Kapitel 24

Michael saß auf der Bank und sah zu, wie die Fische zwischen den Wasserpflanzen im Koi-Teich golden aufblitzten. Er hatte seinen Geist sorgfältig geleert, doch die Abwesenheit geschäftiger Gedanken war nicht erholsam. Nicht wie sie es hätte sein sollen. Denn er war damit beschäftigt, nicht über die Frau nachzudenken, die nicht bei ihm war.

»Sinnierst du, brütest oder grübelst du, oder lässt du nur einen Teil deines Hirns auf dem Wasser treiben?«, fragte Lee und ließ sich auf dem anderen Ende der Bank nieder.

»Alles, was versucht, auf diesem Wasser zu treiben, wird gefressen«, antwortete Michael. »Füttert diese Fische nie jemand?«

»Sicher. Aber das heißt ja nicht, dass sie nicht auch selbst nach Futter suchen.« Lee musterte ihn. »Machst du dir immer noch Sorgen um Caitlin?«

Michael rieb sich mit den Händen über die Knie. »Kayne schien ein wenig zu interessiert an einem Mädchen ihres Alters.«

»Er ist interessiert«, entgegnete Lee. »Aber er ist auch schlau genug, zu wissen, dass das einzige männliche Wesen, das derzeit Caitlins Aufmerksamkeit fesselt, klein, braun und struppig ist.«

Er knurrte. Keine besonders redegewandte Antwort, aber besser, als zuzugeben, dass tatsächlich in absehbarer Zukunft Andrew der Hund Caitlins einziger Begleiter sein würde. Dann seufzte er. »Mir tut das Herz weh, weil  jemand anders glücklich ist. Macht mich das zu einem dreckigen Mistkerl?«

Lee sagte nichts.

Michael hielt den Blick auf den Teich gerichtet. »Ich habe meine Tante Brighid respektiert, weil sie gekommen ist, um Caitlin und mir zu helfen, als wir sie brauchten. Und ich habe sie wohl auch geliebt, doch es war eine Liebe aus Pflichtgefühl, wenn du verstehst, was ich meine.« Er blickte lange genug zu Lee hinüber, um ihn nicken zu sehen. »Ich konnte die Musik ihres Herzens nicht hören. Krachende Akkorde und sonderbare Rhythmen, aber nicht die Melodie, nicht der Klang, der mir normalerweise ein Gespür dafür gibt, wer ein Mensch ist.«

»Sie war nicht dort, wo sie hingehörte«, sagte Lee leise. Er wartete einen Herzschlag lang ab. »Was hörst du jetzt in ihr?«

»Ein großartiges Lied. Etwas, von dem ich mir nie vorgestellt hätte, dass sie es in sich hat. Noch bevor ich auf das Lied gelauscht habe, sah ich ihr Gesicht, als sie von deiner Insel herunterstieg und einen Fuß in die Heiligen Stätten setzte - und mir wurde klar, ich hatte sie nie wirklich glücklich oder mit sich und der Welt im Reinen gesehen. Das ist ziemlich schwer zu schlucken, schließlich bin ich einer der Gründe, aus denen sie diesen Frieden nicht finden konnte.«

Lee beugte sich vor, stützte die Unterarme auf die Knie. »Sie war in Lighthaven auch nicht glücklich, Magier. Sie wusste, sie brauchte das Licht, doch es war nicht ihr Ort. Und trotzdem ist sie nie zum Hafen der Liebsten gegangen, um zwischen den Wachsteinen hindurchzugehen. Ich glaube, das ist der Unterschied zwischen deinem Teil der Welt und meinem. Ihr könnt Resonanzbrücken meiden und dort bleiben, wo ihr nicht hingehört. Doch es kann nicht leicht sein, sein eigenes Herz zu verleugnen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und letztendlich könnt ihr es auch nicht. Ephemera lässt es nicht zu.«

