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Wenn die Zeitungs- und Croissantverkäufer da gewesen sind, sehen wir bis zur Besuchszeit nur noch Krankenhauspersonal. Jeden Tag macht der Assistent des Professors mit den jüngeren Ärzten seinen Rundgang; aber den Assistenten würdigen wir keines Blicks. Für uns existiert allein Gottvater, er, der die Station getauft, er, der uns neu erschaffen hat, mit seinen eigenen oder mittels fremder Finger. Gott, der den Plan für unsere Operation ersonnen, sie unter verschiedenen Verfahren ausgewählt hat. Er hat unsere Röntgenbilder bis ins Knochenmark durchsucht, während unsere Gerippe reglos ruhten und nicht ahnten, dass sie durchleuchtet wurden. Er urteilt, trennt, schneidet, pfropft. Aber wir haben keinen Zugang zu seiner Küche. Unser Fleisch wurde beschlagnahmt, und wenn es uns vergönnt sein sollte, eines Tages wieder mit der einstigen Freude darüber zu verfügen, o heilige Rüstigkeit, so werden wir doch nie wissen, auf welchem Weg es uns zurückgegeben wurde.

Gottvater kommt zwei-, dreimal in der Woche vorbei. An den Tagen der Chefvisite schiebt die Hilfsschwester die Koffer unter die Betten, entsorgt die Pullen, die sich unter unserem Krankenlager angesammelt haben, und desinfiziert die Bettpfannen mit ungewohnter, demonstrativer Sorgfalt; ständig kriegen wir ihr »Oh, lá, là!« zu hören. Keine Chance, die Pfanne vor dem großen Rundgang zurückzubekommen. Wir kneifen unsere Schließmuskel zusammen, glätten die Oberfläche unserer Bettstatt, frischen Augen und Lippen auf. Die Liebe, die wir alle Ihm entgegenbringen, inspiriert uns zu anmutigen Posen, lässt die Handarbeiten oder Lesestoffe aus unseren Nachtschränken auftauchen, die uns am geeignetsten erscheinen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn er sich herablässt zu bemerken, dass es rings um den Knochen eine Frau gibt, ein unzerlegbares Wesen, das arbeitet und denkt, wenn er für einen Moment den Blick von den Röntgenbildern zu unserem Gesicht hebt, wenn er uns ein Lächeln oder ein Wort schenkt, dann werden unser Leiden und unsere Ahnungslosigkeit schwinden, wir werden genesen, und wir werden wissen.

Er naht. Füße und Beine, Stützstrümpfe und Gips, Glanz und Blässe, alles zerfließt und erstarrt in derselben Demut. Die Oberschwester lässt den Wagen verschwinden, vergewissert sich, dass keine Zigarette auf der Nachttischkante glimmt. Dann geht sie in die Ecke mit dem Röntgenbilderkasten. Das ist eine große weiße Kiste auf Rädern und mit dickem Deckel; sie enthält unsere Akten. Die Oberschwester verschwindet unter dem Deckel, holt unsere sechs Krankenblätter raus und legt sie auf die Fußenden. Sie wird sie wieder einkassieren, sobald der Chef weg ist.

Ich kenne nicht mal meine Blutgruppe und würde trotzdem gern die Nase in diese Mappe stecken. Aber wie? Ihre Liegezeit auf dem Bett ist zu kurz, und die Oberschwester rührt sich nicht aus dem Zimmer, überwacht gleichzeitig den Flur, auf dem das Gefolge auftauchen wird, und jede Regung, die wir zu machen versuchen. Die Kiste ist nicht abgeschlossen, aber da keine von uns laufen kann … Einen Besucher bestechen? Mich in flagranti wegen Egoneugier erwischen lassen, eher nicht. Ich lauere. Eines Tages wird der Chef vor dem Bett gegenüber haltmachen und die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und alle werden mir lange genug den Rücken zukehren, damit ich angeln, blättern und zurücklegen kann. Ich vermute allerdings, dass mein Elektrokardiogramm, die Analyse meiner diversen Körperflüssigkeiten und das Röntgenfoto meiner Lunge gleichermaßen zufriedenstellend sind. Wie könnte es anders sein?

