DREIZEHN

Als er zum Motorrad zurückging, spürte er das Vibrieren seines Handys in der Tasche. Bernd Kaltenbach zog es hervor und sah, dass Udo ihn anrief.

„Wo steckst du eigentlich?“, begrüßte er den Freund.

„Ich sitze auf einer Bank am Moselufer und genieße den Ausblick auf die Weinberge.“ Er klang entspannt. So hatte Kaltenbach den Freund seit vielen Tagen nicht erlebt.

„Das milde Klima scheint dir wenigstens gut zu tun. Und wann hast du alle Äpfel, die Larissa dir mitgegeben hat, aufgegessen und musst wieder in dein miefiges Büro?“

„Heute wohl gar nicht mehr.“

„Warum das?“

„Ich bin nicht in Koblenz, sondern in Enkirch.“

„Was zum Teufel treibst du da?“

„Ich habe mich bei Manderscheid umgeschaut. Und ehrlich gesagt ist mir der Typ nicht sonderlich sympathisch.“

„Das reicht aber wohl nicht für einen Durchsuchungsbeschluss.“

„Du sprichst mir aus der Seele.“

„Ich lad dich zum Essen ein. In Enkirch gibt es ein Restaurant, die bieten herrliche Apfelpfannkuchen an.“

„Wie lange soll ich auf dich warten? Ich habe jetzt Hunger!“

„Ich kann in zehn Minuten bei dir sein“, erwiderte Kaltenbach und unterbrach die Verbindung.

Enkirch/Mosel, 15.00 Uhr

Hungrig war er ungenießbar. Das wusste er selbst, und er verfluchte, dass er vor seiner Fahrt an die Mosel nicht noch irgendwo eine Kleinigkeit zum Essen eingekauft hatte. Es hätte ihm klar sein müssen, dass er hier nicht nach einer halben Stunde wieder wegkam – von der Heimfahrt nach Koblenz ganz zu schweigen. Nun saß Udo mit weit von sich gestreckten Beinen auf einer Bank am Moselufer, kaute ein wenig lustlos auf einem mehligen Boskop herum und versuchte sich am Mosel-Panorama zu erfreuen. Das nervige Gespräch mit Caspari hatte sein Übriges zu seiner schlechten Laune beigesteuert. Wind kam auf und strich von den Höhenzügen der umliegenden Weinberge hinunter ins Tal. Udo fand den Luftzug nicht erfrischend, sondern kühl. Das Wasser im Fluss kräuselte sich, und auf einem Kinderspielplatz stritten sich zwei Jungs um eine Schaukel. Manchmal war er wirklich froh, dass Larissa und er keine Kinder hatten. So konnte sie ihren Mutterinstinkt tagsüber im Kindergarten bei der Arbeit ausleben und behelligte ihn nicht mit ihrem Kinderwunsch. Anfangs hatten sie oft darüber gestritten – sie wollte ein Kind, er wollte lieber noch warten. Auch in seinem durchaus fortgeschrittenen Alter fühlte sich Udo nicht zwangsläufig in der Lage, ein guter Vater zu sein, und so genoss er das Leben zu zweit an Larissas Seite. Sie hatten einen Hund, das musste reichen.

Udo knabberte die Apfelhülle ab und wischte die Gedanken an sein Liebesleben mit Larissa fort, um sich auf den Fall zu konzentrieren. Alles könnte so schön sein. Alles, wenn nicht ausgerechnet Caspari, dieser Kotzbrocken, in den Fall involviert wäre. Immerhin hatte er nicht untätig in Trier herumgesessen. Seitdem der Mord an Gerber passiert war, hatte er mit seinem Team das gesellschaftliche Umfeld des Enkircher Ortsbürgermeisters durchleuchtet. Gerber war verheiratet gewesen, Vater eines erwachsenen Sohnes, der in Trier studierte und natürlich längst von Casparis Leuten zum Tod seines Vaters befragt worden war. Die Frau, ganz trauernde Witwe, zweifelte seit dem Mord an ihrem Gatten grundsätzlich an das Gute im Menschen und zog in Erwägung, von der Mosel wegzuziehen. Da Gerber in der Kommunalpolitik aktiv gewesen war, hatte Caspari es auch nicht versäumt, Parteikollegen und die politischen Gegner zu befragen. Im Grunde genommen vergebene Liebesmüh, wie Caspari ihm am Telefon geschildert hatte. Dennoch scheuchte er seine Leute weiterhin zu Menschen, die irgendwann in ihrem Leben einmal mit Gerber zu tun gehabt hatten. Es hatte ein, zwei vage Verdachtsmomente gegeben, doch für eine Verhaftung wegen Mordes an Gerber hatte es in keinem der Fälle gereicht. Die Beweislage war nicht eindeutig genug, um einen Richter zu überzeugen. Somit stand Caspari wieder bei null. Udo empfand eine winzige Genugtuung, besann sich aber schnell wieder darauf, dass es galt, einen freilaufenden Mörder zu fassen und seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Seine Gedanken kreisten um Paul Bärmann. Eine Frage hatte er völlig vergessen. Er zog das Handy heraus und wählte die Nummer der Baustoff-Spedition. Es dauerte nicht lange, bis er Paul Bärmanns arrogante Stimme hörte.

