7. Kapitel
Ramsey kam später los als geplant, nachdem sie noch am Sheriffbüro vorbeigefahren war. Sie erfuhr, dass es bereits Ergebnisse zu der von ihr eingereichten ViCAP-Anfrage gab, beschloss jedoch, dass diese bis zum nächsten Vormittag warten konnten. Sie wollte sich zuerst um die Nagelstudios kümmern.
Es erstaunte sie nicht, dass Mark Rollins nicht da war.
»Er ist gestern Abend zum Simpson-Selbstmord gerufen worden«, vertraute ihr die Büroleiterin Letty Carter an. »Beau hat sich in den Kopf geschossen, als Marvella in ihrem Kartenclub war, und die ganze Stadt redet davon. Manche sagen, der Laden war in Schwierigkeiten, und Beau sei in Gefahr gewesen, das Geschäft zu verlieren, das sein Vater aufgebaut hat. Aber wenn Sie mich fragen, dann gibt es schon seit Generationen seelische Probleme bei den Simpsons. Beaus Oma war eine Säuferin, und seine Großtante Beulah hat gern mit Leuten geredet, die außer ihr niemand sehen konnte.«
Ramsey nahm den Klatsch kommentarlos zur Kenntnis. Bestimmt war Letty alt genug, um beide Angehörige der Familie Simpson noch gekannt zu haben. Die Büroleiterin war runzlig wie ein vertrockneter Apfel, und am Ende jedes Arbeitstages setzte sich ihr Make-up in den tiefen Falten auf ihrem Gesicht ab. Ihre Haare waren von einem Kupferblond, dem selbst Ramsey ansah, dass es nicht echt war. Dazu trug sie leuchtend pinkfarbenen Lippenstift und ebensolchen Nagellack.
Beim Anblick der Nägel dachte Ramsey sofort wieder an die anstehende Aufgabe. »Dann hat der Sheriff momentan sicher alle Hände voll zu tun, aber ich kann ja später mit ihm reden.« Sie reichte der älteren Frau eine Kopie der Zeichnung. »Faxen Sie das bitte an jedes Polizeirevier im Umkreis von fünfzig Meilen. Und schreiben Sie dazu, dass wir versuchen, ein Mordopfer zu identifizieren.«
Letty studierte die Zeichnung. »Hübsches Mädchen«, sagte sie mit bedauerndem Unterton. »Ganz entsetzlich, was man ihr angetan hat. Ich kümmere mich sofort darum.«
Ein paar Stunden später kam Ramsey in den Sinn, dass Lettys knappe Anmerkung das letzte Häppchen an Unterstützung gewesen war, das ihr an diesem Tag gegönnt wurde.
Sie bog rechts ab, wie vom Navi angewiesen, und fuhr nach Steadmont hinein, einen Ort mit zweihundertfünfzig Einwohnern. Bewaffnet mit einem Stapel Zeichnungen, den Landkarten, die sie Letty ein weiteres Mal abgeschwatzt hatte, und einem Auszug aus den Gelben Seiten mit den Friseursalons und Nagelstudios in der Umgebung, hatte Ramsey bis jetzt sechs Ortschaften im Osten und Süden von Buffalo Springs geschafft. Sie hatte beschlossen, zuerst die kleinsten abzuklappern, da sie davon ausging, dass es in einem Ort mit zweiundsiebzig Einwohnern schneller auffiel, wenn jemand vermisst wurde, als in einer Stadt mit dreitausend. Bis jetzt hatte ihre Strategie allerdings noch nicht zu einem nennenswerten Erfolg geführt.
Da sie nicht mit einem Y-Chromosom geschlagen war, machte es ihr nichts aus, nach dem Weg zu fragen. Sie hatte nicht lange gebraucht, um darauf zu kommen, dass sie die Adressen auf ihrer Liste am schnellsten fand, wenn sie sich an einer Tankstelle oder bei einer Passantin auf der Straße erkundigte. Als sie eine Frau sah, die im Garten ihre Blumen goss, fragte sie diese und wurde zu einem hübschen kleinen Salon um die Ecke von der Hauptdurchgangsstraße geleitet.
