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Nach einer Woche habe ich alle Ausgaben von Intimité und Nous deux aus Annies Bibliothek durchgelesen und auch sonst reichlich Intimitäten zu hören bekommen. Ich bin offenkundig unbegabt für Krawatten, und Annie will nichts davon wissen, dass ich ihr bei der Wäsche oder in der Küche helfe.
»Mit Ihrem Bein? Das ist nicht Ihr Ernst!«
Also gehe ich auf dem Boulevard spazieren. Ich schleppe mein Bein mit wie eine Schildkröte ihr Haus, mit der gleichen methodischen Langsamkeit. Der Sommer lässt die Schatten der Kastanien zittern; am Ende, dort hinten, lockt die Oase der Kreuzung. Bis dahin schaffe ich es nicht. Ich mache kehrt und bin brav zur vereinbarten Zeit zurück. Das Auge meines Gewissens ist ein Ziffernblatt. Wenn Annie ein oder zwei Stunden zu spät von ihrer Auslieferung zurückkommt, ist das ihre Sache, aber ich, ich stehe noch unter der Fuchtel der Uhr, der Uhr der anderen, die meine Abwesenheit beunruhigt, der unsichtbaren Uhr des Gefängnisses, die dich ansieht und zurücktreibt; außerdem habe ich bei Annie weniger Lust abzuhauen.
»Noch ein Schluck Wein, Annie? Es ist nur zehnprozentiger, nicht weiter gefährlich …«
Nach dem abendlichen Dessert schwatzen wir, bis die Literflasche leer ist. Annie und ich, zwei Frauen ohne Liebe und ohne Glanz – ich kann nicht, sie will nicht mehr. Den ganzen Tag hängen wir aneinander, verbunden durch die gleichen Gesten, Mahlzeiten, Frauenschmerzen, durch die Nadeln, die sich gleichzeitig bewegen, ihre nach links, meine nach rechts; unsere Stühle stehen sich gegenüber, und ich bin Linkshänderin, wir spiegeln uns. Wir nähen, wir rauchen, wir singen vor uns hin, ab und zu lächeln wir uns seufzend an … Aber erst am Abend kommen wir uns nah. Dann ist die Arbeitskameradschaft verbannt, im Dutzend mit den Krawatten zusammengeheftet, in den Koffer der Verpflichtungen gezwängt, und die Vertrautheit wächst, Zug um Zug, Glas um Glas, über den Tisch hinweg, an dem wir sitzen, zwischen den Blumen des Wachstuchs und den Tellerstapeln.
Nounouche ist das Verbindungsglied, klettert auf unseren Schoß, säubert Tisch und Aschenbecher, summt durch unser Getuschel.
»Los, Nounouche, ins Bett!«, sagt Annie halbherzig ab acht alle Viertelstunde.
Vor der winzigen Lauscherin ist es wichtig, unverständlich zu reden. Annie will, dass ihre Tochter »ein kleines Mädchen bleibt«, erzählt ihr vom Weihnachtsmann, vom Klapperstorch und von Bienen. Sie hätte sich fast mit Madame Villon geprügelt, die Nounouche gemeinsam mit ihren eigenen Töchtern aufklären wollte und ihr Bilder im »Larousse médical« gezeigt hat. Andererseits findet sie es überhaupt nicht schlimm, wenn Nounouche mit uns bis Mitternacht aufbleibt, sie kann morgen ausschlafen. Wenn dann die Schule anfängt … was soll sie schon verstehen? Der Vater ist im Krankenhaus, davon kann man sich jeden Sonnabend überzeugen, man muss der Mutter glauben und niemandem sonst, und wenn die Nachbarn einem irgendwas erzählen, antwortet man ihnen, dass sie die Deppen sind und nur man selbst den Durchblick hat.
Das ist Annies Pädagogik. Ich bewundere vor allem, wie sie ohne die kleinste Unsicherheit und voller Überzeugung auf alles reagiert, was Nounouche beobachtet, hört und aufnimmt.
