»Tut mir leid, dass wir euch damit einfach so überfallen«, sagt Marit entschuldigend zu Karims Mutter, während sie einen Rucksack mit allen möglichen Sachen im Flur abstellt. »Aber wir haben erst im letzten Moment daran gedacht, dass die Feier für Lenne vielleicht doch nicht so schön sein könnte, und dann ist sie selbst auf die Idee gekommen, bei Karim zu übernachten. Mein Gott, bin ich froh, dass ihr nichts dagegen habt, denn ich hab das Gemeckere schon vor mir gesehen. Wenn Lenne was nicht schön findet, dann weiß sie, wie sie einen das auch merken lassen kann. Und dann hockst du da auf so einem Fest mit einem Kind, das die ganze Zeit fragt, ob es schon Zeit ist, nach Hause zu gehen.« Sie macht eine quengelnde Lenne nach: »Gehen wir jetzt endlich? Ich langweile mich soooo seeehhhr.«
Karims Mutter lacht. »Kein Problem. Karim findet es toll. Vor allem auch, weil Lenne in der nächsten Woche ein paar Tage weg ist. Da können sie wenigstens heute und morgen noch miteinander spielen. Und schlaft euch morgen richtig aus. Lenne kann bis zum Nachmittag hierbleiben.« Sie wendet sich an Lenne. »Ich habe dir ein Gästebett auf dem Boden neben Karim gerichtet. Du musst nur mal eben nachsehen, ob die Luftmatratze zu hart oder zu weich aufgeblasen ist.«
Karim und Lenne stürmen nach oben. Sofort lässt sie sich auf ihr Luftmatratzenbett plumpsen. »Au!«, sagt sie, als ihr Po hart mit dem Boden in Berührung kommt. »Also da kann gut noch ein bisschen Luft rein!«
Karim lacht sich kaputt. »Da musst du dich doch der Länge nach drauflegen, du Trottel. Zu fest aufgeblasen ist schließlich auch nicht schön.«
Lenne legt sich auf das Bett. »Mein Po liegt immer noch auf dem Boden.«
Glucksend vor Lachen geht Karim die Luftpumpe holen.
Es ist ein Riesentheater, die Luftmatratze so hinzubekommen, wie Lenne sie haben will. Zuerst lassen sie aus Versehen so viel Luft ab, dass sie beinahe wieder leer ist, aber dann ist die Pumpe endlich richtig angeschlossen.
»Was für eine blöde Pumpe«, meckert Lenne, »ich krieg ja einen lahmen Fuß davon. Zu Hause haben wir eine viel bessere. Sollen wir die holen?«
»Sind deine Eltern denn noch da?«
»Nein, aber ich hab den Schlüssel. Und ich weiß, wo das Ding liegt: bei den Urlaubssachen auf dem Dachboden.«
Zusammen poltern sie die Treppe wieder nach unten.
»Papa, wir gehen grad mal zu Lenne nach Haus!«, ruft Karim. »Wir haben eine Mistpumpe, Lennes Eltern haben eine bessere.«
»Aha!«
»Die von euch ist so eine kleine runde Gummikugel«, sagt Lenne ein bisschen entschuldigend, und wir haben so eine Ziehharmonikapumpe, so eine, die echt whufff macht, wenn man sich draufstellt. Damit geht es unheimlich schnell.«
»Bis dann!«, ruft Karim und ist schon zur Tür hinaus.
Hintereinander rennen sie durch den Garten zu Lennes Haus.
Lenne geht vor Karim durch die Küche, die Treppe hoch und zieht im ersten Stock an einer Schnur, wodurch eine Luke nach unten aufklappt. »Pass auf«, warnt sie Karim, »gleich kommt die Treppe runter.«
»Hier bin ich noch nie gewesen«, meint Karim, als er die Treppe hochsteigt und sich in dem dunklen Raum umschaut. »Mann, wie groß! Und was für ein Haufen Zeug!«
»Ja, hier sind noch alle möglichen Sachen, die meinem Opa und meiner Oma gehört haben. Die Eltern von Marit. Die leben nicht mehr.«
»Oh, wie traurig.«
»Aber sie waren schon sehr alt. Guck mal, das ist ein echt alter Schaukelstuhl, lustig, was? Da musst du dich mal reinsetzen.«
Das lässt Karim sich nicht zweimal sagen.
