, zu Tage und legte es vor Nathalie auf den Tisch. „Lesen Sie“, verlangte er.
„Ein One Way Ticket, Spanien nach New York. Ich verstehe nicht.“
„Das Datum, schauen Sie sich das Datum an.“
Erkenntnis breitete sich auf dem Gesicht der jungen Studentin aus. „Der Tag an dem, dass Chaos losbrach.“
„Der Mann, der sich für Ethans jetzigen Zustand verantwortlich zeigt, hat, und Gott möge mich strafen, wenn dem nicht so ist, etwas ausgelöst, was nicht mehr in Worte zu fassen ist und ich bin mir absolut sicher, dass es so geplant war.“
„Das ist verrückt.“
„Ich habe mit den beiden Sanitätern gesprochen, die ihn zu uns gebracht haben. Obwohl die Beiden in dieser Nacht eine Fuhre nach der nächsten fahren mussten, wussten sie auf Anhieb, wen ich meinte. Während er in diesem Delirium ähnlichen Zustand verbrachte, klang immer und immer wieder ein Name auf. Das Einzige, was aus dem spanischen Kauderwelsch wirklich zu verstehen war Ethan. Nathalie verstehen Sie, was ich versuche Ihnen mitzuteilen?“
Die Studentin nickte. Ihr Mund war zu einem starren Entsetzen geöffnet. „Ethan, er wollte von Anfang an zu Ethan. Aber warum? Was wollte er von ihm.“
Barker ließ sich zufrieden in die Plastik Einbuchtung seines Platzes zurücksinken. „Harris weiß es – und ich gehe jede Wette ein, dass die verschwundene Schwester, diese Yeoh es auch weiß. In der Nacht, wo der Tätowierte, der Spanier, starb, muss noch etwas anderes geschehen sein. Wir müssen das Buch finden. Es beherbergt den Schlüssel.“
„Ihr Kaffee“, unterbrach ihn die Kellnerin. Mit einem Schmunzeln bemerkte er, wie sie das Kreuz unter ihrer Arbeitskleidung hatte verschwinden lassen.
*
Die manifestierte Armbrust zerrte an seinen Kräften. Forschte unentwegt nach der geistigen Essenz seiner selbst, und würde keine Sekunde zögern, sich seiner Seele zu bemächtigen.
Davids, zu schmalen Schlitzen verengten Augen, suchten immer wieder den Kontakt. Auch wenn sie eine mächtige Waffe darstellte, so durfte er niemals vergessen, dass sie kaum zu kontrollieren war und dieses Manko nur zu gerne ausgespielt hätte. Sie stellte keine wirkliche Existenz dar – das redete er sich zumindest ein, doch das stetige ihn beutelnde Unwohlsein, welches ihn bei ihrer Beschwörung überfiel, würde sich auf Dauer negativ auf seine eigene Psyche auswirken. Kein schöner Gedanke, vor allem wenn man einen Abschnitt des Lebens, in eine Nervenheilanstalt hatte verbringen müssen.
Über ihm kratzte etwas über die Decke. Er legte an und wollte gerade den ersten Schuss abfeuern, als der Alte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte. „Nicht alles Unsichtbare ist böse.“
Das Kratzen versiegte. David senkte die Waffe wieder gen Boden. Auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, was der Alte da andauernd von sich gab, so musste er doch eingestehen, dass er ihm, so verrückt es auch klang, Vertrauen entgegenbrachte. Woher dieses Vertrauen rührte konnte er nicht sagen, aber es war da, und konnte ihm entweder den Hals kosten, oder aber das Leben retten. Welches von Beiden sich schlussendlich, als richtig erwies, war nicht abzusehen – blieb zu erwarten das es sich um Letzteres handeln würde.
Sie kamen am Absatz einer großen Wendeltreppe zum stehen. Das hölzerne Gelände war an einigen Stellen aus der Verankerung gerissen worden. Die Kratz und Beißspuren waren unverkennbar und deuteten einmal mehr auf die Brutalität des Feindes hin.
„Da oben“, raunte er dem Alten zu. „Sie haben sich in einem der hinteren Zimmer verschanzt.
„Was fühlst du?“ Der Aborigini kam näher, auch seine Atmung glich einem stillen Hauch.
David setzte einen ersten Fuß auf die Treppe. „Was ich fühle?“ Er runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass dort oben zwei Erwachsene und mehrere Kinder sind, die wenn wir uns nicht beeilen, als Mahlzeit für einen verkappten ...“
Der Alte verfiel in herrisches Gemurmel. „So viel Potential“, seufzte er, „und sonst nichts?
David hielt abrupt inne. Der Kerl hatte Recht. Er konnte es sich nicht erlauben blind ins Messer zu laufen. Die Gefahr einer möglichen Falle, die im Endeffekt ihrer aller Köpfe kosten konnte, schien mit einem Mal erdrückend real. Ein Teil seines Geistes löste sich vom restlichen Ganzen – entschwebte bis in den zweiten Stock und forschte zielstrebig nach dem verschlingenden Bösen. Vor Davids inneren Augen manifestierte sich eine rote Wolke – verzerrend, den Tod bringend. Sie griff nach ihm ... wollte den geschickten Aufklärer vernichten und ....
„Genug!“, donnerte die Stimme des Alten auf.
Die Wolke flatterte wie ein defektes Fernsehbild auf und löste sich innerhalb eines Augenaufschlags im Nichts auf.
David wankte zurück, sein Gesicht war schweißgebadet. „Sie lauern bereits“, fröstelte er. „Die gesamte Meute. Er hat sie alle herbei gerufen, will endlich eine Entscheidung.“
„Du sorgst dich um deine Freunde“, um das Gesicht des Aborigines bildeten sich tiefe Sorgenfalten, „er weiß um diese Schwäche – er wird sie ausnutzen.“
„...ich werde ihn töten.“ David machte einen weiteren Schritt. Das dabei entstehende Knarren musste im gesamten Gebäude zu hören sein.
Sie verhielten sich ruhig. Lauerten auf die passende Gelegenheit und würden erst zuschlagen, wenn sie sich im Vorteil sahen. Der Gedanke, dass diese Kreaturen auf einen weiteren Vorteil ihrer Sache hofften, klang im Anbetracht ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit abstrus.
„Du denkst falsch“, ermahnte ihn der Alte.
„Inwiefern?“
„Du gehst von vornherein aus, dass sie dir überlegen sind.“
„Wir sind nur zu zweit – die – sind eine Armee.“
„Auf dieser Erdkugel leben über 6 Milliarden Menschen. Die meisten von ihnen stark im Glauben.“ Seine Hand zuckte hoch. „Der Glaube ist es, der uns vereint.“
Davids Stirn, legte sich in tiefe Falten. „Ich habe meinen Gott nie gesehen“, flüsterte er, „aber die führen ihren direkt mit sich.“
„Davon lässt du dich einschüchtern?“ Die Lippen des Alten formten einen nach oben zeigenden Sichelmond. „Ich werde die Herde übernehmen.“
„Das sind Dutzende.“
Der Alte nickte wissend.
„Die haben Zähne, Krallen sind über zwei Meter groß und ...“
Der Alte wiederholte das vorherige Nicken.
David stöhnte mitleidig auf. „Wie du meinst – aber beklag dich danach nicht bei mir.“ Er nahm die letzten Stufen in mehreren Sätzen. Schaute sich nach allen Seiten hin um und wartete auf den Angriff.
Nichts geschah.
„Vielleicht soll...“, bevor David den Satz beendet hatte, explodierte die nahe Wand in ihre Bestandsteile. Die Luft versank in einem dichten weißen Nebel. Von irgendwo klangen Schreie auf, die in einem grauenvollen Heulen untergingen.
Die Schlacht hatte begonnen.
*
Wo zuerst nur ein leichtes Kribbeln zu spüren war, keimten schon bald erste Wundmale auf. Um die Fingernägel legte sich ein roter Kranz. Er bekam Zahnfleischbluten. Was passiert mit mir? Ethan hatte sich in der Fötusstellung zusammengerollt. Ich werde sterben, tönte es ihm immer wieder auf. Ich werde diesen Ort nicht mehr lebend verlassen.
„So schweigsam?“
Er antwortete nicht. Nachdem das widerliche Tierlachen verklungen war, hatte der Fremde nichts mehr von sich hören lassen. Ein Umstand, an dem er nichts auszusetzen hatte.
„Es ist lange her, dass ich das letzte mal den süßlichen Geruch vergossenen Lebenssaftes aufgenommen habe. Du hast dich doch nicht verletzt?“ Es klang weniger besorgt, als viel mehr lauernd. „Hat es vielleicht mit den Zeichen zu tun?
Ethan verzog die Mundwinkel zu einem gequälten Aufstöhnen. „Was wissen Sie?“
„Viel und doch wenig.“
„Das hilft mir nicht.“ Von der Decke her klang ein schrilles Kreischen. Er rollte sich zur Seite und suchte angespannt die Umgebung ab.
„Scheint, als befände sich etwas im Anflug.“
Er schauderte. „Was war das?“ Für einen kurzen Moment, glaubte er etwas gesehen zu haben. Ein Lichtblitz, sehr schnell und einen roten Schweif hinter sich her ziehend.
„Die Feder ist wahrlich mächtiger, als das Schwert.“
„Sie sind wahnsinnig.“ Er quälte sich hoch, und wurde mitten in den Bewegungen von einem heißen Stechen erfasst, welches sich bis tief in sein Hirn zu bohren schien. Vor seinen geistigen Augen flammten schattenhafte Konturen auf. Er schrie auf, krallte seine Fingernägel in die Kopfhaut und riss ganze Haarbüschel aus.
„Sage mir, was du gesehen hast und ich werde dem Schmerz Einhalt gebieten.“
Es schleuderte ihn von einer Stelle zur nächsten. Heiße Klingen, die seine Gedärme zerschnitten und ihn an den Rand der Besinnungslosigkeit trieben.
