Wahrheit und Lüge

Elven schäumte vor Zorn, und Braam hätte sich nur allzu gerne irgendwo versteckt, bis seine Wut und Raserei sich gelegt hatten. Wenn ein Gott zornig war, hielt man sich besser von ihm fern. Wie in der letzten Zeit immer öfter, dankte Braam Sala dafür, dass Elven in diesem verfallenden Körper gefangen war. Denn er war dazu verdammt, mit seinem schwammigen Fleisch auf dem Thronsessel zu hocken. Obwohl Elven ihn wieder in seine Reihen aufgenommen hatte, war es noch immer sein Vater, der die Befehle von Elven entgegennahm und ihm überbrachte. Doch nicht an diesem Tag!

»Braam!«, rief Elven mit einer Stimme, die zwischen Weinerlichkeit und Jähzorn schwankte.

Braam trat so nahe an den Thron heran, wie es ihm möglich war, ohne vor Ekel kotzen zu müssen. »Ja, Elven …«

»Schick die Greife aus! Meine Königin ist mit dem Halbgreif zusammen. Sie sollen mir seinen Kopf bringen; aber Lin soll davon nichts wissen. Sie muss nach Engil gebracht werden, und es ist wichtig, dass sie freiwillig zurückkehrt.« Er lehnte sich im Thronstuhl zurück, und seine milchigen Augen starrten ins Leere. »Drohe ihr mit dem Tod der Priesterinnen, und wenn sie sich weiterhin weigert zurückzukehren, lass dir irgendetwas einfallen.« Er winkte ihm, dass er gehen sollte.

Braam fing den missgünstigen Blick seines Vaters auf und kalte Blicke aus blauen Augenpaaren, die ihm zu sagen schienen: Wir beobachten dich … nur ein Fehler … nur ein einziges Versagen. Er musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass dieses verwesende Stück Fleisch auf dem Thron von Engil ein Gott war. Mit einer angedeuteten Verbeugung machte Braam, dass er aus dem Thronsaal kam.

Im Garten des Palastes atmete er tief durch und erfreute sich an dem Duft der reifen Ogabeeren und vielen Blüten. Niemals hätte er gedacht, dass etwas schlimmer riechen konnte als Falbrindscheiße – wie sehr er sich doch geirrt hatte. Der gesamte Palast stank schrecklicher als hundert Falbrinder. Lin würde sofort den Verstand verlieren, wenn man sie zu ihrem einstmals so ansehnlichen Gefährten brachte. Ob sie wusste, wer ihr Gefährte war?

Braam dachte an die zweite Priesterin. Jevana hatte von Elven wissen wollen, warum Lin einem Gott so viel bedeuten konnte; wenn er länger darüber nachdachte, fand er die Frage durchaus gerechtfertigt. Wusste Jevana etwas, was er nicht wusste?

Braam machte sich auf in den Tempelbezirk, wo er den neuen Anführer der Greife wusste, den mit der Silberpeitsche – Suragon.

Als er die Baustelle erreichte, ließ er das Bild kurz auf sich wirken. Der Tempel war fast vollendet. Sogar der Opferkreis war von Moos und Verwitterung befreit worden – ein eindeutiges Zeichen, dass es bald wieder Blutopfer in Engil geben würde. Er schüttelte sich bei dem Gedanken daran, doch redete sich gleichzeitig gut zu. Lieber mit den Schjacks laufen, als von ihnen gefressen zu werden! Als der Anführer der Greife ihn sah, ließ er seine gefürchtete Peitsche mit den Silberketten einmal klirrend über die Steine fahren, und die arbeitenden Männer zogen ihre Köpfe ein. Das Geräusch der Silberketten war unverkennbar und hatte dem neuen Greifenführer einen gewissen Ruhm in Engil eingebracht. Man fürchtete ihn, weil die Silberketten seiner Peitsche mit Schjackzähnen besetzt waren und schon zwei Männer das Leben gekostet hatten.