»Sei ein bisschen vorsichtig damit!«, ruft Lenne, als Karim anfängt, wild hin und her zu schaukeln. Sie geht in eine dunkle Ecke hinten im Dachboden und zieht ein paar große Rucksäcke zur Seite.
»Was für ein Haufen tolles Zeug«, sagt Karim, der wieder vom Schaukelstuhl aufgesprungen ist und nun seine Nase in einen alten Koffer steckt. »Nur ein bisschen staubig.«
Lenne sucht weiter und mault. »He, wo ist denn bloß die Pumpe? Sie hat immer hier rumgelegen.«
»Was ist das, Lenne?« Karim hält einen Gegenstand hoch.
»Das ist eine Reißschiene. Die hat man früher zum Zeichnen von waagerechten und senkrechten Linien gebraucht. Gehört meiner Mutter. Ich glaub, die benutzt sie schon lange nicht mehr.«
»Der Koffer hier ist voll mit Sachen zum Zeichnen!«
»Ja, alle von Marit. Die kauft ständig neue, weil sie die alten nicht mehr findet.« Lenne grinst. »Meistens hat mein Vater sie dann nur weggeräumt.«
»Da sind auch noch Zeichnungen von ihr drin.«
Lenne ist an den Zeichnungen nicht interessiert. »Hm … ich kann das Ding nicht finden.«
Karim hat schon wieder etwas anderes Schönes gefunden. »Boah, sieh mal, was für ein irres Messer!«
Lenne blickt auf. »Das alte Taschenmesser? Das hat meinem Vater gehört. Früher haben wir es mitgenommen, wenn wir zum Zelten gegangen sind. Jetzt hat er ein besseres, so eines mit allem möglichen Schnickschnack dran.«
»Meinst du, dass ich das haben kann?«, fragt Karim hoffnungsvoll. »Oder, na ja, vielleicht geliehen?«
»Steck’s einfach ein, das merkt er gar nicht. Hilf mir lieber mal beim Suchen, du Döskopp.«
»Ja, ich komm ja schon. Und das hier, meine Güte, was für ein potthässlicher Kerzenleuchter.«
»Ja, stell den mal schnell zurück.«
»He, ein richtig schönes Kästchen. Was ist da drin?«
»Ka-rim!«
»Ich komm ja schon.«
Da ertönt ein genervtes Seufzen. »Nee, lass mal gut sein, ich hab sie«, schnaubt Lenne. Sie schneidet Karim eine Grimasse. »Zur Strafe musst du aber pumpen.«
Karim nimmt die Luftpumpe in die Hand. »Kein Problem. Mein Gott, was für ein Ding. Damit kannst du ja einen Elefanten aufblasen.«
»Einen Elefanten?« Lenne zieht eine Augenbraue hoch.
»Ja, noch nie gesehen? Da steckt man dann dieses Ende in den Rüssel.«
»Ha, ha.« Lenne geht an der Ecke vorbei, in der Karim rumgekramt hat. »Räumst du das grad mal wieder auf?«
Karim stopft ein paar Sachen in den Koffer. »Das andere hat schon so da gelegen, das hab ich nicht angerührt.«
»Wo ist denn das schöne Kästchen, von dem du vorhin gesprochen hast?«
»Hier.« Karim bückt sich und hebt ein kleines hölzernes Kästchen vom Boden auf. Es ist mit einer altertümlichen Schnitzerei verziert.