„Was hast du gesehen?“, drängte ihn die unbarmherzige Stimme. „Rede endlich!“
Fingernägel lösten sich vom Fleisch. „...Ein Palast...“, winselte er, „... das größte was ich jemals sah ... Oh Gott bitte töte mich ... es soll aufhören ... bitte ...“ Alles weitere versank in einem erniedrigenden Reigen, dem eine tiefe Ohnmacht folgte.
„Ein Palast ...“ Die gelben Tieraugen verschlossen sich, in der Finsternis wiederholten sich die Worte, gefolgt von einem nach Ehrfurcht suchenden Fluch. „Sein Hort.“
*
Als Barker den Schlüssel drehte, glaubte er zu hören wie das zurückschnellende Schloss bis tief in den Korridoren des Hospitals niederhalte. Die schwere Feuertür schwang mit einem quietschenden Knarren auf. Er hielt angespannt die Luft an, linste nervös ins halbdunkel des Flures und betete, dass niemand ihrer Anwesenheit gewahr wurde.
„Wenn Sie noch länger Wurzeln schlagen, werden wir hier draußen erfrieren.“
„Wir müssen sicher gehen das ... Nathalie was zum Teufel ...“
Die junge Studentin war an ihm vorbei gehuscht und bewegte sich bereits zielstrebig Richtung Aufzug. Sie hatte ihr volles Haar zu einem Knoten zusammengebunden, was ihrer Schönheit keinesfalls einen Abbruch tat.
Barker genoss für einen Moment noch ihre ausgeprägte Rückansicht und machte sich dann mit eiligen Schritten an die Verfolgung. „Vorsicht ist in dieser Situation das Maß aller Dinge“, erklärte er.
Der beleidigte Unterton, welcher in der Rüge mit einfloss, zeichnete auf dem Gesicht der Studentin ein spitzbübisches Grinsen. „Wenn die Menschen keinerlei Wagnisse mehr eingehen würden, wäre es doch nur halb so spaßig – finden Sie nicht?“ Sie betätigte den Aufzugschalter.
„Das kann man so oder so sehen.“ Barkers Blick fiel auf die über dem Fahrstuhl angebrachten Leuchtziffern. Die Beiden waren über eine, der seitlich angebrachten Feuerleitern, bis in den zweiten Stock geklettert. Von hier aus wollten sie sich auf Station 9 und von dort aus zu der Quarantäne Station begeben. Ein Unterfangen, das nicht ohne Risiko war.
Das Harris ihn kurzerhand rausgeschmissen hatte – war mit Sicherheit nicht die einzige Maßnahme des Chefarztes geblieben. Der Kerl wollte auf Nummer sicher gehen.
Das Aufblinken der Nummer zwei gab das Zeichen, dass der Aufzug sein Ziel erreicht hatte. Als die beiden Türen zur Seite glitten und ihnen freie Sicht auf die Kabine offenbarten, entrang sich Barkers Kehle ein rauchiger Fluch.
Margies Lippen hatten sich zu einem süffisanten Grinsen vereinigt. „Weißt du was dein Problem ist?“, säuselte sie und deutete mit dem in ihrer Hand befindlichen Revolver auf seinen Kopf. „Du hast nie gelernt loszulassen.“
„Du bist verrückt“, Barker trat fast zeitgleich mit Nathalie einen Schritt zurück. Die Augen der Studentin flackerten aufgeregt im ausströmenden Licht der Fahrstuhlkabine.
Margie neigte ihr Haupt ein wenig zur Seite. „Bin ich das? Verrückt ...?“
„Woher wusstest du – dass wir kommen ...?“
„Intuition mein Lieber, weibliche Intuition.“ Sie starrte bei den Worten zu Nathalie rüber. „Frauengeschichten. Man muss sie nur richtig einzusetzen wissen ...“
Barker machte einen ungelenken Satz nach vorne und wollte nach der Waffe fassen. Margie trat ihm noch in der Bewegung die Beine weg und befand sich wenige Sekunden später direkt über ihm. Das plötzlich an seine Schläfen gedrückte Metall, ließ seine Hoffnungen im Zuge einer friedlichen Lösung der Situation im Keim ersticken. „Tu das nicht ... das bist nicht du – es ...“, versuchte er, der geistig umnachteten, Einhalt zu gebieten.
„Schnauze“, keifte sie und verstärkte den Druck. „Glaubst du irgendetwas von deinem dahin gespuckten Geschwafel bedeutet jetzt noch etwas? – Es ist aus ...“
Barkers Lider glitten nach unten. Er rechnete jeden Moment die auslösende Explosion des Projektils zu vernehmen. Dem letzten Geräusch seines Lebens.
Er vernahm ein metallenes Aufklingen, wohl kaum mit dem Ergebnis eines durchgezogenen Abzuges zu vergleichen. Margie heulte auf. Er hörte das Fallen des Revolvers gefolgt von einem dumpfen Aufschlag.
„Sie können die Augen wieder öffnen.“
Barker tat wie ihm geheißen und blinzelte zu der vor ihm stehenden Nathalie hoch.
„Die sind eigentlich für Brände gedacht“, räusperte er sich.
Sie setzte den Feuerlöscher wieder in die dafür vorgesehene Verankerung zurück und bedachte den sich wieder aufrichtenden Barker mit hochgezogener Augenbraue. „Im Anbetracht der Umstände, schien mir die Zweckentfremdung gerechtfertigt – was machen wir jetzt mit ihr?“ Sie nickte zu der bewusstlosen Margie rüber.
„Am besten einen Pflock durchs Herz“, grummelte Barker, „oder wir fesseln sie mit ihrem Kittel“, fügte er auf Nathalies entrüstete Reaktion reagierend bei. „Sie wissen ja, die oberste Pflicht eines Arztes ist die Erhaltung allen Lebens.“
„Natürlich“, Nathalie eignete sich den Revolver an. Der Blick ins Magazin machte deutlich das Margie es ernst gemeint hatte. „Was glauben Sie ist auf einmal mit ihr durchgegangen?“
„Das gleiche wie mit dem Rest der Stadt“, er fuhr sich mit der offenen Handfläche einmal quer übers Gesicht. „Komplett durchgedreht.“
*
Feiner überall in der Luft hängender Staub. Die Atemwege schmerzten. David unterdrückte den Hustenreiz. Versuchte sich auf die drohende Gefahr zu konzentrieren. Er war praktisch blind, konnte sich nur auf sein Gehör verlassen. Knapp zwei Meter vor ihm geiferte ein ungesättigtes Knurren auf.
Ein Schatten schälte sich hervor. Schnell und athletisch. Unter dem seidenen Fell trieben Sehnen und Muskelpartien, eine bis zu Perfektion ausgestattete Mordmaschinerie an. Es setzte zum Sprung an, winkelte die Hinterläufe an und katapultierte lautlos auf ihn zu.
Die Armbrust, schrie es in seinem Schädel auf. Er riss die Waffe hoch, und entsendete, Kraft seiner Gedanken, einen der Bolzen, welcher mit einer hellleuchtenden Kondensspur auf den Aggressor zusteuerte. Als das Geschoss in den Schädel der Bestie eindrang, zeugte weder Blut noch Geschrei von ihrem Ende. Der Bolzen war in tiefere Regionen eingedrungen, bemächtigte sich der Seele seines Opfers und entriss sie ihrem angestammten Körper.
Der Panther fiel, wie ein leblose Stein, zu Boden, seufzte ein letztes Mal auf und versank in einen ewigen Schlaf.
Im sich senkenden Nebel tauchten zwei miteinander kämpfende Schemen auf. Der Alte bewegte sich wie ein ausgebildeter Elitekämpfer, tauchte unter den tödlichen Prankenhieben seines Gegners weg und parierte mit gut gezielten Tritten und Schlägen. Der Lykaner überragte ihn um mindestens zwei Köpfe, grollte ihm bedrohlich zu und verstand offenbar nicht, warum das Menschlein nicht schon tot zu seinen Füßen lag.
„Oh Scheiße“, David wollte erneut anlegen, als ihn etwas bei den Schultern packte und brutal herumriss. Er baumelte einige Sekunden in der Luft, versuchte sich zu orientieren. Von irgendwoher schwangen die schrillen Angstschreie mehrerer Kindern zu ihm auf. Hank – Frau – Kinder. Wenn er nicht handelte waren diese Menschen so gut wie erledigt.
Er verkrallte sich mit der freien Hand, in dem nach Ziegen stinkenden Fell seines Widersachers und schrie einen alten Fluch aus.
Das Untier verfiel in heftige Zuckungen, verlor jegliches Interesse und torkelte blindlings gegen eine Wand. Wieder festen Boden unter den Füßen spürend, suchte er Kontakt zum massigen Rücken des bärenartigen Monstrums und beendete dessen Pein mit einem gut gezielten Schuss zwischen die Schulterblätter.
„Junger Freund“, wurde hinter ihm die Stimme des Alten laut. „Die Bedrängnis deiner Freunde wird mit jedem verstreichenden Moment größer.
David warf seinen Kopf zur Seite, wurde Zeuge wie der Aborigines soeben einem der Halbmenschen das Genick brach, und befand es für das beste, dem Mann seinen Spaß zu lassen.
Er blickte sich um. „Verdammter Staub“, fluchte er und streckte seine Arme aus. „Sanktus Terrestria Zetrusz.“ Zuerst wieder nur als laues Lüftchen wahrzunehmen, uferte die heraufbeschworene Magie zu einer winzigen Windrose aus, die den feinen Nebel wie ein überdimensionaler Staubsauger in sich aufnahm und das komplette Sichtfeld Murphys wieder zu alter Schärfe aufklären ließ. Er stand in einem breiten Flur, welcher den Weg zu einer aus den Angeln gerissenen Türe deutete. Das wenige durch die schmalen Oberlichter fließende Licht, erschien unwirklich und falsch.
Er verdrängt es. Machte einen Schritt zurück. Die Erkenntnis das der Urheber des vorausgegangenen Übels nicht mehr fern schien, schleuderte seine eh schon malträtierte Seele auf den Grund des Tateros.