Braam musste zugeben, dass Suragon eine beeindruckende Erscheinung war. Äußerlich unterschied ihn nichts von anderen seiner Art: Er war groß, mit einem geschmeidig muskulösen Körper, langen weißen Silberhaaren und dem typischen Schmuck eines Anführers: Stirnreif, Oberarmspangen und Beinschienen. Es waren jedoch Kleinigkeiten, mit denen Suragon sich von seinen Artgenossen absetzte. Diesen Greif trieb etwas anderes an als das Gemeinschaftsdenken seiner Sippe. Nicht, dass er grausamer gewesen wäre. Es war etwas, über das sich Braam Gedanken machte, seit Elven ihn zum neuen Anführer der Greife berufen hatte. Als er die Peitsche mit den Silberketten betrachtete, wurde ihm endlich klar, was Suragon von anderen seiner Art unterschied – eine höhere Gewaltbereitschaft.

Suragon wartete darauf, dass Braam ihn ansprach. Schnell verwarf Braam seine Grübeleien. Er wollte nicht, dass Suragon ihn durchschaute. »Elven schickt mich«, sagte er stattdessen.

»Lin versteckt sich mit dem Halbgreif Degan im Isnalwald. Ihr sollt sie finden, zurückbringen und Degan töten. Elven will seinen Kopf. Aber Lin darf von seinem Tod nichts wissen.«

Suragon rollte seine Peitsche auf und steckte sie in seinen Schurz. »Der Halbgreif ist gefährlich. Suragon und seine Sippe kennen ihn. Er verwandelt Greife in Tiere!«

»Sag das Elven!«, blaffte Braam ungeduldig, fügte jedoch hinzu: »Elven hat nichts von tierähnlichen Greifenkreaturen erwähnt. Der Halbgreif und die Königin von Engil sind allein.«

Noch immer reagierte Suragon nicht – noch eine Seltsamkeit, die ihn von den anderen unterschied. Er war zu eigenen Gedankengängen fähig. Während Greife in der Regel akzeptierten, was ihnen aufgetragen wurde, schien Suragon zu eigennützigen Entscheidungen und Überlegungen fähig zu sein. Umso erstaunlicher, dass Elven ihm die Kontrolle über sein Greifenheer anvertraute. Schließlich nickte er und antwortete: »Suragon wird Elven seine Königin sowie den Kopf des Halbgreifen bringen. Sag ihm das!«

Beizeiten werde ich mich in seine stinkende Gegenwart begeben, dachte Braam angewidert, … aber bestimmt nicht heute noch einmal. Trotzdem nickte er dem Greif zu.

Er wartete, bis er Suragon und ein paar seiner Greife von der Unterstadt aus in den Himmel steigen sah. Sie boten ein beeindruckendes Bild, denn die Spannweite ihrer Schwingen war groß. Leise fluchend wandte Braam sich ab. Hätte er doch auch fortfliegen können aus dieser verdammten Stadt!

Braam machte sich auf in die Unterstadt und fand das Haus mit dem bunten Webvorhang vor der Tür schnell wieder. Es gehörte dem Vater der zweiten Priesterin Jevana.

Scham, ungebeten ein Haus zu betreten, besaß er nicht. Immerhin war er wieder in Gnade bei Elven aufgenommen worden; auch wenn diese Gnade vielleicht nicht lange andauern würde. Doch er hatte mittlerweile so viel Grauen gesehen, dass er abgestumpft war.

Der alte Mann hinter seinem Verkaufstisch im Vorraum des Hauses erkannte ihn sofort als denjenigen, der die Priesterinnen zusammengetrieben und seine Tochter bedroht hatte. Mit verschlossener Miene trat er ihm in den Weg und postierte sich wie ein Wächter vor der Tür, die in seine Wohnräume führte. »Was willst du hier? Wir haben nichts, was von Interesse für dich oder deinen Herrn wäre.«

Der Alte hatte Mut, das musste Braam ihm lassen. Als besäße er alle Zeit der Welt, sah er sich in dem kleinen Verkaufsraum um, öffnete ein paar der Tiegel, nur um sie dann zurück in die Regale zu stellen. Schließlich, nach angemessener Zeit, wandte er sich dem wartenden Alten zu. »Deine Tochter – wo ist sie? Ich will mit ihr reden.«

»Sie ist nicht hier«, erwiderte der Alte noch immer nicht freundlicher. Die Art und Weise, wie er die Tür in seinem Rücken abschirmte, zeigte Braam jedoch, dass er log. Mit einem einzigen Schlag seiner Hand stieß er den alten Mann in eines seiner Regale. Tiegel mit unterschiedlichem Inhalt fielen auf ihn, und das laute Poltern von zerbrechendem Ton begleitete seine Flüche. »Ich habe keine Zeit«, gab Braam ihm zu verstehen, dann schob er sich durch die Tür an ihm vorbei.