»Oh … das!«, ruft Lenne. »Das hab ich lange nicht gesehen. Mensch, das hat meinem Opa gehört, und wenn wir Glück haben …« Sie klappt den Deckel auf. »Ja, sieh mal, da ist eine alte Taschenuhr drin.«
»Die ist aber schön. Oh, die geht auf. Ähnelt meinem Medaillon, nur dass hier eine Uhr drin ist.«
»Ja, keine Ahnung, warum die hier liegt. Ich nehme sie mal mit nach unten.« An der Treppe dreht Lenne sich kurz um. »Was steckt eigentlich in deinem Medaillon drin?«
»Hab ich nicht nachgesehen«, antwortet Karim. Er zuckt mit den Schultern. Ich finde, das gehört sich nicht.«
Lenne seufzt. »Sei doch nicht so dämlich. Da kannst du doch ruhig mal reingucken.«
»Nein, mach ich nicht«, sagt Karim entschieden.
»Na, ich wäre einfach total neugierig.«
»Bin ich auch. Aber trotzdem lass ich es zu.« Karim will gerade hinter Lenne die Treppe runtergehen, als es plötzlich über ihm zu prasseln anfängt. »Was ist das?«
Lenne bleibt kurz stehen. »Regen«, sagt sie dann. »Auf das Dachfenster. Prasselt ganz schön, was?« Sie geht zum Dachfenster. »Sieh dir mal an, wie das schüttet!«
Karim kommt zu ihr. Er sieht die Wasserstreifen auf der Scheibe. »So ein schräges Dachfenster finde ich richtig schön. Ich hätte gern ein Zimmer unterm Dach mit einem Dachfenster. Weißt du, dass Jesse so eins hat? Da ist er ganz oben, direkt unter dem Dach, und kann aus seinem Zimmer unheimlich weit gucken.«
»Von hier aus siehst du nichts, nur die langweiligen Tannen dort drüben«, brummt Lenne.
»Jesse guckt auf den Platz und auf den Park, das ist viel schöner.« Karim stemmt das Fenster ein kleines bisschen hoch.
»Mach das bloß nicht«, meckert Lenne. »Gleich wird hier alles nass.«
»Ach, komm schon, schnell mal gucken, bin ja gleich fertig.«
Ärgerlich dreht sich Lenne zu ihm um. »Hauptsache, du wischst es dann auf.«
Karim drückt das Fenster noch etwas höher. »Es regnet gar nicht rein.« Er beugt sich ein bisschen nach draußen.
Lenne stapft auf die Treppe zu. »Mensch, du nervst mich.«
»Lenne …«
Lenne geht weiter und dreht sich dann um, um die wackelige Dachbodentreppe hinunterzusteigen.
»Lenne …«
»Ja, was ist denn jetzt schon wieder?« Sie wirft Karim einen unwilligen Blick zu und sieht, wie er einen Schritt nach hinten macht, weg vom Fenster. Irgendetwas an seiner Haltung macht ihr Angst, die hochgezogenen Schultern, die Art, wie er nervös an der Pumpe herumfingert, die er immer noch in der Hand hält.
»Hintertür zugemacht?«
Lenne spürt, wie ihr kalt wird. »Die Hintertür? Zu? Meinst du abgeschlossen?«
Karim nickt stumm.
»N-nein. Warum?«
Karim hat seine Stimme wiedergefunden. »Da ist jemand …«
Lenne schluckt. Sie schluckt noch einmal. Es fühlt sich an, als würde ihr etwas in der Kehle stecken. Sie räuspert sich.
»Da steht jemand im Garten«, flüstert Karim. »Ich kann es nicht so gut sehen, die Zweige vom Apfelbaum sind dazwischen.«
»Aber woher weißt du dann, dass …?«
»Ich sehe die Füße!« Karims Stimme überschlägt sich. »Und ein bisschen von einem Kleid oder so. Ich kann nur ein bisschen was sehen von … von …« Von wem? Wer ist es, der sich da unter dem Apfelbaum versteckt? Aus einem plötzlichen Impuls heraus lässt er die Pumpe aus der Hand fallen. »Bleib hier!«, raunt er Lenne zu, schiebt sie von der Treppe weg und drückt sich an ihr vorbei. Beinahe wäre er auf der schmalen Treppe gestolpert. »Ich schließ ab!«, ruft er zu ihr hoch. »Du bleibst da!«
»Was!«, schreit Lenne, »bist du denn total …« Doch Karim, der beim Hochgehen gesehen hat, wie es funktioniert, schiebt einfach die Leiter nach oben. Jetzt sitzt Lenne fest.