Feigling.
David schauderte.
Du bist ein Feigling – hörst du, Murphy – ein Feigling.
Er trat vor, setzte vorsichtig einen Schritt vor den nächsten.
Er wird dich auseinander nehmen – keine Chance, keine Chance.
Aus dem Raum drang ein Schnauben, gefolgt von dem kläglichen Wimmern eines, nicht in Alterstufen zu deklarierenden Menschen. David beschleunigte.
Er braucht nur in die Hände zu klatschen – als würde er eine Fliege erledigen.
Fliegen waren schnell, wenn beide Handflächen aufeinander prallten, war sie längst außer Reichweite. Er erreichte den Durchgang, hielt kurz inne, und trat dann erhobenen Hauptes ein.
*
Bevor er die Augen zum wiederholten Male aufschlug, flehte er zu allem was ihm einst heilig war, dass es nur ein Alptraum gewesen war, und er im nächsten Moment wohlbehalten in ...
Sie hatten sich in seine Haut gefressen. Hielten jeden Flecken besetzt und setzten ihr grausiges Werk mit der Entschlossenheit einer Maschine fort. Die Zeichen, brüllte seine verwundete Seele dem Wahnsinn nahe auf. Sie hatten sich seines Leibes bemächtigt. Warum das alles? „Warum ich?“
„Suche nicht die Fragen auf Antworten, derer dein unterentwickelter Geist nicht würdig ist.“
Ethan robbte ein Stück vor, hinterließ eine blutende Spur. „Was hat das alles zu bedeuten?“
Der Fremde ignorierte ihn. „All die Jahre habe ich mich gefragt wie es – ihm – gelungen war. Aber nun auf einmal, mit deinem Erscheinen, steht alles in einem neuen Licht.“ Er ließ ein tiefes Schnauben erklingen.
„Ich ertrage es nicht länger ...“
„Du dürftest überhaupt nicht hier sein.“ Ein kurzes Auflachen. „Etwas muss wohl ... vorgefallen sein – etwas was nicht hätte passieren dürfen.“
„Es frisst sich durchs Fleisch ... ich fühle wie es an den Knochen nagt.“
„Deinem Körper geht es gut.“
„...?“
„Es ist die Seele, welcher es sich bemächtigt. – Ein Buch brachte dich hier her? Habe ich recht.“
Er wurde von erneuten Schmerzen getrieben. Einem epileptischen Anfall gleich, wurde er herumgeworfen. Dickflüssiges, fast schwarzes Blut lief aus den aufgeblähten Nüstern. „Ich sterbe.“
„Nur deine Seele. Dein elendiges Fleisch liegt wohlbehalten auf der anderen Seite. Ferner als jeder dir bekannte Ort, hat sich dein Geist von der Hülle gerissen, überbrückte die Gezeiten von Raum und Zeit und strandete schließlich in diesem, mir zugedachten Kerker.“
„...mein Geist?“
„Oder das wir ihr – Seele – nennt.“ Der Fremde verharrte kurz. „Hilf mir und ich werde dir helfen.“
Ethans Denken folgte nur mehr dem Schmerz. „Wie...?“
„Befreie mich.“
Er wird mich töten. „Nein.“
„Was hast du zu verlieren?“
Mein Körper ist unverletzt. Dies muss eine Art Traum sein – ich muss nur aufwachen, einfach nur aufwachen ... Etwas hinderte ihn daran.
„Nicht mehr lange und es wird dich zersetzt haben. Du wirst dir deine eigene Kehle zerfetzten, nur um dem langsamen, dem qualvollen Tod zu entgehen. – Entferne das Siegel und ich werde mich dir erkenntlich zeigen.“
Erkenntlich auf welche Weise? Er stemmte sich in die Höhe, spuckte dabei einige Zähne aus. Er wird dich töten. Ethan setzte sich wankend in Bewegung. Er wird dich töten.
„So ist es gut“, lockte der Fremde, „du tust das richtige.“
Das Siegel bestand aus zwei ineinander verschränkten Händen. Große goldene Pranken aus denen Dolch artige Krallen ragten.
„Du brachst sie nur auseinander zuschieben.“
Seine Fingerspitze berührte das Metall ähnliche Material. Die Pranken schnappten zurück. Der Würfel begann zu zittern, bekam erste Risse, und erinnerte in seine äußeren Struktur immer mehr an ein großflächiges Mosaik. Die Luft wurde von einem erneuten Kreischen durchschnitten. Wieder der heiße, vernichtende Schmerz, wieder eine Vision.
Zwei schwarze Flüsse die tosend aufeinander zuströmten und sich zu einem Meer aus Blut und Tot verwandelten. Ein Krieg. Einer der menschlichen Soldaten wurde von etwas ...
Ethan sprang zurück. Hinter den Gitterverstrebungen blitzten gewaltige Zahnreihen auf. „Allmächtiger“, krächzte er und stolperte zu Boden. „Was bist du?“
„Das Ende und der Anfang.“
In seinem Schädel schienen tausend Stimmen auf einmal aufzubrüllen. Sie vergingen in einem einzigen Feuersturm und verstummten für immer.
Du bekommst ihn nicht.
„Was zum...“
Das Gitter explodierte nach Außen. In der neu erschaffenen Öffnung erschien ein muskulöser, mit Fell umwachsener Arm, dem eine Klauen artige Pranke entwuchs. Der Fremde machte sich seine unbändigen Kräfte zu eigen, schlug und wuchtete immer wieder auf das bröckelnde Mauerwerk ein.
...dich töten.
Aus dem, von den Trümmern ausgehenden Nebel, ertönte ein triumphierendes Aufheulen. Das Gewölbe erzitterte.
Ethan robbte rückwärts. Seine Augen hatten sich auf, das Untier geheftet. Er wollte schreien, aber aus seiner Kehle trat nur mehr ein Krächzen.
„In der Regel pflege ich meine Versprechen zu halten“, knurrte das Wesen. Es stampfe mit gewaltigen Schritten auf den am Boden Kauernden zu, blieb über ihm stehen, und fixierte ihn. „Auf den Anfang“, er hob den Krallenarm, „und das Ende.“
Die Pranke fuhr mit einem entsetzlichen Krachen nach unten, langte ins Leere und grub sich tief in den Marmorboden. Statt einer leblosen Leiche ward nichts außer seiner selbst an diesem Ort verblieben. Es war allein.
Das Untier neigte den länglichen Schädel in den Nacken uns stieß ein, von der Kuppel, widerhallendes Brüllen aus. Es blieb ungehört.
*
Das Gebäude wirkte wie ausgestorben. Lichter leuchteten nur mehr vereinzelt auf. Und wenn, dann nur in einem, den Augen schmerzenden Flackern, welches mehr Verwirrung, als Nutzen nach sich zog.
In der tristen Dunkelheit hallten eilige Schritte wieder. Jemand stürzte, stieß einen Fluch aus und rappelte sich, unter Mithilfe einer zweiten Gestalt wieder auf die Beine. Von irgendwoher drangen Schreie zu ihnen hinüber.
Nathalie wich ängstlich zurück. Sie war stehen geblieben.
„Kommen Sie schon“, flüsterte Barker ihr zu. Seine Stimme vibrierte. Er versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, musste jedoch einsehen, dass es hier und jetzt in dieser ihm einstmals so vertrauten Umgebung nahezu zwecklos erschien, die angestauten Ängste noch weiter unter Verschluss zu halten.
„Was ist hier passiert?“ Nathalie sprach mehr zu sich selbst – und schreckte bei Barkers Antwort ängstlich zusammen.
„Chaos mit einer Prise Weltuntergang.“ Er ignorierte ihr Zittern und deutete zu einer großen gläsernen Doppeltür. „Die Quarantäne-Station ...“ Ein erneuter Schrei, diesmal sehr viel näher, unterbrach ihn. Er packte die junge Studentin am Armgelenk und zerrte sie in panischer Eile hinter sich her. Vom Ende des Flures her konnten die Beiden ein metallenes Klappern hören.
„Was ist los?“, presste Nathalie einer Panik nahe hervor. Barker hatte noch im Lauf seine Keycard hervorgekramt, diese vor das Lesegerät der Tür gehalten und mit groß werdenden Augen, ein verneinendes rotes Blinken in Kauf nehmen müssen. „Nicht doch“, heulte er auf.
„Oh mein Gott.“ Nathalie hatte sich dem näher kommenden Besucher gewidmet. Im verunreinigten Licht einer flackernden Neonleuchte sah sie eine gekrümmte Gestalt auf ihre Position zuhechten. „Alex“, flehte sie, „so beeilen Sie sich doch.“
Barker hatte mittlerweile jede nur erdenkliche Kombination, von verschiedenen Kartenstellungen ausprobiert und ließ ermattet den Kopf hängen. „Technik“, japste er, „die Technik muss ausgefallen sein, wir ...“
Nathalie riss ihm die Karte aus den schlapp gewordenen Händen und zog sie einmal über das Lesegerät. Es gab ein freundliches grünes Aufblinken, gefolgt von einem durchgehenden Zischen, welchem das Aufschwingen der Türe folgte.
„Ich ...“, er runzelte verwundert die Stirn. Bevor Barker etwas erwidern konnte, hatte Nathalie ihn am Ärmel gepackt und ihn unwirsch in die Quarantäne-Station dirigiert. Ihr Blick fiel auf einen roten Schalter, von dem ein, an der Wand lang führendes Kabel befestigt war, welches zur Tür hin führte. Der namenlose Aggressor hatte die Beiden fast erreicht. Nathalie schrie auf. Sie warf sich mit ihrer Schulter gegen den Schalter. Es gab ein erneutes Zischen, gefolgt vom saugenden Geräusch der zuschnappenden Stationstür.
Etwas schlug gegen die Scheibe, konnte dem Glas jedoch keinerlei Schaden zufügen.
