Meine Albertine

Ich frage mich wirklich, ob ich ohne sie die geworden wäre, die ich bin. Vielleicht ist es falsch, von sich selbst zu sprechen, wenn man über jemand anderen schreibt. Aber wäre ich mit der gleichen Lässigkeit aufgetreten, wäre ich Widrigkeiten mit solch weiblicher Entschlossenheit begegnet, ohne Albertine als meine Leitfigur? Hätten meine frühen Gedichte ihre Schärfe gehabt ohne Astragalus als meinen Leitfaden?

Entdeckt habe ich sie ganz unverhofft, als ich 1968 durch Greenwich Village schlenderte. Es war Allerheiligen, ein Detail, das ich später in meinem Tagebuch notierte. Ich hatte Hunger und brauchte dringend einen Kaffee, aber vorher schaute ich im Buchladen in der Eighth Street vorbei, um die Tische mit den verramschten Büchern durchzusehen. Da lagen stapelweise Evergreen Reviews und obskure Übersetzungen von Verlagen wie Olympia und Grove Press – Schriften, um die die allermeisten einen Bogen machten. Ich war auf der Suche nach etwas, das ich unbedingt haben musste: ein Buch, das mehr war als ein Buch, das Zeichen enthielt, die mich auf einen unvorhergesehenen Pfad lenken mochten. Ich wurde angezogen von einem auffälligen, entrückten Gesicht in Violett und Schwarz auf einem Schutzumschlag, der seine Autorin als »weiblichen Genet« anpries. Es kostete 99 Cent, so viel wie ein Käsetoast plus Kaffee im Waverly Diner, drüben auf der Sixth Avenue. Ich hatte einen Dollar und einen Subway-Token, doch nachdem ich die ersten paar Zeilen gelesen hatte, war ich hingerissen – ein Hunger besiegte den anderen, und ich kaufte das Buch.

Das Buch war Astragalus und das Gesicht gehörte Albertine Sarrazin. Als ich im Zug zurück nach Brooklyn den mageren Klappentext verschlang, erfuhr ich bloß, dass sie in Algier geboren wurde und verwaist war, dass sie eingesessen hatte, zwei Bücher im Gefängnis und eines in Freiheit geschrieben hatte und erst kürzlich, 1967, gestorben war, wenige Wochen vor ihrem dreißigsten Geburtstag. Eine Schwester zu finden und im selben Augenblick zu verlieren, traf mich damals tief. Ich war knapp zweiundzwanzig, auf mich allein gestellt, mit Robert Mapplethorpe entzweit. Es sollte ein strenger Winter werden, nachdem ich warme, verlässliche Arme für andere, unsichere Arme verlassen hatte. Meine neue Liebe war ein Maler, der unangekündigt vorbeikam, mit lauter Stimme Passagen aus Notre-Dame-des-Fleurs vorlas, mit mir ins Bett ging und dann wochenlang verschwand.

Das waren die Nächte des hundertmaligen Schlafs, nichts konnte meine rastlose Unruhe lindern. Gefangen zu sein in dem aufreibenden Drama des Wartens – auf die Muse, auf ihn – war qualvoll. Meine eigenen Worte reichten nicht aus, nur die eines anderen konnten Elend in Inspiration verwandeln.

In Astragalus fand ich die Worte, aufgeschrieben von einer jungen Frau, die acht Jahre älter war als ich und jetzt tot. Im Lexikon fand sich kein Eintrag zu ihr, darum musste ich sie mir Silbe für Silbe zusammensetzen (wie ich es bei Genet getan hatte), in der Vorstellung, dass die Lebenserinnerungen eines Dichters durch Unwahrheiten hindurchgehen müssen, um die Wahrheit offenzulegen. Ich kochte Kaffee, türmte Kopfkissen in meinem Bett auf und fing an zu lesen. Astragalus war der Gelenkknochen, der Fakt und Fiktion miteinander verband.