»Aber ich kann die Klappe von hier aus nicht aufmachen!«, hört er gedämpft ihre Stimme.
Karim antwortet nicht, dafür hat er jetzt keine Zeit. Er rennt die Treppe zum Erdgeschoss runter und dann zur Küchentür, wobei er über die eigenen Füße stolpert.
»Mist!«, denkt Karim laut. »Lenne hat die Schlüssel natürlich noch in ihrer Hosentasche!« Doch er läuft weiter. Auf seinen Socken – weil er seine Schuhe beim Reinkommen ordentlich auf die Matte gestellt hat – durchquert er schlitternd und rutschend die große Küche. Auf einem so glatten Holzboden ist es unmöglich zu bremsen, und mit einem Bums prallt er gegen die Hintertür. Lenne hatte sie einen Spalt offen gelassen, aber nun knallt sie zu.
Durch die Fensterscheibe, an der die Regentropfen niederrieseln, sieht Karim eine Gestalt in einem langen Gewand näher kommen. »Lenne ist nicht da!«, schreit er. »Sie ist nicht da, sag ich! Geh weg!«
Die Frau bleibt stehen.
Trotz der Regentropfen, die das Bild verzerren, kann Karim nun die langen weißen Haare erkennen. Dann sieht er aus den Augenwinkeln gleich links neben sich etwas auf einem kleinen Tisch liegen. Die Schlüssel! Lenne hat sie da hingelegt! Karim schnappt sie sich und schließt die Tür ab. »So!«, schreit er triumphierend. Aber sie ist doch eine Hexe, denkt er dann. Kann ein einfaches Türschloss eine Hexe aufhalten?
Die Frau kommt noch näher – bis dicht vor die Küchentür.
Karim weicht einen Schritt zurück. Er denkt daran, was Lenne ihm über Albas Augen erzählt hat, wie sie damit hypnotisieren, benebeln, rufen kann. Kann sie das auch bei ihm? Ziemlich sicher, warum denn nicht? Aber durch die verregnete Scheibe kann er ihre Augen nicht gut sehen. Und wenn er nicht in ihre Augen schauen kann und sie nicht in seine, dann funktioniert es vielleicht nicht. »Da ist eine Scheibe dazwischen«, sagt er sich selbst beruhigend. »Da ist eine Fensterscheibe dazwischen. Sie kann nicht zu mir kommen, da ist Glas dazwischen. Karims Atem lässt die Scheibe beschlagen. Nun sieht er sie nicht mehr deutlich, sie ist zu einem Fleck geworden. »Ha!«, ruft er stolz. Er ist froh, dass er Lenne eingeschlossen hat, denn er weiß nicht, ob sie der Macht der Hexe auf der anderen Seite der Tür hätte widerstehen können.
Das Medaillon, denkt er plötzlich. Er trägt es auch heute unter seinen Kleidern. Mit seiner rechten Hand umfasst er das kühle Metall und kneift die Augen fest zu. Soll er sie rufen? Soll er Erin um Hilfe bitten? Er macht die Augen wieder auf und starrt durch die Scheibe.
Sie ist weg.
Die Hexe ist verschwunden.
»Und ich hab noch gar nichts gemacht …«, stammelt Karim. Er wischt über das beschlagene Glas und späht nach draußen. Wo ist sie hin?