„Was haben Sie denn noch vergessen?“, knurrte er, nachdem Udo sich gemeldet hatte.

„Eine ganz andere Geschichte. Wie war Ihr Verhältnis zum Enkircher Ortsbürgermeister?“

Ein amüsiertes Kichern am anderen Ende der Leitung, dann: „Ich habe ihn und seine Arbeit sehr geachtet. Er hat seine Dienste zum Wohl des Dorfes eingesetzt, wie es wohl kein anderer nach ihm tun wird. Aber ich ahne, worauf Sie hinauswollen: Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen dem Mord an Gerber und an Immich? Glauben Sie wirklich, dass es sich dabei um den gleichen Täter handelt?“

Udo ließ ihn ausreden.

„Ich kann Ihnen sagen, dass Hauptkommissar Caspari den Gedanken anfangs auch hatte. Aber Sie sollten bedenken, dass Immich durch einen gezielten Anschlag getötet wurde, während Gerber relativ banal erschossen wurde.“

„Sie scheinen sich auszukennen“, bemerkte Udo gallig, bevor er auflegte. Im gleichen Moment ließ ihn das Knattern eines schweren Motorrades aufblicken. Die dunkle Honda CBX 750 kannte er nur zu gut. Bernd besaß diese Maschine bereits seit mehr als zwanzig Jahren. Damals hatte er sich das Motorrad vom hart ersparten Geld fast neu gekauft und sie in einer Bierlaune Else genannt – nach der Kuh des Bauern Rubbelrath. Der olle Rubbelrath hatte längst das Zeitliche gesegnet, und auch Elsa – also die Namensgeberin – weilte längst im Kuh-Himmel. Nur Bernds altes Motorrad machte immer noch die rheinland-pfälzischen Landstraßen unsicher.

Kaltenbach lenkte die Maschine langsam auf den befestigten Uferweg, nickte ihm zu und stemmte die Maschine auf den Ständer. Eine himmlische Ruhe kehrte ein, nachdem Udos Freund den Motor abgeschaltet hatte.

„So wie du arbeitest, möchte ich mal Urlaub machen“, grinste er, während er sich zu Udo auf die Bank gesellte.

„Nein“, entgegnete Udo kopfschüttelnd. „Das willst du ganz bestimmt nicht.“ Er holte aus und schleuderte die Reste des Apfels ins Gebüsch am Moselufer.

„Was machst du an der schönen Mosel? Schon Wochenende?“

Udo winkte ab. „Besser wär’s. Ich war eben bei diesem Bärmann. Er scheint meinen persönlichen Hass-Freund Caspari recht gut zu kennen. Da werd ich bei Gelegenheit noch mal nachhaken müssen. Bärmann macht auf ziemlich wichtig und brüstet sich damit, ein guter Freund von Caspari zu sein … so hat er es jedenfalls geschildert. Wie dem auch sei: Ich habe dort festgestellt, dass sich der Zweitschlüssel von Beatrices Wohnung nicht im Firmentresor befindet.“

„Wie schön. Und wer kommt dran, an den Panzerschrank?“

„Nur der Boss und seine Sekretärin.“

„Als guter Bulle hast du dir die Kontaktdaten von der Tippse geben lassen, die sicherlich heute aus irgendeinem Grund freihat, nehme ich an?“

„Hast du seherische Fähigkeiten, oder was?“

„Ich bin nicht ganz so blöd wie ich aussehe“, behauptete Kaltenbach und tippte sich an die Schläfe.

„Einen Besuch bei der Dame hatte ich für den Nachmittag eingeplant.“

Bevor Kaltenbach etwas erwidern konnte, klingelte sein Handy.

„Scheiß Kommunikationssucht“, grollte der Reporter. „Was haben wir eigentlich früher, ohne diese Dinger, gemacht?“ Dann blickte er auf das Handy und sagte erfreut: „Das ist ja lustig – ich rufe mich gerade selber an.“

Er hielt Udo das Handy hin. „Zuhause“, stand da lapidar.

