Karim sitzt auf einem Küchenstuhl. Alba hockt vor ihm und wickelt einen Verband mit heilkräftigen Blättern um seinen Knöchel, während Erin ihr mit einem Kerzenhalter, in dem zwei Kerzen brennen, Licht spendet.
Lenne sitzt ihm gegenüber am Tisch und trinkt in kleinen Schlucken von dem warmen Getränk, von dem sie früher in der Nacht auch schon getrunken haben. Karim folgt ihrem Beispiel und trinkt einen Schluck aus seinem eigenen Becher. Er weiß nicht, ob es der Trank ist oder die Heilkraft in den Blättern, aber der Schmerz in seinem Knöchel vergeht wie ein Feuer, das gelöscht wird.
»Aber sie ist nicht tot?«, fragt er wiederholt.
Alba schüttelt den Kopf.
»Aber wo ist sie dann?«
»Im Dunkeln, wo sie hingehört.« Albas Stimme klingt bissig.
Im Dunkeln. Darunter kann sich Karim nichts vorstellen. Oder vielleicht doch? Er erinnert sich auf einmal an das dunkle Nichts, in dem er zu verschwinden schien, als Vita ihn im Griff hatte, das Stückchen Zeit, das er verloren hat, und wie er daraus wieder zu Bewusstsein kam wie aus einer Betäubung. »Aber wie lange dauert die Beschwörung denn an?«
»Bis wir sie wieder aufheben«, antwortet Erin.
»Und werdet ihr das jemals machen?«
Erin lächelt. »Vielleicht.«
»Aber nicht, bevor wir hier ein Machtfeld geschaffen haben, dem Vita nicht gewachsen ist«, sagt Alba scharf. Ihre Augen richten sich kurz auf Lenne, bevor sie sich wieder über Karims Knöchel beugt. »Kommt«, sagt sie, als sie fertig ist, »Trinkt eure Becher aus, dann kann ich euch nach Hause bringen.«
Lenne seufzt. »Ach, nein.«
»Aber ja, du musst noch ein paar Stündchen schlafen«, sagt Erin und gibt ihr einen Klaps auf die Schulter.
»Schlafen!«, ruft Lenne entrüstet. »Als ob ich jetzt schlafen könnte!«
Auch Karim kann sich nicht vorstellen, jetzt so einfach nach Hause zu gehen, um die letzten paar Stunden der Nacht in seinem Bett zu verbringen.
»Vergiss nicht, den wieder abzunehmen, wenn du zu Hause bist«, sagt Alba und tippt Karim auf den verbundenen Knöchel. »Morgen früh, aber auf jeden Fall, bevor deine Eltern darüber Fragen stellen. Es wirkt schnell, und nach ein paar Stunden ist alles geheilt.« Sie steht auf und wartet – ein bisschen ungeduldig, so scheint es, bis Karim und Lenne ihre Becher geleert haben. Karim glaubt, ihre Ungeduld schon verstehen zu können. Alba will sie beide sicher und wohlbehalten in ihren Betten haben, bevor vielleicht die Eltern wach werden, die mal einen Blick in die Zimmer ihrer Kinder werfen könnten, um dann zu entdecken, dass diese verschwunden sind.
Brav stehen Lenne und Karim von ihren Stühlen auf und gehen hinter Alba in das Zimmer, in dem sie vorher schon waren, das Zimmer mit dem Kreis auf dem Boden.
Mitten in dem Hexenkreis liegt das Mädchen, das sich Rune nennt, und schläft tief und fest. »Wird sie sich wirklich an nichts erinnern?«, fragt Lenne.
»An nichts«, antwortet Alba. »Das Letzte, was sie weiß, ist, dass sie am Wasser entlang auf dem Heimweg war.«
»Ist Vita aus dem Wasser gekommen?«, will Lenne wissen. »Ist sie aus dem Wasser gekommen, um Rune mitzunehmen? Das hat sie bei mir auch versucht.«
»Hm.« Alba nickt. »Aber davon weiß das arme Kind nun zum Glück nichts mehr.«
»Sie heißt doch jetzt bestimmt wieder Rinnie?«, fragt Karim. »Oder behält sie ihren Hexennamen?«
»Nein, das glaube ich nicht.« Nachdenklich mustert Alba das Mädchen auf dem Boden ein paar Sekunden. »Ich glaube nicht, dass sie eine gute Hexe werden würde. Sie ist viel zu folgsam, zu wenig eigenwillig. Was das betrifft, hat Vita jemanden ausgewählt, der gut in ihre eigenen Pläne gepasst hat.«
»Und was ist dann mit mir?« Lenne sieht ein bisschen verletzt aus. »Sie hat mich doch auch im Auge gehabt?«
»Das war ein Fehler.« Erin grinst, geht zu Karim und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. »Auf Wiedersehen, Karim. Wir treffen uns bestimmt wieder. Danke für deine Hilfe.« Dann legt sie eine Hand auf Lennes Schulter. »Bis bald.«
Karim will noch etwas sagen, und auch Lenne macht den Mund auf, doch in diesem Augenblick schlägt Alba ihren Mantel um sie beide, und alle Worte gehen verloren in der kurzen Sekunde Dunkelheit, die sie unter das Fenster von Lennes Zimmer bringt.