»Sie hätte niemals zwei Kinder im Stich gelassen.«

Lee nickte. »Nachdem sie sich entschlossen hatte, zu helfen, hätte sie euch nicht euch selbst überlassen - vor allem während Caitlin so jung war. Doch wir sprechen nicht nur von deiner Tante. So verhält es sich mit allen Herzenswünschen. Man muss vielleicht durch mehrere Landschaften reisen - und in jeder Zeit verbringen, leben, lernen, sich innerlich verändern -, bevor man für den Ort bereit ist, an den man wirklich gehört, der Ort, den das eigene Herz als ›Zuhause‹ erkennt. Brighid hat ihren Ort gefunden. Caitlin auch. Was ist mit dir? Hast du den Mut, in die Landschaft überzutreten, in die du gehörst?«

Michael drehte sich weit genug um, um Lee direkt anzusehen. »Und du glaubst, du weißt, wohin ich gehöre?«

Lee schüttelte den Kopf. »Dein Herz weiß es.«

Er wusste, wohin er gehören wollte. Doch das war nicht das Gleiche.

»Mein Vater hat uns verlassen, als ich …« Lee hielt inne. »Na ja, ich war so jung, ich kann mich nicht an ihn erinnern. Meine Mutter wusste nicht, ob er eine Brücke überquert hatte und nicht zu uns zurückkehren konnte, oder ob er in eine Landschaft übergetreten war, in die sie nicht gehörte, und nicht zu uns zurückkehren wollte. Erst vor ein paar Monaten haben wir Hinweise gefunden, die uns glauben lassen, er ist getötet worden, weil er erfahren hatte, dass die reinblütigen Zauberer keine Menschen waren, sondern in Wirklichkeit die Wächter der Dunkelheit.«

»Ein Verlust wie dieser verändert vieles«, sagte Michael, der sich deutlich daran erinnerte, wie sein Vater die Straße hinuntergegangen war, alleine, dieses letzte Mal.

»Ja, es hat einiges verändert.«

»Doch es hat das Herz deiner Mutter nicht aller Gefühle bis auf Wut und Raserei beraubt.«

»Meine Mutter war dort, wo sie hingehörte, in einem Haus, das sich seit Generationen im Besitz der Familie befand. Und meine Mutter hat das Wesen ihrer Gabe und den Lauf der Welt immer gekannt. Sie wäre nicht an einem Ort geblieben, an den sie nicht gehörte.«

»Na ja, meine Mutter ist auch nicht geblieben«, sagte Michael und hörte selbst die Bitterkeit in seiner Stimme. »Wohin sie eigentlich gelangen wollte, indem sie ins Meer lief, ist natürlich reine Vermutung. Wo sie angekommen ist, war ein Armengrab.« Und es tat weh. All die Jahre danach tat es immer noch weh. »Sie hat uns nicht genug geliebt, um zu bleiben.«

Bevor Lee antworten konnte, stand Michael auf und setzte so dem Gespräch ein Ende.

Lee erhob sich ebenfalls. »Sollen wir uns den Damen anschließen?«

»Wir haben Glück, dass deine Mutter sich ausgerechnet heute dazu entschlossen hat, die Heiligen Stätten zu besuchen«, sagte Michael, als sie zum Gästehaus liefen.

»Glück hat damit nichts zu tun«, erwiderte Lee lächelnd. »Das Gefühl meiner Mutter für den richtigen Zeitpunkt ist unheimlich - vor allem, wenn man ein kleiner Junge ist, der etwas tut, was er nicht sollte.«

»Ach so.« Michael zögerte, dann entschied er, dafür sei jetzt auch der richtige Zeitpunkt. »Da wir gerade von Damen sprechen, mir ist aufgefallen, dass deine Schwester nicht beim Rundgang durch die Heiligen Stätten dabei war.«

»Sie musste sich um etwas kümmern. Sie wird bald zurück sein.«

Wo? Obschon unausgesprochen, wussten sie beide, die Frage war gestellt - und nicht beantwortet worden. Noch immer bin ich ein Außenseiter, dachte Michael. Und vielleicht verdiene ich es auch nicht anders.

Als sie sich Brighid und Nadia näherten, versteckte er den Gedanken in der hintersten Ecke seines Herzens und  hoffte, niemand würde in der Lage sein, ihn zu finden. Auch er nicht.