»Pass auf, Anne«, sagt Nounouche zu mir. »Dein Mann kommt auch ins Krankenhaus, wenn er Dummheiten macht. Obwohl, dein Mann … Quatsch! In deinem Alter!« Und wenn mir eine Krawatte gelingt: »Stimmt’s, Maman? Gar nicht schlecht für ihr Alter!«
Unmöglich, ihr begreiflich zu machen, dass ich kein kleines Mädchen bin wie sie, jeden Abend muss ich ihre Kuscheltiere küssen und zwischen den Mahlzeiten aus ihrem Puppengeschirr essen. Der Bär ist in beiden Richtungen durch das Tor der Santé spaziert, das Puppengeschirr hat sich vielleicht in den Fluren des großen Gefängnisses an anderem Blechzeug, Schüsseln oder Schlüsseln gerieben. Sonnabends begleitet Nounouche ihre Mutter ans Krankenbett des lieben kranken Papas, und sie vergisst nie, das eine oder andere Spielzeug mitzunehmen, damit Papa hinter seinem Gitter eine halbe Stunde spielen kann.
Ich möchte sie nicht begleiten – nicht, dass ich Angst hätte, aber die Sprechzeit ist der einzige Moment in der Woche, wo die Bude mir gehört. Ohne Ziel, ja sogar ohne Neugier wühle ich in allen Ecken, um die übrigen sechs Tage »Darf ich, Annie …« zu kompensieren. Ich wasche mir die Haare, betrachte mein Spiegelbild von der Tür der Waschecke aus, die direkt an die von Schrank und Schlafzimmer stößt: Eine neue Eva, nur mit einem Handtuchturban bekleidet, bewege ich mich in einer von Krawatten und Spielsachen übersäten Wüste. Um meine Hilfsbereitschaft zu beweisen und meine Entdeckungen ungeschehen zu machen – Schande der zwischen das Regal des Gaskochers und den Zähler gestopften Schmutzwäsche, Trostlosigkeit eines Stückchens seit Monaten in der Tiefe des Büffets vergessenen Gruyère –, wienere ich den Boden und die Unterseiten der Töpfe. Ich räume auf, ohne allzu sehr in die Unordnung einzugreifen, verleihe ihr lediglich eine etwas geometrischere Form. Um meine Ungeduld, sie wiederzusehen, auszudrücken, gehe ich runter und kaufe im Eckladen Bonbons und im Bistro zwei doppelte Ricard, decke einen Empfangstisch. Trotzdem würde ich bei Gelegenheit gern mal eine halbe Stunde im Chez Marcel sitzen, Rue de la Santé, gegenüber vom Knast. Die Gesichter in dieser Kneipe gehören Freunden, die nicht zur Sprechzeit zugelassen wurden, Freunden der Verwandten des Gefangenen. Die Bündel und Koffer, die sich in allen Ecken stapeln, sind für die Gefangenen bestimmt oder kommen von ihnen; sie enthalten ihre schmutzige oder ihre saubere Wäsche, sie verbergen vielleicht die Feile oder die Kassiber für den Jahrhundertausbruch … Nein, bei Marcel ist jedes Gesicht anständig und jedes Anliegen ebenso.
Ich könnte die Leute und das Gepäck rein- und rauskommen sehen, sauber und fröhlich oder schmutzig und schluchzend, und das Schauspiel in den Kulissen eines großen Knasts würde mich rühren, wie Juliens leere Hemden in meinen Händen.
Annies Schwägerin und ihr Mann haben auch Besuchsrecht und bestehen darauf: Bruder und Gatte empfangen also gemeinsam, denn der Häftling, der beides ist, hat nur einmal in der Woche Recht auf Besuch. Gattin, Schwester, Schwager – ich höre immer dieselbe Leier, die von Annie, aber ich vermute, dass die anderen mit der gleichen Inbrunst die entgegengesetzten Wahrheiten und Lügen von sich geben. Bruderliebe, Bruderpflicht, Bruderhass … Aber um zu dem Mann zu gelangen, der diese verschiedenartigen Gefühle auslöst, gibt es nur ein Transportmittel, das Auto des Schwagers.