Lenne, denkt er, der Dachboden … das Dachfenster. Hab ich das Dachfenster wieder zugemacht? Er erinnert sich an die Glaskugel auf Lennes Fensterbank und wie er sich damals gefragt hat, ob Hexen fliegen können. Er sieht Erins Füße wieder vor sich, wie sie sich langsam vom Asphalt lösen. Blitzartig dreht er sich um und rennt zurück über den glatten Küchenboden und die Treppe hinauf. »Lenne!«, schreit er, noch bevor er die Schnur ergriffen hat. »Lenne, bist du noch da?« Keine Antwort. Die Schnur gleitet ihm aus den nervösen Händen »Oh verdammt!«, wimmert er. Er packt die Schnur mit beiden Händen und ruckt wie wild daran. Die Klappe donnert mit lautem Krach nach unten, und Karim kann gerade noch die Treppe fassen, die schon runterrutscht. Hastig poltert Karim nach oben. »Lenne? Lenne, wo bist du?«
Der Dachboden scheint leer zu sein. Das Fenster steht noch immer einen Spalt offen. Der heftige Regenschauer ist vorbei, und nun tröpfelt es nur noch gemütlich auf das Fensterglas. Auf dem Weg zum offenen Dachfenster stolpert Karim über den alten Koffer und schlägt der Länge nach auf den staubigen Boden, doch er nimmt sich nicht die Zeit, darüber zu jammern oder nach eventuellen Verletzungen zu schauen. Er rappelt sich gleich wieder auf und humpelt zum Dachfenster. Mit einem wütenden Ruck zieht er es zu. »Verdammt!«, schimpft er mit sich selbst. »Hättest du das doch auch zugemacht, du blöder Trottel!« Voller Panik sieht er sich um. Sie ist nicht da. Er kann Lenne nirgends entdecken.
Aber dann hört er ein klägliches Geräusch. Sein Herz setzt einen Schlag aus. »Lenne?«
»Karim … hier.«
Es kommt von der anderen Seite des Dachbodens. Karim läuft auf die bedrückte Stimme zu. »Wo bist du?«
»Hier, hinter den Kartons.«
»Dann komm doch raus.«
»Ist sie weg?«
»Ja, oder … Ich weiß es nicht, aber alle Fenster und Türen sind jetzt zu. War sie denn hier?«
Lenne kriecht auf Händen und Füßen hinter einem Stapel Kartons hervor. Sie steht auf und drückt sich die Hände auf die Ohren.
»Was machst du da?«, fragt Karim besorgt.
Lenne hört ihn nicht.
Karim ergreift eine Hand und zieht sie vorsichtig weg. »Lenne, was ist denn? Stimmt mit deinen Ohren was nicht? Hast du Schmerzen oder so?«
»Ich hab sie gehört. Sie hat mich gerufen.«
»Von woher?«
»Ich glaub von draußen. Sie kennt meinen Namen, und sie hat mich gerufen. Sie sucht mich!« Lenne drückt die Hand wieder auf das Ohr und verzieht schmerzhaft das Gesicht.
»Hörst du sie denn noch immer?«, fragt Karim. Keine Reaktion. Er wiederholt die Frage, lauter, er schreit fast neben ihrem Kopf.
»Schrei doch nicht so!«, schnauzt Lenne ihn an. Zögernd nimmt sie ihre Hände weg.
»Hörst du sie noch?«, wiederholt Karim seine Frage noch einmal.
Unschlüssig schüttelt Lenne den Kopf. Dann dreht sie sich zu ihm. »Hol das Ding aus meiner Tasche«, jammert sie. »Es steckt in meiner linken Jackentasche.«
»Welches Ding?« Karim greift in die Jackentasche. Seine Finger spüren die runde Form der Glaskugel. Er holt sie heraus.
Jetzt bedeckt Lenne die Augen. »Tu es weg.«
Karim fummelt ein paar Sekunden ungeschickt mit der Glaskugel herum. »Äh … wohin …« Dann steckt er sie schließlich in seine eigene Hosentasche. »Gut so?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickt er in Lennes feuchte Augen. »Was ist damit?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich hab die ganze Zeit danach greifen wollen. Meine Finger haben sich immer wieder zu meiner Jackentasche bewegt. Ich hab mich selbst anschreien müssen, um es nicht zu tun. Ich hab irgendwie gewusst, dass sie mich finden würde, sobald ich die Kugel anfasse.«
Karim starrt die runde Form an, die sich durch seine Hose abzeichnet.