»Ich habe Schmerzen …«

»Ich bin so furchtbar müde (oder nervös oder verstopft).«

»Schauen Sie nur, Doktor, ich fange an, wund zu werden.«

Egal, was man Überraschendes oder Beunruhigendes an sich entdeckt, man muss, wenn man es Äskulap wissen lässt, mit folgender Antwort rechnen: »Aber das ist doch ganz normal!«

Es ist also normal, dass ich spüre, wie meine Koje schwankt und in den Abgrund kippt, dass meine Hüften bunt wie ein Regenbogen sind, dass plötzlicher Heißhunger von Übelkeit abgelöst wird, dass mir ein Kloß in der Speiseröhre steckt und dass die Zehen auf ihrem Gipssockel liegen wie fünf kleine tote Würstchen. Übrigens macht mir das alles keine Sorgen, nicht nur, weil es »normal« ist, sondern auch, weil ich jede Laune, jede Reaktion meines Gerippes mit distanziert-interessierter Resignation zur Kenntnis nehme.

Aber ich wüsste doch gern, wie sie es geschafft haben, meine Haxe zu begnadigen, nachdem sie sie erst mal guillotiniert hatten; was sie wohl an Schrauben, Plastik oder Stiften eingebaut haben, um sie wieder auf Vordermann zu bringen, und was das für ein in meinem Körper vergessenes Instrument ist, das mich hin und wieder auf ungeahnte, schwindelerregende Höhen des Schmerzes schickt. Bei jeder Antibiotikumspritze kommt der Schmerz der Tuberkuloseimpfung aus der Kindheit – der schlimmste, den ich damals kannte – in x-facher Stärke zurück. Oder ich denke an die Benzininjektionen, an meine Selbstzerstörungsversuche, an das, was ich zu Rolande sagte: »Wenn es nicht so läuft, wie ich will, setze ich meine Haxe aufs Spiel, ich lass mir ordentlich eins mit dem Hocker drüberziehen …«

Mein Wunsch wurde erhört.

Manchmal fragt man Gottvater: »Monsieur …« oder: »Professor …«

Er hört nie zu. Einer seiner Satelliten verlässt dann sein Kielwasser, kommt zu einem und erstickt jede Frage mit einem schlichten, beschwichtigenden Satz, gleichbleibend optimistisch und unkonkret: »Wann Sie wieder laufen können? Sicherlich bald, bald. Noch ein klein wenig Geduld. Was wir mit Ihnen gemacht haben? Auf jeden Fall wunderbare Arbeit. Ein sehr schöner Eingriff, oder?« Und der Chor der Untersatelliten stimmt zu.

Ich fange an, ihren Attributen zu misstrauen: Je wunderbarer es für sie ist, desto schwerwiegender ist es für uns. Uns fehlt der Klinikverstand …

Ich habe das Gefühl, dass sich der Chef ziemlich lange an meinem Fußende aufhält. Er nimmt meine Röntgenbilder, tritt ans Fenster, um sie ins Licht zu halten; ich bin durch die Flut weißer Kittel, die andächtig seinen Erklärungen lauschen, von ihm getrennt, und er spricht so schnell, so leise, so verschlüsselt, dass mein Fuß in unverständliche Splitter zerspringt und ich verzweifle. Ich werde wütend, ich denke, dass er eine Schau abzieht, dass er mit so korrekten Handschuhen und so weißen Leinenschuhen um die Knöchel unmöglich direkt aus dem OP kommen kann. Trockene Sprache, kurze Sätze, karges Lächeln, er ist der Wunderdoktor aus meinen Kinderbüchern.

Einmal hat er aber doch mit mir gesprochen. Ich hing seit zehn Tagen im Streckverband, die Ferse von einer Art Stricknadel durchbohrt, deren Enden mit einem Hufeisen verbunden waren, von dem eine Trosse über eine Rolle führte, an der ein Gewicht von sieben Kilo hing. Ich steckte bis zum Po in einem Eisengerüst. Mein Oberkörper war tiefer gelegt, denn man hatte die Beine am Fußende erhöht. Ich steckte in einer Zwangsjacke … wo ich so gern entspannt auf dem Bauch schlafe.

Meine Zimmergenossinnen trösteten mich. Der Streckverband sei natürlich lästig, aber das sei nichts im Vergleich zu einer Operation. Sie Glückspilz, man hat Ihnen einen Stift eingesetzt, Sie werden der Operation entgehen … Ich wollte gerne tauschen. Ich hatte genug davon, von meiner Trosse gezogen und gestreckt zu werden.

