Im Auge des Bösen

Braam hieb mit seinem Stock auf das Dornengestrüpp und die verkeilten Zweige ein, durch die er sich mit seinen Leidensgenossen bereits seit einem ganzen Tag schlug. Ein stummer Fluch lag auf seinen Lippen. Seine Beine waren bis durch das Leder seiner Kleider zerkratzt, seine Hände von tiefen Schnitten überzogen. Er hatte Hunger und musste pissen – Milliarden von Insekten hatten jede freie Stelle seiner Haut so zerstochen, dass er glaubte, keinen Tropfen Blut mehr im Körper zu haben. Der klebrige Schweiß zog Stechmücken an wie ein Haufen Falbrindscheiße die Fliegen. Braam kratzte sich im Laufen und schlug nach den Bremsen, von denen es immer mehr zu geben schien, je weiter sie in den verfluchten Isnalwald hineinliefen. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie bereits gelaufen waren – zu lange … so viel war klar. Die anderen Männer stöhnten vor Erschöpfung, doch niemand wollte um eine Rast bitten.

An der Spitze des Suchtrupps lief Elven ohne eine Spur von Müdigkeit. Braam starrte wütend auf seinen Rücken. Elven schwitzte nicht, und er wurde nicht müde. Er musste anscheinend niemals pissen und wurde auch nicht von den Insekten zerstochen. Braam wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich war es unmöglich, doch Elvens Haut war kaum vom Dornengestrüpp zerkratzt. Zuerst hatte Braam geglaubt, dass sich sogar die Büsche vor Elven teilten und ihm den Weg freigaben. Was natürlich Unsinn war. Erst als er länger und genauer hinsah, erkannte er, dass Elven einfach viel geschickter war als sie alle zusammen und fast jedem Zweig und Dorn auswich. Seine Geschmeidigkeit hatte etwas von einer Katze und erinnerte Braam an Degan, den Halbgreifen.

Braam nahm es dem Fremden übel, dass es ihm so leicht gelungen war, Tojar und Ilana zu beeindrucken. Dieser Suchtrupp wäre eine Gelegenheit für ihn selbst gewesen, seine Schande zu tilgen. Aber sie vertrauten Elven, den sie nicht kannten, mehr. Braam blieb stehen. Er war kein Feigling wie die anderen, doch er brauchte eine Rast. Jetzt! Warum eigentlich die Eile? Wegen eines Mädchens und eines Irren, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, den Kult des Blutgottes wiederaufleben zu lassen?

»Wir brauchen eine Rast«, schnauzte Braam und wurde von seinen Leidensgenossen das erste Mal unterstützt. Sie alle nickten, als Elven sich zu ihnen umwandte.

Für einen Moment starrte Elven ihn unentschlossen an. Zunächst glaubte Braam, dass Elven ihn anschnauzen würde, er solle seinen stinkenden Bauernarsch bewegen und sein Maul halten. Dafür hätte er ihn respektieren können. Braams Nackenhaare sträubten sich in Erwartung eines Kräftemessens mit Elven. Er spürte das tiefe Bedürfnis nach einer Prügelei in seine Fäuste kriechen und war sich sicher, dass er Elven mit den Fäusten überlegen war.

Elven enttäuschte ihn. Wortlos ging er zu einem Baum, auf dessen Stamm ein spärlicher Sonnenstrahl fiel, und ritzte die Rinde mit seinem Dolch. »Wenn die Sonne die Markierung erreicht hat, gehen wir weiter.«

Braam schwankte zwischen Erleichterung und Enttäuschung. Es war eine kurze Zeit, die Elven ihnen zum Ausruhen gewährte. Er und die anderen fielen dort, wo sie standen, in das weiche Laub. Erleichtertes Stöhnen war zu hören. Die Männer wollten nur noch schlafen.

