Karim steht bei Lenne zu Hause vor dem kleinen Bild, das an der Wand hängt, das Bild, das Lennes Mutter gemalt hat. Er betrachtet es noch einmal ganz genau. War da etwas Besonderes mit dieser Wassermühle, ist da vielleicht früher etwas passiert? Da muss ich auch noch mal Herrn Paul fragen, ob er raussuchen kann, was die Wassermühle für eine Geschichte hat. Oder war es einfach nur Zufall, dass die Frau ihnen dort erschienen ist?
Lennes Mutter kommt in die Küche und sieht, dass Karim ihr Werk bewundert. Sie gibt ihm einen herzlichen Klaps auf die Schulter und sagt begeistert: »Ich habe einen Auftrag. Wie findest du das?«
Karim denkt bei einem Auftrag immer an etwas Langweiliges, aber Marit sieht ganz entzückt aus.
»Ein Porträt«, sagt sie ausgelassen.
»Oh, was zu malen«, begreift Karim. »Von wem?«
»Kennst du die alte Dame, die in dem großen stattlichen Haus an der Straße nach Kraaienvelt wohnt? Frau van Have-Evinck. Othilde van Have-Evinck, eine schrecklich vornehme Person.«
»Oh ja, das. Ich hab gar nicht gewusst, dass da noch jemand drin wohnt.«
»Hin und wieder. Ja, im Moment sieht es da ein bisschen verwahrlost aus. Seit ihr Mann vor ungefähr zwanzig Jahren gestorben ist, ist nichts mehr dran getan worden. Na ja, die gute Frau ist, glaube ich, jetzt über achtzig. Da kann man es ihr nicht übel nehmen, dass sie nicht mehr auf die Leiter steigt, um die Dachrinne zu reparieren. Und vielleicht ist auch nicht mehr genügend Geld da, um es machen zu lassen, oder sie ist dafür zu sparsam. Kinder scheint sie auch nicht zu haben. Keine Ahnung, was mit dem Haus passiert, wenn sie den Löffel abgibt, wahrscheinlich wird es dann ein Denkmal – oder es kommt ein Hotel rein, oder irgend so ein reicher Typ kauft es.«
»Und diese Frau sollst du malen?«
»Ja, schön, nicht? Sie hat alle ihre Vorfahren in Ölfarbe an der Wand hängen, und sie hat beschlossen, dass sie selbst als letzter Nachkömmling auch dazugehört. Um die Geschichte abzuschließen, würde ich mal sagen. Nach ihr kommt nichts mehr. Eigentlich richtig schade.« Marit geht zur Anrichte und trinkt schnell noch einen Schluck Kaffee. »Aber ich muss mich jetzt beeilen, denn bei so einer Dame darf man nicht unpünktlich sein.«
»Können wir mitkommen?«, fragt Lenne, die am Küchentisch sitzt und in einer Zeitschrift blättert.
»Nein.«
»Warum nicht? Wir langweilen uns! Du hast uns verboten, an den Computer zu gehen, und was sollen wir dann den ganzen Samstag machen?«
»Geht mal draußen spielen, es ist schönes Wetter.«
»Pfff«, macht Lenne.
»Lenne, das geht doch nicht, dass ich bei einer so vornehmen Dame mit einem ganzen Haufen Kinder im Schlepptau ankomme.«
»Ein ganzer Haufen? Karim und ich?«
Doch Marit schüttelt den Kopf. »Abgesehen davon würdet ihr euch dort zu Tode langweilen. Die Frau sitzt da still auf einem Stuhl, und ich stehe hinter meiner Staffelei und male. Und bei solchen Leuten könnt ihr wirklich nicht so einfach durchs Haus rennen.«
»Ja, aber …«
»Ende der Diskussion.«
Lenne streckt hinter dem Rücken ihrer Mutter die Zunge raus. Karim setzt sich zu ihr. »Bei solchen Leuten bringt das doch nichts. Lass uns nach draußen gehen. Vielleicht treffen wir noch ein paar von den anderen.«
Lenne schiebt die Zeitschrift weg. »Vielleicht können wir ja bei dir an den Computer?«
»Nein, ich hab heute Morgen auch nicht gedurft.«
»Vielleicht geht es ja bei Malika.«
Aber als Malika die Haustür aufmacht, hat sie eine Jacke an und einen dicken Schal umgewickelt. »Ich muss jetzt mit dem Hund gehen.«
Eine große Dänische Dogge erscheint neben ihr in der Türöffnung. Karim muss sofort wieder an den kleinen schwarzen Hund von gestern Abend denken, und unwillkürlich überläuft ihn ein Schauder.