Wegen bewaffneten Raubüberfalls zu sieben Jahren Haft verurteilt, springt die neunzehnjährige Anne von der Gefängnismauer, ein Zehn-Meter-Sturz. Sie bricht sich dabei den Knöchel und ist, über ihr eine Myriade unbarmherziger Sterne, scheinbar hilflos. Zierlich, aber zäh, schleppt sie sich vorwärts, bewegt sich Zentimeter für Zentimeter auf die Straße zu. Sie wird zum Glück aufgelesen von einem anderen Gejagten, einem kleinen Gauner namens Julien. Sie mustert ihn und weiß, er hat eingesessen, er verströmt diesen Ex-Häftlings-Geruch. Auf seinem Motorrad schlagen sie sich durch die klirrend kalte Nacht. Vor Tagesanbruch legt er ihren kleinen Körper vorsichtig ins Kinderbett eines Bekannten. Später wird sie zu einer misslaunigen und argwöhnischen Familie gebracht, in einen Raum im Obergeschoss, dann wieder zu einem Freund eines Freundes. So sieht sie aus, ihre sogenannte Befreiung: von einem Versteck ins nächste geschleppt zu werden.

Sie schreibt von Unruheattacken. Wie war ihr Schlaf? Schlief sie im Gefängnis besser, weil sie sich nicht ständig umsehen musste? Wie schläft man, wenn man auf der Flucht ist und sich bei jedem zusammengekniffenen Auge fragen muss, ob Verrat droht? Ihr kaputtes Bein ist in Gips gepackt, aber noch mehr schmerzt der erschreckende Umstand, dass Julien an ihr Strichmädchen-Herz gerührt hat. Ihre starke Sehnsucht nach ihm ist selbst eine Art Gefängnisstrafe. Sie hat keine andere Wahl, als das Herumgereichtwerden zu ertragen. Hermes mit dem gebognen und gebrochnen Knöchel und einem grausam nutzlosen Flügelschuh.

Die Heldin ist dazu verdammt, auf ihren innig geliebten Ganoven zu warten. Ihre Geschichte besteht aus Gerichtsverhandlungen, Fehltritten, Festnahmen und kleinen Freuden. Sie sind Figuren aus einem Buch, das sie geschrieben hat. In meinem Kopf war sie nicht länger fußlahm, sondern frei, in einem Bleistiftrock, einer ärmellosen, über der Taille geknoteten Bluse und mit einem Chiffontüchlein um den Hals. Sie war keine eins fünfzig groß, aber alles andere als ein zitternder Däumling. Vielmehr ein Stück Dynamit, das einen bei der Explosion wenn nicht töten, so doch in jedem Fall verstümmeln würde. Sie hat die ausgeprägte Fähigkeit, Situationen zu erfassen, Freier richtig einzuschätzen, jede einzelne Geste ihres Geliebten zu deuten, und ihre Einzeiler sind direkt und schneidend. »Du wolltest mich mit deiner Liebe vollstopfen.« Sie besitzt einen ganz eigenen, lebendigen Slang, ein mit lateinischen Einsprengseln durchsetztes Argot.

Ein weiblicher Genet? Sie ist einfach sie. Sie hat einen unverwechselbaren, gehobenen Pokerface-Stil zwischen Poesie und Kriminalroman: »Ich war irgendwann vor Ostern abgehauen, aber nichts erstand auf.« Dieser lyrische Scharfsinn – »spottend und geläutert« – durchzieht ihre Erzählung, wie ein schmaler Fluss über die Felsen strömt, eine dunkle Ader, die sich teilt und wieder vereint. Albertine, die kleine Heilige der schreibenden Außenseiter. Wie schnell bin ich in ihre Welt hineingezogen worden – bereit, die ganze Nacht hindurch zu kritzeln, kannenweise kochend heißen Kaffee in mich hineinzukippen und nur zu unterbrechen, um den Lidstrich nachzuziehen. Ich sog ihr jugendliches Mantra begierig auf, ließ meinen formbaren Geist von ihm durchströmen.

»Ich möchte fortgehen, aber wohin? Verführen, aber wen? Schreiben, aber was?«

Wer sich zu Albertines Jüngern zählt, muss sich auch vor der Übersetzerin Patsy Southgate verneigen. 1968 war auch sie noch unerkannt – eine atemberaubende Blondine mit eisblauen Husky-Augen, die für die Paris Review schrieb und übersetzte. Als ich ein Foto von ihr fand, wie sie mit ihren kurz geschnittenen Haaren in einem Pariser Café sitzt, war das eine Offenbarung. Ich klebte es an meine Wand neben Albertine, Falconetti, Edie Sedgwick und Jean Seberg, alles Frauen mit kurzen Haaren, meine Heldinnen dieser Tage.