Doch die Besitzerin von Pine Creek Nails schüttelte den Kopf, als sie das Bild der Frau sah. »Nein, sie kommt mir nicht bekannt vor. Sie ist auf jeden Fall keine meiner Stammkundinnen, und ich würde mich an eine Laufkundin erinnern, die erst neulich hier gewesen ist. Eine French Manicure, sagen Sie?« Die Nagelexpertin beäugte das Bild noch einmal. »Das wird bei mir nicht oft verlangt. Haben Sie es schon bei Susie im Look Sharp versucht? Das ist nur ein paar Blocks westlich von hier.«
»Da schaue ich als Nächstes vorbei, vielen Dank.« Nachdem sie eine Kopie der Zeichnung und ihre Karte dagelassen hatte, kehrte Ramsey zu ihrem Auto zurück. Als ihr Mobiltelefon klingelte, erkannte sie Matthews’ Nummer auf dem Display und nahm ab. Sie hatte ihm, ehe sie wegfuhr, eine Liste der Nagelstudios vorbeigebracht und ihn gebeten, die Studios auf der anderen Seite von Buffalo Springs abzuklappern. »Bitte sagen Sie, dass Sie mehr Glück hatten als ich.« Das Telefon noch am Ohr, fuhr sie los und steuerte das andere Nagelstudio an.
»Schon möglich.« Matthews klang bereits wesentlich besser als am Vormittag, also hatte sich sein Kater wohl gelegt. »Ich bin in Tallulah Falls, etwa dreißig Meilen nordwestlich von Buffalo Springs. Und ich habe hier eine Salonbesitzerin, die glaubt, in der Zeichnung eine Frau zu erkennen, die vor zwei Wochen bei ihr war. Das Problem ist nur, dass sie schwört, dass die Frau, die sie behandelt hat, keine Tätowierungen hatte. Sie sagt, sie hätten darüber geredet und wären sich beide darin einig gewesen, dass sie dafür nichts übrig haben.«
»Das Opfer kann ja auch gelogen haben«, sagte Ramsey nachdenklich. »Die Tätowierungen sind nicht neu, sagt der Rechtsmediziner. Seiner Schätzung nach ist die auf dem Rücken etwa zwei Jahre alt und die am Knöchel noch älter.«
»Jedenfalls bin ich noch hier, während die Besitzerin gerade mit ihren Mitarbeiterinnen spricht, um auf den Namen der Frau zu kommen. Wenn er ihnen einfällt, bleibe ich hier und forsche weiter nach; vielleicht kann ich ja herausfinden, wo sie gewohnt und gearbeitet hat.«
»Sehr gut.« In ihr regte sich leises Interesse. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Ramsey wusste, dass sie nicht alle Hoffnungen auf die Spur setzen durfte, die Matthews verfolgte, doch sie war vielversprechender als alles, was sie heute sonst erreicht hatte. Ihr Glück hielt an, als die nächste Studiobesitzerin zwar die Frau auf der Zeichnung nicht erkannte, ihr aber von einer Kollegin erzählte, die bei sich zu Hause Nägel verschönerte. Dort hatte Ramsey allerdings auch nicht mehr Glück, und so hakte sie die Stadt ab und fuhr in die nächste, nachdem sie auf dem Weg zur Schnellstraße am Drive-in-Schalter eines Imbisslokals haltgemacht hatte.
Während sie Pommes und einen Hamburger verzehrte, dachte sie an die Tätowierungen, die Matthews erwähnt hatte. Sie würden deren Herkunft nachgehen, falls diese Spur ebenfalls im Nichts verlief, doch Tätowierungen waren notorisch schwer zurückzuverfolgen. Die Leute ließen sie sich nicht unbedingt dort machen, wo sie wohnten, sondern brachten sie oft als Souvenir aus dem Urlaub mit. Ramsey konnte zwar nicht nachvollziehen, warum man das Risiko einging, Hepatitis als Souvenir mitzubringen, doch die Geschmäcker waren eben verschieden.
