Kapitel 12

Glorianna stürzte aus einem Teil ihres Gartens in den nächsten. Hielt Ausschau. Suchte. Lauschte mit dem Herzen und verstand die Botschaften nicht, die Ephemera ihr übermittelte.

Es fühlte sich an wie ein Urteil des Herzens, aber doch nicht ganz so, als wäre jemand von den Strömungen der Welt davongetragen worden, um in der Landschaft zu landen, die sein Herz am genausten widerspiegelte. Es fühlte sich an, als überschreite jemand eine Brücke von einer Landschaft in eine andere, doch normalerweise hätte sie die Resonanz eines Übergangs nicht gespürt, denn jemand, der nicht wahrhaft in ihre Landschaften gehörte, sollte nicht in der Lage sein, sie zu erreichen. Das allein war beunruhigend genug, aber …

»Glorianna!« Lee schloss zu ihr auf. »Glorianna?«

»Jemand - oder etwas - hat versucht, den Weltenfresser in eine meiner Landschaften zu bringen«, sagte Glorianna und starrte auf den Teil des Gartens, der die Zugangspunkte zu ihren dunklen Landschaften enthielt.

»Was?« Lee sprang einen Schritt zurück, als erwarte er, dass der Weltenfresser jeden Moment aus der Erde schießen würde.

Du hast einen Jungen angefasst! Du hast die Pest!

Lees Sprung erinnerte sie an eine Neckerei, die sie so oder ähnlich schon in so vielen Dörfern gehört hatte - eine Neckerei, die Teil der Rituale zu sein schien, die ein Mädchen in eine junge Frau verwandelten. Irgendwann im Laufe dieser Jahre wurde aus der »Pest« »interessant«,  und danach war das Leben eines Mädchens nie wieder ganz das gleiche. Natürlich war auch das Leben der Jungen nie wieder ganz das gleiche.

Die Heiterkeit des Augenblicks ließ sie genug zur Ruhe kommen, um endlich nachzudenken.

»Jemand ist hinübergetreten«, sagte Glorianna. »Aber nicht auf die gewohnte Weise. Und beinahe wäre der Weltenfresser mit dieser Person herübergekommen.«

»Beinahe.« Lee verlangte nach einer Erklärung, das konnte sie deutlich fühlen.

Glorianna nickte. »Beinahe. Wenn der Weltenfresser eine meiner Landschaften betreten hätte, würde die Dissonanz durch die Strömungen der Macht hallen.«

»Er hat sich schon einmal eingeschlichen. Hat einen Ankerpunkt im Boden erschaffen, der so klein war, dass du ihn erst entdeckt hast, als du beinahe auf ihm standest.«

»Ich weiß, aber das hier ist anders. Ich glaube, Er hat nicht versucht, in meine Landschaften einzudringen. Ich glaube …« Glorianna legte die Stirn in Falten. »Ein Willenskampf hat stattgefunden. Vielleicht hat die Person gar nicht versucht, den Weltenfresser hierher zu bringen. Vielleicht hat sie versucht, ihm zu entkommen. Aber das würde das Gefühl eines Herzensurteils nicht erklären.«

»Es gibt so etwas wie spontane Herzensurteile«, sagte Lee zögerlich.

Glorianna sah ihn an.

»Die Brückenbauer reden nicht darüber, aber wir wissen, dass es vorkommt. Wenn zwei Menschen, die nicht in Einklang miteinander sind, im selben Moment eine Resonanzbrücke überqueren - vor allem, wenn eine Person versucht, die andere dazu zu zwingen, in eine … ungeeignete … Landschaft überzutreten -, reagiert Ephemera manchmal mit einem Urteil des Herzens und schickt jede Person in eine andere Landschaft. In diesen Fällen scheint es so, als sei der Ort, auf den der Wille der Person  gerichtet ist, genauso wichtig, wie welche Landschaften der Resonanz ihres Herzens entsprechen.«

»Du hast eine Mutter und eine Schwester, die Landschafferinnen sind - und du hast das nie erwähnt?«

Lee zuckte mit den Schultern, er schien auf der Hut zu sein. »Man spricht nicht darüber. Es schien einfach besser, wenn jeder daran glaubt, das Urteil des Herzens könnte nur dann eintreten, wenn eine Landschafferin es veranlasst hat.« Dann warf er ihr einen Blick zu, nicht Bruder zu Schwester, sondern Brückenbauer zu Landschafferin. »Und außerdem, ist es nicht jedes Mal eine Art Herzensurteil, wenn jemand eine Resonanzbrücke überquert? Wenn man über eine solche Brücke geht, kann die Landschaft, in der man endet, ein Ort sein, den man noch nie zuvor gesehen hat, selbst wenn er mit der Resonanz des eigenen Herzens in Einklang ist.«

Da hatte er nicht ganz Unrecht. Und vielleicht war es Teil jenes Wissens, das so offensichtlich schien, dass man annahm, es sei jedem klar. Zumindest allen Landschafferinnen und Brückenbauern, die den Zusammenhalt und das Gleichgewicht Ephemeras aufrechterhielten.