Sonnabends gegen eins bereite ich den Familienkaffee vor. Annie wird aus Angst, sich schmutzig zu machen, nichts mehr anrühren, bis sie aus dem Besuchsraum zurück ist. Seit dem Morgen habe ich mit jeder Stunde deutlicher das Freudenmädchen unter Morgenmantel und Lockenwicklern auftauchen sehen. Ihre mageren Beine werden durch die hohen Absätze und den Schlitz des engen Rocks inspirierend; die Kostümjacke rundet die Taille, bricht die eckige Linie des Hinterns und der Hüftknochen. Die Haare fangen an sich zu bauschen und zu glänzen, die Lippen röten sich und schwellen, lassen die Zähne kleiner erscheinen. Kurze, schnelle Striche der Wimperntuschbürste umkränzen die Augen mit verführerischen Halmen.
Trotzdem bleibt das Repertoire des Schwagers an galanten Sprüchen unverändert; wenn er noch welche übrig hat, bekomme ich sie ab. Er baggert mich nicht an, er ist sich seiner Masse ebenso bewusst wie des Respekts, den man Schwiegernichten schuldet; aber in seinen Augen flackern schwere und berechenbare Gedanken. Augen so schwarz wie Kaffee, verkleinert durch die umgedrehten Lupen seiner dicken Brillengläser, weit weg, schön. Zum Glück versteckt die Brille sie ein bisschen, sie passen nicht zu allem anderen: zwischen dicken Wangen eingequetschte Puppennase, überall Speichel, behaarte Hände, der Schwager ist ein Schwein, eine riesige Nacktschnecke, ein Walross in einem Meer von Pernod. Annie sagt zu mir: »Ach was, er labert Schwachsinn, das ist alles, was er draufhat. Nach Dédés Verhaftung konnte ich nicht sofort hierher zurück; sie hatten alles versiegelt, und außerdem wollte ich, dass man uns ein bisschen vergisst … Also habe ich ein paar Wochen bei denen gewohnt. Ich kann Ihnen sagen …«
Während ihres Zusammenwohnens hat Annie wenig Erfreuliches gesehen: Für ihn »braucht man eine Schneckenzange«, sie ist inkontinent und rennt mit Windeln rum, ihre Tochter Pat ist total erledigt von der Arbeit und hat mit zwanzig eine welke Brust und einen runden Rücken. Das ist die Familie, der Halt, der Klotz. Aber man muss nehmen, was man hat.
Ich werde auch entlohnt. So wenig und schlecht ich auch nähe, ich verdiene genug, um meinen Apéro zu bezahlen. Ich kaufe mir auch ein paar Klamotten und werfe Ginettes nach und nach in den Müll.
»He, he, Saufen und Aufpeppen!«, kreischt die Schwägerin.
Wir haben unsere einfachen Bademäntel abgelegt und uns fast so großartig rausgeputzt wie zur Sprechzeit, um uns zum Sonntagsessen zu begeben. Sie laden uns jede Woche ein, wir nehmen jedes dritte Mal an. Das gehört sich so.
Ihr Haus liegt am Rand des Pariser Asphalts, da, wo der Schlamm und die Schrebergärten anfangen. Wir müssen Bus fahren, umsteigen, von Pfählen, Mauern und Zäunen gesäumte Straßen entlanggehen. Mein Bein setzt mir zu, Annie stolpert auf ihren Absätzen, Nounouche schlurft durch den Rinnstein und jammert: »Maman! Sind wir bald da?«
Wir sind da. Das Haus besteht ganz aus weißem Holz, durchbrochen von großen Fenstern, umrankt von leichten Treppen, die sich von Etage zu Etage schwingen. Das Innere ist ein Dschungel, ein Wald aus Krawatten. Die Krawatten haben die Wände gebaut, Centime für Centime, schlaflose Nacht für grauer Tag, während die ganze Familie, in einer Zweizimmerwohnung im Temple-Viertel zusammengedrängt, ohne Unterlass schnitt, nähte, bügelte und wendete, stichelte und heftete. Die Krawatten sind dem Umzug gefolgt und haben sich sogleich wieder breitgemacht. Hier dienen sie als Wandbehang, Kissen und Nippes. Nur die Küche haben sie verschont: Die Familie kennt nur zwei Dinge, Friemeln und Fressen. Noch sind nicht alle Zimmer eingerichtet. Als ich mir im Frühstadium eines Badezimmers die Hände waschen gehe, entdecke ich das Bidet, das in Bändern aus grauem Papier geliefert wurde und so mumifiziert in einer Ecke steht.