Im Raum hinter dem Laden starrten ihn vier verängstigte Augenpaare an. Eine ältere Frau, wahrscheinlich Jevanas Mutter, und zwei junge Mädchen, ihre Schwestern, sowie ein kleiner Junge saßen auf Kissen in Hausarbeiten vertieft. Der Junge ließ ein rotes Garnknäuel fallen, das Braam vor die Füße rollte, und musterte ihn mit ängstlich geöffnetem Mund. Braam beachtete das Garnknäuel nicht weiter.

»Wo ist die zweite Priesterin Salas?«, sprach er die ältere Frau an.

Mit zitterndem Finger wies sie auf den Hof hinter dem Haus.

Braam bedankte sich nicht und trat durch die Hintertür nach draußen.

Die Luft im Hof war von Kräuterduft erfüllt. Jevana saß inmitten eines kleinen Beetes und jätete Unkraut. Sie trug nicht das Gewand der zweiten Priesterin, sondern ein einfaches Kittelkleid. Doch die Kette mit Salas Tränen lag um ihren Hals. Als sie ihn sah, verschlossen sich ihre Gesichtszüge. »Was willst du hier?«

»Antworten!«

Jevana richtete sich auf und sah hinauf in den klaren Himmel, als stünden die Antworten, welche er suchte, dort geschrieben. Dann seufzte sie traurig. »Es hätte ein schöner Tag sein können. Die Luft ist angenehm, die Sonne brennt nicht zu heiß, ein kühler Wind weht.«

Braam wurde ungeduldig. Was er an Frauen und besonders an Priesterinnen nicht mochte, war ihr geheimnisvolles Gehabe. »Lin ist zusammen mit Degan in den Wäldern von Isnal gesehen worden.« Er konnte sehen, wie ein Funken Hoffnung in Jevanas Augen aufglomm, als sie ihren Blick vom Himmel abwandte und ihn ansah. »Geht es ihnen gut?«

»Noch … Elven hat seine Greife geschickt, Lin zu ihm zurückzubringen und Degan zu töten. Von ihm will er nur seinen Kopf.«

Sie legte erschrocken die Hände vor den Mund. »Sie müssen gewarnt werden!«

Braam wusste, dies war seine Gelegenheit, endlich etwas aus Jevana herauszubekommen. »Warum? Weil sie deine Freundin ist oder die Königin? Was ist Besonderes an ihr, dass sie nicht einfach durch eine andere Königin ersetzt werden kann? Elven benimmt sich wie ein Narr, was sie angeht.«

Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken und runzelte die Stirn. »Wenn ich es dir sage, wirst du ihr dann helfen?«

Braam zuckte die Schultern. »Selbst wenn ich es wollte, wie sollte ich das tun?«

Eine Weile überlegte Jevana, dann nickte sie. Ihre Hoffnung hatte sich in Bitterkeit verwandelt. »Ich sage es dir trotzdem. Ich sage es dir, damit du den Rest deines Lebens Zeit hast, dich schuldig zu fühlen an allem Übel, das über Engil hereingebrochen ist. Denn letztlich warst du es, der Elven den Weg zu ihr bereitet hat.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Sie ist die Göttin, die uns allen das Licht hätte bringen können. Sie ist Sala.«

Braam starrte die Priesterin an, als wäre sie verrückt geworden. Dann brach er in lautes Gelächter aus. Wer konnte es ihr verübeln nach allem, was um sie herum geschah? Weiber waren so – sie drehten durch, wenn man ihrem Geist zu viel zumutete. Die zweite Priesterin redete wirr; und doch ließ ihr Blick keinerlei Zweifel daran, dass sie selbst glaubte, was sie sagte. »Du glaubst mir nicht!«, stellte sie kühl, jedoch ohne Empörung fest.