Braam aber gönnte sich keinen Schlaf. Obwohl auch er müde war, beobachtete er Elven aus den Augenwinkeln. Ihr sonderbarer Anführer saß mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt und hatte die Augen geschlossen. Weder ging sein Atem schnell, noch waren Anzeichen von Erschöpfung in seinem Gesicht zu erkennen. Braam konnte es nicht glauben. Wie konnte ein Mensch über solche Kraftreserven verfügen? Elven hatte sich vom duldsamen Narren in einen unbarmherzigen Führer verwandelt. Er trug nun lederne Beinkleider statt seines Priestergewandes und ein Hemd. Sein schlanker, aber durchaus kräftiger Körper kam durch die neue Kleidung gut zur Geltung. Elven vermittelte Braam das Gefühl, ein plumper Mehlsack zu sein. Früher war er ein stolzer Taluk gewesen … jetzt fühlte er sich fast genauso tölpelhaft wie diese Idioten, die sorglos im Laub herumlagen und schnarchten. Er bekämpfte das zornige Brennen in seiner Kehle. Elven schien kaum der Trottel zu sein, für den er ihn gehalten hatte. Aber was wollte er? Lin zur Gefährtin nehmen und in Engil herrschen?

Seine Blase würde ihm nicht mehr lange gehorchen, also zwang Braam sich aufzustehen. Elven war eingeschlafen, doch seine Hände umklammerten noch immer den geschwungenen Bogen und den Köcher mit Pfeilen. Braam verzog einen Mundwinkel – so schliefen Krieger … keine Wanderschmiede oder Wanderpriester.

Seine Leidensgenossen schnarchten vor sich hin. Dummes, unvorsichtiges Pack! Braam bemühte sich, leise zu sein, während er sich davonmachte, um einen guten Platz zum Pinkeln zu suchen. Seine Füße steckten in viel zu kleinen Lederstiefeln, die ihm ein Engilianer überlassen hatte. Sie hatten seinem Sohn gehört, der sich neue hatte anfertigen lassen. Braam stöhnte, weil seine Füße schmerzten. Wäre er doch in Engil geblieben!

Leise fluchend schlug er sich einen Weg durch Dornenhecken und ließ dabei seiner unterdrückten Wut freien Lauf. »Elender Sohn eines Falbrindes!« Hier konnte er fluchen und Elven verwünschen. Es war düster in diesem Teil des Isnalwaldes. Kaum ein Sonnenstrahl fiel durch das dichte Blätterdach der Bäume, und in der Luft lag der Geruch von Feuchtigkeit und verrottetem Holz.

Braam zwängte sich durch eine letzte Dornenhecke und blieb dann stehen. Vor ihm lag eine Lichtung, von der aus er auf ein Stück blauen Himmel sehen konnte. Der Anblick besänftigte ihn ein wenig … Licht, Wärme. Mit einem Seufzer trat er in die Sonne, die wie Balsam auf seiner Haut war. Die warmen Strahlen trockneten den Schweiß und das Blut auf seinen Armen und Händen. »Sala sei Dank …«, flüsterte er müde.

Er ging zu einem Baum, öffnete das Zugband seiner Beinkleider und schlug sein Wasser mit einem erleichterten Grunzen an einem Baumstamm ab. Als er fertig war, setzte er sich in das warme Gras, um die Sonne noch eine Weile zu genießen. Er durfte nur nicht einschlafen. Wenn Elven mit den anderen weiterzog und ihn hier vergaß, wäre er verloren. Allein fände er nie wieder zurück nach Engil. Braam legte sich auf den Bauch und spürte, dass er Schwierigkeiten hatte, nicht einzudösen. Vor seinen Augen flirrten Lichtpunkte.

Am Rand der kleinen Lichtung entdeckte er etwas. Zuerst war er sich nicht sicher, doch schließlich schlich er näher an das Gebüsch heran. Bei Salas hellem Licht! Seine übermüdeten Augen hatten ihn nicht getäuscht.

Eine Hand ragte aus dem Dornengestrüpp … die Hand eines Mädchens! Niwa! Er hatte sie gefunden. Ohne zu überlegen, griff Braam nach der Hand und wollte sie aus dem Gebüsch hervorziehen. Der erwartete Widerstand blieb aus. Das Gebüsch gab sie frei. Der Arm des Mädchens tauchte auf … Dann nichts mehr. Nur ausgefranstes, bläulich rot angelaufenes Fleisch, das teigig und aufgequollen war. Ein Schwarm schillernder Fliegen stob von der Wunde auf und versuchte, sofort wieder darauf zu landen. Braam musste würgen und erkannte gleichzeitig, dass die Fingernägel gelblich-blau verfärbt waren. Knochensplitter ragten aus der Wunde unterhalb des Schultergelenks, wo der Arm vom Körper gerissen worden war.