Es würde schwierig werden, den Tattoo-Künstler ausfindig zu machen und Aufzeichnungen zutage zu fördern, die weit genug zurückreichten, um das Opfer zu identifizieren, vor allem da keines der Tattoos besonders ausgefallen war. Ramsey wusste aus Erfahrung von anderen Fällen, dass Tattoo-Studios meist schnell wieder zumachten, sodass sie noch schwerer aufzuspüren waren. Falls der Identifizierungsprozess darauf hinauslief, dass sie die Herkunft der Tattoos ermitteln mussten, würde das Ganze zu einer Übung in Frustration ausarten.
Den Blick auf den Spiegel gerichtet, trat sie aufs Gaspedal. Es war schon fast Spätnachmittag. Schätzungsweise blieb ihr nur noch Zeit für zwei, drei Ortschaften, ehe alles zumachte, es sei denn, sie fand ein Nagelstudio mit Abendöffnungszeiten.
Die Stadt Kordoba hatte mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit vielen anderen Orten, die sie an diesem Tag besucht hatte, und verfügte der Landkarte zufolge sogar über etwas mehr Einwohner als Buffalo Springs. Auf dem Ausdruck aus dem Branchenbuch standen vier Nagelstudios, doch die Besitzerin des ersten teilte Ramsey mit, dass eines davon nicht mehr existierte, während ein weiteres von seiner Betreiberin in deren Privathaus verlegt worden war.
Angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit hielt sie sich nicht länger dort auf, sondern ließ Zeichnung und Visitenkarte bei der Frau liegen, um sich schnurstracks zum zweiten Nagelstudio in der Stadt aufzumachen. Dieses lag mitten an der Main Street und hatte eine bonbonrosa-weiß gestreifte Markise und drinnen so viel rosafarbenes Dekor, dass es Ramsey ein bisschen schwindlig wurde.
Doch die Besitzerin, eine Rothaarige namens Tammy Wallace, erinnerte Ramsey mit ihrem Stilgefühl an Leanne. Sie kam aus dem Hinterzimmer geeilt, nachdem eine ihrer Angestellten ihr Bescheid gesagt hatte, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und sah Ramsey entgegenkommend, aber leicht verständnislos an.
Ramsey zeigte ihr ihren Ausweis. »Ich arbeite als Beraterin fürs TBI, und wir suchen nach Informationen über die Frau auf diesem Bild.« Sie reichte ihr eine Kopie der Zeichnung und sah, wie die Inhaberin des Studios den Blick darauf senkte und sofort kaum merklich die Augen aufriss.
Der Instinkt trieb sie an. »Kennen Sie diese Frau?«
Wesentlich reservierter sah Tammy zu Ramsey auf. »Was haben Sie gesagt, warum Sie nach ihr suchen?«
Adrenalin schoss in ihre Nervenenden. »Es ist sehr wichtig, dass Sie mir alles sagen, was Sie über die Frau wissen, Ma’am. Sie erkennen sie, nicht wahr? Ist sie schon mal hier gewesen?«
»Kommen Sie mal mit«, sagte sie mit leisem Seufzen. Ramsey folgte ihr ins Hinterzimmer, das sich als kleines Büro entpuppte. Tammy streckte die Hand aus und schloss die Tür. »Gott segne sie, aber die Mädchen da draußen haben die flinksten Zungen diesseits des Mississippi. Die Frau auf dem Bild? Die heißt Cassie Frost. Ich habe ihr seit Weihnachten etwa einmal im Monat die Nägel gemacht.« Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »French Manicure, farbloser Nagellack. Sie will immer das Gleiche. Aber sie ist richtig nett. Ich hab das Gefühl, sie hatte in letzter Zeit ziemlich viel Pech, aber nicht, dass sie mir je was vorgejammert hätte. Einfach richtig nett.« Sie zuckte hilflos die Achseln. »Weiter weiß ich nichts. Bitte sagen Sie, dass ich sie jetzt nicht in arge Schwierigkeiten gebracht habe.«
Ramsey war geübt darin, solchen Fragen auszuweichen. »Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?« Sie ertappte sich dabei, dass sie den Atem anhielt, bis die Antwort kam.