An diesen Sonntagen, wo ich trotz der honigsüßen Herzlichkeit des Krawattenadels ausgeschlossen bleibe, spiele ich mit Nounouche im Gärtchen, rede nicht, langweile mich. Ich habe nichts mit ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft zu tun; Annie und ich sind zwei Krawattenunternehmerinnen, die darauf warten, dass der freigelassene Dédé seinen Dienst im Baugewerbe wieder aufnimmt und zwei Zwillingshäuser baut, um uns zwei Paare aufzunehmen. Ja, ja, solche Projekte füllen unsere Abende, aber hier … Was soll ich sagen? Dieser Sonntag existiert, grau und geschwätzig. Man muss ihn hinter sich bringen, wie die Sonntage im Bau, Mund zu und lächeln, Ohren auf und strahlen, mit dem Unterschied, dass hier das Hähnchen mit Reis und Paprikaschoten, Erbsen oder Kartoffeln das geschmorte, gebratene oder gehackte Rindfleisch ersetzt.
Der Pernod, der Rauch, das Hähnchen, die Stimmen, alles vermischt sich und drückt mir aufs Herz, ich bin allein, schwer, weit weg. Wann kann ich endlich laufen, um mich endgültig von diesen Leuten zu entfernen? Meine Anwesenheit stört sie nicht: Julien sieht nach dem Rechten, bezahlt wieder eine Rate und verschwindet. Ich verstecke meine Undankbarkeit, meine Stinkwut, meine ständige Enttäuschung: Wie viel lieber waren mir meine Gauner aus der Série Noire! Seit meiner Flucht habe ich nur mit Exknackis, Erwischten und Nichterwischten zu tun; natürlich hatte ich als Vorspiel für mein Wiedersehen mit Rolande nicht die Absicht, mich mit anderen Leuten abzugeben, ich träumte von schlechten Beziehungen, schlechten Erfahrungen, einem Haufen Schlechtigkeiten, die ich vor ihr ausbreiten würde; aber meine Träume zerbröckeln, der Sommer neigt sich, Rolande entwirklicht sich … Guten Tag, ich bin’s: Siehst du, ich bin gekommen. Was kannst du, was willst du mit mir anfangen, morgen, wenn wir miteinander gegessen, getrunken, gequatscht und geschlafen haben? Glaubst du, dass ich noch scharf darauf bin, zu den Quellen deines Arschs zu pilgern, jetzt, wo mir andere Quellen der Lust und der Tränen wieder eingefallen sind? Zwischen dir und mir lässt die Zeit ihre Mauer mit jeder Sekunde höher wachsen; ich bleibe in der Nacht, aber wenn irgendwo eine Morgendämmerung strahlt und ich den Weg dorthin entdecke, werde ich den Weg gehen, ohne mich auf dich zu stützen, Rolande, du Miststück, weil es deine Schuld ist, dass meine Haxe ramponiert ist, ja: Ich wäre sowieso abgehauen, ich hätte Julien trotzdem getroffen, und ich wäre heute nicht verpflichtet, an dich zu denken, meine Süße, mit Dankbarkeit und Wut im Bauch. Ich weiß nicht, ob ich die Frauen immer noch vernaschen will und ob ich die Männer immer noch verschmähe; aber den einen Mann zum Vernaschen und die eine Frau zum Verschmähen, deren Namen weiß ich … Julien … aber … ich liebe dich! …
Julien, ich will die Worte nicht verschwenden, ich verschließe meinen Mund mit deinen Küssen, aber ich begreife, dass die Zeit gekommen ist, dass ich nicht mehr beliebig herumhüpfen kann, dass ich einen einzigen Weg einschlagen muss, oh, Rolande, Julien, es zerreißt mich …