 »Ihr solltet hier nicht herumstöbern«, sagte eine männliche Stimme. »Es ist zu gefährlich.«

Glorianna drehte sich um und musterte den Mann, der ein paar Schritte hinter ihr stand. Er war etwa in Lees Alter, vielleicht ein wenig älter. Er besaß ein angenehmes Gesicht und alte Augen, die jetzt, da er sie deutlich sehen konnte, schmal wurden.

»Ihr seid mit Caitlin Marie gekommen, um den Garten anzuschauen«, sagte er. Er stand nicht am richtigen Ort, um ihn zu sehen, doch er blickte in Richtung der Wiese. »Dieser seltsame, rostfarbene Sand ist verschwunden, nachdem ihr hier gewesen seid.« Seine Augen weiteten sich. »Ihr seid eine Zau -«

»Landschafferin.« Sie legte genug Gewicht in das Wort, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Und eine Wächterin des Herzens. Achtet auf Eure Worte. Sie bedeuten mehr, als Ihr erkennt.«

Er zögerte, dann kam er näher. »Ich bin Nathan.«

Glorianna neigte den Kopf. »Ihr seid der Anker.« Er blickte sie stirnrunzelnd an, doch sie lächelte, denn in seinen Augen leuchtete ein Schimmer der Erkenntnis auf. Das Wort selbst sagte ihm, so wie sie es benutzte, nichts. Der Sinn schon. »Ihr erinnert Euch daran, wie Ravens Hill einst war.«

»So alt bin ich nun auch wieder nicht«, beschwerte er sich. Doch er nickte auch. »Mein Großvater hat mir früher immer Geschichten erzählt. Es war ein gutes Dorf, und ein recht wohlhabendes, als der Steinbruch noch offen war. Die Fischerei lief besser damals. Es gab mehr Jagdwild in den Hügeln. Und die Leute waren freundlicher.«

Sie können es wieder sein. »Es war nicht ihre Schuld«, sagte sie sanft. »Michaels, Caitlins und Brighids.«

»Natürlich war es nicht ihre Schuld«, fuhr Nathan sie  an. Der Zorn kam automatisch - eine vor langer Zeit aufgenommene Gewohnheit -, doch darunter lagen Unsicherheit und Zweifel. »Ein junges Mädchen kann keinen Brunnen so verderben, dass keine Hoffnung mehr besteht, ihn zu reinigen, oder einen Gemüsegarten verwüsten, indem sie ihn ansieht. Ein Junge kann niemandem Pech oder Glück bringen, nur indem er sich wünscht, es würde ihm etwas widerfahren. Das ist alles ein Haufen -«

»Wahrheit.« Sie sah, wie ihm der Kiefer herunterfiel, und wartete dann, bis er sein inneres Gleichgewicht wiederfand. Er hatte gewusst, es war die Wahrheit - hatte gewusst, Caitlin und Michael waren zu solchen Dingen fähig, doch er hatte nicht damit gerechnet, jemand würde anerkennen, was sie tun konnten, ohne sie dafür zu verurteilen. »In vielerlei Hinsicht geschah es unwissend, unbeabsichtigt, und das Vermächtnis des Unglücks wurde zusammen mit diesem Haus vererbt. Doch Caitlin ist eine Landschafferin, die die Welt in gewissem Ausmaß verändern kann, und da das Dorf bereits darauf eingestellt war, sie als Zauberin zu brandmarken, trugen sie dazu bei, sie zu formen. Und im Gegenzug trug sie dann dazu bei, die Welt zu formen, in der sie leben mussten. Doch selbst sie konnte Ephemera nicht über einen bestimmten Punkt hinaus beeinflussen. Denn Ihr wart hier.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich besitze keinerlei Magie.«

»Ihr liebt diesen Ort. Trotz der Schwierigkeiten, die dieses Dorf plagen, liebt Ihr es. Und Euer Herz hält die Erinnerungen daran fest, was diese Landschaft einmal war. Ihr habt die Erinnerungen, die euch überliefert wurden, und die Hoffnung, dass Ravens Hill wieder sein wird, was es einst war, nicht losgelassen.«

Er sah traurig aus. »Also hatten sie alle Recht mit Michael und Caitlin?«

»Ja und Nein.« Glorianna blickte auf die verkohlten Überreste des Hauses, fühlte den Knoten aus Dunklen Strömungen direkt darunter. Warum sollte jemand ein  Haus auf einer Stelle errichten, die alle Arbeiter unruhig gemacht haben musste? Und wie viel Mut hatte es erfordert, in diesem Haus zu leben, auch wenn die Leute, die dort wohnten, nichts von den Strömungen wussten?