An jenem Morgen sah mich der Chef: »Wie alt sind Sie?«, fragte er mich plötzlich und pochte mit meinem letzten Röntgenbild an das Bettgitter. Er überhörte allerdings meine Antwort, und während sich alle in seinem Kielwasser in Bewegung setzten, konnte ich nach Belieben rot und blass werden.

»Gut, schicken Sie mir die Eltern der Kleinen«, warf er der Oberschwester hin, die seine Anweisungen sogleich auf meiner Karte notierte.

Als meine Schwester zu Besuch kam, fuhr ich sie an, sie hätte sich als meine Mutter ausgeben sollen. Meinst du nicht, du bist alt genug, was wollen wir ihnen jetzt erzählen … Nini packte eine Schüssel mit Erdbeeren und Schlagsahne aus, und während ich mich damit beruhigte, ging sie ins Büro, um zu verhandeln. Sie kam mit glühenden Wangen zurück.

»Alles geklärt«, sagte sie. »Ich habe die Genehmigung unterschrieben, sie machen es, sobald die Befunde da sind.«

»Es?«, rief ich. »Was ›es‹?«

»Ihr … ich meine, dein Bein wächst nicht zusammen, irgendwelche Knochensplitter. Die Oberschwester hat mir es nicht so genau erklärt. Aber … Sie werden dich in den nächsten Tagen operieren.«

Die ganze Woche lang empfing ich in meinem Bett. Weil der Bügel jeden Transport unmöglich machte, kamen der Radiologe, der Kardiologe und die Blutabnehmerinnen aus dem Labor zu mir. Ich machte Pipi, wenn sie es wollten, ich starb mehrere Morgen hintereinander vor Hunger, während ich auf sie wartete, weil ich solche Angst hatte, meine Operation zu verpatzen.

Schließlich, am sechzehnten Tag mit Stift, schluckte ich das morgendliche Nembutal und wartete dösend auf das Skalpell. Diesmal wusste ich, wie man bis zum OP überlebt: Man musste das Bewusstsein immer weiter runterfahren und es dann auf ganz kleiner Flamme köcheln lassen. Bloß nicht denken, in Zeitlupe die bunten Buchseiten umblättern, in dem Rhythmus, der verlangt wird, die Lider auf halbgeschlossen einstellen, nichts erzwingen, nichts zurückhalten. Um mich herum, in weiter Ferne, ging der morgendliche Trott weiter, Wagen, Tücher, Bettpfannen, Gerüche, sechs Sorten Eau de Cologne, ein von Urin und Medikamenten durchtränkter, ausgelaugter Duft.

Am Vortag hatte man meinen Stift abgebrochen, hatte meine Haxe gelb angemalt, hatte sie in einen riesigen Schaumstoffverband gewickelt. Ich schminkte mich ganz dezent, weil mir die Schwester empfohlen hatte: »Bloß nichts ins Gesicht, und machen Sie den Nagellack weg!« Selbst tot wollte ich Gottvater noch angenehm sein.

Um zehn hoben mich die Pfleger auf die Liege, die Oberschwester deckte mich mit dem Laken zu, schob je ein blütenweißes Kissen unter meinen Kopf und mein Bein, und ich fuhr los, grüßte mit den Fingerspitzen nach rechts und links wie eine Königin in ihrer Kutsche.

Im Vorraum des OP, in den mich vor Stille betäubende Flure geführt hatten, beugte sich die Oberschwester über mich. Ich sah ihr Gesicht in Großaufnahme und hatte Zeit, ihre Augen hinter den Brillengläsern weich werden zu sehen, während sich ihr Mund mit einem schönen, knallenden Kuss an meine Wange drückte. Sie sagte: »Bis nachher, Kleines«, und verschwand.

Ich blieb allein in dem Raum voll sauberer Schatten. Die Akte wartete auf dem Fußende der Liege, hinter meinen Füßen, die nebeneinander ausgestreckt waren wie die einer Sterbenden; aber ich war unfähig, sie von dort zu holen, das Ende der Liege war das Ende der Welt, und letztendlich pfiff ich auf diese Papiere. Ich pfiff auf alles, ich war tot, meine Arme lagen tot neben meinem toten Körper, nur die Wand lebte, wogte und drehte sich langsam.