»Keine Ahnung. Da muss ich im Terminkalender nachsehen. Irgendwann in den letzten zwei Wochen, nehme ich an.«
»Wissen Sie vielleicht zufällig, wo sie wohnt? Wo sie arbeitet?« Ramsey zückte ihr Notizbuch. Sie würde sich den Terminkalender ansehen und alles überprüfen, was diese Frau ihr über die Tote auf der Zeichnung anvertraute.
Doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass ihre Unbekannte tatsächlich Cassie Frost hieß.
»Ja, sie hat hier gearbeitet.« Der Besitzer des Thirsty Moose trug eine schmutzige weiße Schürze und wischte planlos den Tresen. »Aber jetzt nich’ mehr, und wenn Sie sie mal sehen, können Sie ihr das auch von mir ausrichten. Sie ist seit über einer Woche nich’ mehr zur Arbeit gekommen. Erst hab ich gedacht, sie is’ aus der Stadt verschwunden, aber egal, sie braucht auch nich’ mehr kommen und ihren letzten Scheck verlangen. Sie hat mich eiskalt ohne Tresenkraft hocken lassen, und jetzt behalt ich ihren Lohn zum Ausgleich für den Ärger, den ich wegen ihr hatte. Das ist nämlich mein gutes Recht.«
Er hatte eine eigenwillige Vorstellung von Recht, doch Ramsey interessierte sich mehr für die Einzelheiten, die er ihr über Cassie Frost sagen konnte. »Wie lange hat sie bei Ihnen gearbeitet?«
Der Mann hob eine seiner massigen Schultern. »Den Job hab ich ihr, glaub ich, kurz vor Weihnachten gegeben. Mein anderer Barkeeper hat mich auf einmal im Stich gelassen, und ich hab dringend jemanden gebraucht, genau wie jetzt, wo sie fort ist. Sie hat gesagt, sie hätte Erfahrung als Barfrau, und es bewiesen, indem sie mir ein paar anständige Drinks gemixt hat.«
»Hat sie Ihnen einen Ausweis gezeigt, als Sie sie eingestellt haben?«
Ramsey warf einen Blick auf den Uniformierten an ihrer Seite. Nach ihrem Gespräch mit Tammy Wallace hatte sie Powell kontaktiert, der über ihre Neuigkeiten sehr erfreut war. Er hatte versprochen, Matthews und sämtliche erreichbaren Mitarbeiter von Sheriff Rollins zu verständigen und zu ihr zu kommen. Seinen Anweisungen zufolge hatte Ramsey höflichkeitshalber die lokale Polizei darüber informiert, dass sich die Ermittlungen nun auf ihre Stadt konzentrierten. Im Gegenzug hatte die Polizei von Kordoba nun Officer Michael Dade geschickt, damit er sie zu Cassie Frosts letztem Arbeitgeber begleitete.
»Klar. Den brauch ich doch, wenn ich die Formulare für ihr W-2 ausfülle, oder?«
»Können wir die Unterlagen sehen?«
Der Kneipenbesitzer nickte mit dem Kopf zu dem halben Dutzend Personen im Lokal. »Hören Sie, ich muss mich um meine Gäste kümmern. Ich hab keine Zeit für …«
»Wir haben natürlich Verständnis, wenn Sie jetzt zu beschäftigt sind, Sir«, sagte der junge Polizist höflich. »Und wir können das auch später erledigen.« Ramsey öffnete den Mund zum Protest, als er weitersprach. »Wir können nach der Sperrstunde jemanden vorbeischicken. Sollen wir sagen, um zwei Uhr früh?« Er zückte Notizbuch und Stift, trat vor die Schanklizenz an der Wand und notierte sich deren Nummer. »Dann haben wir genug Zeit, um noch ein paar andere Dinge zu überprüfen.«
Ramsey musste sich ein Grinsen verkneifen. Der Officer mochte jung sein, doch er war kein Anfänger. Sie beobachtete, wie die Drohung langsam bei dem älteren Mann hinter dem Tresen ankam, ehe er missmutig nachgab.