Fast im selben Augenblick bemerkte Braam den süßlich fauligen Gestank. Mit einem erstickten Schrei ließ er den verwesenden Arm los und übergab sich ins Gras. Aus dem Gebüsch erklangen ein aufgeregtes Klappern und Pfeifen.

Braam spürte die Angst ganz plötzlich wie eine eisige Klaue seine Glieder umklammern. Er versuchte aufzustehen, doch seine Beine waren schwer wie das Mugurgebirge. Ich lasse dich nicht fort …, schien seine Angst ihm gehässig zuzuflüstern.

Aus dem Gebüsch tauchte das gefletschte Gebiss eines Schjacks auf. Seine Augen waren auf Braam gerichtet. Der Schjack hob die Nase und witterte in seine Richtung. Zwischen seinen nach innen gebogenen Zähnen hingen noch Fleischfetzen seiner letzten Mahlzeit. Braam wollte nicht darüber nachdenken, was die Kreatur gefressen hatte. Der Schjack musste seine Beute in das Gebüsch gezerrt haben, um sich dort über sie herzumachen – die Beute hatte einen Namen und ein Gesicht gehabt, das er nur allzu gut kannte … Niwa, die Tochter seines Nachbarn, die in der Nacht von Salas Fest verschwunden war … die Kleine, wegen der sie diesen Gewaltmarsch auf sich genommen hatten. Alles vergeblich! Sie waren zu spät gekommen. Und er würde die nächste Beute des Schjacks werden.

Braam gelang es, nach Hilfe zu schreien, als das riesige, nach Aas stinkende Vieh zum Sprung ansetzte. Es war vorbei!

Ohne dass er hätte sagen können, woher, tauchte vor seinem Gesichtsfeld ein Paar Beine auf und stellte sich schützend vor ihn. Braam nahm sie wie durch einen Nebel wahr, doch er wusste trotzdem, zu wem sie gehörten – Elven! Braam wich auf dem Hintern sitzend zurück, um Abstand zwischen sich und den Schjack zu bringen, der nun vor Elven kauerte und ihn anknurrte. Woher war Elven so schnell gekommen … war er ihm gefolgt?

»Du hättest bei den anderen bleiben sollen«, stellte Elven ruhig und bestimmend klar. Angst schien er nicht zu kennen. Dann zog er so schnell seinen Bogen von der Schulter, dass Braams Augen es nicht mitbekamen. Sein Mund klappte auf – ein Pfeil nach dem anderen traf den Schjack, ehe der wusste, wie ihm geschah.

Braam versuchte zu begreifen, was er sah … Das war doch unmöglich! Es dauerte kaum einen Wimpernschlag lang, und der Schjack brach tot zusammen. Aus seinem Körper ragten etwa zwanzig von Elvens Pfeilen.

»Wie hast du das gemacht?«, krächzte Braam ungläubig.

Elven zog ihn mit unerwarteter Leichtigkeit auf die Beine. Seine Kiefer zeigten eine Spur von Anspannung – das erste Zeichen einer Gefühlsregung, das Braam an ihm zu erkennen meinte.

»Ich sagte dir doch, dass ich Fähigkeiten besitze, um die Priester mich beneiden würden.«

Braam nickte dümmlich. Er spürte den festen Griff an seinem Unterarm und fragte sich, ob Elven allein mit dem Druck seiner Finger Knochen brechen konnte. Elvens Blick ließ keinen Zweifel daran, dass seine Geduld am Ende angelangt war. »Wirst du versuchen, mich zu bekämpfen, oder wirst du in meine Dienste treten?«

Braam schluckte. Elven war der geborene Anführer. Wie hatte er sich derart täuschen können? Sein Widerstand brach wie morsches Holz. Elven hatte ihm soeben das Leben gerettet. »Ich werde dir dienen«, war das Einzige, was er herausbrachte.