Nathalie sank weinend zu Boden. All der in den letzten Stunden angesammelte Stress entlud sich. Angefangen mit den Unruhen bis hin zu diesem Hospital, hatte sie mehr durchmachen müssen, als der normale menschliche Verstand zu verarbeiten im Stande war.
„Sie haben uns beiden das Leben gerettet“, schnaufte Barker. Seine grauen Haare ertränkten im Schweiß und machten nur zu deutlich das, dass das körperliche Limit des Arztes schon weit
überschritten war. „Wir werden diese Angelegenheit wohl bis zum bitteren Ende durchstehen müssen.“ Er hielt ihr seine Hand hin. „Nehmen wir es mit Humor, falls es wirklich so etwas wie die Hölle gibt – dann ist das hier doch ein prima Training.“
Sie ergriff seine Hand, spürte den kalten Angstschweiß. „Hoffen wir das Beste.“
*
Es glich mehr dem Vorhof der Hölle, als einem Klassenzimmer. Während der Boden über und über mit Schutt bedeckt schien, lag ein Großteil der Decke frei und präsentierte ihr Innenleben in Form von runterhängenden Kabeln.
Die Fensterläden waren unten. Spendeten anstelle des lebensspendenden Lichtes nur Dämmerung.
In der Mitte des Raumes waren zwei menschliche Körper aufgebahrt. Ein blutendes Kreuz, welches die geführten Leben zweier Individuen verhöhnte. Wo sind die Kinder?
„Der Mann hat, glaube ich, lauter gekreischt“, wisperte es aus einem dunklen Winkel. „Aber ich kann mich auch irren.“
Diese Stimme ...
„Hast dich bisher ja ganz gut geschlagen, aber findest du nicht, dass es langsam an der Zeit wäre ... sagen wir mal, das Handtuch zu schmeißen?“
David versteifte sich. Dort vorne, in eine der Ecken, hatte er eine Bewegung wahrgenommen.
„Hattest du tatsächlich geglaubt – das deine Taschenspieler Tricks“, es gluckste, „zu etwas Nütze seien? Ich habe schon Menschen gekillt, da habt ihr noch über das Rad nachgegrübelt.“
Eine normale Ecke, stellte er gedankenverloren fest. Es ist nur eine normale Ecke. Zwei Wände, die sich ...
„Amateur. Siehst du es nicht? Bist du nicht einmal im Stande die einfachsten Formen der Magie zu spüren.“
David verschloss die Augen, fixierte seinen Geist auf das nicht Sichtbare.
„Es sind fünf an der Zahl. Fünf unschuldige Seelen, deren weiteres Schicksal ganz allein in deinen Händen ruht.“
Vor seinem inneren Auge schälten sich die miteinander verwachsenen Wände auseinander. Ein Spalt entstand. Oder war schon immer da ... Eine Grundregel des Kosmos war die Tatsache, dass die Magie, dabei war es egal ob weiß oder schwarz, einem ihr zugewiesenen Pfad folgte. Die, welche diesen Pfad durchbrachen, verloren sich im unendlichen Nichts und entschwanden auf ewig aus den Annalen der Geschichte.
David schluckte. Er hatte den Pfad schon mehr als einmal durchbrochen – war aber immer wieder zurückgekehrt. Seine Lider schoben sich vorsichtig nach oben. Die Wände waren verschwunden und gaben nun freies Sichtfeld auf das zum Tage geförderte Portal.
„Zuerst die Kinder“, forderte David kaltschnäuzig.
„Nein.“
Er ballte die Fäuste. „Zuerst die Kinder“, zischte er nun mit mehr Nachdruck in der Stimme. Seine Nasenflügel bebten.
„Wir wollen doch sicher gehen, dass du dir auch wirklich Mühe gibst, nicht wahr?“
Aus dem dunklen Horizont wehte das winselnde Flehen eines Kindes heran.
Während sein Geist noch versuchte, die richtige Entscheidung zu treffen, nahmen seine Füße ihm diese Arbeit ab und machten einen Schritt in die Ungewissheit.
*
Der Übergang erfolgte ähnlich einem Schock. Das vermeintlich tiefe Gewässer entpuppte sich als flaches Rinnsal, aus dessen Strömung scharfe Felsen empor stachen.
David verlor die Balance, strauchelte über seine eigenen Füße und landete unsanft im Sand.
Sand?
Er wälzte herum, sprang auf und kreiselte um die eigene Achse. „Eine Wüste“, murmelte er verwundert. Der Dämonenjäger schirmte seine Augen mit beiden Händen ab und durchforstete die Umgebung. Nichts.
Der von einer roten Sonne beschienene Boden erstreckte sich bis zum Horizont. Es gab weder Dünen noch andere Erhebungen.
Er spielt mit dir. „Okay! – hier bin ich!“ David stampfte vorwärts. Der ihn umgebene Sand erinnerte von seiner Konsistenz her an fein gemahlenen Staub. Er versank bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln und musste sich schließlich zum nachdenken ermahnen.
Der lässt dich bis zur Erschöpfung im Nirgendwo herumirren. Bevor er sich dir offenbart, musst du ihm schon eine kleine Kostprobe geben.
David verschränkte die Arme vor der Brust – legte seinen Kopf in den Nacken und verfiel in rhythmisches Gemurmel. Während er das eine Auge fest verschloss, begann das zweite aufgeregt zu flackern. „Von wegen Taschenspielertricks“, fauchte er und warf sich mit ausgebreiteten Armen nach hinten. Er schwebte für Sekunden frei in der Luft, sank langsam hinab und verharrte einen Moment. „Sehr gut“, lobte er sich selbst, und beschaute sich freudig das erschaffene Ebenbild, welches mit angelegten Armen vor ihm Haltung angenommen hatte und an einen salutierenden Soldaten erinnerte.
„Such den Wolf“, hielt er ihn an. „Und wenn du ihn gefunden hast ...“, um sein Gesicht legte sich eine grimmige Entschlossenheit, „dann kehre zu mir zurück, aber achte darauf, dass er dich nicht entdeckt, sein flink und behalte immer die Umgebung im Auge.“
Das geisterhafte Schemen gab ein leichtes Nicken von sich und entschwebte mit einer fast schon angeberischen Geschwindigkeit, aus Davids Blickfeld.
Der immer noch im Sand liegende Dämonenjäger, breitete die Arme aus, und begann einen Engel in den Sand zu graben. Seine Gehirnwindungen verausgabten sich fast und stachen gierig nach jedem Unverständnis, die ihm seit seinem Ausstieg aus dem Flieger widerfahren war.
Was will er von mir? Warum zur Hölle muss er mich herausfordern?
Davids zu schmalen Schlitzen verengten Augen, glitten sanft nach unten. Sein Denken setzte aus und entführte den Dämonenjäger hinab in die Tiefen einer längst vergessenen Zeit.
*
Er befand sich wieder auf den Beinen. Sein Rücken lag frei und brannte wie Feuer. Unzählige blutende Wunden, geschlagen von einer neunschwänzigen Katze. Das aufpeitschende Knallen, ihrer mit Dornen gespickten Verästlungen, begleitete die keuchende und hustende Prozession wie ein einzelner Musiker das große Orchester. Eines seiner Augen war zu geschwollen. Der pulsierende Druck machte ihn wahnsinnig. Aber er ließ sich nichts anmerken, hielt aus und sammelte seine Kräfte.
Er unterschied sich von den übrigen – anstatt sein Haupt in Demut nach unten zu senken, hatte er es stolz erhoben. Obwohl er Zeit seines Lebens nie mehr als ein Bauer war, strahlte sein von Schlägen verunstaltetes Gesicht einen majestätischen Glanz aus.
Die Wachen hassten ihn. Sie wollten seinen Tod. Peitschten und quälten ihn. Doch waren nicht im Stande seine Erhabenheit anzuerkennen und fürchteten sich vor dem, was hinter dieser Maskerade des gespielten Stolzes lauerte. Kein Mensch konnte soviel Erniedrigung erleiden ... und wenn doch ... dann war er kein Mensch, sondern etwas anderes, etwas Fremdes, das nicht hier her gehörte. Er war unbeugsam und dafür hassten sie ihn – dafür würden sie ihn töten ...
*
David fuhr hoch, sah sich um, und registrierte die Anwesenheit seines geisterhaften Ebenbildes. Nur ein Traum, rief er sich zur Raison, es war nur ein Traum.
Das Ebenbild streckte einen der schimmernden Arme Richtung Norden und verblieb in dieser Position bis David sich vollständig erhoben hatte.
„Diese Richtung?“, fragte der Dämonenjäger und bekam als Antwort abermals ein Nicken. „Also immer nur diese Richtung?“ Er kratzte sich an der Nase. „Und wie lange werde ich unterwegs sein?“
Die grünliche Färbung des Doppelgängers, strahlte für einen Augenblick hell auf und wechselte noch im selben Moment in ein lasches Grau, um dann mit einem leichten Zischen im Nichts zu verpuffen.
„Prima“, betitelte David den Abgang seines Spions. Während er sich den letzten Rest Sand abklopfte, dachte er angestrengt über den soeben erlebten Traum nach. „Einmal Urlaub ...“, stöhnte er wehleidig, „... nur abschalten und gar nichts tun.“ Er stampfte wieder los. „Herr im Himmel, was wäre das schön.“
Cirka eine Dreiviertelstunde später - die Lippen waren unter dem gnadenlosen Hitzeregen der Sonne aufgeplatzt.
Und seine am Gaumen klebende Zunge, lechzte verzweifelt nach einer Möglichkeit ihren Durst zu lindern – tauchten nahe des entfernten Horizonts, die schwach ausgeprägten Konturen eines mehrstöckigen Gebäudes auf.
Davids zu schmalen Schlitzen erstarrten Augen sogen sich an diesem einen Punkt fest und zerrten den Dämonenjäger ohne Rücksicht auf die schmerzenden Füße, einem unbekannten Schicksal entgegen. Das Unbehagen, welches ihn eigentlich Zeit seines Lebens begleitet hatte, uferte zu neuen Rekorden. Er wusste, dass Fenrir dort auf ihn lauern würde. Er wusste, dass dieses Untier praktisch unbezwingbar war, und verdammt noch mal, er wusste auch, dass es fünf Geiseln in seiner Gewalt wusste.