»Na gut.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung Ramsey. »Sie kann mitkommen, und Sie bewachen so lange meine Kasse. Diese Diebe rauben mich aus, wenn sie keiner im Auge behält.«
Ramsey folgte ihm in den hinteren Teil des schlecht beleuchteten Lokals. In die Ecke eines Hinterzimmers hatte man einen metallenen Schreibtisch und einen Aktenschrank gequetscht, was offenbar alles an geschäftlicher Organisation darstellte, was der Mann zu bieten hatte.
Er riss eine der Schubladen des Aktenschranks auf und murmelte dabei etwas Unverständliches, das wahrscheinlich ohnehin besser ungehört blieb. Nachdem er etliche Unterlagen durchstöbert hatte, zog er einen Aktendeckel heraus.
»Da.« Er drückte ihn Ramsey unsanft in die Hand. »Das is’ alles, was ich über sie hab. Wie gesagt, sie war nich’ lang hier.«
Ramsey sah die Akte durch. Darin lagen eine Kopie der Sozialversicherungskarte der Frau und ein in ordentlicher Handschrift verfasstes Bewerbungsschreiben. Sie zog ihr Notizbuch heraus und begann die Daten zu übertragen. »Hat sie noch an der Adresse gewohnt, die hier genannt ist?«
Der Mann reckte den Hals und versuchte, ins Lokal hinauszuspähen. Fürchtete er etwa, das Häuflein Gäste hätte sich zusammengerottet und sich beim Angriff auf seine Kasse auf Dade gestürzt?
»Soweit ich weiß, hat sie nie was von einem Umzug gesagt.«
Ramsey legte den Aktendeckel auf den Tisch und folgte ihm wieder hinaus. »Was ist mit Freunden? Haben Sie sie hier jemals mit jemandem zusammen gesehen? Hat sie von irgendjemandem gesprochen?«
»Sie war nich’ so besonders freundlich«, erwiderte der Mann mürrisch. »Sie konnte Drinks mixen, aber sie hat nich’ mit den Gästen geplaudert, verstehen Sie? Ich hab sie ein- oder zweimal wegen ihrer Art ins Gebet nehmen müssen. Ich mein, sie war ein hübsches Mädchen, und wenn sie sich ein bisschen angestrengt hätte, hätte sie das Geschäft ganz gut ankurbeln können. Aber vielleicht war sie ja vom anderen Ufer, verstehen Sie? Vielleicht mochte sie es deshalb nicht, wenn sich Männer für sie interessiert haben.«
Ramsey musterte ihn voller Abneigung. Sie beneidete Cassie Frost nicht um die Zeit, die sie für diesen Widerling gearbeitet hatte, und ersparte es sich, dem Kerl zu verraten, dass Cassie ganz zweifellos das Interesse zumindest eines Mannes erregt hatte.
Und deswegen den Tod gefunden hatte.
Cassie Frost hatte in einer kleinen Mietwohnung über einem Laden an der Main Street gewohnt. Als Ramsey nun im Zuhause des Opfers stand, ergriff sie überwältigendes Mitgefühl.
Es gab nur wenige persönliche Gegenstände, die auf den Charakter der jungen Frau schließen ließen. Phyllis Trammel, die Vermieterin, hatte ihnen gleich zu Beginn mitgeteilt, dass die Wohnung möbliert vermietet worden war und die Mieterin pünktlich jeden Monatsersten bezahlt hatte.