Elven zeigte ein schmales Lächeln. »Dein Leben wird sich bald zum Guten wenden. Ich verspreche es dir.«

 

Vay hatte ihren Kopf an Lins Schulter gelegt und starrte ängstlich zu Tojar, der neben Ilana auf dem Thronsessel am Ende der großen Halle saß. Der König wirkte verloren inmitten seiner Berater, und die Lehnen aus Bellockholz schienen viel zu groß für ihn. Lin war entsetzt. Ihr Vater schien geschrumpft zu sein in den letzten Stunden. Oder war es nur ihre eigene Angst, die sie dies glauben machen wollte? Sie beobachtete ihre Eltern aus den Augenwinkeln. Sie flüsterten miteinander, und je leiser das Königspaar sprach, desto unruhiger wurde Vay.

Die große Tafel in der Saalmitte, auf der Diener Brote und Früchte sowie Wein und Gebäck aufgetragen hatten, stand noch immer so unberührt da wie am Vorabend. Niemand hatte Hunger, alle warteten gespannt auf die Rückkehr des Suchtrupps. Geschlafen hatten sie dort, wo sie sich gestern niedergelassen hatten, eingehüllt in ihre Umhänge oder in Decken. Niemand wollte allein sein, man suchte Trost und Sicherheit in der Gemeinschaft.

Lin schob Vay sanft von sich. Ihre Dienerin war seit den jüngsten Vorfällen wie ein ängstliches Hündchen. »Du solltest dir eine Decke nehmen und schlafen«, versuchte Lin sie zu überzeugen und erntete ein trotziges Kopfschütteln. »Ich habe zu große Angst. Glaubst du, dass der dunkle Gott nach Engil zurückkehrt?« Vays Augen wurden groß, und sie wagte nur noch zu flüstern. »Ich meine, so wie es zu den Zeiten war, als deine Mutter jung war? Die vielen Mädchen, die geopfert wurden, das viele Blut …«

»Vay!«, versuchte Lin sie zu beruhigen, denn einige ängstliche Augenpaare, die den Gefährtinnen von Tojars Beratern gehörten, sahen bereits zu ihnen herüber. »Hör auf, so zu reden und allen Angst zu machen. Es ist überhaupt nichts sicher … überhaupt nichts, verstehst du? Vielleicht war es nur ein wildes Tier, das sich nach Engil verirrt hat und durch die Feuer in Panik geraten ist … und das arme Mädchen kreuzte zufällig seinen Weg.«

Vay schüttelte störrisch den Kopf. »Dann hat ein Tier dem Falbrind die Kehle mit einem Messer durchtrennt und in das Getreidesilo geworfen?« Vay war nie besonders respektvoll gewesen, und der Blick, den sie ihr zuwarf, zeigte Lin, dass sie es ihr übelnahm, von ihr belogen zu werden.

Lin stand langsam auf. Ihre Glieder waren steif vom langen Sitzen. Ohne Vay noch einmal anzusehen, ging sie hinüber zu Tojar und Ilana. Sie achtete nicht auf die fragenden Blicke, die ihr von allen Seiten zugeworfen wurden. Sie war die Hohepriesterin Salas, und sie hatte keine Antworten für sie … Glücklose Lin … Lin mit den dunklen Visionen …, flüsterten Stimmen in ihrem Kopf, die eigentlich nicht hätten da sein dürfen. Sie verbarg ihr Gesicht schuldbewusst zwischen dem Vorhang ihrer schwarzen Locken.

Ilana lächelte ihr aufmunternd zu. Sie trug ein goldig schimmerndes Gewand und saß auf dem kleineren Thronsessel neben ihrem Gefährten Tojar. Ihre Mutter wirkte müde, doch der Anblick ihres Vaters bereitete Lin größere Sorge. Auch Tojar war müde, aber es war keine Müdigkeit, der eine Nacht ausgiebigen Schlafes vorgebeugt hätte. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Ihr Vater war alt – zu alt für einen Krieg gegen den dunklen Gott und seine Kreaturen. Ohne Zögern streckte er ihr eine Hand entgegen. Sie fühlte sich trocken an und war übersät mit blauen Adern. »Es wird alles gut«, flüsterte er, doch in seinen Augen spiegelte sich die gleiche Hoffnungslosigkeit wie in den Augen aller.

Lin ließ sich von einem der Diener einen Stuhl bringen und setzte sich zu ihren Eltern. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen, wenn Muruk zurückkehrt«, gestand sie ihnen leise.

Ilana bemühte sich um einen zuversichtlichen Klang in der Stimme. »Bestimmt kehrt Elven mit guten Nachrichten zurück … und mit dem verschwundenen Mädchen.«

Das glauben sie ebenso wenig wie du, flüsterte Lins Verstand gehässig.

