Lin betrachtete die im Licht des Mondes spiegelnde Oberfläche des Sees und zog ihre Knie fest an ihren Körper. Kein Windhauch kräuselte das Wasser, und kein Geräusch durchbrach die nächtliche Stille des Wiesenlandes. Dreimal hatte sie den Mond nun auf- und untergehen sehen, und dreimal war sie allein geblieben. Seit Dawon sie im Wiesenland abgesetzt hatte – an jenem See, an dem er einst mit Nona glücklich gewesen war. Seitdem wartete sie vergebens auf Degan. Kein Greif zog seine Bahnen über dem See, und bis zum Horizont gab es nichts außer der endlosen Weite der Wiesen.
Lin ließ sich zurück ins Gras fallen und sah hinauf in den Nachthimmel, der von funkelnden Sternen bedeckt war. Sie stellte sich vor, dass jeder Stern zu einem anderen Stern gehörte – Myriaden von Sternen, die zusammen am Himmel leuchteten. Nur sie war noch immer allein.
Am Morgen war Dawon gekommen und hatte ihr gesagt, dass Belamon in Engil bei Jevana bleiben würde, weil die beiden sich verliebt hatten. Das schien sogar Lin unmöglich, denn wie solch eine Liebe befriedigend für die beiden sein konnte, vermochte sie sich nicht vorzustellen. Auch hier hatte Dawons offenes Gemüt ihr wieder einmal gezeigt, wie frei und unvoreingenommen er war. »Menschen tun sich schwer mit der Liebe … Menschen glaubten auch nicht, dass Nona und Dawon sich lieben würden.«
Sie hatte beschämt zu Boden geschaut und einmal mehr an sich gezweifelt. Sogar Belamon und Jevana fanden einen Weg zueinander. Warum konnte es nicht zwischen ihr und Degan so sein? Warum war alles so schwer? Nun, in der dritten Nacht seit ihrer Ankunft im Wiesenland, war der letzte Funke Hoffnung fast verglimmt. Degan würde nicht kommen. Lin schloss die Augen und dachte an die vergangenen Tage und Mondumläufe.
Vor ihrem inneren Auge spulte sich die Zeit zurück zu den Tagen, als sie und Degan noch in Engil gelebt hatten und einander versprochen gewesen waren. Erst jetzt erkannte sie, dass dieser Weg nicht nur für ihn, sondern auch für sie ein Kreuzweg gewesen war … und jeder von ihnen hatte letztendlich eine andere Richtung eingeschlagen, die sie aus Engil fortgeführt hatte. Wer immer diese beiden gewesen waren, die ihre Kindheit gemeinsam in Engil verbracht hatten – der Wind hatte sie fortgeweht. Das erste Mal fragte Lin sich, ob diese beiden nicht Fremde füreinander waren und sie einem Schatten hinterhergelaufen war.
Sie entdeckte einen einzelnen Stern, beschienen vom Licht des Mondes. Etwas war seltsam an ihm. Er zog einen großen Bogen, bevor er tiefer und tiefer sank. Dann erkannte sie, dass es kein Stern war, sondern ein Greif. Er war es! Lin sprang auf und verfolgte die Flugbahn des Greifen mit den Augen. Er landete ein Stück weit vom See entfernt und stieg kurz darauf wieder in den Himmel.
Zurück blieb eine einzelne Gestalt, die unentschlossen im Licht des Mondes stand. Lin ging ihr entgegen und spürte die Spannung, die zwischen ihnen lag. Ich bin nackt, beschwerte sich kurz die alte Lin in einem verschämten Aufbegehren.
Er war es! Sie erkannte sein langes Haar, das fein geschnittene Gesicht, die hochgewachsene Gestalt … und sie spürte seine Erregung, die ihn einerseits zu ihr zog, und seine Wildheit, die ihn zurückhalten wollte. Doch er war gekommen. Was sollte sie ihm sagen, damit er blieb? Sollte sie zurückhaltend sein oder ihm um den Hals fallen? Vielleicht war er auch nur hier, um endgültig von ihr Abschied zu nehmen!