Braam wich ein paar Schritte von ihr zurück und bekam plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Das konnte doch nicht sein. Wenn Lin die Göttin war, dann musste er ein Falbrind sein. Es war nicht möglich … doch irgendetwas an dem, was Jevana sagte, berührte Braam tief in seinem Innern, in Gefilden, in die er noch nie vorgedrungen war.

Sie legte eine Hand auf Salas Tränen. »Sie und Degan waren die letzte Hoffnung für Engil.«

»Das ist Unsinn!«, polterte er. Sie ist keine Göttin, nur ein Weib, das mich zurückgewiesen hat für diesen Angeber Degan … sie hat mich zurückgewiesen! Braam ließ Jevana stehen und ging zurück in das Haus, vorbei an den Frauen und dem Jungen, die ihm mit ängstlichen Blicken hinterhersahen. Der Alte hatte sich mittlerweile aufgerappelt und damit begonnen, seine durcheinandergeratenen Waren zu ordnen. Erneut stieß Braam ihn zur Seite und rannte dann zur Tür hinaus. Ihm war auf einmal, als ersticke er.

Ein paar Schritte vom Haus entfernt lehnte er sich an einen Baum und legte die Hände vor das Gesicht. Plötzlich interessierten ihn die neugierigen Blicke der Menschen nicht mehr, und es kümmerte ihn auch nicht, dass sie ihn in einem Augenblick der Schwäche sahen. Die Wahrheit brach über ihn herein wie ein tosender Sturm. »All das habe ich nur getan, weil ich es nicht ertragen konnte, von Lin zurückgewiesen worden zu sein. Ganz Engil wird untergehen, weil ich es nicht ertragen konnte!«

 

Als sie am Nachmittag des nächsten Tages endlich auf eine Waldfrau stießen, war Lin am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte Hunger, war steif wie eine alte Katze und fühlte sich schmutzig wie selten zuvor. Wo Elvens magischer Sturm gewütet hatte, waren weder Wasser noch etwas Essbares zu finden gewesen.

Am Morgen hatte sie zwar ein paar Beeren und bittere Wurzeln gefunden, doch sie hatten sie nur noch hungriger gemacht.

Degan, der Entbehrungen gewohnt war, schlug sich um einiges besser, und sogar Belamon schleppte seine gebrochene Schwinge tapfer hinter sich her, obwohl sich ein Greif so gut wie nie auf lange Fußmärsche einließ und das Fliegen bevorzugte. Lin hatte Degan immer wieder bitten müssen, langsamer zu gehen, was er mit einem unzufriedenen Schnauben getan hatte, nur um kurze Zeit später wieder in einen zügigen Schritt zu fallen. Irgendwann hatte sie es aufgegeben, ihn immer wieder daran zu erinnern, und war stattdessen einfach hinter ihm her gehumpelt.

Trotz der Tortur und des langen Fußmarsches fühlte Lin sich am späten Nachmittag noch nicht so abgestumpft, dass der Anblick einer Waldfrau ihr nicht einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie drückte sich, so gut es ging, an Belamons gesunde Schwinge, um sich zu verstecken. Doch die Alte hatte sie längst entdeckt. Mit knotigem Finger wies sie auf Lin und begann ihren Singsang: »Die da bringt uns Lüge und Leid, zu heilen den Greif bin ich bereit, doch schick sie fort, sie bringt Gefahr, ihr folgt des Gottes Greifenschar!«

Lin lief unter all ihrem Schmutz rot an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Waldfrau von ihrer Begegnung mit dem Schjack erfahren hatte. Diese Alten wussten einfach alles! Auf keinen Fall wollte sie Degan noch mehr verärgern oder ihm einen Grund liefern, sie loszuwerden. Sie brauchte seine Hilfe, um Engil von Elven zu befreien. »Was für ein Unsinn«, murmelte sie vor sich hin und hoffte, Degan würde das Gerede der Alten überhören.

»Was meint sie damit?«, fragte Degan jedoch prompt.

