Kapitel 34
Michael drehte sich halb um, als er das forsche Klopfen an der Küchentür vernahm, doch bevor er sich vom Herd abwenden konnte, war Sebastian schon drinnen und verschloss die Tür vor dem Wind und dem feuchten Wetter.
»Bei dir regnet es.« Sebastian stellte den Henkelkorb auf den Tisch, dann zog er seinen Mantel aus und hängte ihn auf einen Haken an der Tür.
»Nicht der beste aller Tage, um es mit der Musik zu versuchen«, sagte Michael, »aber hier ist ein Regenschirm. Wir können uns ja eine kleine Weile darunter stellen.«
»Na, wenn das nicht kuschelig wird.« Sebastian rieb sich die Hände, als versuche er, sie aufzuwärmen. »In Aurora regnet es nicht.«
In diesen Worten lag eine Botschaft. »Ich mache Tee«, sagte Michael. »Wenn du Kaffee willst …«
»Koche ich mir selbst welchen«, schloss Sebastian und nahm ein paar Gegenstände aus dem Henkelkorb.
»Das kann ich doch machen«, sagte Michael, der sich fühlte, als sei seine Gastfreundschaft in Frage gestellt worden.
»Nein«, sagte Sebastian bestimmt. »Kannst du nicht.«
Ach so. Es war also nicht seine Gastfreundschaft, die hier in Frage gestellt wurde, sondern seine Fähigkeit eine - laut Sebastian - annehmbare Tasse Kaffee herzustellen.
»In Ordnung«, grummelte Michael. »Dann mach ihn eben selbst.«
»Ich habe zwei Gläser von Tante Nadias Suppe, und Lynnea hat ein paar belegte Brote gemacht.«
Bestechung. Und da es eine weit bessere Mahlzeit abgeben würde als alles, was er selbst zusammengesucht hätte, holte er einen Topf aus dem Schrank, um die Suppe aufzuwärmen, und legte dann zwei Gedecke auf den Tisch.
»Es sind jetzt schon ein paar Tage, Michael«, sagte Sebastian, nachdem er die Kaffeebohnen gemahlen und das Wasser aufgegossen hatte. »Ich konnte der Frage, wo ich jeden Tag hingehe, nicht mehr ausweichen. Also habe ich Lynnea erzählt, wohin ich gehe - und das hat wiederum dazu geführt, dass ich ihr erzählt habe, warum.«
Michael schöpfte die Suppe in Schüsseln, während Sebastian die belegten Brote auf Teller legte. »Und sie hat es Nadia erzählt.« Was das Essen erklärte.
»Es hat ihnen wieder Hoffnung geschenkt - und das hat in allen eine Menge Tatendrang geweckt.«
Die Art, wie Sebastian lächelte, ließ ein unangenehmes Gefühl in ihm aufsteigen.
»Und wer weiß es sonst noch?«
»Nur die Leute, von denen man es erwarten würde. Familie - und enge Freunde.«
Die Herrin hab Erbarmen. Das war noch nicht alles. Er spürte, da war noch mehr, doch was auch immer Sebastian ihm noch erzählen wollte, es war etwas, das er wirklich nicht wissen wollte.