Dann standen sie sich gegenüber. Lin öffnete den Mund. Doch ehe sie ein Wort herausbrachte, zog er sie an sich, fordernd, wie es seine Art war – die Art des Halbgreifen, der von Begierde und Leidenschaft getrieben wurde. Dieses Mal, so stellte sie überrascht fest, als Degan sie küsste, war es anders als damals im Tempel bei Salas Sonnenwendfest, als nur die Gier seines Fleisches ihn zu ihr getrieben hatte. Dieses Mal … wollte er … sie! Nicht irgendeine Frau, nicht Xiria … nicht die Göttin …
»Komm!«, flüsterte er heiser und nahm ihre Hand. Sie gingen gemeinsam zum See, wo Degan sie mit sich ins Gras zog, mit einer Hand ihre Taille umschlang und sie unter sich brachte. Lin bog den Kopf zurück, während er zuerst ihren Hals mit den Lippen entlangfuhr und dann die Spitzen ihrer Brüste mit seiner Zunge umspielte. Als er sich zwischen ihre Schenkel drängte, hielt er inne und sah sie ernst an. »Ich kann dir kein Königreich bieten. Vielleicht wirst du noch nicht einmal ein Haus haben. Ich bin, wer ich bin … Ein Teil von mir ist wild und kann nicht an einem Ort bleiben, an dem viele Menschen leben.«
Sie spürte, wie sich ihre Anspannung löste – nicht ihretwegen war er so schnell aus Engil verschwunden, sondern wegen der Menschen! Lin streckte sich ihm entgegen, so dass er die Einladung erkennen musste. Seine Muskeln spannten sich an, und er gab seiner Begierde nach. Mit einem einzigen Stoß glitt er in sie und verharrte dann reglos.
Sie spürte, dass er sich seiner Gefühle für sie noch immer unsicher war – vielleicht weil er um seine Wildheit wusste, vielleicht weil die Erinnerung an Xiria in diesem Augenblick einen Weg in sein Herz fand. Er hielt sich zurück, als wolle er ihr einen Teil von sich vorenthalten. Lin schlang ihre Arme um seinen Nacken und flüsterte: »Ich brauche kein Haus und auch kein Königreich. Dort würde er mich finden. Ich bin frei, dem Wind zu folgen.«
Etwas in ihm, das ihr Widerstand geboten hatte, gab nach. Mit dem Gewicht seines Körpers drückte er sie ins Gras und küsste sie. Lin schlang ihre Arme um ihn und überließ sich diesem seltsam neuen Gefühl von Freiheit.
Auf den Grashalmen bildete sich bereits frischer Tau, als Lin die Augen aufschlug und sich ausgiebig streckte. Ihre Hand suchte neben sich nach Degans warmem Körper. Sie hatten sich wieder und wieder geliebt in dieser Nacht, so dass sie überlegen musste, ob sie vielleicht nur geträumt hatte. Die Stelle neben ihr im Gras war leer und nicht mehr warm!
Langsam stand sie auf und spürte, wie ihre alte Angst zurückkehrte und sich um ihr Herz zu legen begann. Die zerdrückten Grashalme zeugten davon, dass Degan in der Nacht neben ihr gelegen hatte. Die Angst verwandelte sich in eine böse Vorahnung und kribbelte unter den kleinen Härchen in ihrem Nacken. Was, wenn er sie verlassen hatte, wenn er sich nach dem Rausch seiner Begierde anders entschieden hatte und heimlich gegangen war, während sie noch schlief?
Lin sah in alle Himmelsrichtungen, doch nirgendwo war eine Spur von Degan. Ihr Blick glitt über den See, und dort entdeckte sie ihn am gegenüberliegenden Ufer. Er schien in sich gekehrt, und ihr war, als sehe er geradewegs durch sie hindurch. Bitte nicht! Sie musste sich beherrschen, nicht schneller zu laufen.
Als sie leise neben ihn trat, starrte Degan auf die Oberfläche des Sees, wie sie es drei lange Tage getan hatte. Sein Blick war versteinert. Lin fühlte sich so elend, wie sie noch in der Nacht glücklich gewesen war. Sie hatte es befürchtet – er hatte über sie nachgedacht, nachdem die Begierde seines Körpers befriedigt war … sie mit Xiria verglichen und dabei festgestellt … sie beide … unmöglich!
Als sie sich leise abwenden und gehen wollte, griff er nach ihrer Hand, ohne sie dabei anzusehen. Seine Hand fühlte sich warm und fest und stark an und schien nicht vorzuhaben, sie gehen zu lassen.
»Gefährten«, sagte Degan leise, doch seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er sich entschieden hatte.