Patsy Southgate war ein Mysterium. Als privilegiertes und vernachlässigtes Kind wusste sie instinktiv, wie sie in Astragalus hineinfinden konnte, und spürte wohl eine innere Verwandtschaft zu ihrem Gegenstand. Sie war intelligent, hochkompliziert und fühlte sich leidenschaftlich zu allem hingezogen, was französisch war – ein expatriierter Liebling der Post-Beatniks und bekanntermaßen von Frank O’Hara vergöttert. Sie war ein Kind aus gutem Hause, einsam und streng erzogen, doch sie hatte eine französische Gouvernante namens Louise, die ihr weit mehr Zärtlichkeit schenkte als ihre eigenen Eltern. Als Louise nach Paris zurückging, um zu heiraten, war Patsy am Boden zerstört: Sie verbrachte einen Großteil ihres Lebens damit, sich nach ihrer imaginären Mutter zu sehnen, der wahren Mutter ihrer erfundenen französischen Seele.

Und wer war Albertines Mutter? Unter dem Namen Anne-Marie Albertine Damien wurde Albertine 1937 in Algerien geboren und weggegeben. Ihre Herkunft blieb immer im Ungewissen, und vielleicht hätte nur eine ganze Reihe von DNA-Tests sie enthüllen können. Vielleicht war sie die Tochter einer spanischen Tänzerin und eines Matrosen? Oder das uneheliche Kind ihres Adoptivvaters und seines jüdisch-algerischen Dienstmädchens? Liebe und Konflikt in jedem Fall, und der Nährboden für eine Randexistenz. Sie war ein frühreifes, kleines Ding und hätte aufgrund ihrer großen Begabungen – sie glänzte in Latein und Literatur, brillierte auf der Geige – eine Schulausbildung und ein ausgefülltes musikalisches Leben genießen sollen. Doch der Mangel an liebender Fürsorge und eine Kette schrecklicher äußerer Ereignisse lenkten ihren Weg für immer in eine andere Richtung.

Mit zehn wurde sie von einem Mitglied der Familie ihres Adoptivvaters vergewaltigt. Nachdem sie versucht hatte zu fliehen, steckten ihre Eltern sie in eine Besserungsanstalt für Mädchen, die paradoxerweise Der gute Hirte hieß. Es war ein heruntergekommener Ort, wo sie gedemütigt und ihr der Taufname Anne-Marie entzogen wurde. Mit dreizehn schrieb sie ihre Notizen in ein Ringbuch, ein kostbarer Beleg für ihre Beobachtungsgabe; es wurde konfisziert, weil man ihr Maiglöckchenparfum als zu aufdringlich erachtete. Sie war zierlich und hübsch, gerüstet mit dem kritischen Geist einer Heiligen Johanna vor Gericht. Sie flüchtete aus der Erziehungsanstalt und tauchte ein in die Straßen von Paris, um schließlich das Leben eines Strichmädchens und einer kleinen Ganovin zu führen. Mit achtzehn wurde sie, gemeinsam mit einer Komplizin, verhaftet und wegen bewaffneten Raubüberfalls zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ihr letzter Gefängnisaufenthalt, sie hatte eine Flasche Whisky gestohlen, war 1963 und dauerte vier Monate. Während all dieser Phasen schrieb sie: die ganze Jugend hindurch, in Zeiten der Liebe und der Verlassenheit, ob im Gefängnis oder in Freiheit, sie schrieb.

Das Leben ist oft besser als Kino. Wie ist ihr Film ausgegangen? Traurig, in einem Krankenhaus, wo sie Julien müde anlächelte, um dann ihr Schicksal in die Hände eines fahrlässigen Anästhesisten zu legen. Welche Träume verbargen sich, als sie fortgerollt wurde, hinter diesen schweren, von einem Kajal-Halbmond gekrönten Augenlidern – eine Zukunft mit Julien, Frieden, Erfolg und Anerkennung? All das war möglich, denn zuletzt standen sie an der Schwelle zu einem anderen Leben. Sie hatten geheiratet, sich vom Verbrechen losgesagt. Verlassen hat sie die geliebte Welt, wie sie sie betreten hat – auf einer Wolke der Vernachlässigung.