Die ältere Dame saß auf dem durchhängenden Sofa und umklammerte mit einer Hand die Zeichnung, auf der sie Cassie Frost identifiziert hatte. »Ist ganz für sich geblieben«, sagte sie nun mit zitternder Stimme. »Hat nie Ärger gemacht, hatte aber auch keine Lust zum Plaudern. Ihr Auto steht seit über zwei Wochen am selben Fleck. Bei den Benzinpreisen lohnt es sich einfach nicht zu fahren, wenn man auch zu Fuß gehen kann.«
Powell und einer der Deputys durchsuchten bereits das vor dem Haus geparkte Auto. Deputy Leroy Ross nahm sich die Küche vor, während sich Ramsey im Schlafzimmer zu schaffen machte. Die Wohnung war klein genug, um das gesamte Gespräch zwischen Phyllis und Officer Dade zu hören. Ramsey ging mit behandschuhten Händen die Schubladen der Kommode durch und förderte ein kleines gebundenes Buch zutage.
Nachdem sie es rasch durchgeblättert hatte, wusste sie, was es war. »Ich habe ein Adressbuch gefunden!«, rief sie den anderen zu. Zumindest standen ein paar Adressen darin, mitsamt Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Doch sie hatte in der Wohnung keinen Computer gesehen.
Und es gab auch kein Telefon.
Sie ließ das Adressbuch in einen durchsichtigen Beweismittelbeutel fallen, den sie verschloss und etikettierte, ehe sie hinausging und Phyllis Trammel ansprach. »Hatte Miss Frost ein Mobiltelefon?«
Die ältere Dame sah sie mit tränenfeuchten Augen an. »Ich glaube schon. Ja, ich habe ihr nämlich angeboten, einen Festnetzanschluss legen zu lassen – das hätte dreißig Dollar pro Monat extra gekostet –, aber sie hat abgelehnt und gesagt, sie hätte ein Mobiltelefon, und das würde ihr reichen. Ich hab mir ja selber nie eins gekauft. Sehe nicht ein, warum man sich von diesem ganzen neuen Technikzeug überrollen lassen soll …«
Ramsey hörte nicht mehr hin. »Haben Sie eine Handtasche gefunden, Matthews?« Nur die wenigsten Frauen verließen ohne Tasche das Haus. Falls sie sie mitgenommen hatte, konnte das heißen, dass sie freiwillig mit ihrem Angreifer mitgegangen war. Oder dass er sie sich außerhalb ihrer Wohnung geschnappt hatte.
»Noch nicht.« Er kam mit mehreren Beweismittelbeuteln in den behandschuhten Händen aus dem winzigen Badezimmer. »Ich hab ein bisschen Hasch zum Privatgebrauch und ein Rezept für die Pille von einer hiesigen Apotheke gefunden.«
Als sie im Schlafzimmer fertig war, ging Ramsey in die kleine Küche. Der Deputy durchsuchte soeben sämtliche Schubladen und Schränke. Es gab eine Tür nach draußen mit einem Kastenschloss, das Ramsey entriegelte. Als sie die Tür aufstieß, sah sie, dass sie zu einer wackligen Feuertreppe führte. Sie ging draußen vor der Tür in die Hocke und untersuchte das Schloss, doch es sah nicht so aus, als ob sich jemand daran zu schaffen gemacht hätte. Sie zog die Tür fest ins Schloss, wartete einen Moment und versuchte dann, sie von außen zu öffnen. Es ging nicht.
Sie musste mehrmals mit der Faust dagegenhämmern, ehe Matthews die Tür einen Spaltbreit öffnete. »Hast du schon wieder deinen Schlüssel vergessen, Schätzchen?«
»Alle zwei Türen waren verschlossen, Glenn. Kein Hinweis auf gewaltsames Eindringen.«
Der Beamte zuckte die Achseln und machte ihr die Tür weiter auf. »Vielleicht kannte sie den Kerl und hat ihn reingelassen. Vielleicht ist er aber auch nie hier gewesen, und sie hat ihn woanders getroffen.«
»Der Kneipenbesitzer hat gesagt, dass sie das letzte Mal am Freitag, dem fünften Juni, gearbeitet hat. Am nächsten Tag ist sie nicht zu ihrer Schicht erschienen.« Und nachdem sie um drei Uhr morgens gegangen war und am nächsten Tag um fünf Uhr nachmittags hätte wiederkommen sollen, kannten sie jetzt das Zeitfenster, in dem das Opfer seinem Mörder begegnet sein musste.