Das Gebäude, wenn man es so nennen durfte, erschien wie der wahr gewordene Alptraum Jesu Christi. Eine dunkle Zitadelle des Wahnsinns. Anstelle von Türmen, ragten gewaltige, scharfschneidige Sicheln in den Himmel empor. Das Tor war durch ein weit aufgerissenes Wolfsmaul ersetzt worden. Die Meter langen, nach innen gebogenen Zähne glitzerten im Licht der in der Ferne untergehenden Sonne.
„Time for fight“, trällerte David und sammelte sich für die Entscheidung.
*
Die Station lag wie die üblichen Einrichtungen des Hospitals im grauen Halbdunkel. Das Chaos war allgegenwärtig und zeigte ihnen eine qualvolle Realität auf, die sich dem normalen Denken zu entziehen versuchte. Als wenn die mächtige Pranke des Teufels den gesamten Ort mit einem einzelnen Hieb zu Fall gebracht hätte.
„Glauben Sie an das Böse?“
Nathalie zuckte bei den Worten zusammen. „Ich denke Sie wissen die Antwort bereits – und Selbst?“
Barker tippte eine angelehnte Tür mit dem Fuß an. Im Inneren des Raumes stand ein unbenutztes Bett. „Eigentlich war ich bisher immer davon ausgegangen, dass das Böse, welches sich durch die Taten eines Menschen auszeichnet – nichts weiter, als eine bloße Aneinanderreihung, falscher Entscheidungen ist.“
„Sie haben ihre Meinung geändert?“
„Sparen wir uns die Beantwortung ...“ Er hielt mitten in der Bewegung inne. „Hören Sie“, flüsterte er und deutete auf eine der verschlossenen Türen.
Die Beiden nahmen jeweils rechts und links ihre Positionen ein, und horchten angestrengt den aus dem Raum, strömenden Wortfetzen. Die durch das Holz abgedämmten Laute verkamen zu einem nicht verständlichen Kauderwelsch und doch zeichnete sich auf Barker Gesicht ein wissender Ausdruck ab. Er umschloss die silberne Klinke, wartete kurz, und drückte sie dann nach unten.
*
„Doktor Harris“, presste Barker zähneknirschend hervor, „ganz der Captain seines untergehenden Schiffes.“
Die hagere Gestalt des Chefarztes krümmte sich unter den Worten zusammen, und fuhr mit einem wütenden Aufheulen herum. Das Gesicht des Mannes war einer traurigen Karikatur seiner früheren Selbst gewichen. Das Haar stand ihm wirr nach allen Seiten hin ab. Die Mundwinkel hingen schlaff nach unten.
Nathalie hielt sich an der Türzarge fest, fixierte das Bett und den dort drin liegenden Mann an. „Ethan ...“, wimmerte sie und tat einen Schritt in den Raum.
„Bleiben Sie wo Sie sind ...“ zischte Harris. In seiner Hand funkelte eine gefüllte Spritze auf.
Barker streckte seine Arme vom Körper. „Alles in Ordnung – wir schnappen uns Ethan und werden schneller hier draußen sein, als Ihnen lieb sein kann.“
In einiger Entfernung gab es einen lauten Knall, dem eine schnelle Abfolge kleinerer Explosionen folgte.
Als wenn dies einem Startschuss gleichzusetzen war, sprang Nathalie vor und riss Harris Arm zur Seite. Barker tat es ihr gleich und drückte den Chefarzt mit Einsatz seines Gewichtes zu Boden.
„Ihr versteht das nicht.“ Harris fletschte die Zähne, versuchte es mit Beißen und Kratzen. „Ich muss es stoppen - ich muss es ...“ Der einem inneren Wahnsinn ausgelieferte Mann, erstarrte. Die Luft um sie herum schien zu kondensieren – wurde schwer, kaum einzuatmen.
Die Muskeln des Chefarztes erschlafften. „I...ich habe versagt.“
Aus dem Schatten des draußen liegenden Flures drang ein nach Sauerstoff geiferndes Röcheln. Eine entstellte Hand, der die Fingerkuppen abgetrennt worden waren, krallte sich um den weißen Türrahmen und zog einen fleischigen Arm nach sich.
Barker griff nach der lose in der Hand des Chefarztes liegenden Spritze. Nathalie stand vorsichtig auf und wandte sich ihrem Verlobten zu. „Was haben Sie mit ihm gemacht?“ Sie suchte nach möglichen Wunden.
„Versagt ...“ jammerte Harris. Seine schwarzumränderten Augen traten aus ihren Höhlen. Er kratzte über das Linoleum. Einer der vom Tabak gelb gefärbten Nägel brach ab und hinterließ eine blutige Spur.
Barkers Augen ruhten auf der zerfetzen Hand sowie der Schwesternkleidung. In seinem mitgenommenen Geist entbrannte eine erschreckende Erkenntnis. „Yeoh“, flüsterte er mit erstickter Stimme und wurde auch ihrem kleinen Anhängsel gewahr. „Das Buch“, fügte er klagend bei.
Auf dem vormals nackten Leder waren Zeichen erschienen. Eine Schrift, die in ihrem jetzigen Erscheinen an die primitiven Formen der Keilschrift erinnerten.
Aus dem Gesicht der Tod geweihten Schwester sprach kein Zeichen der Wiedererkennung. Die Haut schien eingefallen und jeglicher Farbgebung beraubt. Während sich das eine Auge unruhig hinter dem verschlossenen Lid um her wälzte, hatte sich das andere auf den im Bett liegenden Ethan gerichtet.
Nathalie stellte sich kampfbereit vor ihn – versperrte der näher kommenden Schwester den Weg. „Du bekommst ihn nicht“, drohte sie.
„Seien Sie vorsichtig.“ Barker stützte sich auf und warf Nathalie einen besorgten Blick zu. „Wir wissen noch immer nicht, was das alles zu bedeuten hat.“
Die Schwester blieb stehen. Harris ließ ein Tränen erstickendes Lachen ertönen. „Barker Sie sind ein Idiot und werden immer ein Idiot bleiben – Sie will ihm das Buch geben.“
„Warum er?“
„Weil er das Zeichen trägt – Nathalie, schauen Sie sich seine Brust an.“
Sie trat an die Seite des Bettes, strich ihrem Verlobten liebevoll eine Haartolle aus dem Gesicht und tat wie ihr geheißen. „Er trägt einen Verband“, sagte sie erschrocken.
„Ich dachte, ich könnte ihn verstecken.“ Harris fixierte bei diesen Worten das Buch an. „Hat nicht viel gebracht.“
„Sie hätten uns von Anfang an einweihen sollen“, klagte Barker, „vielleicht ...“
„Ersparen Sie mir die Predigt. Und schweigen Sie zu Dingen, die Fernab Ihres Intellekts liegen.“ – Er neigte sein Haupt ein wenig zur Seite. „Haben Sie den verfluchten Verband endlich ab?“
„J...ja“
Barker trat einige Schritte zurück. Die Spritze nach wie vor auf Yeoh gerichtet, würde er keine Sekunde zögern diesen einen Trumpf auszuspielen.
Nathalies Stirn war in tiefe Furchen gelegt. „Ethan ...“, flüsterte sie verstört, „...warum das alles?“
Als Barker den Grund ihres Gefühlsausbruchs feststellte, glaubte er den Boden unter den Füßen zu verlieren.
„Interessantes Symbol, nicht wahr?“, kommentierte ein sich aufrichtender Harris. „Sie müssen wissen, dass es mir nicht gänzlich fremd ist. Vor mehr als sechzig Jahren sah ich es schon einmal. Und glauben Sie mir, der damit verbundene Zusammenhang gibt jeder meiner bisherigen Taten absolutes Recht.“
„Zwei gegenüberliegende Sicheln in deren Mitte eine weitere verläuft.“ Barker beugte sich tiefer. Der Arzt in ihm, forderte das Narbengewebe eindringlicher zu untersuchen. Es wirkte wie eingebrannt. „Man hat ihn markiert“, sagte er stockend.
Harris Ausdruck wurde leer. „Sie können sich meinen Schock, wie die damit in Verbindung stehende Ratlosigkeit vorstellen“, krächzte er. „Als ich damit konfrontiert wurde ..., dass heißt wieder konfrontiert wurde, musste ich eine Entscheidung treffen.“
„Also haben Sie ein künstliches Koma eingeleitet.“
Harris presste die Lippen aufeinander. „Wenn ich schon damals den Mut dazu aufgebracht hätte, wäre das erst beste Skalpell in seiner Luftröhre gelandet.“
Nathalie schrie empört auf. „Das ist Wahnsinn!“
„Nein – eher eine Notwendigkeit.“ Mit einer Geschmeidigkeit, die man ihm gar nicht mehr zugetraut hätte kreiselte Harris auf dem Absatz herum, stieß sich vom Boden ab und flog mit vorgestreckten Armen auf Barker zu.
Der Aufprall kam hart und überraschend. Barker verlor das Gleichgewicht und taumelte gegen die blecherne Kommode.
„Er muss sterben ...!“, kreischte Harris. Seine Spinnenartigen Finger tasteten nach der Spritze. Die Sinne nur noch auf dieses so wichtige Utensil gerichtet, vergaß er komplett die Umgebung.
Einzig Nathalies Warnung deutete die Katastrophe an und als er ihrer Bedeutung gewahr wurde – war sein Schicksal längst eine beschlossene Sache.
Das Buch schwebte plötzlich mitten im Raum. Die Seiten schienen zu vibrieren – gaben ihre unheiligen Schwingungen an die sich im Raum befindlichen Menschen weiter.
Yeoh kippte leblos zur Seite. Es stand außer Frage, das sie je wieder aufstehen würde. Die Schwester hatte ihre Aufgabe erfüllt und somit auch ihrer Existenzberechtigung verspielt.