Die Heilige Albertine mit der Einwegfeder und dem unerschöpflichen Kajal. Ich lebte ganz in ihrer Sphäre. Ich stellte mir vor, wie sich der blaue Rauch ihrer Zigarette um ihre Nasenlöcher kräuselt, sich durch die Blutbahnen bewegt und auf die Herzkammern legt. Meine Atemwege waren zu angegriffen, als dass ich selbst hätte rauchen können, doch ich trug eine Packung grüne Gauloises in meiner Rocktasche mit mir herum. Ich ging im Zimmer auf und ab und wartete darauf, dass mein Maler kommen und mich aus meinem selbstgewählten Gefängnis befreien würde, so wie sie auf Julien gewartet hatte. Nie war das Warten so erträglich und Nescafé so ein Lebenselixier. Ich schuf mir meinen eigenen Jargon, gegründet auf Astragalus und erweitert mit Cavale, ihrem nächsten Roman, übersetzt als »Die Ausreißerin«,1 mit einer der großartigsten Anfangszeilen der französischen Literatur: »Ich bin wirklich gut ausgestattet für meine Ankunft im Knast heute Abend: Opossum und schmale Hose.«

Von der einen Hoffnung verlassen, fand ich in Sam Shepherd eine andere. Als wir beide auseinandergehen mussten, schrieben wir unseren Schwanengesang in Form des Stücks Cowboy Mouth, und als Hommage an Albertine nannte ich meine Figur Cavale, ein Name, der »Flucht« bedeutet, wie sie am Ende des Stücks erklärt.

Als ich 1976 die Welt bereiste, packte ich Astragalus in einen kleinen Metallkoffer, der mit schweißfleckigen T-Shirts, Glücksbringern und jener schwarzen Jacke gefüllt war, die ich mit Nonchalance auf dem Cover von Horses trug. Es war eine Black-Cat-Taschenbuchausgabe mit einem Foto von Marlène Jobert auf dem Umschlag. Sie kostete 95 Cent, etwa so viel, wie ich 1968 für das gebundene Buch bezahlt hatte. Ich nahm sie mit nach Detroit, wo ich meinen eigenen wahren Julien traf, einen komplizierten, verschlossenen, gutaussehenden Mann, der mich erst zu seiner Braut und dann zu seiner Witwe machte. Nach seinem Tod nahm ich Astragalus 1996 mit zurück nach New York, eingebettet in einen Schatz bittersüßer Erinnerungen.

Vor einer meiner letzten Frankreich-Touren förderte ich unabsichtlich ebenjenes Exemplar zutage, brachte es aber nicht über mich, es zu öffnen. Stattdessen wickelte ich es in ein altes Taschentuch und trug es in einem anderen Metallkoffer mit mir herum. Es war, als hätte ich Albertine selbst, eine zerrupfte Blüte, unter meiner aktuellen Version schweißbefleckter T-Shirts. Dann, in einer schlaflosen Nacht in einem Toulouser Hotel, packte ich es plötzlich aus und begann von neuem zu lesen, erlebte den Sprung und den Blitzschlag, als ihr Knöchel brach, und wie die Scheinwerfer leuchteten, als ihr Engel ihr erschrockenes herzförmiges Gesicht musterte. Szenen aus meinem Leben vermischten sich lautlos mit ihren Worten. Und dort, zwischen den vergilbten Seiten, lag ein altes Foto meiner Liebe, und in der abgegriffenen Umschlagklappe eine Locke seines langen braunen Haars – ein kostbares Relikt von ihm inmitten eines Relikts von ihr.

Keine vorbeiziehenden Engel, sondern die Engel meines Lebens.

Eines Tages werde ich ihr Grab besuchen mit einer Thermoskanne schwarzem Kaffee, werde eine Weile mit ihr dasitzen und den von Julien zu ihrem Gedenken aufgestellten Grabstein in Form eines Astragalknochens mit Maiglöckchenparfum benetzen. Wie ich meine Albertine vergöttert habe! Ihre leuchtenden Augen haben mich durch die Dunkelheit meiner Jugend geführt. Sie hat mich durch die Nächte hundertmaligen Schlafs begleitet. Und jetzt wird sie Euch begleiten.

 

Patti Smith

 

Aus dem Amerikanischen von Angela Sanmann

 

1 Die deutsche Übersetzung von Werner Bökenkamp ist unter dem Titel Kassiber erschienen (A.d.Ü.).