»Es war, als würde ich einen Auftrag bekommen. Ich sollte die Glaskugel auf meine Hand legen, ich hab mich selbst schrecklich anschreien müssen. Ich hab es so gewollt, wirklich, ich hab es so gern gewollt! Ich wollte sie auf meine Hand legen und sie schweben lassen, wie ich es dir gezeigt hab. Aber ich hab gewusst, dass ich das nicht tun darf, denn dann würde Alba wissen, wo ich bin.«
»Vielleicht ist die Kugel genau so etwas wie das Medaillon!«, sagt Karim. »Das Medaillon, mit dem ich Erin rufen kann. Das funktioniert mehr oder weniger auch so, nur dass ich keine Botschaft bekomme. Sie hat gesagt, dass sie immer wissen würde, wo ich bin, wenn ich es anfasse und ihren Namen sage. Ich denke mal, dass Alba mit dieser Kugel dasselbe kann. Könnte doch sein, oder?«
»Halt bitte etwas Abstand von mir«, sagt Lenne, doch ihre Stimme klingt bekümmert, als sie hinzufügt: »Vorläufig … einen Augenblick lang … ich will sie schon wieder zurück.«
»Komm«, sagt Karim leise und nimmt Lenne am Arm. »Wir müssen langsam mal wieder zurück. Meine Eltern werden sich schon fragen, wo wir bleiben.«
»Sollen wir sie anrufen«, schlägt Lenne vor, »und sie fragen, ob sie uns abholen?«
»Und was sollen wir ihnen dann sagen?« Karim lacht bitter. »Dass wir uns nicht mehr durch den Garten trauen? Wie willst du das erklären?«
Lenne kaut nervös auf ihrem Fingernagel. »Und was machen wir, wenn sie noch da ist, im Garten?«
»Dann rennen wir«, antwortet Karim tapfer. »Ich halt dich an der Hand, und dann rennen wir ganz schnell durch den Garten.« Er nimmt das Medaillon. »Und in der anderen Hand halt ich das.«
Lenne holt tief Atem und seufzt schaudernd.
»Nimm du die Luftpumpe«, sagt Karim. »Und hier ist die Uhr, die hast du fallen lassen.« Er klopft auf seine linke Hosentasche. »Und ich hab auch noch das hier, das alte Taschenmesser. Wenn es nötig ist, dann … na ja, was weiß ich.«
Zusammen steigen sie die Dachbodentreppe hinab. Lenne erschrickt von dem Krach, mit dem Karim die Klappe wieder zuschnappen lässt. Mit zitternden Beinen gehen sie die nächste Treppe runter. »Ich weiß nicht, ob ich gut rennen kann«, krächzt sie heiser.
»Natürlich kannst du das.« Karim gibt sich selbstsicher. Er wirft ihr ein Lächeln zu, von dem er hofft, dass es beruhigend wirkt.
Sie schleichen durch die Küche und ziehen auf der Matte ihre Schuhe an.
Karim legt die Hand auf den Schlüssel, der aus dem Schloss ragt. »Alles klar?«
Lenne blickt einen kurzen Moment aus dem Fenster. Sie ist ganz blass, aber sie nickt mutig. »Alles klar.«
Karim versucht, alles so schnell wie möglich ablaufen zu lassen: Schlüssel umdrehen, Tür auf, nach draußen, Tür zuschmeißen, abschließen. Zappelig steht Lenne neben ihm. »Los!«, ruft Karim, und Hand in Hand rasen sie durch den Garten.
Bei Karims Haus bleiben sie japsend vor der Hintertür stehen.
»Wir sagen, dass wir keine Lust hatten, uns nass regnen zu lassen«, keucht Karim, »wenn sie uns fragen, warum wir so außer Atem sind.«