Prolog
Das Laubdach der Bäume schirmte den Vollmond ab und ließ nur hin und wieder einen dünnen Lichtstrahl durch das dichte Blattwerk dringen. Die Äste waren wie die Finger eines Liebespaars ineinander verflochten, doch das stille Lauern des Waldes hatte nichts Romantisches an sich. Selbst die abendliche Serenade der Nachttiere verstummte einen Moment lang in unheilvollem Schweigen.
»Komm schon.« Robbie Joe zog sachte an Becky Ritters Hand und sah sich rasch nach hinten um. Keine Lichter. Die anderen waren noch nicht so weit gekommen. »Ich hab dir doch gesagt, dass das eine Abkürzung ist. Wir sind garantiert als Erste da. Der Weg ist gleich da drüben.«
»Das mickrige Ding da?« Becky blieb abrupt stehen und richtete den Strahl der Taschenlampe in die Richtung, in die er gezeigt hatte. »Robbie Joe Whipple, das ist kein Weg. Das ist bestenfalls ein Trampelpfad, noch dazu mitten durch die Brombeerbüsche. Ich verkratz mir ja die ganzen Beine, wenn ich da langgehe.« Um ihm das Ausmaß der zu befürchtenden Schäden plastisch vor Augen zu führen, hielt sie die Taschenlampe auf die besagten Beine. Für Robbies spätpubertäres Gehirn waren sie Stoff für wilde Fantasien, ragten sie doch nackt aus äußerst knappen Denim-Shorts hervor. Er malte sich aus, wie glatt und weich sie sich unter seinen Händen oder am besten gleich fest und fordernd um seine Hüften geschlungen anfühlen würden.
Noch lebhafter malte er sich allerdings aus, wie er es schneller als alle anderen zurück zu Sody’s Parkplatz schaffte und den Haufen Penner in den Schatten stellte, wenn sie endlich angetrabt kamen. Oder – noch besser – wie er seinen Sieg diesem eingebildeten Timothy Jenkins unter die Nase rieb, der ein solches Weichei war, dass er sich wahrscheinlich nicht mal aus dem Auto traute, falls er es überhaupt bis zum Wald schaffte.
Als Becky auf das sachte Ziehen an ihrer Hand nicht reagierte, versuchte er es mit einer anderen Masche. »Hey, ich kann echt verstehen, dass du dir deine schönen Beine nicht verkratzen willst«, sagte er, ohne seine Bewunderung zu verhehlen. »Und ich schwöre beim Grab meines Großvaters, wenn du auch nur einen winzigen Kratzer abkriegst, dann schmier ich dir eigenhändig die Spezialsalbe meiner Großmutter auf jeden Quadratzentimeter Haut. Großes Indianerehrenwort.«
Sie kicherte und versetzte ihm einen sanften Knuff. »Spar dir deine lockeren Reden, Robbie Joe. Ich hab gehört, was du für einen Ruf hast.«
»Jetzt glaub doch nicht gleich alles, was du hörst.« Ein weiser Ratschlag, denn alles, was ihr zu Ohren gekommen sein mochte, war in seinem eifrigen und bisher erfolglosen Bemühen, seiner ungeliebten Jungfräulichkeit ein Ende zu machen, von ihm höchstpersönlich erfunden, aufgebauscht und verbreitet worden. »Wenn es da drin zu unwegsam wird, kehren wir um. Darauf geb ich dir mein Wort.«
Doch sie zögerte noch immer, sah sich um und rückte näher an ihn heran. »Und die Geräusche, die ich vorhin gehört habe? Die wie Schreie geklungen haben?«
»Hab ich dir doch gesagt, das war bestimmt nur ein Rotluchs. Und die haben Angst vor Menschen, also haut er garantiert ab, wenn er unsere Witterung aufnimmt.« In Wahrheit hatte er die Geräusche, von denen sie sprach, gar nicht gehört und bezweifelte, dass sie selbst sie gehört hatte, doch er wollte sich nicht die Gelegenheit ruinieren, das Mädchen anzufassen, das das ganze Footballteam »Backseat Becky« nannte. Er legte ihr einen Arm um die Taille, zog sie sachte an sich und hoffte, dass sie sich ihren Ruf ehrlicher verdient hatte als er sich den seinen. »Ich pass schon auf, dass dir nichts passiert. Und ich lasse auch nicht zu, dass Cami oder Merilee vor dir mit einem Büschel Schilf wieder bei Sody’s ankommen und dann den ganzen Sommer lang damit angeben.«
»Da hast du recht.« Zu seiner Erleichterung ging sie langsam auf den Pfad zu. »Cami plustert sich gern endlos auf. Und wenn Merilee und Jon gewinnen, hören sie auch nicht mehr auf zu prahlen.« Merilee war ihre neueste »Freindin«, und die Mädchen steckten dermaßen oft zusammen, dass sich Robbie schon fragte, wann Becky eigentlich dazu kam, sich ihren berühmten Ruf zu erarbeiten.