Lin schüttelte etwas zu schnell den Kopf. »Das weiß ich doch nicht! Sie haben versucht, mich umzubringen. Sie erzählen üble Dinge über mich. Ihre Worte sind giftige Lügen!«

Die Alte stützte sich auf einen knorrigen Ast, den sie als Krückstock benutzte, und kam langsam auf sie zu. Lin drückte sich noch tiefer in Belamons fellige Seite, und der Greif fing an, mit dem Schnabel nach der Alten zu hacken, um die offensichtlich verängstigte Lin zu beschützen. Die Waldfrau zischte empört über den liebestollen Greif.

Lin fühlte sich dumm und hätte am liebsten alles zugegeben. Ja, ich habe Elven vorgespielt, Degan und ich seien Liebende, ich wollte ihn verletzen und mich für den Tod meiner Eltern an ihm rächen!

Belamon verteidigte sie so kompromisslos, dass er die Heilung seiner Schwinge aufs Spiel setzte. Unglückselige Lin!

Die Waldfrau hatte sich an Belamons Schnabel vorbeigeschoben und stach Lin mit dem Ende ihrer Astkrücke in den nackten Bauch. »Der Name eures Verfolgers ist Suragon, und er ist der neue Anführer der Greife. Er ist gefährlicher als alle seine Vorgänger. Elven hat ihn mit etwas ausgestattet, was Jayamon, den du in Dungun vom Turm gestürzt hast, nicht besaß. Suragon wirst du nicht überlisten können, Tochter von Engil!« Sie wandte sich Degan zu. »Sie hat den Schjack benutzt, um dem Gott Dinge zu zeigen, die sie sich wünscht, aber die es nicht gibt … und jetzt rast er vor Zorn und Eifersucht.«

Degan begriff noch immer nicht, doch die Alte klärte ihn auf. »Der Gott glaubt, dass ihr Liebende seid!«

Der Blick, mit dem Degan sie bedachte, war so vernichtend, dass Lin am liebsten im Erdboden versunken wäre oder sich für immer unter Belamons Schwinge versteckt hätte. Was Degan dachte, brauchte er nicht auszusprechen. Es stand unübersehbar in seinen Augen geschrieben. Du und ich … wie absurd …

»Er hat meine Eltern getötet«, versuchte Lin sich kleinlaut zu verteidigen.

Degan murmelte Flüche vor sich hin, die unverkennbar ihr galten. Also beschloss sie einen Gegenangriff zu wagen und wies mit dem Finger auf die Waldfrau. »Die alte Waldhenne macht mir Vorwürfe … aber sie wollten mich kaltblütig umbringen!«

Die Waldfrau zog ihre Astkrücke zurück und schüttelte heftig den Kopf. »Zwei aus meiner Sippe haben falsch gehandelt, doch sie taten es nicht aus kleinmütigen Rachegedanken! Sie sind ein wenig zu alt geworden … ein wenig verdreht im Kopf …« Die Alte machte eine kreisende Bewegung mit der Hand. »Nona und Dawon haben mit ihnen gesprochen. Es tut ihnen leid, dass sie versucht haben, dich umzubringen.«

»Wie schön«, rief Lin wütend, während Degan sich einmischte. »Wo sind Nona und Dawon?«

Die Waldfrau hob abwehrend die Hände. »Alles zu seiner Zeit, junger Halbgreif. Deinen Eltern geht es gut, sie werden bald hier sein … bis dahin …« Sie bedachte den wehrhaften Belamon mit einem funkelnden Blick. »… haben wir Zeit, uns um diesen verliebten Jungspund hier zu kümmern.«

»Wir haben keine Zeit«, rief Lin aufgebracht und erntete dafür sowohl von der Waldfrau als auch von Degan vernichtende Blicke. Anstatt ihr zu antworten, wandten ihr beide den Rücken zu und ließen sie stehen; selbst Belamon trottete anstandslos hinter ihnen her.

Von einem Augenblick auf den anderen stand Lin allein auf der Lichtung. Plötzlich meinte sie Blicke in ihrem Rücken zu spüren und fuhr herum. Doch da war nichts, nur die Bäume am Rand der Lichtung. Was hatte die Waldfrau gesagt, wie der neue Greifenführer hieß? Suragon! Aber das war absurd. Selbst wenn Suragon sie verfolgte, würde er sich nicht in die Nähe einer Waldfrau wagen oder in Degans Nähe. Lin ballte die Hände zu Fäusten und sah sich noch einmal um. Dann lief sie den anderen hinterher.