Als der Buchdeckel auseinander stob, glaubte Barker so etwas wie einen Schrei zu hören. Ein personifizierter Schmerz, der durch Harris in Besitzname eine feste Form erhielt. Von einer gewaltigen, unsichtbaren Klaue in die Luft gerissen, wurde er wie ein Puppe zur Seite geschleudert. Das durch die Haut gehende Geräusch, der dabei brechenden Knochen, schien in Hundertfach verstärkter Lautstärke nachzuhallen.
Nathalie schrie auf. „Du bekommst ihn nicht ... hörst du!“ Sie warf sich schützend über den noch immer im Koma gefangenen Ethan. Das Buch schwebte einem geflügelten Raubtier ähnlich immer näher auf das Bett zu. In den offenbarten Seiten loderte ein dunkles Feuer. Ausufernd und stechend, in dessen Zentrum etwas zu pulsieren schien. Sie musste ihr Gesicht abwenden. Ihre Gedanken schienen einem nicht enden wollenden Chaos ausgeliefert. Was hatte sie da gerade gesehen?
Sie nahm Barkers Anwesenheit nur mehr schemenhaft wahr, und spürte nur noch wie sie etwas packte und vom Bett riss. Der Aufschlag war hart und schmerzhaft, aber nichts im Vergleich zu dem folgenden Ereignis. Ein Blitz, ein dunkler alles verzerrender Blitz – der das gesamte Gebäude aus den Fundament zu reißen drohte.
„Es ... ist die Gegenwart ...“
„... kein Traum ... keine Vision. Was du siehst, entspricht dem hier und jetzt ...“
Stimmen, sie hörte Stimmen.
„Dann können wir eingreifen – wir müssen eingreifen!“
„Nicht ohne seine Einwilligung ... es ist weit aus mächtiger, als ...“
Die Stimmen rissen ab, verloren sich im Dschungel der unendlichen Finsternis. Nathalies Herzschlag versiegte. Ihr Blut erstarrte. Sie fühlte nichts. Rein gar nichts. Da war nur Leere. Tod... Ich bin tot ... es ...
„Ich hab Sie ...“
*
„Wisst ihr“, fing das Ungeheuer an, „Menschen waren mir von jeher suspekt. Und gerade ihr ... Nachwuchs ...“, er machte ein wegwerfende Pranken Bewegung. „Ihr wisst, was ich meine, oder etwa nicht?“
Zwei der Kinder fingen an zu weinen. Sie hatten sich zu einer Kette zusammengefunden, und hielten sich gegenseitig an den Händen.
Fenrir ließ ein dunkles Grollen ertönen. „Ja ... ich denke ich verstehe, was ihr meint.“ Er schlich zu dem aufgerichteten Quader zurück. Eine raue felsige Oberfläche in deren Mitte ein Handtellergroßer Spiegel eingefasst war.
„Als ich hier landete“, fuhr er fort, „verbrachte ich einen Großteil der ersten Zeit damit, mich im Selbstmitleid zu suhlen.“ Er schielte zu Boden. „Erbärmlich nicht wahr. Vor allem für jemanden, der ganze Armeen befehligte.“
„Du bist böse“, funkelte ihn ein siebenjähriges Mädchen mit geflochtenen Zöpfen an.
„Hat dir deine Mutter niemals eingebläut, dass man Erwachsene nicht unterbrechen soll.“ Der drohende Unterton war nicht zu überhören. Die Kinder drängten sich noch näher zusammen. Ihre Augen waren schreckgeweitet. Keines von ihnen wagte auch nur daran zu denken, die Lider für einen Moment nach unten sinken zu lassen. Ein Bruchteil der dadurch verursachten Dunkelheit, hätte ausgereicht um dem Monstrum Gelegenheit zu geben, einen von ihnen zu fressen.
„Wo war ich?“ Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und betrachtete sein Spiegelbild. „Ah ja, natürlich meine Armeen – könnt ihr euch das vorstellen? Tausende und Abertausende meiner Art ... vereint in einer alles dem Erdboden gleich machenden Streitmacht. Die schwächliche Menschenbrut, wusste gar nicht wie ihr geschah. Jeder tote Lykaner kostete sie Hunderte ihrer eigenen Leute.“
Der Quader begann zu vibrieren, verfiel in immer schnellere Schwingungen und gab diese an den kristallinen Spiegel weiter.
„Eines Tages, Europa lag in Schutt und Asche, beschloss ich meinen Machtbereich noch etwas auszubauen. Ich meine, warum auch nicht, schließlich boten sich die übrig gebliebenen Länder doch praktisch an.“ Seine gesprochenen Worte verkamen zu einem leisen Grollen. „Keine Stunde, nachdem wir in – sein – Land eingefallen waren, bestand meine stolze Armee nur mehr aus mir selbst und einer Schar unerschrockener Getreuer.“
Im Zentrum des Spiegels materialisierte sich das Bild eines korpulenten Mannes, dessen untere Gesichtshälfte von einem roten Bart beherrscht wurde. Das Bild verschwamm, und zeigte die Skyline einer riesigen Stadt auf, deren Himmel in einer Höllenähnlichen Glut zerschmolz. Fenrir fletschte die Zähne. Geifer lief ihm die Lefzen herab, und tropfte mit einem widerlichen Klatschen auf den schwarzen Marmorboden.
„Er ließ die übrigen zu Tode foltern und widmete sich danach meiner Wenigkeit. Doch anstatt mir den Garaus zu machen, beschloss er mich wie einen räudigen Köter wegzusperren. Verbannte mich in ein Reich der Einsamkeit .... fern der Erde – fern meiner Artgenossen.“
Das über zwei Meter große Monstrum senkte den langgezogenen Schädel gen Boden und ließ ein tiefes aus der Kehle kommendes Grollen ertönen.
Quader und Spiegel zerschmolzen zu einer Einheit.
„Ich erschuf diese Zitadelle in einem Zeitraum mehrerer Jahrtausende. Das heißt – ich errichtete sie vielmehr neu. Das alte Gebäude war nicht mehr als ein Gefängnis.“ Sein Blick verdunkelte sich. Alte Erinnerungen keimten auf. Er fegte sie mit einem Knurren hinfort und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem Hier und Jetzt zu. Seine Klauen kamen eine Handbreit vor dem vibrierenden Gestein zum stillstand. „Diese Kathedrale diente nur einem Zweck...“
„Der Erschaffung eines Monolithen“, beendete, die aus dem Hintergrund aufbrausende Stimme des Dämonenjäger den Satz, und ließ diesem, eine schnell gesprochene Beschwörungsformel folgen.
Die Kinder verloren den Boden unter ihren Füßen und schwebten mit zappelnden Beinen auf eine, der aus den Wänden ragenden Plattformen. Dort angekommen warfen sie sich ängstlich auf den Boden und beäugten sowohl Monstrum, als auch Neuankömmling.
„Nicht übel“, höhnte Fenrir, und drehte sich langsam um.
„Aber vielleicht hättest du, anstatt die Kinder zu retten, lieber einen direkten Angriff versuchen sollen.
David hob eine Augenbraue. „Erschien mir in der Situation das Richtige“, gab er trocken wieder und nahm Kampfhaltung ein. „Übrigens nette Bude – hat was von den frühen Neunzigern.“
„Du versteckst deine Furcht hinter schäbigen Witzen“, sein Fell sträubte sich. „Ich hätte Besseres erwartet. Schließlich sind deine – Taten – selbst mir nicht verborgen geblieben.“
„Ich hatte einige Erfolge ...“ Seine Hände verkrampften sich. Schweiß lief ihm in die Augen. „Nichts Weltbewegendes.“
„Auch noch bescheiden ... als wir uns damals auf dem Flughafen, dass erste mal gegenüberstanden, war ich ein wenig enttäuscht. Nimm es mir nicht übel, aber ich hatte dich eigentlich für größer gehalten.“
„Meine Qualitäten liegen in anderen Bereichen.“
„Natürlich.“
Aus dem Monolithen drang ein in den Ohren schmerzendes Dröhnen. David schickte einen Teil seines Geistes vor, der die Lage abschätzen sollte. Was er sah, ließ seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden.
„Fündig geworden?“, fragte das Monster und streichelte sanft über den Monolithen. Die nach innen gebogenen Krallen, trafen auf keinen Widerstand und durchdrangen den Stein wie Wasser. „Du weißt nun, warum du hier bist?“
„Ich könnte drauf spekulieren, dass du nicht mehr ganz sauber tickst ... aber wenn ich die bisherigen Tage und Stunden noch mal Revue passieren lasse, könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass du eigentlich nur auf ein kleines Kräftemessen aus warst.“
Er beugte den massigen Körper vor. „Oh David ... Lieber naiver David...“, er ließ ein hyänenartiges Lachen erklingen. „Hältst du mich für beschränkt? Dein ganzes Denken liegt offen vor mir. Ich lese deine Gedanken ...“
„...wie in einem Buch.“ Er hob eine Augenbraue. „Stimmt doch oder?“
Fenrirs Muskeln spannten sich. Die beeindruckende Länge seiner Krallen, nahm weiter zu. Er machte einen Schritt vorwärts. „Was hast du gesehen?“, fauchte er. „Rede!“
„Viel und doch nichts ... Monolithen sind schwer zu erschaffen ...“
Beide Gegner umkreisten sich.
David verfolgte die Bewegungen des Lykaners mit Argwohn. „... aber noch viel schwieriger zu beherrschen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerschmelzen zu einem großen Ganzen und geben ihr Wissen nur denen preis, die sie für – würdig erachten. Aber was ich sehen konnte, macht neugierig. Dieses Buch ...“, er kräuselte die Lippen, „was hat es damit auf sich?“
„Macht – unsagbare, kaum unter Kontrolle zu haltende Macht.“ Die Nüstern seines in die Länge gezogenen Schädels weiteten sich. Die äußeren Reißzähne nahmen die Ausmaße eines prähistorischen Jägers an.