»Gib mir mal die Taschenlampe.« Ihm war aufgefallen, dass der Lichtstrahl schwächer geworden war, und er flehte innerlich darum, dass die Batterien hielten, bis sie wieder aus dem Wald draußen wären. Er war diese Strecke seit Jahren nicht mehr gegangen, eigentlich seit seiner Kindheit nicht mehr, und noch nie nachts. »Ich kenn die Gegend wie meine Westentasche«, erklärte er mit gespielter Tapferkeit. »Wir sind zurück bei Sody’s, ehe die anderen überhaupt hier angekommen sind.« Er fragte sich jetzt schon, wie viele der anderen Paare es bis hierher schaffen würden. Vorn bei Sody’s war es leicht, große Reden zu schwingen. Aber drüben im Ort über den lokalen Aberglauben zu lachen war etwas ganz anderes, als kurz vor Mitternacht mitten im finsteren Wald zu stehen.
Er schluckte und hätte gern ein wenig Wasser gehabt. Die Nachtluft war dick und schwer, als blocke das dichte Laubdach Sauerstoff genauso ab wie Licht.
Sie kamen nur langsam voran, da er andauernd die dornigen Zweige aus dem Weg biegen musste, damit Becky durchgehen konnte. Außerdem war der Pfad ganz schön zugewachsen, seit er letztes Mal hier gewesen war. Wann – vor drei Jahren? Er hoffte, dass sie auf dieser Route trotzdem bis zum Ashton’s Pond kämen. Becky würde ihm nie verzeihen, wenn sie ohne das Büschel Schilf umkehren müssten, das vor den anderen ihre Tapferkeit beweisen sollte.
»Oh Mann, hier ist es ja echt unheimlich.« Beckys Kichern klang ein bisschen bemüht. »Wie weit ist es denn noch zum Teich, was meinst du?«
»Es ist nicht mehr weit«, log er, obwohl er in Wirklichkeit keine Ahnung hatte. Er stolperte und wäre beinahe hingefallen, ehe er eine Hand hob, um Becky zum Anhalten zu bewegen, während er den Lichtstrahl über den Boden vor sich wandern ließ. »Pass auf den Baumstamm hier auf. Mich hätt’s fast auf den Hintern gehauen.«
Doch als er ihr darüberzuhelfen versuchte, blieb Becky stocksteif stehen. »Was … was ist das?«
Diese düsteren Schatten konnten doch nur Bäume sein, oder? Bäume, Büsche und zugewachsenes Unterholz. Er leuchtete mit der Taschenlampe herum, doch er sah nichts als ein gelbes Augenpaar, das ihn von einem tief hängenden Ast herunter anstarrte.
Erleichtert atmete er auf. »Das? Das ist nur eine Eule, Becky. Die tut dir nichts.«
»Nicht das, du Dussel. Das!« Sie gestikulierte heftig, während ihre Stimme schriller wurde. »Wo kommt denn dieser Nebel her?«
Da sah er es – kleine Dampfwölkchen, die vom Boden aufstiegen, sich um Baumstämme schmiegten und durch Büsche wanden. Ein eisiger Hauch berührte ihn. Dass dies kein gewöhnlicher Nebel war, stand eindeutig fest. Das war der rote Nebel. Der Stoff für lokale Legenden.
Einen entsetzlichen Moment lang fürchtete Robbie Joe, sich auf der Stelle nass zu machen. Er schaffte es nicht einmal mehr, dankbar dafür zu sein, dass sich Becky in seine Arme warf, und registrierte kaum, dass sich dadurch ihre Brüste an seinen Oberkörper drückten. Er konnte sich nur noch auf den Nebel konzentrieren – den roten Nebel –, der sich um seine Beine wand und dabei ständig dichter zu werden schien.