Im Knast teilten wir die Sonntage zwischen Tanz und Kartenspiel. Die Karten waren meine Buße: Sobald der Trumpf umgedreht war, interessierte mich die Partie nicht mehr. Ich beobachtete das Spiel der Hände, die Anmut oder die Schwerfälligkeit, mit der sie die Karten hielten, den überraschten oder ausdruckslosen Blick. Aber das Kreuzass, den »Triumph« in der Sprache der Kartenlegerinnen, mochte ich gern; zwei, drei Kleeblattkarten an einem Tag verhießen uns größten Erfolg … Ja, es war höchste Zeit, dass ich den Abflug machte: Kreuzass, Benzin, das Gift verdrehter Träume, die Onanie und der ganze Knast führten direkt in die Psychiatrie von Sainte-Anne. Jeden Tag fliege ich etwas weiter weg vom Wahnsinn …
Annie hat drei Kartenspiele, zwei davon alte, zerfledderte für die Belote-Partien, die Nounouche sonntags mit ihren Puppen spielt, zwischen den Füßen der Großen, die oben auf dem Tisch spielen. Daraus ein Kreuzass zu klauen würde dem Spiel nicht weiter schaden; Nounouche spielt mehr mit der Nachahmung als mit dem höchsten Trumpf. Ich werde den Triumph in einen Umschlag stecken und Rolande schicken. Wenn sie trotzdem zum Treffpunkt kommt, hat sie Pech; ich habe sie gewarnt. Wenn ich an dem Abend ein bisschen von der Rolle bin, dann nur, weil ich am vereinbarten Datum auch Geburtstag habe. Zwanzig, ein neues Jahrzehnt, mein trauriges Geschenk und die Gewissheit, dass ich einen Teil davon wieder hinter Gittern verbringen werde: die Reststrafe, die ich für dich unterbrochen habe, mein zurückgewiesenes Geschenk!
»Julien, du kommst doch zu meinem Zwanzigsten!«
»Wenn ich kann, gern. Wir gehen irgendwo essen …«
»Ach, Annie kann uns doch was kochen. Wir müssten sie sowieso einladen, und wenn ich ausgehe, bin ich lieber mit dir allein.«
Wir fangen an, meine Zukunft zu planen. Erst mal durchhalten. Julien sorgt fürs Materielle, ich lass mich nirgends reinziehen, versprochen … Unzufrieden brüte ich vor mich hin. Ich hab die Nase voll davon, alles hinzunehmen. Weil Annie mein Fiskus ist und ich sie nicht durch äußere Zeichen von Reichtum reizen will, gebe ich fünf Riesen an, wenn mir Julien zehn gibt, und stecke zweieinhalb davon in ihre Sparbüchse für Ricard und Nounouches Bonbons. Später, wenn ich besser laufen kann …
Aber laufe ich denn wirklich so schlecht?
Sie hatten mir den Gips in zwei Etappen abgenommen. Bei der ersten Kontrolle hatte ich die Basketballschuhe von Nini und eine besonders feste Binde mitgenommen – ich sah mich an Juliens Arm vorwärtstasten, wie seine neue Freundin. Im Traum rollte ich den Fuß ab, imitierte nächtelang das Laufen, schob mit den Zehen das Laken weg. Um zu trainieren, hatte ich am Tag vor dem Arztbesuch sogar meinen Stiefel ausgezogen.
Ich borgte mir die große Krawattenschere und fing unter der Kniescheibe an zu schneiden. Ich würde den Gips an beiden Seiten des Beins durchtrennen, wie ich es im Krankenhaus gesehen hatte, den Deckel abnehmen und mein Bein ganz vorsichtig aus seinem Etui ziehen, wie man ein Soufflé aus dem Backofen holt … Fehlanzeige! Nach einer halben Stunde hatte ich gerade eine Kerbe von ein paar Millimetern geschafft; ein bisschen körniger Staub bedeckte das Linoleum, auf dem ich zu Annies Füßen saß, um ihr die Schere nach jeder Krawatte zu geben und sie zurückzunehmen. In diesem Tempo sollte ich besser auf die elektrische Säge warten.
Dann hatte ich die Idee, den Gips einzuweichen. Ich tauchte das Bein in einen Eimer mit warmem Wasser und wickelte und wickelte … Was darunter zum Vorschein kam, war so hässlich, dass ich einen Strumpf anzog und nicht mal versuchte, aufzutreten.