»Hast du Angst vor Hunden?«, fragt Malika und fasst den Hund am Halsband.
»Nein«, sagt Karim schnell. »Nein, überhaupt nicht.« Er hat Malikas Hund schon oft gesehen. Es ist ein sehr freundliches Tier, auch wenn es so groß ist wie ein Pferd.
»Können wir mitkommen?«, fragt Lenne.
Malika kommt nach draußen und zieht die Haustür hinter sich zu. »Ich gehe hintenrum«, meint sie und läuft am Haus vorbei in den Garten. »Ich gehe mit ihm immer hinten auf der Heide spazieren, durch das Dorf finde ich langweilig. Ich kann ihn zwar im Park mal laufen lassen, aber dann musst du die Häufchen mit einem Schäufelchen einsammeln!« Sie verzieht das Gesicht. »Auf der Heide kann er kacken, wo er will.«
»Darfst du denn auf der Heide spazieren gehen?«, fragt Karim. Das erstaunt ihn, denn er hat gedacht, dass nach dem vergangenen Sommer kein einziges Kind mehr über die letzten Häuser des Dorfs hinausgehen durfte.
Doch Malika zeigt auf ihren Hund und lacht. »Wenn ich so ein Kalb bei mir habe? Ich hab da auch schon drüber nachgedacht. Er sieht mächtig freundlich aus, und das ist er auch … bis jemand seine Krallen nach mir ausstreckt! Das würde ich dir nicht raten, Karim. Versuch’s doch mal, tu mal so, als würdest du mich angreifen wollen.«
»Nein, vielen Dank«, sagt Karim. »Da werde ich mich schwer hüten. Wie heißt er eigentlich?«
»Kees.« Lenne kennt den Namen.
Karim lacht. »Was für ein blöder Name für einen Hund.«
»Er hat auch noch einen anderen Namen«, erzählt Malika. »Einen ganz vornehmen, denn er ist ein Rassehund mit Stammbaum. Aber der ist so lächerlich, dass wir ihn einfach Kees nennen.«
»Glaubst du, dass er uns auch verteidigt, Lenne und mich?«, will Karim wissen, »wenn uns jemand angreift?«
»Oh ja doch, bestimmt. Ihr gehört doch jetzt zu mir, wenn wir zusammen spazieren gehen.«
Erleichtert bummelt Karim hinter Malika und Kees aus dem Garten.
Sie gehen einen Sandweg entlang und dann über eine kleine Brücke.
»Ich komme eigentlich nie hierher«, bemerkt Karim.
Malika wohnt am anderen Ende des Dorfs, und ihr Garten grenzt an einen Teil der Heide, an dem Lenne und er nie vorbeikommen. Das Stück, über das sie auf dem Heimweg von der Schule gehen, liegt genau in der entgegengesetzten Richtung.
Sie kommen an ein kleines Moor.
»Eigentlich müsstet ihr Stiefel anhaben«, sagt Malika unschlüssig. »Es ist ziemlich sumpfig hier.«
»Wir versacken aber doch nicht plötzlich irgendwo, oder?«, fragt Lenne und mustert besorgt den sumpfigen Boden um sich herum.
»Geht nur immer hinter mir her«, beruhigt Malika sie. »Ich weiß, wo im Sommer der Weg langgeht. Jetzt ist es Herbst, und es hat ein paarmal kräftig geregnet. Dadurch kann man fast nicht mehr sehen, wo der Weg ist.«
»Und was passiert, wenn du vom Weg abkommst?«, will Karim wissen und zieht die Nase hoch.
Malika grinst. »Blubb, blubb.«
Karim wirft einen ängstlichen Blick neben sich.