Lee trat neben sie und betrachtete die Zugangspunkte in die dunklen Landschaften. »Was fühlst du jetzt?«

»Nichts. Ich bin mir ziemlich sicher, wer auch immer übergetreten ist, landete in einer der dunklen Landschaften, aber sein Herzschlag ist in der allgemeinen Resonanz untergegangen.«

»Jemand, der gestorben ist, würde auch keine Resonanz hinterlassen. Und wenn ein Kampf mit dem Weltenfresser stattgefunden hat …« Lee hob in einer hilflosen Geste die Hände.

»Trotzdem sollte ich Sebastian besser eine Nachricht zukommen lassen, für den Fall, dass irgendwelche … ungewöhnlichen Fremden … im Pfuhl auftauchen.«

»Das kann ich übernehmen«, sagte Lee. »Du wirst dich  noch eine Weile nicht wohl bei dem Gedanken fühlen, den Garten zu verlassen.«

Sie zog die Nase kraus und lächelte, um die Wahrheit dieser Worte anzuerkennen.

Lee umarmte sie mit einem Arm. »Denk aber daran, zurück ins Haus zu gehen, und dir etwas zu essen zu holen. Und nimm einen Schal oder eine Jacke mit nach draußen. Es wird jetzt nachts schon ziemlich kalt.«

»Ja, Mutter.«

»Es heißt Ja, Bruder.«

»Tut mir leid, ich konnte euch einen Moment nicht unterscheiden.«

»Wenn du mir jetzt noch sagst, ich werde einen großartigen Onkel abgeben, ring ich dich zu Boden und drücke dein Gesicht in den Schlamm.«

Glorianna zwinkerte. Das hier war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt, um ihre Meinung zu dieser Angelegenheit kundzutun.

Ihre Antwort musste jedoch zufrieden stellend gewesen sein, da er sie mit dem Vorhaben verließ, auf dem Weg in den Pfuhl im Haus ihrer Mutter vorbeizuschauen.

»Na ja«, sagte sie zum Garten, als sie ein paar der Herbstpflanzen von verwelkten Blüten befreite. »Ich bin mir sicher, er wäre ein guter Onkel, solange er sich nicht darauf verlässt, dass ich ihn dazu mache.« Was sie auf die Frage brachte, warum er sich überhaupt mit dem Problem beschäftigte.

Glorianna grinste. Sebastian ein Papa?

Dann verwandelte sich das Grinsen zu einem Schmollen. Lynnea hätte es ihr erzählen sollen. Selbst wenn es noch zu früh war, um sicher zu sein, hätte Lynnea ihr oder Nadia etwas sagen sollen. Denn offensichtlich hatte Lee einen Hinweis bekommen.

Wäre es ein zu auffälliger Hinweis, Lynnea eine Babydecke oder Schühchen zu schenken?

Ein Zittern lief durch die Strömungen der Macht - und  war gleich darauf wieder verschwunden. Doch es reichte aus, um sie daran zu erinnern, dass sich etwas Seltsames ereignet hatte, und es besser war, vorsichtig zu sein, bis sie herausfand, wer ihre Landschaft auf so unerwartete Weise betreten hatte - und warum.

 Der Weltenfresser kauerte sich in einer Höhle der Wasserlandschaft zusammen, die Er vor langer Zeit erschaffen hatte. Sein Farbton entsprach dem Stein der Höhle; alles was sich an Ihm bewegte, waren die zwei Tentakel, die sich aus dem Höhleneingang geschlängelt hatten und sich auf eine Art und Weise bewegten, die Fische dazu veranlasste, zu glauben, sie hätten eine Mahlzeit gefunden - während sie in Wahrheit kurz davor standen, selbst eine zu werden.

Einfältige Gedanken. Einfältige Kreaturen. Von diesen Wesen hatte Er nichts zu befürchten. In dieser Landschaft hatte Er keine Feinde.