Als sie die Suppe zur Hälfte ausgelöffelt hatten, sagte Sebastian: »Es ist Frühling. Man hat mir gesagt, es sei Zeit, die Gärten aufzuräumen.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, morgen wird es hier nicht regnen, Magier. Also bist du besser zu Hause und vorbereitet.«
Michael blinzelte. »Auf was?«
Sebastian schüttelte den Kopf und seufzte. »Vier Frauen, was deine Tante Brighid mit einschließt, die gerne im Dreck spielen und grünes Gemüse anpflanzen.«
»Uh - huh.«
»Sie sind morgen hier - zusammen mit mir, Teaser, Jeb, Yoshani und Lee -, um dir dabei zu helfen, den Mauergarten aufzuräumen und ein paar Blumen zu pflanzen.«
Michael ließ seinen Löffel in die Schüssel fallen, sank in seinen Stuhl zurück und starrte Sebastian an. »Es liegen fast zwei Morgen zwischen diesen Mauern, und das Land ums Haus herum ist mindestens genauso groß, wenn nicht größer.«
»Uh - huh.«
»Alles? Wir werden alles aufräumen?«
»Uh - huh.«
Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Aber vielleicht würde es so schlimm gar nicht werden. Er war kein Gärtner und tat auch nicht so, als sei er es, doch für sein ungelehrtes Auge sahen die Gärten nicht allzu wüst aus. »Was wird denn dann gemacht?«
Sebastian hielt eine Hand hoch und begann die Arbeiten an den Fingern abzuzählen. »Unkraut jäten, Mulch verteilen, die Blätter zusammenrechen, die wir letzten Herbst liegen gelassen haben -«
»Blätter rechen? Warum?«
»Weil sie von den Bäumen gefallen sind und jetzt auf dem Boden liegen. Wie können sie entweder zusammenrechen oder sie wieder an die Bäume nageln, jedes einzelne von ihnen. Das ist ein Zitat.«
Michael stützte seinen Kopf auf die Hände. »Lee will nicht herkommen. Sein Arm steckt jetzt schon eine Weile nicht mehr im Gips, aber ich denke, er wird die Ausrede eines heilenden Knochens ausnutzen, um nicht kommen zu müssen.«
»Er hat es versucht«, antwortete Sebastian trocken. »Die Antwort lautete, und ich zitiere: ›Man braucht keine zwei Hände, um Unkraut aus dem Boden zu ziehen‹«
»Herrin des Lichts, hab Erbarmen mit uns.«
»Na, ich hoffe jedenfalls, irgendjemand hat es, denn Tante Nadia ist ziemlich unbarmherzig, wenn es darum geht, den Garten instand zu setzen. Und Lynnea ist nicht viel besser«, fügte Sebastian murmelnd hinzu.
Michael spielte einen Augenblick mit seinem Löffel herum, dann schob er die Schüssel beiseite. »Wenn du zurückgehen und die Entscheidung noch einmal treffen könntest, die dich dazu gebracht hat, dich um einen Garten zu kümmern, weil eine bestimmte Frau es von dir verlangt …«
»Würde ich dieselbe Entscheidung treffen«, sagte Sebastian. »Ich habe mich für die Liebe entschieden, Magier. Genau wie du. Deshalb bist du doch hier, oder?«
Er nickte. »Deshalb bin ich hier.« Er blickte auf den Rest Suppe in seiner Schüssel. »Mochte Glorianna diese Suppe?«
»Am allerliebsten. Tante Nadia nennt sie Trostsuppe.« Sebastian blickte zum anderen Glas Suppe auf der Anrichte und sah dann zu Michael. »Magier, ich habe eine Idee.«
Leise weinend wickelte der Weltenfresser sich die Fetzen Seines Hemds um den verletzten Arm.
Da waren Büsche mit reifen Beeren gewesen. Saftig. Süß. Er hatte nicht viele gewollt, nur ein paar. Nur kurz etwas Gutes kosten.
Doch die Menschen hatten die Beeren auch gefunden, und ihr Geist war zu verstopft von Gier und Bösartigkeit, um etwas anderes zu hören. Sie trampelten einander nieder und rissen aneinander in Fetzen, um an die Früchte zu gelangen. Sie stachen einander und bewarfen sich gegenseitig mit Steinen, als sie darum kämpften, sich Hände voller reifer Beeren in den Mund zu stopfen. Sie zerstörten die Büsche und zerdrückten die Hälfte der Beeren unter ihren Füßen in ihrem Bemühen, so viel zu bekommen, wie sie konnten - mehr als alle anderen.
Und als Er versucht hatte, sich unter sie zu mischen und Seinen eigenen kleinen Anteil der Beeren zu bekommen, hatten sie sich gegen Ihn gewandt, Ihn angegriffen, an Seinen Kleidern gerissen und Ihn vertrieben.
Sie hatten Ihm wehgetan. Und es gab niemanden - niemanden - in dieser Landschaft, der ein solches Herz besaß, dass er Ihn aufgenommen hätte, um Seine Wunden zu versorgen und sich um Ihn zu kümmern.
Nun ja, es gab Herzen in dieser Landschaft, die in der Lage waren, Güte und Mitleid zu fühlen, wenn auch nur ein wenig. Doch diese Gefühle verkümmerten einfach ohne...
Welt?, wimmerte Er. Welt? Wo ist das Licht?