»Die Leiche wurde erst am Sechsten gegen Mitternacht gefunden.«
»Ja.« Sie sah den Deputy mit hochgezogener Braue an, während dieser in die Hocke ging, um den Backofen zu inspizieren. Er schüttelte den Kopf.
»Noch nichts.«
»Können Sie mir mal kurz helfen?« Ohne Matthews’ Antwort abzuwarten, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, wo sie ihren Spurensicherungskoffer mit sämtlichen Gerätschaften hatte stehen lassen, nachdem sie ihn aus dem Auto geholt hatte. Sie zog eine tragbare Leuchte aus der großen Tasche hervor und setzte eine Schutzbrille auf.
»Ziehen Sie bitte mal die Laken beiseite?«
Als der Beamte ihrem Wunsch entsprach, begann Ramsey die Lampe sorgfältig über jeden Quadratzentimeter des Spannbetttuchs zu führen. Sie wies auf jedes gefundene Haar hin, damit Matthews es mit der Spezialpinzette aufsammelte, in Seidenpapier wickelte und in eine Beweismitteltüte steckte. Bettdecke und Tagesdecke wurden ebenso behandelt. Doch nach vierzig Minuten stellte sie die Lampe aus und schob die Schutzbrille hoch. »Das Bettzeug kann eingepackt werden.« Wer auch immer Cassie Frost vergewaltigt hatte, er hatte es nicht auf diesem Bett getan.
Als sie das Schlafzimmer verlassen wollte, stand Officer Dade in der Tür und grinste sie verlegen an. »Echt interessant, Ihnen beim Arbeiten zuzusehen. Wo sind Sie denn her, Miss Clark?«
Sie lächelte höflich und machte Anstalten, an ihm vorbeizuwischen. »Mississippi.« Einen Moment lang erstarrte sie, entsetzt darüber, dass ihr die Wahrheit herausgerutscht war. Sie hatte das nie eingestanden, sondern sich nach Kräften darum bemüht, möglichst nicht mehr daran zu denken. »Ich war früher mal beim TBI. Aber seit ein paar Jahren lebe ich in Virginia.« Sie zwang sich zum Weitergehen.
»Sie sind aus Mississippi? Mensch, ich bin auch aus Mississippi!«, dröhnten die begeisterten Worte des Officers hinter ihr her. »Ich bin aus Biloxi, dort geboren und aufgewachsen. Wo kommen Sie her?«
»Cripolo.«
Sie ging zum Sofa, machte die Speziallampe an, zog die Schutzbrille herunter und hoffte, er werde sich damit zufriedengeben. Doch der Mann kam ins Wohnzimmer geschlendert und stellte sich neben sie.
»Cripolo? Das scheint ein richtig nettes Städtchen zu sein. Ich bin auf dem Weg zur Küste ein paarmal durchgefahren. Kommen Sie noch gelegentlich nach Mississippi?«
»Eher nicht, nein.« Nie wieder, wenn es nach ihr ging.
Matthews begann die Flächen in der Wohnung mit Pulver zu bestreuen, um Fingerabdrücke zu nehmen. Ramsey komplimentierte die Vermieterin auf den einzigen Stuhl im Raum und begann mit äußerster Sorgfalt die Speziallampe über das Sofa zu führen. Das Sofa war alt und abgenutzt und wies noch Flecken aus früheren Jahrzehnten auf. Als sie fertig war, wiederholte sie das Gleiche beim Teppich. Als Nächstes würden sie Fasern und Haare in Tüten stecken und dann sämtliche Räume abfotografieren.
Doch sie hatte bereits jetzt das Gefühl, dass Cassie Frost nicht in ihrer Wohnung attackiert worden war.
In dieser Nacht träumte sie von Mississippi. Die Erschöpfung hatte ihre Abwehrmechanismen geschwächt, die sie sonst stets in Alarmbereitschaft hielt, und die Bilder schlichen sich ein und verschmolzen Einzelheiten – manche beängstigend akkurat, andere merkwürdig verzerrt – zu einem nahtlosen Gewebe, wie es nur ein Traumzustand erzeugen kann.