Beim Arzt erhielt ich neben einer saftigen Standpauke einen neuen Gips, einen sogenannten Gehgips. Ich lag auf dem Tisch im Verbandssaal und sah meine Haxe nochmals für eine Weile verschwinden.
»Und sehen Sie zu, dass er diesmal dranbleibt«, sagte der Doktor, »sonst laufen Sie in zehn Jahren noch nicht.«
Während er redete, kontrollierte er die Dicke des Absatzes – ein Gazewürfel, der schnell hart wurde, während eine Schwester meine gipsverschmierten Zehen und mein Knie einer oberflächlichen Reinigung unterzog.
Mein Fuß würde wieder tun, wozu er geschaffen war: sich vor den anderen setzen, eine Sekunde lang das ganze Gewicht des Knochengerüsts tragen … Dabei war ich so lange gelaufen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden! Ich würde das Glück der Eltern bei den ersten Schritten ihres Kindes erleben, gesteigert dadurch, dass es mein eigenes Glück war; vorankommen, ohne wie eine Laufpuppe gestützt, geschoben oder gezogen zu werden …
Julien wartete draußen auf der Holzbank, neben anderen Kranken, die auf ihren Aufruf warteten, und der Frau in Weiß, die hinter ihrem Schalterfenster wartete. Ich hatte das Warten überwunden, ich blickte, die Hände endlich frei, zurück zu den Monaten des eingesperrten Schmerzes. Auf der Schwelle des Saals lächelte ich zögernd. Ich hätte zu Julien rennen mögen, leicht sein, ihn überraschen … Aber dieser Stiefel war schwer, viel schwerer als die Krücken, und so kam er zu mir, um mich, diesmal unter dem Ellbogen, zu halten und jeden meiner grotesken Schritte zu stützen.
Annie borgte mir einen Stock mit Gummifuß, und ich fing wieder an, auf drei Beinen zu humpeln, tock, tock, Herumfuchteln, Kribbeln.
Und jetzt?
Ich postiere mich mit dem Rücken zum Spiegel vor dem Schrank, ich verrenke mir den Hals, um meine Knöchel zu vergleichen, ich gehe bis zur Küchentür. Nein, das ist nicht wahr, ich hinke nicht, weder sehe noch spüre ich mich hinken. Ich habe nicht genug Platz, um zu rennen, aber die einstigen Luftsprünge kribbeln in meinen Waden, ich kann nicht auf dem Gipsbein hüpfen, mich auf meinem neuen Laufgerät nicht mal im Gleichgewicht halten, aber ich werde es so sehr wollen, dass ich es schaffen werde.
»Gib die Zigarette her! Bist du bekloppt, auf der Straße zu rauchen? Willst du unbedingt auffallen?«
Julien ist frisch rasiert, sein Hemd raschelt, seine Haare sind von tausend Scheiteln durchzogen – den Furchen des feuchten Kamms. Er trennt sich nie von seinem Toilettentäschchen, und jeder Zwischenstopp liefert ihm Wasser und Spiegel. Heute Morgen kam er blass vor Müdigkeit, mit blauen Augenringen; er schlief in seinen Dufflecoat gewickelt auf meinem Bettchen ein, Stein, Leiche, taub für meine Annäherungsversuche.
Seit ich mich mehr bewege und länger wach bin, lerne ich wieder zu schlafen. Ich spüre abends die kleinen Ameisen unter meinen Lidern. Aber diese brutale Art, wie erschlagen zusammenzubrechen, dieser Zwang, der stärker ist als Hunger und Durst, der einen überwältigt und gefangen hält … wenn ich durchs Schlafzimmer gehe, muss ich nicht vorsichtig schleichen, ich kann, statt auf Fußspitzen zu gehen, trampeln und ans Bett stoßen und summen und singen und schreien – dieser Schlaf ist stärker als ich.