»Komm schon, Wildes Kind, du kannst das«, sagte Michael, als er den Korb auf den Sand in der Kiste stellte. »Du hast Caitlins Haare nach Aurora gebracht, um ihr zu helfen, erinnerst du dich? Das hier ist dasselbe. Wir möchten nur, dass du diesen Korb zu Belladonna bringst. Stell ihn einfach da hin, wo sie ihn findet. Es ist wichtig. Du kannst das. Wir wissen es.« Michael blickte über die Schulter und machte eine kreisende Handbewegung - »sag was!«, hieß die Geste.
»Wenn du das tun könntest, würde es den Menschen, die sie lieben, sehr viel bedeuten«, sagte Sebastian. Er klang nicht sehr zuversichtlich, obwohl es seine Idee gewesen war. Doch wenigstens versuchte der Rechtsbringer nicht, die Welt mit falscher Inbrunst zum Narren zu halten.
Michael trat einen Schritt zurück und kauerte sich unter den Regenschirm, den Sebastian in der Hand hielt, und gab dem anderen Mann einen Moment, um die Macht der Inkuben zu wecken. Dann zog er seine Flöte hervor und begann zu spielen.
In der Nähe des Brunnens stand ein Korb auf dem Boden, und eine Resonanz hallte durch die Strömungen dieses alten Gartens.
Vorsichtig bewegte sie sich auf den Korb zu, erwartete eine Art Falle zu finden, rasend vor Wut, dass jemand es gewagt hatte, ihr Lager zu betreten. Doch da war nichts in dem Korb außer einer Schüssel, einem Löffel und einem verschlossenen Becher … Suppe.
Etwas kitzelte am Rande ihrer Erinnerung, ein schmerzvolles Prickeln, wie ein eingeschlafenes Glied, das wieder erwacht. Und diese Resonanz. Sie fühlte, wie sie einen Haken in die Narbe auf ihrer Brust schlug, wie er sich in sie hineingrub und festsetzte. Und aus diesem Haken floss ein winziger, dünner Faden Licht nach draußen, an irgendeinen Ort jenseits ihrer Landschaften. Sie sollte ihn ausreißen. Würde ihn ausreißen. Doch der Faden war erfüllt von jener Resonanz.
Sie blickte auf den Becher mit der Suppe - und ihr Magen knurrte. Also goss sie ein wenig in die Schüssel und verschloss den Becher wieder, bevor sie nach dem Löffel griff und probierte.
Der Klang zwitschernder Vögel aus dem Zimmer neben der Küche. Zwei Jungen an einem Tisch. Ihr Bruder Lee und...
So wachsam, so argwöhnisch, so stark der Wunsch, dazuzugehören. Sie fühlte eine Verbindung zwischen seinem Herzen und dem ihren, wusste, die Resonanz dieses Noch-Fremden würde ihr Leben begleiten.
Sebastian.
Ihm zuzusehen, wie er die Suppe aß, die ihre Mutter gekocht hatte. Ihm zuzusehen, wie er den Geschmack genoss, die Freude der Sinne, Suppe und Brot an einem Tisch zu essen, an dem mit den Mahlzeiten auch Liebe serviert wurde.
Lee. Sebastian. Nadia.
Sie schleuderte die Schüssel von sich. Versuchte, die Erinnerung mit fortzuwerfen. Doch die Erinnerung war hartnäckiger, hatte sich bereits in den vernarbten Teil ihres Selbst gegraben.
»Mutter.«
Nadia war nicht hier. Konnte nicht hier sein. Auch Lee nicht. Oder Sebastian. Aber der Korb …
Dann hörte sie es. Die Musik, die der Resonanz eines Jungen entsprach, der vor so vielen Jahren einen Haken in ihrem Herzen versenkt hatte. Jetzt war es zu spät. Zu spät. Sie hatte es einmal geschafft, diese Resonanz aus ihrem Herzen zu reißen, doch sie konnte es nicht noch einmal tun. Nicht noch einmal.
In diesem Moment, schwebend zwischen der Dunkelheit, die sie empfinden konnte, und dieser Resonanz namens Sebastian, die die Sehnsucht in ihrem Herzen weckte, erfasste sie eine weitere Resonanz. Das schwächste Flüstern nur, das geringste Ziehen.
Ein Versprechen.