Plötzlich trat in die müden Augen ihres Vaters ein hoffnungsvolles Funkeln. »Du solltest ins Feuer schauen, Lin. Jevana sagt, dass du kurz vor Salas Fest dein erstes Gesicht hattest. Vielleicht wird Sala dir eine Antwort gewähren … jetzt, nachdem sie dich anerkannt hat.«

Meide das Feuer, ruf es nicht herbei …, erklangen die mahnenden Worte in ihrem Kopf. Warum hatte Jevana nicht einfach den Mund halten können? »Ich weiß nicht, ob Sala noch einmal zu mir sprechen wird. Außerdem war das, was sie mir sandte, unverständlich.«

Ilana pflichtete Tojar jedoch bei. »Bis du ein beständiges Band zu Sala geknüpft hast, können die Visionen der Göttin verwirrend sein. Aber du solltest es trotzdem versuchen.«

Lin nickte steif. Plötzlich fühlte sie sich in Gegenwart ihrer Eltern nicht mehr wohl. Sie hatte sie angelogen … Alles war viel schlimmer, als sie ahnten. »Natürlich werde ich ins Feuer schauen, wenn ihr das wünscht.« Sie stand auf und fühlte sich wie eine Verräterin, als sie, gefolgt von über zwanzig Augenpaaren, den Thronsaal verließ. Es graute ihr davor, in Salas Tempel zu gehen und ins Feuer zu schauen … es graute ihr vor dem, was sie darin sehen würde.

 

Der Wald war undurchdringlich und dunkel. Zwischen den dicht an dicht gedrängten Bäumen lag der Geruch von Staub und vertrocknetem Moder. Lins Füße versanken im raschelnden Laub, während sie versuchte herauszufinden, wo sie war. Das letzte Mal hatte das Feuer sie in ein Inferno aus Flammen und Hitze geführt. Diese Vision war deutlich angenehmer, wenn auch nicht weniger unheimlich. Lin blieb stehen und lauschte. War dort etwas gewesen … ein Geräusch? Sie durfte sich nicht von ihrer Angst beherrschen lassen!

Sie erinnerte sich daran, wie sie vor einigen Jahresumläufen auf der Suche nach Degan in den Isnalwald gelaufen war. Auch damals hatte sie Angst gehabt. Bei der Erinnerung daran schlang sie die Arme fest um den Körper und stolperte vorwärts. Sie war in einem Wald … ein Wald war besser als eine Feuerwüste. Sala sei Dank konnte sie zumindest eine Armlänge weit sehen.

»Sala …«, rief sie laut, in der vagen Hoffnung, die Göttin hätte sie dieses Mal hierher geführt.

Ein Scharren vor sich ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Was war das gewesen? Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit. … das hier ist nicht Salas Reich … es ist zu dunkel dafür … Sala ist eine Lichtgöttin … Lins Herz begann gegen ihre Rippen zu hämmern, Furcht schnürte ihr von einem Augenblick auf den anderen die Luft ab. Ängstlich versteckte sie sich hinter einem Baumstamm und versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Was wäre, wenn die Kreatur aus der Feuerwüste hier war? Dieses Wesen, das sie verfolgte, weil es glaubte, sie würde ihm irgendetwas schulden.

Lin spürte, wie ein Ruck durch ihre Glieder ging. Sie trat hinter dem Baum hervor. »Nicht noch einmal!«, sagte sie streng zu sich selbst, wandte sich um und lief den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie war sich nicht sicher, was sie da tat. Doch der Vision würde sie erst entkommen, wenn sie den Feuerkreis fand, der sie zurückbrachte.

Hinter sich hörte sie wie aus dem Nichts dumpfe Schritte. Du wirst dich nicht umdrehen und dieser Vision damit Macht verleihen!, ermahnte sie sich selbst. Sie wusste ohnehin, was es war. Die Kreatur! Sie folgte ihr. Lin spürte, wie eisige Kälte in ihre Brust kroch. Dann fühlte sie den heißen Atem des Wesens in ihrem Nacken. Mit zitternden Knien ging sie weiter. Die Kreatur war so nah, dass sie Lin hätte berühren können, niederreißen oder zerfleischen. Sala, bitte, lass es verschwinden … Ihre Beine schlotterten vor Angst, und die Dunkelheit begann sie wie ein Strudel zu umwirbeln.