Ramsey wälzte sich ruhelos unter der Bettdecke. Irgendwo in diesem Zustand zwischen Dösen und den verlockenden Abgründen des Tiefschlafs kämpfte sie eine stumme Schlacht darum, aufzuwachen und den unbewussten mentalen Film anzuhalten, der in ihr ablief.
Der Officer, den sie an diesem Tag kennengelernt hatte, kam darin vor. Sein Lächeln war breit und sympathisch. Sie sind aus Mississippi? Mensch, ich bin auch aus Mississippi! Doch dann wurde sein Gesicht an den Rändern unscharf und nahm eine andere Form an, während sein Mund Worte sprach, die von Personen geäußert worden waren, die er gar nicht kannte.
Ich würde sagen, wir ficken sie jetzt. Was ist, wenn sie uns abhaut?
Cripolo? Das scheint ein richtig nettes Städtchen zu sein.
Der dunkle Wald, dessen finstere Schatten klafften wie ein Riesenmund, in dem die Bäume die Zähne darstellten, war von Sümpfen umgeben, in denen Alligatoren und Mokassinschlangen hausten. Ihr Körper erschauerte, als das Dilemma erneut in einer grauenhaft identischen Wiederholung ablief. Ein schrecklicher Tod lag vor ihr. Und ein entsetzliches Erlebnis hinter ihr.
Verflucht, wo soll sie schon hin? In die Sümpfe? Es macht keinen Spaß, wenn sie nicht rennen können. Wir ficken sie später. Erst gehen wir jagen.
Kommen Sie noch gelegentlich nach Mississippi?
Ihre Hände mühten sich vergeblich, ihre Nacktheit zu bedecken. Und gegen die grausamen Finger anzukämpfen, die grapschten, zwickten und eindrangen.
Lauf lieber los, du Fotze, es sei denn, du willst uns gleich einen blasen.
Das Mädchen im Traum lief.
Juu-huu!
Das vertraute Echo hallte durch ihren Traum und jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Sie schoss senkrecht im Bett in die Höhe und zitterte, als hätte sie plötzlich Schüttellähmung bekommen.
Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie mit ihren zitternden Händen die Bettdecke greifen und sie sich um den kältestarren Körper schlingen konnte. Und äußerste Konzentration, um die Rückstände der beklemmenden Szene zu verdrängen, die immer noch im Dunkeln lauerte und nur darauf wartete, erneut abzulaufen, sobald der Schlaf sie wehrlos machte.
Ramsey holte tief Luft. Erst einmal, dann noch einmal. Und schaffte es, durch diese einfache Handlung die Bilder zu unterdrücken, die sie erneut zu überfallen drohten.
Etwas ruhiger geworden, lehnte sie sich ans Kopfteil, während ihr Herz nach wie vor galoppierte wie ein Vollblutpferd, dem man die Sporen gegeben hat. Das Mädchen im Traum existierte nicht mehr. Dafür hatte sie gesorgt. Ramsey würde nie wieder so verletzlich sein. Und die Erinnerungen daran, als sie derart wehrlos gewesen war, hatten nicht mehr die Macht, sie zu schwächen.
Das sagte sie sich immer wieder, während sie den Schlaf abwehrte und auf den Vorhang starrte, der das einzige Fenster verdeckte. Sie wartete darauf, dass der Himmel heller wurde und erste Lichtstreifen an seinem Rand vorbeisandte. Das Einzige, was von ihrer Vergangenheit übrig geblieben war, waren Erinnerungen, und die konnten ihr nichts anhaben.
Doch selbst als durch ihre mentalen Beruhigungsmaßnahmen ihr Puls langsamer wurde und sich ihre Atmung vertiefte, hielt sie den Blick nach wie vor aufs Fenster gerichtet. Und zählte im Stillen die Stunden bis zum Morgen.