Das männliche Menschenwesen, dem es gelungen war, Ihm zu entkommen, war jedoch gefährlich. Es verfügte über eine Macht, die Ihn unruhig werden ließ, denn diese Macht weckte alte Erinnerungen, zu vage, um von Nutzen zu sein, und zu stark, um sie abzutun.

Nicht ganz wie der Wahre Feind, dessen Resonanz das Herz des Menschenwesens erfüllt und ihm erlaubt hatte, sich aus den Landschaften des Weltenfressers loszureißen. Nein, nicht wie der Wahre Feind … sondern wie der  Alte Feind. Diejenigen, die Ihn in Seinen Landschaften eingesperrt hatten.

Aber hier war Er sicher. Der Mensch konnte nicht tief genug tauchen, um Ihn hier zu finden. Und der Wahre Feind wusste nicht, wie man Ihn in Seinen Landschaften fand.

Hier war Er sicher. Er würde sich laben und sich ausruhen. Dann würde Er in die vom geschäftigen Verstand der Menschen erfüllten Landschaften zurückkehren. Er  würde den Ängsten lauschen, die sich im Zwielicht des Halbschlafes offenbarten - und er würde noch mehr Wesen der natürlichen Welt Albtraumgestalt verleihen. Dann hätte die Angst einen Namen, und der Name würde sie stärken.

Die Angst trug bereits einen Namen: Der Weltenfresser.

Zufrieden, dass Er sich dessen erinnert hatte, verließ Er die Höhle. Die Landschafferin, die Er in der Landschaft der Knochenschäler gefangen hatte, war mittlerweile wahrscheinlich nichts weiter als ein Skelett, doch diese Knochen zu jenem kleinen Haus am Hügel zurückzubringen, würde die Schatten in den Menschen dieses Dorfes mehren.

Vor allem in den Herzen derer, die es freuen würde, die Knochen zu sehen.

 Über Sand, der nie aufhörte, lief Caitlin auf einen Horizont zu, der sich nie veränderte. Von dem blutig gefärbten Himmel fiel Licht herab, doch sie konnte die Sonne nicht sehen, und so hatte sie keine Möglichkeit, zu sagen, in welche Richtung sie lief. Ihre einzige Sicherheit, nicht im Kreis zu laufen, war die Tatsache, dass sie noch nicht auf ihre eigenen Fußspuren gestoßen war.

Sie spürte, wie ihr Seitenstechen wieder aufflammte, und verlangsamte ihren Schritt, bis sie nur noch ging, schwer atmend und nach Wasser lechzend. Doch als sie sich umdrehte, sah sie die schwarzen Gestalten auf sie zukommen. Die Entfernung verringerte sich.

Kann nicht, dachte Caitlin, als sie den Hackenstiel in den Sand steckte und sich darauf stützte. Kann nicht mehr rennen. Brauche Wasser, brauche Ruhe, brauche einen Weg aus dieser Landschaft, brauche … Hilfe. Herrin des Lichts, ich brauche Hilfe.

Sie blickte zum Horizont und stieß ein schluchzendes Lachen aus. Noch mehr dunkle Gestalten näherten sich  von dort. Mehr von diesen Kreaturen auf dem Weg zu einem Festmahl. Auf dem Weg zu ihr.

Caitlin schloss die Augen.

Selbst wenn sie ihnen weiter davonlaufen könnte, was hätte sie davon? Es gab hier keine Nahrung, kein Wasser. Sie würde hier sterben, so oder so. Und selbst wenn sie mit einem Fingerschnippen nach Ravens Hill zurückkehren könnte, war dort zu leben nicht viel besser, als an diesem Ort verloren zu sein. Ja, sie hatte Tante Brighid und den Garten, doch ihr Leben war so karg wie der rostfarbene Sand.

Ich will nicht zurück nach Ravens Hill. Und ich will hier nicht sterben. Ich brauche Hilfe.

Der Boden unter ihr vibrierte, als stünde sie auf einer riesigen, den Boden umgrabenden Forke.

Ihre Augen öffneten sich plötzlich. Da sie sich nicht traute, die Füße zu bewegen, verdrehte sie den Oberkörper, um sich umzusehen.

Einen guten Schritt von ihr entfernt stand ein Strauch Herzenshoffnung, so winzig, dass er kaum die einzelne Blüte tragen konnte, die er ausgetrieben hatte.