»Verdammt«, flüsterte er, während er vor Panik nicht mehr klar denken konnte. Seine Muskeln verkrampften sich, während er kurz davor war, loszulaufen und in einem Höllentempo davonzurennen, Wette hin oder her. Doch dann sah er die Lichter. Kleine, tanzende Lichtkugeln, die überall um sie herum blinkten, in die Höhe hüpften und dann durch die Finsternis sprangen. Robbies Muskeln wurden ganz schlaff vor Erleichterung. »Verdammt«, wiederholte er, diesmal lauter, und sandte zur Bekräftigung noch ein Lachen hinterher. »Wenn ihr nichts Aufregenderes zustande bringt, Leute, dann müsst ihr im Chemieunterricht besser aufpassen. Mr Stokowski wäre schwer enttäuscht, wenn er wüsste, dass euch nichts Anspruchsvolleres eingefallen ist.«
»Was?«, zischte Becky, während sie ihm die Finger in die Seiten grub. »Was ist denn los?«
Mit seinem freien Arm führte er das Mädchen erneut in Richtung Teich und sprach dabei so laut, dass es die Jungen, die sich irgendwo in der Nähe versteckt haben mussten, hören konnten. »Das sind nur ein paar dieser Blödmänner, die glauben, sie könnten uns mit ein bisschen stümperhaft gefärbtem Rauch und abgedeckten Taschenlampen erschrecken.« Zumindest nahm er an, dass sie es so gemacht hatten. Chemie oder vielmehr Schule im Allgemeinen war nicht seine Stärke. »Komm schon, wir müssen uns beeilen.«
Er hielt sich dicht bei Becky, während sie neben ihm herstolperte und ihn mit Fragen bombardierte. »Woher willst du wissen, dass sie es sind? Woher willst du wissen, dass es nicht …?«
»Weil es diesen besagten roten Nebel gar nicht gibt«, erwiderte er grimmig. »Das ist doch alles nur abergläubischer Blödsinn, den sich die Säufer aus der Generation unserer Eltern zusammenfantasiert haben.« Aber er hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass seine Generation dafür verantwortlich war, dass er sich vor ein paar Minuten fast die Hosen nass gemacht hätte.
Er tüftelte bereits an seiner Rache. Wer hatte wohl bei dem Streich mitgemacht? Arends auf jeden Fall, diese miese Ratte. Vielleicht sogar Gallop. Ja, das war absolut Lenny Gallops Handschrift. Mittlerweile hörte Robbie nichts mehr. Jedenfalls nicht Gallops ätzendes Eselsgeschrei von einem Lachen. Was bedeutete, dass die Jungen bereits auf dem Rückweg zu Sody’s waren, um dort zu erzählen, wie sie Robbie Joe Whipple eine Heidenangst eingejagt hatten.
Und dann würden sich alle auf seine Kosten kaputtlachen. Die Vorstellung setzte ihm schwer zu. Immer wieder würde er sich die Sache anhören müssen, ganz egal, wie oft er beteuerte, nicht auf den Streich hereingefallen zu sein. Es sei denn, er drehte alles zu seinen Gunsten um, kam mit einer Handvoll Schilfgras, wie sie jeder zum Beweis holen musste, zu Sody’s zurückspaziert und tat so, als hätte ihn nichts aus der Ruhe gebracht. Puh, hätte mir das etwa Angst einjagen sollen? Kann mich ja nicht besonders geschockt haben, wenn ich zum Teich spaziert bin und das hier geholt habe.
Becky atmete schwer, doch er bemerkte es kaum, da er mit der bevorstehenden Szene auf Sody’s Parkplatz viel zu beschäftigt war. Genau, so würde er sich präsentieren, ganz cool und gelassen. Anscheinend war ich der Einzige, der Mumm genug hatte, um ganz bis zum Teich zu gehen. Also, wer ist jetzt ein Weichei?
»Bist du dir sicher, dass es welche von den anderen waren?« Ihre Stimme zitterte. »Hier ist der Nebel nämlich auch.«
»Klar. Aber wir übertrumpfen sie alle, wenn wir mit einem Büschel Schilf zurückkommen.« Sie bahnten sich einen Weg durch die Bäume, die den Teich umgaben, und standen derart abrupt im Freien, dass sie ganz perplex waren.