„Und ich nehme an, dass du diese Macht gerne in ... Klauen halten würdest. Es ist doch sehr verwunderlich, dass du dich noch nicht auf direktem Wege Richtung New York befindest. Warum dieses sinnlose Geplänkel?“
Die schwarzen Lefzen des Monstrums zogen sich der Breite nach auseinander, der Kiefer klappte ein Stück runter und ließ diese Geste wie ein böses Grinsen erscheinen. „Ich habe zwar außerordentliches Vertrauen in meine – Fähigkeiten -, aber die Vergangenheit hat mich gelehrt, dass Überheblichkeit einer Todsünde gleichkommt. Warum sich also nicht einfach absichern.“
Davids sich in Aufruhr befindlichen Gedanken schrien im Zuge der Erkenntnis auf und offerierten ihm eine mögliche Zukunft, die alles andere, als rosig war. „Das soll doch nicht etwas ein Jobangebot werden“, hustete der Dämonenjäger und zuckte bei den Worten innerlich zusammen. „Ich meine, wie viele Arbeitslose gibt es auf der Welt? Ne Milliarde? Frag einen von denen.“
Das Ungetüm krallte seine Pranken in den Boden. Auf dem Marmor entstanden erste Risse. „Das Problem ist nur, dass keiner von ihnen in der Lage wäre die schwarzmagischen Künste zu beherrschen.“
David fuhr sich mit der Zunge nervös über die Unterlippe. Er will mich in einen Lykaner verwandeln. Nahm der Plan des Monstrums Gestalt an. Einen erhabenen Diener, der ihm beim Beschaffen des Wälzers helfen soll. „Wie schmeichelnd“, stöhnte David, und ließ in der rechten Hand einen kleinen Feuerball entstehen, „aber leider hätte die Gewerkschaft bestimmt etwas dagegen ...!“ Er schoss seinen rechten Arm vor, schleuderte die flammende Kugel und brachte sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit. Die erwartete Explosion blieb aus.
„Vorhersehbar“, geiferte Fenrir, „einfach nur vorhersehbar.“
David sprang auf.
Der Lykaner stand nach wie vor an der selben Stelle und wog die, wie ein Kinderspielzeug erscheinende Kugel, Schädel schüttelnd in den Klauen. „Sollte das zu meiner Belustigung dienen?“ Er streckte, die Baumstamm dicken Arme aus. Davids erschaffener Angriffszauber verpuffte in einer grauen Rauchwolke. „Werde mein Adjutant, an der Spitze einer neu erschaffenen Armee, könnten wir diesen Planeten beherrschen.“
„Ich denke nicht, dass die Menschheit damit einverstanden wäre.“
„Die Menschheit“, er fletschte verachtend die Zähne, „die Menschen wollen dienen, sich einer höheren Macht unterordnen. Warum sonst denkst du, beten sie zu Göttern?“
Das Gesicht des Klerikers verhärtete sich zu einer eisernen Maske. „Ist es das? Reichen dir die Monster nicht mehr aus? Bist du erst zufrieden, wenn jedes denkende Wesen vor dir zu Kreuze kriecht!“
„Lass es uns herausfinden.“ Er senkte den massigen Schädel gen Boden und ließ ein schauerliches Heulen erklingen. Als sich die Mordmaschinerie vom Boden abstieß, erbebte das Gebäude. Von der Decke rieselte Staub herab.
David verschränkte die Arme vor dem Gesicht, spreizte die Hände und ließ ein feinmaschiges Gitter entstehen, welches sich zur Größe eines ausgebreiteten Fischernetzes entfaltete.
Das sich auf allen Vieren heran trabende Monstrum war nicht mehr im Stande zu stoppen und krachte mit einem erzürnten Grollen in die Falle. Das Netz glühte rot auf und wickelte sich innerhalb weniger Sekunden um den gesamten Körper des Lykaners. Je mehr er sich dagegen wehrte, desto enger zogen sich die Maschen zusammen.
Das Mistvieh wird nicht lange brauche, ermahnte sich David nach einem kurzen Aufatmen. Er rannte zu dem Monolithen, kniete nieder und begann eine komplizierte Beschwörung.
„Es ist zwecklos!“, wurde die wutentbrannte Stimme des Lykaners hinter ihm laut. „Du gehörst mir. Aber freu dich, denn sobald du in meine Dienste getreten bist, werden wir uns an dem Fleische der Menschenbrut laben.“
David hörte wie das Netz, an einigen Stellen am auseinander reißen war. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Sein Geist erfasste die unsagbare Weite des Monolithen – tauchte ein und forschte nach einem Nadelöhr, welches ihnen Möglichkeit zur Flucht gewährte.
Im Zentrum der schwarzen sich windenden Finsternis, schälten sich Szenen der Vergangenheit, wie auch der Zukunft und – Gegenwart ab. Wieder das Buch, stellte er erstaunt fest und wurde Zeuge wie es sich öffnete und ...“
Eine Welle der Schmerzen erfasste ihn – schleuderte ihn in die Mitte des Raumes. Nicht mehr in der Lage die vorbei rauschenden Bilder in Einklang zu bringen. War er dazu verdammt, mit anzuhören wie, Fenrir sich mit einem triumphierenden Brüllen, der letzten Fesseln entledigte.
„Sieh es endlich ein, du kannst weder gegen das Buch, noch gegen mich bestehen.“ Er tigerte mit geschmeidigen Bewegungen näher. „Trete in meine Dienste, empfange den Biss und werde mächtiger, als jemals ein Mensch vor dir.“
Obwohl die Augen fest verschlossen, war er immer noch bei Bewusstsein – zerlegte das Angebot des Dämonischen in seine Einzelteile und wog das Für und Wieder ab. Er stand zwei Übeln gegenüber, konnte aber wie schon von Fenrir angedeutet unmöglich gegen beide bestehen. Aber durfte er deshalb seine Seele an einen Herold des Satans verkaufen?
Sein Denken wurde unterbrochen. Der Geruch von Tier und Wildnis drang in seine Nase.
„Deine Entscheidung“, verlangte der Unbarmherzige. „Diene mir aus freien Stücken, oder als ewiger Sklave ohne freien Willen.“ Er scharrte ungeduldig über den Marmor. Hinterließ dabei tiefe Einkerbungen.
David öffnete die Augen. „Ich habe dem Bösen auf Ewig mein Herz verschlossen“, presste er aus den Mundwinkeln hervor, „dachtest du wirklich – ich würde mich dir beugen?“ Er spürte einen harten brutalen Schlag, wurde wieder auf die Beine gerissen und starrte nur eine Handbreit entfernt in die vor Wahnsinn glühenden gelben Tieraugen des Götterwolfes.
„Somit besiegelst du dein Schicksal.“
Er wusste nicht, ob der leise Unterton in der Stimme echtes Bedauern ausdrücken sollte, aber was er wusste, war, dass die Lage selten so brenzlig war und ihn eigentlich nur noch ein Wunder retten konnte.
„Lass ihn runter“, tönte aus dem Hintergrund plötzlich eine Stimme zu ihnen durch.
David, wie auch der, ihn festhaltende Lykaner drehten fast gleichzeitig die Köpfe.
*
„Lass ihn runter“, wiederholte der Alte mit mehr Nachdruck. Er stand nur so da, bewegte keinen Muskel und strahlte im Angesicht der mordenden Bestie, eine Ruhe aus, die fast schon blasphemisch erschien.
„Was soll das?“ Fenrir war über die Maße überrascht. Glotze den Alten mit großen Augen an, und begann dann den Dämonenjäger durchzuschütteln. „Wieder ein Taschenspielertrick“, grollte er, und schnitt mit seinen Krallen tief in Davids Schultern.
„Ich werde mich kein weiteres Mal wiederholen“, drohte der Alte. Er streckte den linken Arm vor, drehte das Handgelenk nach außen und präsentierte ein eintätowiertes Dreieck.
„Schamane“, fauchte Fenrir. Sein Fell sträubte sich wie das einer aufgeschreckten Katze. „Du wagst es dich mir in den Weg zu stellen?“
Der Alte krümmte seine ausgestreckten Finger zu einer Klaue. „Von in den Weg stellen war keine Rede. Für das was du meinem Volk angetan hast, muss ich dich töten.“
„Deinem Volk wurde die Ehre zuteil, in meiner Armee zu dienen.“
„Eine Armee, die nicht länger existiert.“
David ließ ein ermattetes Lachen los. „Ich glaube, das ist das erste und auch das einzige Mal wo ich einen Lykaner so entsetzt sehen werde.“
Fenrir ließ ein nach Löwe klingendes Brüllen los, schleuderte David von sich und setzte zum Angriff über. Er stürmte mit ausgefahrenen Krallen vor. Nach allen Seiten hin spritzender Schaum stand ihm vor dem Maul.
Der Alte machte keinerlei Anstalten, die Position zu wechseln, harrte einer Totenstarre gleich aus.
David kraxelte wieder auf die Beine. Die Kinder, durchschlug ihn eine nicht zu verdrängende Sorge. Sein Blick schweifte von dem sich anbahnenden Kampf, zu der Plattform, und verschleierte sich zu blankem Entsetzen. Weg ... großer Gott sie sind weg! Er drehte sich um die eigene Achse.
Ein grelles undurchdringliches Licht, in welchem die zerberstenden Laute einer gewaltigen Explosion mit surften, lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf den Kampf. Er musste die Augen abschirmen, konnte nur die schattenhaften Silhouetten zweier Individuen ausmachen. Während die eine auf rohe zermürbende Gewalt setzte, wich die zweite den Schlägen gekonnt aus und parierte mit immer neuen Energiestößen. Er hält ihn auf Distanz – weiß das er keine Chance hat ... aber warum ... „Er will ihn hinhalten“, traf ihn die nun sichtbare Erkenntnis.