Sorgengrund. Das Wort stieg in ihr auf wie eine geflüsterte Erinnerung. Sie verschloss die Augen vor dem Schmerz, den es barg.

»Was habt Ihr? Geht es Euch nicht gut?«

Eine leichte Hand auf ihrem Arm. Besorgnis in Nathans Stimme.

Sie öffnete die Augen und blickte in seine. Er kann etwas verändern.

»Wenn Ihr Eurem Dorf und den Menschen helfen wollt, müsst Ihr etwas tun.« Ephemera, hör mich an. Sie lief gebückt über den Boden, dann hob sie einen handtellergroßen Stein auf, der dem Fels im Steinbruch glich. Sie machte eine ausladende Handbewegung, die die Ruinen des Hauses und die Wiese, die es umgab, mit einschloss. »Lernt die wahren Namen der Dinge. Das hier ist der Sorgengrund. Es ist kein Ort, an dem jemand bauen oder leben sollte. Er gehört der Sorge, den düsteren Gefühlen, die den Geist plagen. Er gehört auch dem Kummer, der Enttäuschung, dem Verlust. Wenn sie blühen, pflückt eine Wildblume auf der Wiese oder sucht einen einfachen Stein aus und flüstert ihm zu, was euch quält, während ihr dem Sorgengrund eure Gabe darbietet.« Sie machte es vor, indem sie den Stein in die Ruinen des Hauses schleuderte.

»Das ist ja alles schön und gut, wenn die Leute es nicht für zu verrückt halten«, sagte Nathan, »doch wozu soll es gut sein?«

»Es ist eine Reinigung«, antwortete Glorianna »Da es hier ohnehin schon schlechte Gefühle gegenüber diesem kleinen Teil von Ravens Hill gibt, werden es die Menschen nicht sehr schwer finden, zu glauben, dies sei der dunkle Ort des Dorfes.«

»Wenn Ihr nicht vorsichtig seid, könnte Sorge eine geheimnisvolle, schwarzhaarige Zauberin werden, die durch die Ruinen oder über die Wiese schreitet und der Trauer und dem Kummer lauscht«, sagte Nathan.

Sie hörte die unausgesprochene Frage, fühlte die Sehnsucht in seinem Herzen - und spürte einen Moment des Bedauerns, dass ihre eigene Sehnsucht sie zu einem Mann hinzog, dessen Herz so düster war, dass sie sich nicht sicher war, ob sie ihm vertrauen konnte.

»Caitlin und Michael werden nicht nach Ravens Hill zurückkehren. Auch ich werde es nicht tun. Wenn Ihr also glaubt, es wird den Menschen hier helfen, so erzählt die Geschichte von einer Zauberin namens Sorge, die gekommen ist, das Gleichgewicht in diesem Teil der Welt wiederherzustellen. Und wenn die nächste Frau nach Ravens Hill kommt, die ist wie ich, seid achtsam, wie Ihr sie nennt. Eine Landschafferin hält ihre Teile der Welt im Gleichgewicht. Das ist es, was wir tun, und was wir sind. Wenn Ihr sie akzeptieren könnt, so könnt ihr zwei hier etwas Gutes entstehen lassen.«

»Woher wisst Ihr …« Er wurde rot.

»Das Herz kennt keine Geheimnisse. Nicht vor mir.«  Normalerweise nicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange, dann trat sie zurück. »Mögest du mit leichtem Herzen reisen.«

Sie sah die anderen Männer, die sich ihnen näherten, einige mit grimmigen Mienen, einige besorgt. Nathan hörte sie und sah sich um, während er grüßend die Hand hob.

Sie vertrauten ihm. Gut. Und sie waren genug, um gegenseitig für einander als Zeuge aufzutreten. Noch besser.

Sie warf den Männern einen langen Blick zu, der sie zögern ließ, dann wandte sie sich um und ging den Schritt zwischen Hier und Dort - und verschwand genau vor ihren Augen.