Der diensthabende Arzt zerstörte meine Seligkeit. Er kam herein, füllte die Leere mit mächtigem Lärm und mächtigem Umfang, stieß Wortströme und Rauchschwaden aus. Dabei wusste ich, dass er gedämpft sprach und seine übliche Gauloise qualmte, aber meine Gedanken und Sinne bewegten sich nicht mehr auf derselben Wellenlänge.

»Na, Kleines«, brüllte der Assistenzarzt, »sind wir in Form? Wollen wir nicht schlafen?«

Ich dachte »nein, nein« und versuchte, meinen Blick wiederzubeleben.

Und ich starb, die linke Hand im Handschuh des Arztes, den steifen rechten Arm auf dem Brett, sobald der Anästhesist angefangen hatte, auf den Kolben seiner großen Penthotalspritze zu drücken. Ich starb mit einem angenehmen Kribbeln in den Schläfen, ohne dem Eintreten Gottes beigewohnt zu haben.

So ging ich dreimal zum OP. Um die Lücke zu überbrücken, die durch die Entfernung meines Astragalus entstanden war, bohrte man zwei neue Stifte durch die Leere, einen in der Ferse und einen im Knöchel; vier mit der Zange gebogene und mit Pflaster befestigte Bügel ragten aus dem Gips. Als die Oberschwester einmal frei hatte, gelang es mir endlich, die Akte, die von der Vertreterin schon beim Frühstück ausgelegt worden war, zu entwenden und die OP-Berichte abzuschreiben. Ich lernte neue Wörter: Resektion, Abrasion, Astragalektomie, Arthrodese …

Julien kommt mich gelegentlich besuchen. Weil der Sommer naht, bringt er Früchte und Flaschen mit. Während der Besuchszeit geht er raus und holt Eis für mich und meine Nachbarinnen. Auf meine Kissen gestützt, sehe ich ihn den Saal durchqueren, das blonde Lächeln, brav und zugleich albern mit seinen fünf oder sechs Waffeln Vanille-Erdbeer, die er mit den Fingerspitzen balanciert. Der ganze Saal, außer mir, ist mit ihm verlobt. Wir wirken naiv und sorglos, wir halten uns bei den Händen.

»Ach Anne! Es wird Zeit, dass du zurückkommst … An dem Abend, als du ins Krankenhaus gebracht wurdest, habe ich bei Pierre geschlafen, in deinem Bett. Als ich ins Zimmer kam, habe ich dich gesehen, geatmet, du warst noch da …«

Ich lehne mich an ihn, ich beschmiere seine Hemdschulter mit Schminke; die Jacke hat er über den Bügel geworfen. Eine nach der anderen fallen die Hüllen, wir erkennen uns wieder … Jeder Besuch ist übervoll von Hoffnung und Nichts, es gibt keinen Platz für uns auf Erden: herumirren oder Knast, für immer und für immer allein.

»Es wird Zeit, dass du zurückkommst …«

»Aber ich will nicht dorthin zurück!«

»Du musst aber … Bis du deinen Gips los bist. Vergiss nicht, dass du Ninis Schwester bist … Danach finde ich etwas anderes, wahrscheinlich in Paris. Versuch herauszukriegen, wann sie dich ungefähr rauslassen.«

»A propos, Julien, hast du dich erkundigt, was Arthrodese ist?« Bei seinem letzten Besuch hatte ich ihm die Abschriften mitgegeben und ihn beauftragt, sie zu entschlüsseln.

»Ja, das heißt Versteifung. Du wirst deinen Fuß nicht mehr beugen können.«

»Sie könnten ihn verlieren«, »Schicken Sie mir die Eltern« und jetzt »Versteifung«. Meine Augen entfärben sich an der weißen Schulter – je mehr ich weine, desto mehr brennt es, je mehr es brennt, desto mehr weine ich, verdammte Wimperntusche. Nie wieder werde ich auf Zehenspitzen gehen, ade, Absatzschuhe, ich werde hinken, und du wirst die Krücke eines verkrüppelten Mädchens sein, das nicht zu dem imstande sein wird, was du vielleicht von ihm erwartet hast, das sich nicht einmal … Die Zukunft gerät ins Wanken. Wie soll ich jetzt tollkühn, aufreizend sein? Wie soll ich wagen, mich zu zeigen? Rolande …

Ich überlege, ich drifte ab, bis zum Ende der Besuchszeit liege ich stumm, reglos, schniefend in Juliens Arm. Er wiegt mich, liebkost mich mit sanften Geschichten, macht sich liebevoll über meinen Kummer lustig. Es gibt noch andere Chirurgen, später gehen wir zu den Superchampions und … Doch, doch, du Dummchen, du wirst wieder herumspringen wie vorher.