»Sieh mich an!«, grollte das Wesen hinter ihr.

Lin hätte sich am liebsten auf den Boden geworfen, den Kopf in den Armen verborgen und sich einer langen Ohnmacht überlassen, doch sie zwang sich weiterzugehen.

»Sieh mich an!«, grollte die Kreatur noch eindringlicher mit einer Stimme, die sich anhörte wie das Knurren eines Raubtiers. »Ich bin hier … ich werde immer nach dir suchen, wo du dich auch versteckst … wegzulaufen nutzt dir nichts …«

»Nein!«, entfuhr es Lin zornig. »Nein!«, rief sie noch einmal bestimmt, und das Wesen hinter ihr begann zu knurren. Etwas streifte sie im Nacken, ein Fingernagel … eine Kralle, die ihre Haut ritzte, dann gab der Boden unter ihr nach, und sie fiel durch einen riesigen Feuerkranz in ein gähnendes schwarzes Loch …

 

Jevana stützte sie, so gut es ging. Lin fühlte sich schwindlig und hatte furchtbaren Durst. Eines der Mädchen brachte ihr einen Becher mit Wasser, den sie gierig austrank. Lin bedankte sich und schickte die Priesterinnen fort. Nur Jevana blieb bei ihr. Zuerst schwiegen sie eine Weile, und Jevana ließ ihr Zeit, sich zu sammeln. Gemeinsam ließen sie sich neben dem Opferfeuer nieder, gutmütig beäugt von Salas steinerner Statue. Lin warf Blüten in die Flammen, um der Göttin für die gewährte Vision zu danken. Ihre Hände zitterten, während die Blätter im Feuer ihren Duft verströmten. Es war eine Lüge! Die Visionen lagen wie eine schwere Last auf ihr. Lin atmete tief durch. »Ich kann nicht mehr schweigen … wenigstens dir muss ich es sagen.«

Die zweite Priesterin blickte vom Feuer auf und sah sie fragend an. Ohne auf Jevanas Entgegnung zu warten, offenbarte Lin ihr beide Visionen, die erste in der Feuerwüste und die zweite, der sie soeben entkommen war. Jevana hörte ihr zu und unterbrach sie nicht, doch ihr Gesichtsausdruck wechselte zwischen Entsetzen und Besorgnis.

»Es ist nicht Sala, die zu mir spricht«, sprach Lin schließlich ihre schrecklichste Befürchtung aus. »Es ist etwas Bedrohliches und Böses, das mich verfolgt und nach mir sucht; es ist allein meinetwegen nach Engil gekommen.«

Jevana klopfte die Blütenreste von ihren Händen und stand langsam auf. Sie wirkte verstört und unsicher. Eine Weile sagte keine von ihnen etwas, dann flüsterte die zweite Priesterin: »Glaubst du, dass es der dunkle Gott ist, der dir die Visionen schickt … der nach dir sucht?«

Lin erhob sich ebenfalls und starrte in die Flammen. Das Feuer schien ihr auf einmal bedrohlich. Sie hätte es gerne gelöscht, doch das durfte sie nicht. Salas Feuer musste immer brennen – ebenso, wie Salas Licht für immer auf Engil scheinen musste. »Ich weiß es nicht … aber alles deutet darauf hin, dass der dunkle Gott zurückkehrt.«

»Aber was will er von dir?« Jevanas Stimme klang verzweifelt. Sie sah sich im Tempel um, als wäre er kein friedlicher Ort mehr.

Lin spürte, dass sich eine Wand aus Angst zwischen ihre Freundschaft zu schieben begann, und bereute, sich Jevana anvertraut zu haben. »Ich weiß nicht, was er von mir will.«

Jevana packte sie am Arm und wollte sie hinter sich her aus dem Tempel zerren. In ihren Augen stand die nackte Angst. »Du musst es Tojar und Ilana sagen. Die Menschen von Engil müssen gewarnt werden, dass Muruk zurückkehrt.«

Lin schüttelte entschlossen den Kopf. »Das kann ich nicht! Doch nicht jetzt, wo ohnehin alle Angst haben.« Sie nahm Jevanas Hand und sah sie flehend an. »Lass uns warten, bis Elven und die anderen zurückkehren.«

Jevana schüttelte heftig den Kopf »Sie sind längst zurückgekehrt … während du deine Vision hattest.«

Lin spürte das Blut laut in ihren Ohren rauschen. Sie ahnte, dass sie nicht hören wollte, was Jevana ihr sagen würde.