Der Monolith war noch immer aktiv. Strömte eine nicht enden wollende Abfolge von Signalen aus. Signale deren Ursprung fernab dieser Welt lagen. Wenn es ihm gelang die ausgehenden Energien zu kompensieren, war er sicherlich auch in der Lage ein Portal zu finden, welches sie hier raus brachte. Er ballte die Hände zu Fäusten, presste sie zusammen und ließ sie in die wogende Masse preschen. Es kam zu einer energetischen Entladung. Funken sprühten auf, seine Arme verwandelten sich lebende Fackeln. Sein Geist wurde einst mit dem Ganzen.
Aus dem Dunkel der ewigen Zeiten, raunten sowohl Verzweiflung wie auch Schmerz zu ihm hindurch. –„Du bekommst ihn nicht!“ – Es waren die Worte einer Frau. Die Szene in welcher das Buch das erste mal geöffnet wurde, brannte wieder auf.
David schrie auf. Mathew, langjähriger Freund – gute Seele – ausgelöscht vom ... Aus dem grauen Nebel des Todes schälten sich die zerschmelzenden Umrisse eins gigantischen Wolfschädels hervor. Die vor Blut triefenden Elfenbein großen Hauer blitzen in einem unsichtbaren Licht auf. Er torkelte rückwärts, begann zu kreischen. Nicht mit seiner eigenen Stimme, sondern der eines Kindes. Sie sind in Sicherheit, beruhigten ihn die warmen Worte des ehrwürdigen Schamanen. Hörst du, sie sind sicher.
Davids Augen hefteten sich auf die Augenhöhlen des Wolfes. Doch anstelle von gierigen Tieraugen, sah er die Gesichter zweier Menschen. Das eine alt und energisch, das andere jung und verloren. Finde einen Weg, wisperte der Aborigini, solange er glaubt, dass ich ihm ebenbürtig bin, ist noch nichts verloren ...
Das zweite Gesicht, der Verlorene öffnete langsam die Lider. Seine Lippen bebten. Er riss sie auseinander und ließ einen stummen Schrei los. Aus dem geöffneten Mund drängten sich kleine pelzige Kreaturen. Mit Knopfaugen ausgestattete Nager, die sich zu einem Rudel zusammenrotteten und fiepend auf David zu trabten.
„Ein Portal“, erinnerte er sich lautstark an seine Aufgabe und kehrte der morbiden Szene den Rücken zu. Finde es, hallte die Stimme des Schamanen nach. Finde es bevor es zu spät ist.
Er kreuzte die Arme. Ließ nur mehr von den energetischen Strömungen tragen. Eine der Ratten hatte es auf seine Schulter geschafft. Ihre scharfen Beißer machten sich an seinem Hals zu schaffen. Sie suchte die Hauptader. Er packte sie am Genick, stach mit den Fingern in ihre Augen und schleuderte den schlaffen Körper achtlos von sich. Das tote Fleisch stoppte mitten im Flug, bekam lange lederne Flügel und setzte erneut zum Angriff an.
Davids Gesicht wurde kalt. Die Zähne fest aufeinander gebissen, presste er einen mächtigen, niemals für menschliche Ohren bestimmten Fluch aus, der das flatternde Übel in einem einzigen Blitz vergehen ließ. Während er fühlte, wie ihm der Mageninhalt von vor zwei Tagen den Hals hoch kroch, umwehte plötzlich ein mit Lilien getränkter Windhauch sein Gesicht. Da wo zuvor noch gellendes blaues Licht das Dunkel erhellt hatte, wabberten nun die verschwommenen Farben eines entfernten Ortes auf.
Es war zum greifen nahe, er brauchte nur die Hand auszustrecken und ... Nein. Sein Gewissen verfiel in Aufruhr, ermahnte ihn zur Einhaltung seiner Natur. David formte einen strahlenden Lichtzauber, markierte somit das Portal und riss sich mit aller Gewalt zurück.
Als die Verbindung zu dem Monolithen abbrach, glaubte er für einen kurzen Moment wieder den Schrei der Frau vernommen zu haben. „Später“, ächzte er müde.
*
Obwohl nur Minuten vergangen sein konnten, musste die Kathedrale kurz vor dem vollständigen Zusammenbruch stehen. Decke und Wände waren von tiefen Rissen durchzogen. Bodenplatten hoben und senkten sich, einem Chaos erfüllenden Reigen gleichkommend.
Die Augen des Dämonenjägers verengten sich zu schmalen, suchenden Schlitzen. „Wo ist er ...?“ murmelte er, der verstreichenden Zeit gewiss. Er wollte gerade einen Schritt machen, als mehrere, sich direkt vor ihm befindende Platten mit einem berstenden Knirschen aus ihrem angestammten Platz gerissen worden und zwei ineinander verkrallte Körper entließ.
Während David noch immer damit beschäftigt war, sein ohnehin schon beschädigtes Weltbild wieder ans Laufen zu kriegen, klatschte etwas vor seine Füße. „Sahst auch schon mal besser aus“, begrüßte er den Alten und half ihm wieder auf die Beine.
Der Schamane war schlimm zugerichtet, und würde mehr als eine heiße Dusche benötigen, um wieder auf die Beine zu kommen.
„Wo ...?“, begann David, verschluckte die Weiterführung der Frage jedoch, und starrte gebannt auf den im Zentrum der Halle, kauernden Fenrir. Er hatte seine Form verändert. Er schien nun nicht mehr groß und muskulös, sondern schlanker, athletischer. Der aus einem langen Hals wachsende Schädel, erinnerte nun mehr an den einer Raubkatze, statt an den eines Wolfes. Schwarzes Blut plätscherte den Kiefer herab.
„Wir sollten uns aus dem Staub machen“, flüstert David.
Der Alte nickte. „Er ist verzweifelt und verwirrt“, gab er zurück. „aber nicht dumm, er hat gemerkt das ich ihn nur hingehalten habe, und sich meinem Kampfstil angepasst.“ Die beiden Männer schlichen vorsichtig zu dem Monolithen zurück.
Fenrir richtete sich mit einem Knurren auf. Sein linker, mehr an ein Bein, erinnernder Arm, wirkte seltsam verdreht und ließ sich allem Anschein nach auch nicht mehr richtig bewegen. „Überraschend ...“, geiferte er und quälte sich ein weiteres Stück vor. „Ihr seit ein interessantes Team.“
Der Alte stolperte, hakte sich bei David ein und überließ ihm die körperliche Arbeit. Aber er kam nur langsam vorwärts. Auch wenn die der Monolith kaum drei Yards entfernt war, konnte der Lykaner sie mit einem Satz erreichen. Er schielte zur bröckelnden Deckenkonstruktion. Das einem Mosaik gleichkommende Gestein, würde die durch den vorangegangenen Kampf ausgeübten Beben nicht so einfach verkraftet haben.
„Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, was du getan hast?“ Fenrir riss den Kopf zur Seite. Trotz seines veränderten Äußeren, hörte sich sein Lachen nach wie vor wie das einer Hyäne an. „Ihr glaubt ich wäre am Ende. Aber dem ist nicht so. Ich werde ewig wandeln“, seiner Kehle entrang ein Röcheln. „Auch dann noch wenn, die Menschenbrut längst in Vergessenheit geraten ist.“ Er winkelte seine Hinterläufe an.
David reagierte. Schleuderte den sorgfältig ausgeführten Hitzezauber die Decke hoch und hoffte mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht, dass sein Plan aufging.
Was zuerst nur als dumpfe Explosion zu deuten war, entpuppte sich rasch zu einer tosenden Schuttlawine, die mit einem ohrenbetäubenden Krachen dem Boden entgegen regnete. Der dämonische Gestaltenwandler verschwand in einer grauen, die Luft raubende Rauchwolke. Die Kathedrale hauchte ihr unseliges Leben aus und riss ihren Erschaffer mit sich.
„Er ... wird nicht aufgeben“, quälte der Alte hervor. „Das kann er nicht ... nie.“
„Irgendwann muss etwas enden.“ Sie erreichten den Monolithen. „Die Kinder?“
Der Alte umgriff das um seinen Hals hängende Amulett. „In Sicherheit“, flüsterte er und ließ um seine Mundwinkel ein schwaches Lächeln entstehen. „Jetzt komm.“
Es war wie beim letzten Mal. Der Monolith nahm ihn auf, riss ihn hinab in die dunklen Sphären. In weiter Ferne sah er, dass von ihm hinterlassene Licht blinken. Eine Boje, die ihrer beiden Seelen den Ausgang deutete. Sie hatten die Hälfte des Weges überbrückt, als sich vor ihrer beiden Augen, abermals die schon voran gegangene Szene wiederholte. Mehrere Menschen und in ihrem Zentrum das sich öffnende Buch.
David wagte sich an den Rand des Geschehenen.
„Es ist die Vergangenheit, nicht wahr?“ Er wirkte unsicher, wusste nicht wie er das Passierte einzuordnen hatte. „Das wo von Fenrir sprach ist eingetreten.“
„Die Vergangenheit ist nicht resistent. Es ist weder ein Traum noch eine Vision, was du siehst entspricht dem hier und jetzt.“
Das herrschende Chaos griff um sich. Die sich im Raum befindlichen Menschen wurden zum Spielball einer höheren Macht. Sie starben.
„Dann können wir eingreifen – wir müssen eingreifen!“
„Nicht ohne seine Einwilligung. Es ist vorherbestimmt. Fenrir fürchtet es nicht ohne Grund. Und du solltest es auch fürchten.“
Der Tumult nahm zu.
„Ich scheiße auf dieses verfluchte Buch.“ Davids Worte klangen seltsam blechern. Er setzte seinen Geist frei, tastete in eiliger Hast nach der letzten intakten Seele und versuchte sie aus dem Alptraum zu reißen.„Ich hab sie ...“ Er verstärkte seine Bemühungen. „Verdammt jetzt hilf mir endlich!“
Der Alte ließ einen leisen Seufzer los. „Es ist vorbestimmt“, krächzte er, „... wir dür...“
„Ich habe sie.“