Udo zuckte die Schultern und grinste schief. Er lehnte sich auf der Bank zurück und betrachtete verzückt das Moselpanorama.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich Beatrice. Während Kaltenbach sich meldete, beobachtete er ein braun gebranntes Rentnerehepaar, das seinen in Ehren ergrauten Dackel an der Moselpromenade entlangführte. Als sie auf Höhe der Bank angekommen waren, hörte Kaltenbach, dass sie sich auf holländisch unterhielten. Er liebte Zeeland über alles, aber in letzter Zeit waren seine Besuche auf der Halbinsel selten geworden. Höchste Zeit, mal wieder im Strandpaviljoen De Zeeuwse Rivièra ein Heineken zu schlürfen und den Blick auf die Nordsee zu genießen, dachte er in einem Anflug von Wehmut.

„Ich habe alles bei Bärmann geklärt“, eröffnete Beatrice und riss ihn jäh aus seinem Zeeland-Traum zurück. Die Mosel war ja auch ganz nett, dachte er und unterdrückte einen Seufzer, den Beatrice wahrscheinlich falsch verstanden hätte.

„Das wird Udo freuen: Dann kann er Paul Bärmann ja wegen Mordes festnehmen. Er hat sich also Zugang zu deiner Wohnung verschafft und aus Versehen die falsche Dame abgeknallt?“

„Hast du etwas getrunken?“

„Leider nein. Also gut, die Sache mit dem verschwundenen Zweitschlüssel deiner Wohnung wird uns also weiterhin beschäftigen. Was hast du bei Bärmann klargemacht?“

„Sag mal, hörst du mir nicht zu, oder bist du wirklich betrunken?“ Beatrice war pikiert.

„Doch, doch, ich habe schon alles verstanden“, antwortete Kaltenbach lächelnd.

„Ist er heute noch im Geschäft?“

„Freitags bis abends, auch, wenn er sich gern von seiner Sekretärin verleugnen lässt.“

„Die hat heute ihren Waschtag“, wusste Bernd zu berichten.

„Woher weißt du das alles?“

„Meinst du, ich sitze untätig herum, Bea? Ich will wissen, warum dieser Fahrer mich mit aller Macht abschütteln wollte. Und ich will wissen, wo er geblieben ist, nachdem er billigend in Kauf genommen hat, dass ich im Graben lande und mir der Hals breche.“ Erst, nachdem er Luft holte, bemerkte Kaltenbach, dass er sie Bea genannt hatte.

„Wo bist du eigentlich?“, fragte sie nun. „Bei dir ist es so windig, dass ich dich kaum verstehen kann.“

Bernd legte die freie Hand muschelförmig um das Handy. „Am Wasser“, sagte er und blickte einem kleinen Sportboot hinterher, dass gerade moselaufwärts donnerte und durch die Wellen pflügte. „Ich bin in Enkirch, um genau zu sein.“

„Pass auf dich auf, Bernd. Die spaßen nicht.“

„Da sagst du mir nichts Neues. Was macht mein Haus?“

„Ich halte es hoch.“ Nun lachte Beatrice, doch es klang gequält.

„Sag mal, musst du eigentlich nicht arbeiten gehen?“ Kaltenbach fiel auf, dass er keinen blassen Schimmer hatte, was Beatrice beruflich tat. „Ich meine … nicht, dass es mich etwas anginge, aber …“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie nach dem Verkauf von Haus und Firma vom Erlös lebte und als reiche Witwe durch die Welt tingelte.

„Ich habe mir freigenommen. Halt mich auf dem Laufenden, Bernd.“

Am monotonen Tuten, das aus dem Telefon an sein Ohr drang, hörte er, dass sie aufgelegt hatte. Ein wenig übereilt, stellte Bernd enttäuscht fest. Er mochte ihre Stimme. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass mit Beatrice Manderscheid irgendetwas nicht stimmte.

„Was ist nun mit meinem versprochenen Apfelpfannkuchen?“ Udo strich sich genießerisch über den runden Bauch.

„Ich hatte schon gehofft, dass du es vergessen hast“, grinste Kaltenbach und sprang auf. „Aber die Einladung steht. Mach hinne, wir haben noch viel vor heute.“

„So“, sagte Udo und erhob sich ein wenig schwerfälliger als sein Freund. „Haben wir das?“

Hotel Restaurant Dampfmühle, Enkirch, 15.15 Uhr

Kaltenbach hatte zugunsten eines Enkircher Rieslings auf ein kühles Bier verzichtet und drehte den langen Stiel des Glases nachdenklich in den Händen, während er seinen herzhaft kauenden Freund über den Rand betrachtete.