 

Suragon hatte Lin von einem Baum am Rande der Lichtung aus beobachtet. Obwohl ihr Körper schmutzig war, musste er gegen seinen Vermehrungstrieb ankämpfen. Sie duftete verlockend. Aber sie war nicht für ihn! Diese Menschin gehörte seinem Herrn.

Elven hatte ihm etwas geschenkt, als er ihn nachts in den Thronsaal gerufen hatte, der so erbärmlich nach Tod stank, dass selbst Suragons Greifenduft nicht vermocht hatte, den Gestank zu übertünchen. Und doch war es ein großzügiges Geschenk gewesen, das Elven ihm gewährte. Bedächtig hatte er die Haut seines blauschwarz verfärbten Armes mit einem Dolch geöffnet und das schwarze Blut aus seinen Adern in einen Silberbecher fließen lassen. Dann hatte Elven ihm den Becher gereicht. »Ich mache dich zum Anführer der Greife, und ich werde dich besser machen als die anderen deiner Sippe – du sollst klüger sein als dein Vorgänger Jayamon.«

Suragon hatte nicht verstanden, was Elven ihm sagen wollte, denn bis dahin hatte er gedacht wie alle anderen und war ein untrennbarer Teil von ihnen gewesen.

»Willst du deine Sippe anführen?«, hatte Elven mit schleppender Zunge und zahnlosem Mund geflüstert und auf das dickflüssige Blut in dem Silberbecher gewiesen. »Dann trink und verstehe.«

Suragon hatte getrunken und das Brennen kaum ertragen, das mit dem ersten Schluck seine Kehle versengt hatte. Röchelnd war er vor Elven zusammengebrochen. Er hatte geglaubt, der dunkle Gott hätte ihn getötet, doch wie durch ein Wunder war das nicht geschehen. Stattdessen hatte Elvens Blut etwas anderes bei ihm bewirkt. Suragon hatte angefangen, sich selbst wahrzunehmen; nicht als ein Teil seiner Sippe, sondern als ihr überlegen; ganz plötzlich waren Gedanken in seinem Kopf gewesen, die sich von denen der anderen unterschieden.

Elven hatte gewartet, bis Suragon aufstand und sich im Thronsaal umsah, wie ein Kind, das die Welt um sich herum entdeckt. Dann hatte der dunkle Gott ihm zugeflüstert: »Ich habe dir keine Liebe gegeben und auch keine Weisheit … das alles brauchst du nicht. Ich habe dir etwas anderes gegeben. Etwas, das dich stärker als deinesgleichen macht. Ich gab dir Ehrgeiz!«

Suragon hatte das erste Mal verstanden, welche Bedeutung hinter diesem Wort steckte.

Als er jetzt die Menschin aus seinem Versteck im Baum heraus beobachtete, strich er langsam mit den Fingern über den Griff seiner silbernen Peitsche. Ehrgeiz – er hatte die anderen Greife, mit denen er aufgebrochen war, fortgeschickt. Sollten sie sich Frauen suchen und sich mit ihnen paaren. Er – Suragon – würde den Halbgreifen töten und die Gefährtin seines Herrn zurück nach Engil bringen – er allein!

Die Lichtung wagte er zwar nicht zu betreten, denn die Waldfrauen waren zu mächtig. Sie waren Verkünderinnen und Heilerinnen und standen außerhalb der Macht von Licht und Schatten. Also musste er auf einen geeigneten Augenblick warten. Dann würde er die Königin von Engil gefangen nehmen, sie in einem Baum verstecken und einfach warten, bis der Halbgreif nach ihr zu suchen begann. Leise zog Suragon sich in den Schatten der Blätter zurück. Er wusste, dass er vorsichtig sein musste. Der Halbgreif konnte auch ihn in eines dieser Tiere verwandeln – in so eines wie die Kreatur mit der gebrochenen Schwinge. Suragon musste sehr gut planen, wenn er ihn töten wollte.

Doch er konnte warten und eine Weile in diesem Baum ausharren – denn er besaß den notwendigen Ehrgeiz dazu.