Die zweite Priesterin sprach mit zitternder Stimme. »Das Mädchen ist tot, von einem Schjack zerrissen … sie haben den Schjack gesehen. Er hätte beinahe auch Braam zerfleischt. Elven kam ihm im letzten Augenblick zu Hilfe.«

Einen kurzen Augenblick maßen sie ihre Blicke miteinander, dann nickte Lin resigniert. Die Zeichen waren eindeutig – der Blutgott kehrte zurück, wenn die Schjacks das Sumpfland verließen. O Sala, dieses Mal sind sie sogar bis nach Engil gekommen! »Ich werde mit Tojar und Ilana sprechen … aber lass mir wenigstens Zeit bis zum Abend. Ich habe mich heute nicht der zweiten Priesterin anvertraut, sondern meiner Freundin.«

Jevana sah sie vorwurfsvoll an, da Lin ihre Freundschaft ausnutzte, um sich Zeit zu verschaffen. Lin wusste, sie brachte die zweite Priesterin in einen schweren Konflikt mit ihrem Amt. Doch schließlich gab Jevana nach.»Also gut … bis heute Abend!«

Lin nickte und fragte sich, ob es wirklich ein guter Gedanke gewesen war, sich Jevana anzuvertrauen. Doch sie brauchte Zeit, um zu überlegen, was sie tun sollte. Was würden die Engilianer denken, wenn sie erfuhren, dass der dunkle Gott die Tochter des Königspaars heimsuchte? Es wäre so einfach, eine einzige Frau für ein gesamtes Volk zu opfern! Sie verbarg das Zittern ihrer Hände, als sie den Tempel verließ.

Als sie hinaus auf den Tempelplatz trat, wurde Lin augenblicklich von einer Menschenmenge umringt. Die Engilianer hatten Stunden vor dem Tempel gewartet, um zu hören, was die Hohepriesterin der Göttin zu sagen hatte. Lin hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre zurück in den Tempel gelaufen. Stattdessen suchte sie nach einer Lücke zwischen den Menschen, durch die sie schlüpfen konnte. Doch die Engilianer bedrängten sie von allen Seiten. »Tochter von Engil … was hast du im Feuer gesehen? Hat Sala zu dir gesprochen? Was will die Göttin von uns? Was sollen wir tun?«

Die Stimmen klangen aufgebracht und waren erfüllt von hilfloser Angst. Hände rissen an ihrem Gewand, so dass Lin versucht war, die Menschen anzuschreien. Doch stattdessen blieb sie ruhig. »Ich muss zuerst die Heimkehrer begrüßen und mit ihnen sprechen.« Sie entwand sich den fordernden Händen, zwängte sich an ihnen vorbei und lief, so schnell sie konnte, den Palasthügel hinauf. Während sie lief, kam ihr ein Gedanke. Es gab vielleicht etwas, was nicht nur Engil vor dem dunklen Gott beschützen konnte, sondern auch sie selbst.

Im Palast eilten die Diener bereits mit Schüsseln und Krügen zwischen dem Thronsaal und den Vorratsräumen hin und her. Wie es die gute Sitte verlangte, wurden die Heimkehrer zuerst bewirtet, bevor man zu wichtigen Gesprächen überging.

Zwei Diener öffneten Lin die Tür zum Thronsaal.

Alle Köpfe wandten sich ihr zu; die Gespräche verstummten, sobald sie die Halle betrat. Lin fühlte die Anspannung erneut wie einen schweren Stein in ihrem Magen. Anscheinend hatte man auch hier schon ungeduldig ihre Rückkehr erwartet. Mittlerweile war die große Tafel nicht mehr unberührt; sowohl ihre Eltern als auch ihr Gefolge und die jungen Männer, die Elven begleitet hatten, schlugen sich die Bäuche mit Fleisch, Früchten und frisch gebackenem Brot voll.