Für Udo war die Welt in Ordnung, so lange es etwas zu futtern gab. Und nachdem sie in die Dampfmühle eingekehrt waren, hatte es nicht lange gedauert, bis Udo anstelle des Apfelpfannkuchens eine Winzerpfanne mit Schweinegeschnetzeltem in Rahmsoße vor sich stehen hatte, über die er sich hermachte. Mit dem ersten Bissen besserte sich seine Laune schlagartig. Nach einem Blick in die Karte hatte sich Kaltenbach für ein Rumpsteak mit Zwiebeln und Bratkartoffeln entschieden. Das Fleisch war auf dem Punkt, auch die Bratkartoffeln hätte seine alte Mutter nicht besser hinbekommen.

„Was hältst du eigentlich vor der Verschwörungstheorie?“, fragte Kaltenbach leise. Obwohl sich in dem urig eingerichteten Restaurant nur wenige Gäste befanden, musste niemand mitbekommen, worüber die Freunde sprachen.

Udo blickte ihn an wie einen Außerirdischen. „Verschwörungstheorie? Meinst du die Mondlandung oder Area 51?“

Kaltenbach deutete auf das Essen. „Sind dir die Pilze in der Rahmsoße nicht bekommen?“

Udo stopfte nach und sprach mit vollem Mund. „Dann red‘ nicht in Rätseln. Was meinst du?“

Kaltenbach kaute auf einem Stück Steak und legte das Besteck auf den Tellerrand.

„Also noch mal zum Mitschreiben: Wir haben einen nahezu bankrotten Flughafen, der zu großen Teilen der Landesregierung gehört. Es geht angeblich um den Erhalt der Arbeitsplätze in der Region. Jeder, der das Vorhaben der Regierung anzweifelt, bezahlt das mit dem Leben, man könnte auch sagen, er wird zum Schweigen gebracht. Dass es dabei die arme Frau der Telefongesellschaft in Kastellaun getroffen hat, ist ein tragischer Unglücksfall. Es gibt Gutachten, die krebserregende Stoffe im Enkircher Trinkwasser bestätigt haben. Sie wurden nach dem Mord an Manderscheid von der Polizei beschlagnahmt und sind seitdem nicht mehr auffindbar. Seltsam, oder?“

„Du meinst…“ Udos Augen wurden groß. „Die Landesregierung will was vertuschen, nur um die Arbeitsplätze zu erhalten? Und du meinst, dass sie dabei auch über Leichen geht?“ Der Kommissar schüttelte den runden Kopf. „Das geht zu weit – oder willst du mir jetzt auch verklickern, dass das Land ein paar Auftragskiller auf seiner Lohnliste hat? Wahrscheinlich Killer, die alle Vorzüge des Beamtendaseins genießen?“ Udo lachte, doch er klang nicht wirklich amüsiert, fand Kaltenbach.

„Ich meine nicht – ich denke darüber nach“, verbesserte er Udo und genoss den fruchtigen Geschmack seines Rieslings. „Die Polizei als Landesbehörde ist doch auch in gewissen Dingen von ganz oben steuerbar, oder?“

„Du machst ein ziemliches Fass auf, Alter.“ Udo tunkte sein Fleisch in die Rahmsoße, schob mit dem Messer eine Handvoll Champignons hinterher und beförderte die überladene Gabel zum Mund.

„Dir isst niemand etwas weg“, murmelte Kaltenbach. „Lass dir also ruhig Zeit.“ Er selber griff zum Besteck und widmete sich den köstlichen Bratkartoffeln.

Udo ging nicht auf die Bemerkung seines Freundes ein. „Worauf willst du hinaus?“

„Ist es schon mal vorgekommen, dass du in einem Fall ermittelt hast, und dass man dir kurz vor dem Durchbruch auf die Finger gehauen hat?“

Kauend wiegte Udo den Kopf. „Na ja“, brummte er. „Es kommt ab und zu vor, dass sich das Landes- oder sogar das Bundeskriminalamt in einen Fall einmischt, wenn er von landesweiter Bedeutung ist und über unseren Zuständigkeitsbereich hinausgeht.“

„Genau das meine ich“, nickte Kaltenbach. „Du weißt aber nicht, warum du mit der Arbeit aufhören sollst, oder?“

„Hey, ich bin Bulle. Und da gewöhnt man sich das Fragenstellen ganz schnell ab. Und wenn eine ranghöhere Behörde den Fall übernimmt, dann ist das halt so.“

„Dann ist das halt so.“ Kaltenbach nickte. „Und wenn die Regierung sich damals in Casparis Ermittlungen eingeschaltet hat, weil ihr nicht passte, dass er die Nase in ein Wespennest steckt?“