Am nächsten Tag frage ich den Arzt, ob ich nach Hause kann.

Er prüft die Röntgenbilder, schlägt das Laken zurück, beugt mein Knie, zieht meine Zehen lang, die jetzt frisch und abgeschwollen, aber immer noch unbeweglich sind. Mit seinem Kittel und dem behaarten Dreieck im Ausschnitt, seinen in eine weiße, um seine Beine flatternde Schürze geschnürten Hüften sieht er aus wie ein großes, als Metzger verkleidetes Tier.

Er schaut mich an, dann entdeckt er die Flasche Montbazillac auf dem Nachttisch und lächelt: »Fühlen Sie sich nicht wohl bei uns? Erlaubt Ihnen Ihre Mama das Trinken?« Dann: »Ich denke, Sie können raus. Fragen Sie den Chef, aber ich sehe keinen Grund … Sie kommen dann in die Sprechstunde, um sich den Gips abnehmen zu lassen.«

»Aber … kann ich nicht einfach … jetzt gleich gehen?«

»Also … Ich weiß nicht.«

Julien kommt nachher wieder, er muss mich mitnehmen … Ich schnappe mir die Oberschwester. Sie lässt zwar jede Genehmigung von den Stationsärzten sorgfältig bestätigen und gegenzeichnen, aber vor uns spielt sie gern den großen Häuptling.

Als sie mir um elf meinen Mittagsteller bringt, gibt sie grünes Licht: »Ich habe Ihren Entlassungsschein fertiggemacht. Sie gehen heute Nachmittag. Wollen Sie einen Krankentransport, oder werden Sie abgeholt?«

»Nein, nein, ich habe jemanden.«

Die Hilfsschwester nimmt unsere Teller, trägt sie zum Tisch in der Mitte und befördert die Reste in einen Eimer. Sie fährt mit dem Lappen über das blaue Resopal des Tischs, blau wie die Wände und der Juni, draußen, vor dem Fenster. Wohlige Hitze kommt in Wellen herein; das Fenster glänzt, als würde die Farbe perlen. Ich gehe, ich werde diese glückliche Trägheit verlassen, dieses Bett in der Sonne, ich verlasse das Krankenhaus.

Gestern war ein Bulle da, er suchte »eine Minderjährige, die einen Verkehrsunfall hatte«. Er kam direkt zu meinem Bett, meine Stimme versagte, und mein Rücken begann zu triefen; aber ich war noch dabei, von dem Hund und der Terrasse zu erzählen, da hatte er schon kehrtgemacht. Später erfuhr ich, dass die gesuchte Minderjährige im Nachbarzimmer lag: Unfall mit dem Vélosolex, ein Knie zersplittert. Trotzdem, ich hatte so einen Schiss! Julien hat recht: Die kleine Schwester, die zufälligen oder wohlwollenden Fragen ausgesetzt ist, wird weniger stören, wenn sie zu Hause ist.

Ich kann Pierre förmlich hören: »Hör mal, so eine Göre kann uns alle in den Bau befördern …« Ja, ja, es reicht, ich komme zurück. Aber diesmal lass ich mir nichts bieten. Ich habe einen Stammbaum, eine Astragalektomie, und Julien, Julien, dem ihr die Stiefel leckt, weil er Kohle hat, Julien ist da, er wird aufpassen, dass ihr eure giftigen Zungen im Zaum haltet, runterschluckt, und bald werde ich auch auf euer Gerede pfeifen.