Ihr stockte der Atem. Ihr Herz hämmerte in der Brust. Und sie erinnerte sich an das, was sie auf der Wiese getan hatte, was sie gesagt hatte.

Vielleicht, dachte sie. Vielleicht.

Sie blickte sich um. Die dunklen Gestalten kamen näher. Sie durfte nicht daran denken. Durfte an nichts anderes denken als an das, was Ephemera tun konnte.

Caitlin schob sich vor, bis sie bis auf Armeslänge an die Herzenshoffnung herangekommen war, knickte in der Hüfte ein und streckte mit beiden Händen den Hackenstiel aus. Sie ließ das zerbrochene Ende auf den Boden sinken; dann zog sie, indem sie sich selbst als Mittelpunkt benutzte, einen Kreis in den Sand.

»Das hier ist mein Ort«, sagte Caitlin, als sie den Kreis zog. »Innerhalb der Grenzen dieses Kreises besteht ein  Ort des Lichts und der Hoffnung. Mein Herz weilt innerhalb der Grenzen dieses Kreises, und Kreaturen der Dunkelheit sind hier nicht willkommen. Ihr könnt diesen Boden nicht berühren. Ihr könnt mich nicht berühren.«

Als sie den Kreis im Sand schloss und begann, ihn noch einmal nachzuziehen, fühlte sie, wie die Welt unter ihren Füßen weich wurde, fließend.

Komm schon, Caitlin Marie, denk an das, was du brauchst, solange du die Möglichkeit hast, es zu bekommen.

Wasser. Nahrung. Ein Ort, der nicht dieser Ort war. Als sie den zweiten Kreis beendet hatte und zum dritten überging, sah sie, wie die Kreaturen sich rasch näherten, und beinahe verlor sie ihre Konzentration. Doch sie hielt sich an dem Gedanken fest, dass sie innerhalb des Kreises sicher war. Sie musste daran glauben. Musste.

Die Welt unter ihren Füßen war nicht länger nachgiebig. Was immer Ephemera tun konnte, war getan.

Caitlin biss sich auf die Unterlippe, um einen Aufschrei der Verzweiflung zu unterdrücken. Sie hatte keine Nahrung erhalten, kein Wasser. Nichts als die winzige Herzenshoffnung in einem in den Sand gezeichneten Kreis.

Sie stellte sich breitbeinig hin. Verschob die Hände auf dem Hackenstiel, um ihn besser festhalten zu können.

Dann sah sie zu, wie die Ameisenwesen den Kreis erreichten und verschwanden. Und einen Augenblick später auf der anderen Seite wieder auftauchten. Sie rannten nicht weit, bevor sie bemerkten, dass sie ihr Opfer verpasst hatten und verwirrt stehen blieben.

Langsam senkte Caitlin die Arme, ließ ein Ende des Hackenstiels auf den Boden sinken.

Die Kreaturen konnten sie nicht sehen, sie nicht wahrnehmen. Konnten sie nicht finden. Sie war nahe genug an jenem grässlichen Ort, um ihn - und sie - zu sehen, doch sie war nicht länger dort.

Sie sank auf die Knie und beobachtete die Kreaturen.

Langsam bemerkte sie den Unterschied im Sand - und den Unterschied in der Luft, die nach Fisch und Meerwasser roch. Der Sand in ihrem Kreis war nicht mehr rostfarben. Sie nahm eine Handvoll auf und ließ ihn durch die Finger rieseln, bis nur noch eine kleine Muschel übrig war, ähnlich denen, die sie immer mit nach Hause gebracht hatte, wenn Michael sie zu einem Strandspaziergang mitgenommen hatte.

So viel hatte sie erreicht. Vielleicht könnte sie, nachdem sie sich ein wenig ausgeruht hatte, versuchen, sich von diesem kleinen Stück Land am Strand von Ravens Hill in ihren Garten zu versetzen.

Sie wartete, bis die Kreaturen akzeptiert hatten, dass ihre Beute entkommen war, und verschwanden. Dann streckte sie sich neben der Herzenshoffnung aus und strich zärtlich mit einer Fingerspitze über die Blüte.

Sie hatte nichts zu essen und kein Wasser, und sehr bald würde sie beides dringend brauchen. Doch im Augenblick war sie sicher vor den Kreaturen, und auch wenn sie nicht wusste, was ihr nächster Schritt sein sollte, hatte sie es in einen Teil der Welt zurückgeschafft, den sie kannte. Für den Augenblick reichte das.