Karim und Lenne waren ganz sicher gewesen, dass sie den Rest der Nacht kein Auge zumachen würden. Aber vielleicht war doch etwas in dem Trank, den die Hexen ihnen kurz vor ihrem Aufbruch gegeben hatten? Karim kommt es fast so vor, denn sein Kopf hat das Kissen noch kaum berührt, da schläft er schon.
Es ist bereits nach neun Uhr, als sie endlich wieder wach werden.
»Ach du je, ich schlaf sonst nicht so lange!«, schreckt Lenne auf, als sie auf ihren Wecker sieht.
»Was macht das schon«, findet Karim, »es ist Samstag.«
Von unten steigt der Duft von Kaffee zu ihnen hoch. »Marit und Noud sitzen schon beim Frühstück«, folgert Lenne. Sie springt aus dem Bett. »Vergiss deine Blätter nicht.« Sie zeigt auf Karims Knöchel.
Während Lenne schnell duscht, wickelt Karim die seltsame Verpackung von seinem Bein. Dann dreht er seinen Fuß ein paarmal – er spürt nichts mehr, der Schmerz ist völlig verschwunden. Vorsichtig steht er auf, geht ein paar Schritte hin und her. »Ein tolles Mittel«, sagt er kurz darauf zu Lenne. »So was musst du auch bald lernen, das ist immer nützlich.«
Als sie in die Küche kommen, sitzt Marit mit der Zeitung und einer Tasse Kaffee am Tisch. »Noud holt leckere frische Brötchen beim Bäcker«, sagt sie. »Wollt ihr schon mal einen Becher warme Schokolade?«
Karim und Lenne setzen sich an den Frühstückstisch, und Lenne schüttet sich ein Häufchen Schokoladenstreusel in die Hand. »Ist er schon lange weg? Ich sterbe vor Hunger.«
»Er müsste bald zurück sein.« Marit wirft einen Blick aus dem Fenster. »Ach, da kommt er schon.«
»Hat er auch Croissants gekauft?«, fragt Lenne gierig. »Was hast du denn alles?«, bestürmt sie ihn ungeduldig, sobald Noud einen Fuß über die Schwelle gesetzt hat.
Noud kippt den Inhalt von drei Tüten in den Brotkorb. »Vier Croissants, zwei Körnerbrötchen, zwei normale Brötchen und vier süße Brötchen. Ist das genehm, gnädige Frau?«
Da meldet sich die Mikrowelle, die Milch ist warm.
Plötzlich seufzt Karim tief auf. Der Duft der frischen Brötchen, Marits Rumoren in der Küche, das Glas mit eingemachter Erdbeermarmelade, auf die er immer so wild ist und die so verführerisch dicht an seinem Teller steht – er fühlt sich auf einmal schrecklich zufrieden. Es ist, als wäre ihm eine Last von den Schultern gefallen. Keine bedrohliche Hexe mehr, vor der er sich fürchten muss. Nie mehr diese Angst. Und in Zukunft wieder normal über die Heide gehen können.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich gerade im Dorf gehört habe«, sagt Noud. »Ich habe zwei Polizeiautos bei dem Mädchen vor der Tür stehen sehen, die … äh … wie heißt sie doch, Rinnie? Ja, die aus eurer Klasse. Also, ich hab beim Bäcker gefragt, ob jemand weiß, was da los ist. Und was glaubt ihr? Sie ist zurück!«
Lenne und Karim wechseln einen schnellen Blick. Lenne schafft es, überrascht zu tun. »Echt wahr?«
»Boah!«, sagt Karim. Er räuspert sich. »So auf einmal?«
»Ihre Eltern haben sie heute Morgen auf dem Gartenweg entdeckt, wie findet ihr das? Da lag sie und hat geschlafen. Geschlafen, wohlgemerkt, nach all dem, was ihr zugestoßen sein muss!«
»Wissen sie auch, was da passiert ist?«, will Lenne wissen. »Hat sie schon was erzählt?«
»Also, das weiß ich nicht. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, hatten noch nichts gehört außer dem, was ich schon gesagt habe, also dass sie im Garten lag, einfach so vor der Hintertür.«
»Vielleicht war sie wirklich einfach nur von zu Hause weggelaufen«, sagt Lenne, »und nun ist sie zurückgekommen. Vielleicht ist sie gar nicht entführt worden oder so.«
»Dass du mir das bloß nie antust, Lenne!«, ruft Marit, während sie den Becher mit Schokolade mit einem Bums vor Lenne abstellt.
»Was?«, fragt Lenne und blickt unschuldig zu ihrer Mutter hoch.
»Weglaufen oder so was. Mein Gott, ich würde vor Kummer sterben.«
»Ich mache doch nicht so was Verrücktes«, antwortet Lenne und lacht Marit allerliebst an.
Karim nimmt schnell einen großen Bissen von seinem Croissant und verbirgt sein Grinsen hinter einem gierigen Schmatzen.
»Iss nicht so schweinisch«, sagt Lenne sofort.
»Ich pass gut auf sie auf«, sagt Karim zu Marit, »dann hat sie keine Chance abzuhauen.«
»Puh«, macht Lenne. Sie blickt Karim an. Das ist sein Ernst. Aber zum Glück hat sie nicht vor abzuhauen, vorläufig jedenfalls nicht.