»Nimmst du mich mit?«

Wohin, das bleibt ungesagt; alle diese Wörter, Knast, Einbruch, Polizei, habe ich zu verschweigen gelernt. Als ich sie bei Juliens ersten Besuchen benutzte, auch nur ganz leise, schienen sie immer in ein Loch von Stille zu knallen, und der ganze Saal, Bettlägerige und Besucher, wirbelte aufhorchend und empört zu mir herum. In einer Sekunde führte mein Wort in die Katastrophe, ich wurde erkannt, mitgeschleift, gelyncht … Dann stellte ich fest, dass nichts war, dass niemand zugehört oder gezuckt hatte. Doch, Julien, sein Gesicht empfing den Schlag mit einem unmerklichen Wechsel des Ausdrucks, ein Schatten, ein Missfallen – oh, oh, schon wieder ein Patzer, Anne … Was tun, um Julien zu gefallen? Wie soll ich das, was ich von ihm weiß, mit dem zusammenbringen, was ich von ihm sehe? Ich habe einen – steifen – Fuß in das Leben eines Gauners gesetzt, und alles darin überrascht, verwirrt mich … Julien, ein Einbrecher? Und dennoch hat die Macht der Knete, die er nachts auf gefährlichen Mauern kassiert, mein Bein geheilt. Wenn man nicht sozialversichert ist, blecht man in der Chirurgie acht oder neun Riesen pro Tag, dazu kommen die Pension bei Pierre und alle möglichen Kosten … Julien macht mir ein goldenes Bein. Trotzdem verweigere ich die seligmachende Dankbarkeit. Schließlich weiß ich, dass ich imstande, sogar verpflichtet gewesen wäre, das Gleiche zu tun, wenn ich in einer eisigen Frühlingsnacht im Licht meiner Scheinwerfer einen Mann getroffen hätte, der mich braucht, um seine Befreiung zu vollenden.

»Ganz ehrlich, wenn du alt und hässlich wärst, wäre es dasselbe gewesen …«

O ja, mein Lieber. Und es wäre noch schöner gewesen, ich weiß. Wenn ich dich unglücklicherweise liebe oder wenn du, noch schlimmer, anfängst, mich zu lieben, wirst du immer alles verderben, immer ablehnen, aus tausend eingebildeten und falschen Gründen. Das ist falsch, das ist falsch! Bezahlen wir halt den Tribut der Jugend, bleiben wir sehr zärtliche Geschwister, begraben wir jede Erinnerung, wenn du Wert darauf legst.

Julien trällert: »Oh, wenn nur dein Gips nicht wär …«

Du nimmst mich mit, das ist keine Frage mehr.

… Und schon sind wir wieder bei Pierre, in unserem Zimmer. Ich hocke auf dem Boden, und Julien sitzt auf dem Bettrand, wir berühren uns nicht, nur der zerstreute Kamm seiner Finger fährt mir durchs Haar. Es ist sehr warm. Träge reihen wir die Sätze aneinander, sprechen von erholsamen und erfrischenden Dingen, von Büchern, von unseren die Zelle umkreisenden Reisen, dann von kalten Dingen, verlassenen Wegen, vergeblichen Wallfahrten … Ich bin tot und verleugnet. Für mich beginnt alles mit diesem Tod unter den schwarzen Bäumen, alles andere … alles andere ist mit dem vergraben, was man von mir wusste, was man sucht. Was für ein Leben könnten Fotos und Fingerabdrücke haben? Das ist alles, was von vorher bleibt, aber … Scheiße! Es bleibt trotzdem sehr gut. Und jetzt auch noch diese Haxe …

»Überleg mal, mit meinen Krücken komme ich doch überall durch. Später könnten wir einen falschen Gips nehmen …«

»Damit es noch echter aussieht, hätten wir es dir ganz abschneiden und deinen Strumpf mit Sicherheitsnadeln feststecken können. Aber sag mal, wir könnten doch fast einen Strumpf über den Gips ziehen!«

Skeptisch betrachte ich meinen Stiefel. Er ist wirklich hübsch, von noch makellosem Pastellrosa, die Bügel mit frischem Pflaster angeklebt.

»Das ist natürlich besser als das, was es mal war …«

Der Tabak trocknet unsere Münder aus. Wir rauchen trotzdem, ein Automatismus. Nini hat uns einen Aschenbecher gewährt, eine gläserne Baruntertasse, flach und trostlos. Sie quillt schon über.

»Pass auf, mach keine Asche auf den Boden, sonst meckert sie morgen wieder rum. So geht’s besser.«

Und Julien zieht die Schüssel an ihren Eisenfüßen unter dem Waschbecken hervor. Wir werfen unsere Zigaretten hinein. Wir sind geläutert, wir haben Zeit, die warme, stehende Zeit, die Zeit, die Minute für Minute vergeht, flüsternd, ohne Lärm, ohne Hektik.