»Mach die Kippe aus …«
Ich sehne mich nach vorhin zurück, Julien, als du geschlafen hast, taub, aber auch stumm. Ich konnte mich vorbeugen, die Hände vor deinem Gesicht bewegen, dich kneifen, dich würgen. Jetzt bin ich dein Tollpatsch, dein Häschen, deine Kleine, du siehst mich entschlossen an und sprichst wie ein Mann. Ich weiß, nachher, auf dem Boulevard, wird dein Arm weicher, schützender werden, wird ein Henkel sein für meine Hand, eine Zuflucht, und deine Schritte werden auf meine warten; wir steigen in Taxis, gehen in Bars …
»Was haltet ihr von einer Erfrischung?«
Meine Eltern erfrischten sich ein-, zweimal im Jahr, am Bahnhofsbüffet, wenn wir unterwegs waren oder wenn wir Gästen die Stadt zeigten und man ihre Füße und ihre Kehlen laben musste. Ein Sirup für die Kleine. Ich schlürfte meine Grenadine, machte es mir in dem hohen Rohrstuhl auf der belebten Terrasse bequem, ich fragte, ob ich zur Toilette gehen dürfte, um die Sauberkeit, das Neon und den Glanz der Flächen zu schnuppern, um das große Seifenei anzufassen, das sich um seine verchromte Achse drehte … Später lösten Kneipen und Bars die Restaurants ab. Dort bunkerte ich meine Nächte, meine Trägheit und meinen Durst, ich redete und rauchte, bis das Tageslicht mich verjagte, ab und zu rappelte ich mich auf, um eine Platte aufzulegen und zu tanzen.
Keine Kneipe hat mir je länger als zehn Minuten als Wartesaal gedient. Ich war pünktlich und wollte, dass die anderen es auch sind. Was aber kann ich anderes tun als warten und auf die Tür starren, wenn Julien »bis gleich« sagt und ein, zwei Stunden später wiederkommt? Wohin gehen, wohin zurückkehren, wenn nicht zu Annie, später, mit dem letzten Taxi. Ich leere mein Glas, ich habe Durst, ich rufe den Kellner, breche vor dem neuen Glas eine neue Ration meiner Geduld an.
Mein Realitätsgefühl, der Beweis, dass Julien wirklich da war, das ist am Tag nach einem Ausflug mit ihm der Alkoholreifen um die Schläfen und die glückliche Schwere im Schoß … Julien hat in dem kleinen Bett geschlafen, sich aber am Vorabend von Annie verabschiedet, um sie nicht wecken zu müssen. Es ist noch dunkel, als ich aufstehe und ihm ins Wohnzimmer folge, Wasser aufsetze und Kaffee koche. Nein, nicht nötig, Julien hat sich schon mit kaltem Wasser gewaschen, er wird am Bahnhof Kaffee trinken, Julien hat sich umgezogen, er hat die Liebe in der Wärme der Kissen gelassen, und ich schiebe hinter seiner Eile den Riegel vor – also dann, ciao, entschuldige, ich bin spät dran, ich verpasse den Zug.
Und jetzt ein oder zwei Wochen Alleinsein.
»Mein Häschen, ich habe dich betrogen!«, sagt er manchmal, wenn er kommt.
Und ich antworte lächelnd: »Ich hoffe, es war wenigstens gut!«
Die Straße ist rein und rau wie eine Wüste; später werden wir vielleicht ganz allmählich magische Wege betreten … Bis dahin gilt es noch viel Schmerz, viele Menschen und Dinge zu zermahlen. Faser für Faser trenne ich auf, sabotiere ich, ich hasse mich dafür, Julien zu »bearbeiten«, aber ich spüre um ihn herum zu viele falsche, klebrige Klammern, ich möchte wenigstens diese durchtrennen.
Früher wurde ich auch umschmeichelt, verwöhnt, abgeschleckt. Ich war ganz und bissig, mein Kleiderschrank war gespickt und meine Hand geschickt.
Meine Hilfsmittel sind zerstört, ich bin verletzt und elend, jetzt bin ich es, die sich aufdrängt und anklammert, man hält mich nicht mehr fest, weil ich nichts mehr anzubieten habe, bloß mich, nackt und bloß, und es wäre viel Zeit und Zärtlichkeit nötig, ehe aus meiner Qual ein neuer Quell hervorsprudelt.