 Er fand die Überreste des männlichen Menschenwesens - einer der drei Jungen, die Seine flüsternden Worte, dem Licht, das in jenem kleinen Haus lebte, zu schaden, willkommen geheißen hatten. Doch Er konnte die Landschafferin nicht finden. Sie war hier und doch nicht da. Er konnte die Resonanz der Lichten Strömung spüren, die aufgrund ihrer Anwesenheit in der Landschaft der Knochenschäler entstanden war, doch sie selbst konnte Er nicht finden.

Ein Fleck im Sand. Dort war nichts - und doch war etwas da. Der Punkt verströmte dasselbe Gefühl wie der Garten, der versteckt auf dem Hügel hinter dem Haus lag.

Sie war stark, doch sie hatte unerfahren gewirkt, wie die Kleinen an der Landschafferinnenschule, die so leicht zu töten gewesen waren. Doch sie hatte gewusst, wie sie aus einer Seiner Landschaften entkam. Niemals zuvor war jemand aus Seinen Landschaften entkommen.

Zumindest nicht, bis dieser Inkubus es geschafft hatte, sich Seinem Versuch zu entziehen, ihn in die Landschaft der Knochenschäler zu versetzen. Der Inkubus lebte im Pfuhl, einer der Landschaften des Wahren Feindes.

Dann der Mann, der beim Dorf der Landschafferin gegen Ihn gekämpft hatte. Er hatte sich losgerissen, indem er die Resonanz des Herzens des Wahren Feindes aufgenommen hatte.

Und diese Landschafferin war irgendwie durch den Ort des Lichts, den sie Ihm weggenommen hatten, mit dem Wahren Feind verbunden.

Diese Menschenwesen waren alle mit ihr verbunden, mit Belladonna … dem Wahren Feind. Er konnte ihre Landschaften nicht erreichen. Sogar als Er gespürt hatte, wie der Mann hinübertrat und versucht hatte, sich an Ihm festzuhalten, war er in eine Seiner eigenen Landschaften gezogen worden. Wenn die Landschafferin einen Weg in eine von Belladonnas Landschaften fand, würde Er auch nicht mehr in der Lage sein, sie zu erreichen.

Doch in jeder Landschaft gab es Dunkle Herzen, und  die konnte Er immer erreichen.

Und eines von ihnen würde in der Lage sein, Belladonnas Gefährten zu finden - und sie zu vernichten.

 »Wonach genau halte ich Ausschau?«, fragte Sebastian bereits zum dritten Mal.

Lee war kurz davor, den Kopf seines Cousins gegen eine Wand zu rammen. »Ich habe es dir doch gesagt. Ich weiß es nicht genau. Jemand, der hier nicht hergehört. Jemand, der … anders ist.«

Sebastian blickte die Hauptstraße des Pfuhls hinunter, auf der zwei Männer und ein Sukkubus auf ein Bordell zuwankten, das geringfügig mehr Privatsphäre bot als Sex auf der Straße. Er sah in die andere Richtung, in der drei Bullendämonen brüllend aus einer Taverne stampften.

»Da hatte wohl jemand einen guten Abend beim Kartenspielen«, sagte Lee.

»Eine Runde Omeletts«, murmelte Sebastian, während er zusah, wie die drei gehörnten, zottigen Köpfe sich in Richtung von Philos Restaurant wandten, in dem Lynnea die Gäste bediente und ein paar sehr spezielle Gerichte zubereitete.

»Ich habe gehört, Lynnea hat die Bullendämonen dazu gebracht, einen Teil des Dickichts um euer Cottage auszudünnen und eine Schneise für einen neuen Pfad zu schaffen, damit die Leute nicht durch euren Garten laufen müssen, wenn sie aus dem Pfuhl nach Aurora wollen.«

»Ja«, sagte Sebastian und trat zur Seite, um die Bullendämonen an ihren Lieblingstisch zu lassen, wo sie dann höflich darauf warteten, dass Lynnea sie bemerkte. »Sie hat einen Kuchen gebacken - mit Buttercreme-Überzug, wohlgemerkt - und ihn zu einer ihrer Schichten bei Philo mitgebracht. Hat jedem Bullendämonen ein Stück Kuchen gegeben und angeboten, im Austausch gegen das Zurückschneiden des Dickichts und die Schneise für den neuen Weg, jedem einen eigenen Kuchen zu backen. Die Verhandlungen sind … recht laut gewesen.«

Lee grinste. »Ich habe gehört, du musstest beinahe deine eigene Frau einsperren.«

»Du hörst zu viel. Jedenfalls bekommen sie jetzt alle einen Kuchen, weil sie das Dickicht geschnitten haben und noch einen, weil sie eine Schneise für den neuen Weg in den Wald geschlagen haben, damit wir zu Hause ein bisschen unter uns sind.«

»Durftest du den Musterkuchen probieren, während der ganze Tauschhandel vor sich ging?«

Sebastian seufzte nur.