„Dann pfeift sie ihn unter Umständen zurück.“ Udo wischte sich den Mund an der weinroten Stoffserviette ab. „Unter Umständen“, wiederholte er eilig. „Das muss nicht bedeuten, dass…“

„Aber es könnte bedeuten, dass Caspari auf dem Weg war, an Informationen zu kommen, die unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit dürfen, oder?“

„Ja, es könnte.“ Udo nickte und trank einen Schluck Mineralwasser. Im Dienst trank er grundsätzlich keinen Alkohol, und auch diesmal hatte Kaltenbach ihn nicht zu einer kleinen Weinschorle überreden können. „Aber Bernd, bitte! Hüte dich mit solchen Äußerungen.“

„Es sind Überlegungen“, korrigierte Kaltenbach ihn. „Nur Überlegungen. Ich spiele das Spiel ,Was wäre, wenn…‘ – kenne ich noch aus der Sesamstraße. Lass mich also mal weiterspinnen: Caspari ist damit beauftragt, den Mord an Rudolf Manderscheid aufzuklären. Manderscheid war ein Gegner des Hahn und verfügte über das nötige Kleingeld, Gutachten unabhängiger Institute in Auftrag zu geben, die nachweisen sollen, dass im Ahringsbach krebserregende Stoffe sind. Er beauftragt eine Privatdetektivin – das ist inzwischen belegt – und stirbt wenig später. Er wird erschossen im Ahringsbach aufgefunden. Die Gutachten werden in den Räumen der Detektivin von der Polizei gefunden und beschlagnahmt. Man stellt die Schnüfflerin unter Mordverdacht, der sich nicht sehr lange hält: Zum einen gibt es kein nachweisbares Motiv, zum anderen hat sie ein Alibi für die Tatzeit und bleibt auf ihrem Geld sitzen, weil ihr Auftraggeber frühzeitig ins Gras gebissen hat, was sie natürlich nicht wissen konnte. Du kennst die Privatdeketivin übrigens: Es ist Sabine Wellershoff. Sie hat eine Detektei in Koblenz, weil sie die Groß-Töpferei von ihrem Alten nicht übernehmen wollte. Aber ich schweife ab: Die Gutachten werden also beschlagnahmt und im Präsidium Trier gesichtet. Kurz darauf sind sie nicht mehr auffindbar, und die Polizei stellt die Ermittlungen in einem sehr rätselhaften Mordfall ein. Seltsam, oder?“

„Sabine? Deine Ex, die im Bett immer gejault hat wie Lassie?“ Udo grinste anzüglich. „Mann – wie lang ist das denn schon her?“ Für einen Moment vergaß er sogar das Essen auf seinem Teller. Dann piekste er in die kleine Salatschüssel und nahm eine Gurkenscheibe und eine Tomate auf. Als Kaltenbach nicht auf seine Bemerkung reagierte, sprach er wieder über Bernds Verdacht. „Das wär echt der Hammer, mein Lieber“, sagte er.

„Aber so weit kannst du meine Überlegungen nachvollziehen, hältst mich nicht für durchgedreht und bist gedanklich bei mir?“ In Kaltenbach keimte Hoffnung auf.

Udo nickte. „So betrachtet würde es mich nicht wundern, wenn man Caspari auch diesmal zurückpfeift“, murmelte er leise.

„Schön“, freute sich Kaltenbach. „Und wie gehen wir jetzt mit diesem Verdacht um?“ Als Udo schwieg und sich dem Geschnetzelten widmete, fuhr Kaltenbach fort: „Wachsam, sehr wachsam und kritisch, würde ich vorschlagen.“

„Ich bezweifle übrigens nicht mehr, dass der Mord an Manderscheid, an Gerber, an Immich und an der Angestellten der Telefongesellschaft auf das Konto der oder desselben Täters geht.“

„Auch da sind wir einer Meinung.“

„Und ich kann zusehen, wie ich mit Caspari kooperiere, denn eigentlich ist die Gegend hier sein Hoheitsbereich. Nur Kastellaun fällt in den Bereich der Kripo Koblenz. Schönen Dank auch, Bernd.“

„Das Leben ist kein Ponyhof“, grinste Kaltenbach und schob sich mit dem Messer die restlichen Bratkartoffeln auf die Gabel. „Aber ich habe das Glück, nicht an Zuständigkeitsbereiche und Dienstvorschriften gebunden zu sein. Dieses alberne Kompetenzgerangel überlasse ich euch Bullen. Da lobe ich mir den Job als Journalist.“