»Aber du sackst doch nicht sofort bis zum Kinn im Schlamm ein«, beruhigt ihn Malika. Amüsiert betrachtet sie die beiden besorgten Gesichter. »Höchstens bis zur Hüfte«, albert sie herum.
Karim und Lenne reihen sich eilig auf dem schmalen Weg hinter Malika ein.
Malika selbst scheint sich nach einiger Zeit allerdings nicht so sehr darum zu kümmern, ob sie noch auf dem Weg ist oder nicht. Sie rennt hin und her und wirft für Kees Stöcke ins Schilf, die der große Hund ausgelassen holt und zurückbringt. Ihre weißblonden Zöpfe fliegen in alle Richtungen, und ihre Wangen nehmen eine kräftige Farbe an. Sie hat mindestens genauso viel Spaß wie der Hund. Ihre Gummistiefel sind im Handumdrehen mit einer dicken Schlammschicht bedeckt, und einmal muss sie ihren Stiefel selbst mit beiden Händen festhalten, als sie ihn lachend aus dem Schlamm zieht. Kees wird auch nicht gerade sauberer.
»Ich lass ihn gleich mal ein bisschen schwimmen«, sagt Malika.
»Bei dem Wetter?«, fragt Karim verwundert.
»Wieso bei dem Wetter, es ist doch kein Frost. Wir haben fünfzehn Grad oder so!« Malika streichelt dem Hund über seinen großen Kopf. »Und er ist doch nicht aus Zucker. Danach läuft er sich wieder richtig warm.«
»Und wo geht er dann schwimmen?«, fragt Lenne.
»Hier zum Beispiel.« Malika zeigt auf einen Schilfgürtel. »Kommt ruhig mit, hier ist nur Sand, da sackt ihr nicht ein.«
Karim und Lenne gehen ihr vorsichtig nach.
Es ist kein heller Sand, wie es ihn an der Küste gibt, er ist braun und dunkel. Doch es ist normaler Sand, und er ist trocken.
Lenne läuft ein bisschen am Wasser entlang bis zu einer Stelle, wo der kleine Strandstreifen etwas breiter ist. Da hockt sie sich hin und betrachtet ihr Spiegelbild im ruhigen Wasser.
Karim bleibt bei Malika. »Und nun?«, fragt er, wobei er den Hund ansieht. »Schwimm!«, befiehlt er. Der Hund schaut abwartend zu ihm hoch.
Malika bricht in Lachen aus. Sie schnappt sich einen Stock vom Boden und wirft ihn ins Wasser.
Platsch! Kees ist sofort hinterhergesprungen, und die Spritzer fliegen Karim um die Ohren. Er wischt sich ein paar Tropfen von der Jacke und murmelt etwas Unverständliches.
Als dann Kees den Stock zurückgebracht hat und sich am Ufer so richtig schön ausschüttelt, kann Karim mit dem Wischen von Neuem anfangen. »Hättest du mich denn nicht vorher warnen können?«
»Oh, tut mir leid, für mich war es vollkommen selbstverständlich, dass er das machen würde. Hast du nicht gesehen, wie ich schnell ein Stück zurückgegangen bin?« Ihre Augen funkeln vor Vergnügen, und Karim beschließt, klugerweise jetzt erst mal den Mund zu halten.
In dem Moment sieht er aus den Augenwinkeln, wie Lenne plötzlich nach hinten springt. Sie fällt rücklings ins Schilf, rappelt sich wieder auf und rennt taumelnd am Wasser auf sie zu. Dabei hält sie sich das Handgelenk und jammert.
»Was ist denn los?«, fragt Karim erschrocken.
Lenne antwortet nicht. Sie wirft einen ängstlichen Blick zum Wasser und fragt Malika mit einer kleinen, drängenden Stimme: »Können wir jetzt wieder gehen? Ich möchte gerne zurück.«
Karim fragt sich, was sie sieht, und sucht mit schief gelegtem Kopf die Wasseroberfläche ab. Dort wirbelt es und schlägt Wellen, als ob jemand einen großen Backstein hineingeworfen hätte, aber es dauert nur kurze Zeit, dann wird das Wasser wieder so glatt wie ein Spiegel.