Lee lachte.

»Also«, sagte Sebastian, während er Lynnea und die Bullendämonen beobachtete. »Erzähl mir noch mal von dieser Idee, im Pfuhl jemanden zu bemerken, der anders ist, ja?« Als Lee nicht antwortete, drehte er sich um und blickte seinen Cousin an. »Lee? Lee!«

»Ich muss weg. Jemand braucht …« So stark. Das Verlangen war so stark. »Ich muss weg.«

Er wollte einen Schritt zurückgehen, fortgehen. Noch bevor er den ersten Schritt ganz getan hatte, packte Sebastian seine Jacke und zog ihn so dicht an sich heran, dass nur noch Sebastians Fäuste sie voneinander trennten.

»Wo willst du hin?«, fragte Sebastian.

»Ich weiß nicht. Es ist kein Ort. Ich kann kein Bewusstsein des Ortes aufnehmen.«

»Du bist der einzige Brückenbauer, auf den Nadia und Glorianna zählen können. Vielleicht der einzige, der in ihren Landschaften lebt. Wenn dir etwas zustößt …«

»Ich weiß.« Lee versuchte, sich zu befreien, doch selbst wenn er Sebastian niederschlagen würde, kam Lynnea gerade auf sie zu - und die Bullendämonen waren aufgestanden, um zu sehen, was die Menschen tun würden - und aus dem Augenwinkel sah er Teaser auf sie zueilen. Er würde nirgendwo hingehen, bis Sebastian ihn gehen ließ. Es sei denn, er nahm Sebastian mit. Es bedurfte nur eines Stolperns, eines Schritts zurück, aber …

»Ich weiß«, sagte er noch einmal. »Aber ich muss gehen. Ich benutze meine Insel, um an den Ort zu gelangen, an dem ich das Verlangen spüre. Ich werde vorsichtig sein. Solange ich auf der Insel bleibe, bin ich mit den Heiligen Stätten verbunden. Ich kann zurück. Ich nehme kein Risiko auf mich, das uns in Gefahr bringt, Sebastian, aber ich kann kein Herz dort draußen lassen, dessen Verlangen so stark ist.«

Sebastian öffnete die Fäuste, ließ Lees Jacke aber nicht ganz los. »Du bist jetzt schon erschöpft und schläfst beinahe im Stehen. Wie lange wird das dauern?«

»Man kann keine Zeit festlegen für etwas, wie -«

Die Hände ballten sich wieder zu Fäusten. »Wie lange?«

Hier geht es nicht darum, dass ich der einzige Brückenbauer in Nadias und Gloriannas Landschaften bin. Hier geht es um die Familie. »Gib mir vier Stunden. Wenn du bis dahin nichts von mir gehört hast, kannst du annehmen, dass ich auf ernsthafte Schwierigkeiten gestoßen bin.« Nicht dass dir dieses Wissen irgendwie weiterhelfen würde. Wenn ich in der Art Schwierigkeiten stecke, die es mir unmöglich macht, meine Insel zu erreichen, gibt es nichts, was du tun kannst, um mir zu helfen.

Sebastian ließ Lees Jacke los und trat zurück. »Vier Stunden.«

Lee nutzte seine ungewöhnliche Gabe, seine Insel über eine andere Landschaft legen zu können, und brachte die Insel zur Hauptstraße des Pfuhls. Er streckte eine Hand nach hinten aus und fühlte die Rinde eines Baumes. Ein Schritt zurück und er stand auf der Insel, verschwunden aus der Sicht der Bewohner des Pfuhls, obwohl er sie noch immer sehen konnte.

Er steckte eine Hand in die Jackentasche und ließ seine Finger mit dem aufgerollten Zopf spielen, den er überall hin mitnahm. Resonanz und Verlangen erfüllten ihn und bestätigten, was er bereits geahnt hatte. Er war im Begriff, sich von Ephemeras Strömungen der Macht in eine unbekannte Landschaft tragen zu lassen, um die Frau zu finden, die zu dem Zopf gehörte.

Und er hoffte inständig, sie war das Risiko wert.