Elven saß nicht zufällig an Tojars linker Seite – dem Ehrenplatz, den ihr Vater besonderen Günstlingen vorbehielt. Ilana winkte Lin zu sich. Langsam und gemessen, damit niemand ihre Unsicherheit bemerkte, ging sie auf den Tisch zu.

Elvens kleiner Trupp am anderen Ende der Tafel sah mitgenommen aus, dreckig und müde. Die Hemden und Beinkleider der Männer hatten Risse, während Elven selbst überhaupt keine Anzeichen von Erschöpfung erkennen ließ. Hatte er sich als Einziger umgezogen, bevor er den Thronsaal betreten hatte, und ihre Eltern warten lassen? Aber auch seine Hände und sein Gesicht wiesen keine einzige Schramme auf – im Gegensatz zu denen, die ihn begleitet hatten. Lin versuchte, nicht allzu beeindruckt zu starren. Ganz offensichtlich war Elven der Held, den Engil in diesen schweren Tagen brauchte.

Braam war ans Ende der Tafel verbannt worden. Lin konnte sehen, dass er sie keinen Augenblick aus den Augen ließ, während er in einer Hand einen Brotfladen, in der anderen ein Stück Fleisch hielt. Irgendetwas war seltsam an ihm – er wirkte selbstbewusster und nicht so verbittert wie sonst. Seine Blicke empfand sie fast schon als unverschämt.

Lin setzte sich Elven gegenüber an die Seite ihrer Mutter und spürte seinen Blick auf sich ruhen. Sein offensichtliches Interesse an ihr verbarg er auch in Gegenwart ihrer Eltern nicht, und ihre Eltern schienen ihm dies nicht übelzunehmen. Lin gab sich einem kurzen Tagtraum hin – sie stellte sich vor, dass es Degan war, der ihr gegenüber saß, und dass es seine Blicke waren, die auf ihr ruhten.

Da erst einmal nichts Interessantes gesprochen wurde, fuhren die Gäste mit dem Essen fort und beachteten sie nicht weiter. Lin war froh darüber. Auch Elven widmete sich seiner Speiseplatte. Lin beobachtete ihn und fand es angenehm, dass er nicht schlang wie die anderen, sondern langsam aß. Musste er nicht ebenso ausgehungert sein wie seine Gefährten? Elven schien in keiner Lebenslage die Beherrschung zu verlieren.

»Ich hörte, ihr habt Niwa gefunden«, sprach sie ihn an.

»Leider sind unsere schlimmsten Befürchtungen wahr geworden«, antwortete Tojar leise und kam Elven damit zuvor. »Der arme Vater des Mädchens ist weinend zusammengebrochen, als er erfuhr, dass ein Schjack seine Tochter verschleppt und zerrissen hat. Wir konnten ihm ihren Körper nicht zurückbringen, damit er durch Salas Feuer in ihr Reich eingeht … es war ja kaum mehr als ein Arm von ihr übrig.« Tojar fuhr sich mit der Hand über die Augen, ein Zeichen seiner geistigen Erschöpfung. »Doch wir sind Elven sehr dankbar, dass er nach der Kleinen gesucht hat.« Er bedachte Elven mit einem so warmen Blick, wie ein Vater seinen Sohn ansieht. Unwillkürlich musste Lin wieder an Degan denken … und daran, wie Tojar ihm Vorhaltungen gemacht hatte. Vielleicht wäre Degan geblieben, wenn Tojar ihn so angesehen hätte, wie er in diesem Augenblick Elven ansieht … wie ein Vater seinen Sohn …

»Hattest du eine Vision?«, wollte Ilana wissen, und Lin verschluckte sich beinahe an einer Scheibe dampfendem Nussbrot.

Die ganze Zeit schon, seit sie Salas Tempel verlassen und sich von Jevana Aufschub erbeten hatte, spielte sie mit einem Gedanken. Das erste Mal sah sie Elven offen in die Augen und wich seinen Blicken nicht aus. Sie hoffte, dass sie das Richtige tat. »Ich habe einen Ratschlag der Göttin erhalten … oder vielmehr eine Weisung.«

Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter sahen sie überrascht an.

Lin atmete tief durch und sprach dann mit deutlicher und überzeugter Stimme: »Sala will, dass ich mich Elven als Gefährtin verbinde.«