»Was war das?«, will Malika wissen, »eine Ratte?«
»N-nein …. äh, ja«, stammelt Lenne. »Ja … irgend so was.«
»Die tun aber nichts«, belehrt Malika sie. »Vor denen brauchst du keine Angst zu haben.« Sie stupst Kees in die Seite. »Kees, such!«
Doch der Hund schaut zum Wasser und knurrt.
»Auf geht’s, Kees! Such! Tiere!«
Der Hund fängt an zu winseln.
»Na hör mal!«, ruft Malika fassungslos, »was ist das denn jetzt? Sonst springt er immer sofort hinterher!«
Lennes Augen suchen die von Karim, und er sieht die Unruhe in ihnen. Karim läuft los, am Wasser entlang. »Ja, gehen wir wieder«, sagt er so locker wie möglich.
»Ich weiß nicht, ob Kees schon genug geschwommen ist«, hält Malika dagegen. »Meistens kann er gar nicht genug davon bekommen.«
Doch Kees, der bemerkt hat, dass Karim und Lenne schon den Heimweg eingeschlagen haben, drängt sich an ihnen vorbei und rennt voraus.
»Na hör mal!«, ruft Malika zum zweiten Mal.
»Jetzt komm schon!«, fordert Lenne Malika auf. »Bleib nicht da am Wasser stehen!«
»Mensch, sag mal«, fragt Malika verblüfft, »was war das den für ein Mordsbiest von Ratte, dass ihr euch deswegen so fürchterlich erschreckt? Ich hab den Hund noch nie so bescheuert erlebt.« Sie geht ein paar Schritte in ihre Richtung und bleibt dann wieder stehen. »He … Kees! Kees! Warte!«
Der Hund läuft weiter.
»Jetzt geh doch auch mal weiter!«, schreit Lenne Malika an. Sie starrt auf das Mädchen und das Wasser, das gerade wieder anfängt zu strudeln. Kleine Wellen schlagen gegen das Ufer. Sie knabbern am Sand und kommen hinterhältig näher wie die ausgestreckten Finger vieler Hände.
Malika zuckt mit den Schultern und kommt kopfschüttelnd hinter ihnen her.
Sobald sie in Lennes Reichweite ist, packt sie Malika am Ärmel ihrer Jacke und zieht sie hinter sich her vom Wasser weg. »Bist du immer so langsam!«
»Was führt ihr euch alle beide denn so komisch auf? Mensch, warum zerrst du so an mir rum? He, ich kann ja wohl auch selber laufen!« Malika stolpert beinahe über Karims Füße. Aber Lenne lässt erst los, als sie ein ganzes Stück vom Wasser weg sind und wieder auf dem Sandweg stehen, wo der Hund mit eingekniffenem Schwanz auf sie wartet.
»Pfui, Kees!«, schimpft Malika mit ihm. »Warum hörst du denn nicht?« Sie beugt sich zu ihm hinunter.
Der Hund winselt leise.
»Der ist doch total verschreckt!«, blafft Lenne Malika an. »Jetzt sei mal nicht so böse mit ihm!«
»Er muss aber einfach gehorchen«, antwortet Malika. »So ein großer Hund muss immer auf Befehle reagieren. Sonst kann er doch mal gefährlich werden.«
»Weißt du, was gefährlich ist …« Lennes Stimme überschlägt sich, und sie spricht den Satz nicht zu Ende, sondern schaut noch einmal zurück zu der Stelle, von der sie gerade gekommen sind.
»Der muss einfach wissen, wer der Herr ist«, beharrt Malika unerschütterlich, nimmt den großen Hundekopf zwischen ihre Hände und sagt noch einmal laut und deutlich: »Pfui!«
Kees setzt sich hin und sieht mit großen Augen treuherzig zu ihr hoch.
»Er ist brav«, sagt Lenne sanft und streichelt Kees ein bisschen.
»Ja, ja.« Malika lächelt schon wieder, sie kann dem treuherzigen Augenaufschlag des Hundes auch nicht länger widerstehen. »Jetzt bist du wieder brav, was, Kees? Dann komm jetzt.«
Aber Kees geht erst mit, nachdem er sich doch noch einmal knurrend zum Schilf hin umgedreht hat.