 

Belamon hatte sich hinter der Hütte zusammengerollt und schlief. Die Waldfrau hatte seine Schwinge geschient und ihm dann ein Gebräu eingeflößt, das so furchtbar gerochen hatte, dass Lin und Degan die Flucht ins Innere der Hütte angetreten hatten, während Belamon sich laut kreischend über den bitteren Trunk beschwert hatte.

In der Hütte der Waldfrau gab es Decken, einen Brei aus Getreide und fetten Fleischbrocken und ein warmes Feuer. Lin fürchtete noch immer die Flammen und setzte sich beim Essen seitlich, so dass Degan fragend die Brauen hochzog.

»Vorhin hast du noch gefroren, und jetzt wendest du dich vom Feuer ab. Das soll einer verstehen.«

»Ich habe gelernt, das Feuer zu fürchten und den Blick in die Flammen zu meiden«, war das Einzige, was Lin zwischen zwei Löffeln Getreidebrei zur Antwort gab. Noch immer hatte sie keine Ahung, wie viel Degan von ihr und Sala wusste. Waren sie sich denn so unähnlich? Sie war halb Mensch, halb Göttin, er halb Greif, halb Mensch. Sei nicht dumm!, maßregelte sie sich stumm, während sie ihren Brei löffelte. Er spürt sein Greifenerbe, aber du fühlst dich nicht anders als vorher. Oder doch? Vielleicht empfand sie sich selber nicht als ungewöhnlich – immerhin war die Göttin stets ein Teil von ihr gewesen. Lin stellte ihre Schale beiseite und wickelte sich fester in die Decke, während Degan noch eine zweite Schale des reichhaltigen Breis aus dem Kessel über dem Feuer nahm. Lin fand, dass der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch gekommen war. »Warum hast du Hilfe geschickt, als Elvens Greife mich zurück nach Engil schleppen wollten?«

Degans Blick wurde düster und ablehnend. Es war nicht zu übersehen, dass er keine große Lust auf ein Gespräch mit ihr hatte. Überhaupt machte er den Eindruck, als hätte er lieber im Kreise seiner Greife in einem Baum gehockt als mit ihr an einem warmen Feuer. »Elvens Greife wollten meinen Vater töten. Also kam Nona zu mir und bat mich, Dawon zu helfen. Das habe ich getan, nicht mehr und nicht weniger. Dass du bei ihm warst, wusste ich gar nicht.«

In Lin zerbrach etwas, wie die Stäbchen eines Fünfholzspiels. Sie hätte es wissen müssen, doch es aus Degans Mund zu hören tat weh. Noch immer liebte sie ihn gegen alle Regeln der Vernunft; dabei war es ihm nur um Dawon gegangen. Was mit ihr geschah, war ihm gleichgültig. Sie bohrte weiter. »Und … hat Nona etwas gesagt … über mich?«

Er löffelte ohne Unterlass seinen Brei und sah sie dabei nicht einmal an. »Sie kam zu mir, als du in der Oase gegen das Gift der Waldfrauen gekämpft hast. Sie sagte, dass du den dunklen Gott zum Gefährten genommen hast und er deine Eltern getötet hat, als du ihn verlassen wolltest … und jetzt seist du auf der Flucht vor ihm.« Seine Worte klangen unbeteiligt.

Lins Hoffnung, dass Degan ihr helfen würde, schwand langsam, aber sicher dahin. »Wirst du mir helfen, Engil von ihm zu befreien?«

Degan stellte die Schale beiseite, wischte sich mit der schmutzigen Hand über den Mund und sah sie kalt an. »Nein! Die Menschen kümmern mich nicht. Denn auch die Menschen kümmert nur ihre eigene Art.«

»Ein Teil von dir ist auch menschlich«, versuchte Lin ihn zu überzeugen.

Degan schüttelte wütend den Kopf. »Hör auf, mich überreden zu wollen. Ich habe mich längst entschieden, was ich bin.«

Lin stand auf und stieß dabei ihre leere Schüssel mit dem Fuß um. Die Reste des fettigen Breis liefen in die Flammen und ließen sie knistern. Sie war wütend, sie war verzweifelt, und sie wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte. War denn letztendlich alles vergeblich gewesen?