»Sie müssen noch hier in der Nähe sein«, flüsterte Becky. »Die Lichter … siehst du die? Wenn sie das irgendwie mit ihren Taschenlampen machen …«
»Vielleicht waren sie es ja doch nicht.« Er hatte überhaupt keine Lust, sich länger hier aufzuhalten, selbst wenn seine Freunde noch irgendwo im Wald hinter ihnen sein mussten. Ashton’s Pond war schon tagsüber alles andere als einladend, und die Nacht verbesserte die Atmosphäre nicht gerade. Seine tiefe, dunkle Fläche lag unbewegt da, und Robbie wusste aus Erfahrung, dass das Wasser einen Geruch barg, der sich nicht abwaschen ließ, auch wenn man sich noch so sehr abschrubbte. Er hatte hier schon Mokassinschlangen gesehen, und so ließ er den Lichtstrahl der Taschenlampe sorgfältig über das Gelände wandern, um sicherzugehen, dass sie nicht auf eine traten.
»Die Lichter stammen wahrscheinlich nur von Leuchtkäfern. In den Smoky Mountains gibt es ganz besondere. Hast du schon davon gehört? Sie blinken ständig auf und ab.«
»Oh.« Beckys Stimme klang jetzt wieder fester. »Eigentlich ist es ganz hübsch. Und … warte mal!« Sie packte seinen Arm und lenkte den Lichtstrahl auf die Schilfrohre am Ufer. »Da ist das Schilfgras. Jetzt müssen wir nur ein Büschel davon abschneiden und wieder zurückgehen. Wo hast du dein Messer?«
Er kramte in seiner Jeans nach dem Taschenmesser und klappte es auf, ehe er es ihr reichte. Vorsichtig tappte sie auf dem sumpfigen Boden am Teichrand vorwärts und ging vor dem Schilf in die Hocke, während er den Lichtstrahl auf das Büschel richtete, das sie offenbar haben wollte.
»Wenn du recht hast und ein paar von den Jungen dort hinten waren, dann haben aber auch welche von den Mädchen mitgemacht«, sagte sie, wobei ihre Stimme aufgrund ihrer Position gedämpft klang.
Robbie hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihre Shorts saßen tief unten, und ihre Haltung gestattete ihm eine hervorragende Aussicht auf ihre Pospalte. Er stand zwar mehr auf Brüste – zumindest bildete er sich das ein –, doch Becky hatte wirklich ein rasantes Hinterteil. Timothy Jenkins behauptete, er habe sich beim Abschlussball damit verlustiert, aber Jenkins log im Grunde ständig, und so war auch seine Geschichte darüber, dass er es Becky im Van seiner Mutter von hinten besorgt hatte, wahrscheinlich nichts als ein Märchen. Doch die Vorstellung barg für Robbie Joe einen gewissen Reiz, der nicht von der Hand zu weisen war.
»Wenn ich erfahre, dass Merilee das zusammen mit Jon ausgeheckt hat, kann sie was erleben.« Becky säbelte entschlossen an den Schilfrohren herum. »Du und ich müssen unsere Storys aufeinander abstimmen. Wir wollen ja nicht, dass sie überall herumerzählen, wir hätten …«
Ihr Schrei gellte über den Teich und wieder zurück und hallte in seinen Ohren wider, ehe er von den umstehenden Bäumen erneut zurückgeworfen wurde. Sie stolperte hastig rückwärts und stieß dabei stakkatoartige kleine Wimmerlaute aus. Als sie sich in seine Arme stürzte, fiel ihm die Taschenlampe aus der schlaffen Hand. Entsetzt starrte er auf das, was Becky soeben entdeckt hatte.
Die Taschenlampe rollte am Boden herum, wobei ihr Lichtstrahl hektisch hin und her sprang, bis sie zur Ruhe kam und die Stelle beleuchtete, wo Becky am Teichufer Schilf geschnitten hatte.
Das Licht fiel auf den menschlichen Fuß, der von dem hohen Schilfgras verdeckt gewesen war.
Und der an einer Leiche hing, die in dem kühlen, dunklen Wasser lag.