»Du kannst nicht alles in dir verleugnen, was einmal menschlich war, nur wegen ihr!«, fuhr sie ihn an. »Xiria war ein Monster ohne Mitleid für andere! Sie ist seit über drei Jahresumläufen tot! Dieses Greifenweib – wird es niemals aus deinem Kopf verschwinden?« Sie hatte sich derart in Rage geredet, dass selbst Degan zu überrascht war, sie zu unterbrechen. Doch seine Blicke wurden düster … so düster, dass Lin spürte, dass sie zu weit gegangen war. Was, wenn sein Jähzorn durchbrach? Sie erinnerte sich an seine Raserei damals im Tempel, bei der er sie beinahe vergewaltigt hatte. Mit einem Mal erkannte sie die Gefahr. Sie musste raus aus der Hütte!

So schnell sie konnte fuhr sie herum und lief zur Tür. Die Waldfrau war bei Belamon hinter der Hütte. Sicherlich hatte sie ihren Streit gehört. Als sich ihre Hand auf die grobe Holztür legte, um sie aufzustoßen, war Degan jedoch schon hinter ihr und riss sie von der Tür fort. Mit einem wütenden Schnauben presste er sie an die Holzbohlenwand. In seinen Augen flammte rasender Zorn. »Warum hast du sie nicht gerettet? Du hättest Xiria retten können, du bist die Göttin! Aber du hast zugelassen, dass ich Xiria getötet habe, weil ich glaubte, ich hätte keine andere Wahl. Du wolltest sie aus dem Weg haben! Nona hat mir erzählt, dass Sala und du eins seid.«

Er raste vor Schmerz und Zorn, und in diesem Augenblick wünschte er sich mehr als alles andere, dass er sie damals hätte sterben lassen anstatt Xiria. Degan glaubte allen Ernstes, sie hätte sich gegen Xiria verteidigen können. Aufgeregt versuchte sie ihn vom Gegenteil zu überzeugen. »Das stimmt nicht, Degan. Ich habe keinerlei Macht …« In seinem Gesicht suchte sie nach irgendeinem Zeichen von Verständnis, fand jedoch keines.

Degans Hand legte sich um ihren Hals und drückte zu. Lin kämpfte um ihr Leben. Degan verlor die Kontrolle über sich, und ihre Versuche, sich von ihm freizukämpfen, führten nur dazu, dass er immer stärker ihre Kehle zuquetschte. Wo war nur die Waldfrau, wenn man sie brauchte? Schließlich gelang es Lin mit letzter Kraft, ihn von sich zu stoßen. Gierig sog sie Luft in ihre Lungen, dann schrie sie: »Deshalb behandelst du mich so … und deshalb verachtest du mich?« Sie spürte, wie ihr Tränen der Enttäuschung in die Augen schossen. Sie wischte sie fort und fasste sich. Mit ruhiger Stimme sprach sie weiter. »Du hast schon immer geglaubt, du bist der Einzige, dem Unrecht widerfährt, der Einzige, der leidet, und der Einzige, der ein Recht auf Freiheit hat!« Sie schlug sich mit der Faust gegen die Brust. »Aber was ist mit mir? Hat mich jemand gefragt, ob ich das, was das Schicksal für mich vorgesehen hat, will? Ich weiß nichts von der Göttin, nur, dass sie sich in mir verbirgt; und auch das weiß ich erst seit wenigen Tagen. Ich habe keine Fähigkeiten oder Kräfte. Sala spricht ja nicht mal zu mir.« Mit zitternden Händen riss sie die Tür auf. Degan starrte düster vor sich hin. Ihre Verzweiflung wuchs. Er verstand sie nicht! Er glaubte ihr kein einziges Wort! »Ich bin Lin, einfach nur Lin. Ich konnte gar nichts ändern. Nicht an ihrem Schicksal, nicht an deinem und schon gar nicht an meinem.«

Sie wandte sich endgültig ab und rannte über die Lichtung, wobei sie spürte, wie ihre unsinnige Liebe zu Degan schwer wie ein Felsbrocken auf ihrem Herz lastete. Dies war die einzige Fähigkeit, welche die Göttin ihr überlassen hatte – ewige und unzerstörbare Liebe zu empfinden. Genau wie für Elven war die Unsterblichkeit ihrer Liebe für sie zum Fluch geworden.