9
Owen kehrte an jenem Abend in einer Mietdroschke in die Garnet Lane zurück. Virginia, die ihn bereits erwartete, hatte sich gegen die nächtliche Kälte in einen Kapuzenmantel gehüllt. Er spürte die Mischung aus Erregung und Vorahnung, die sie belebte. Als er ihre behandschuhte Hand ergriff, um ihr in den Wagen zu helfen, hätte er schwören können, dass zwischen ihnen Elektrizität knisterte, so sehr sträubten sich seine Nackenhärchen.
Auf der Fahrt zu der Straße, in der Mrs. Ratfords Haus stand, wurde wenig gesprochen, aber Owen war sich die ganze Zeit Virginias Nähe bewusst. Er hätte viel dafür gegeben zu erfahren, ob es ihr ähnlich erging. An ihrem Ziel angelangt, zahlte er die Droschke. Später, nach Verlassen des Tatorts, würden sie eine andere nehmen.
»Sind Sie sicher, dass niemand im Haus ist?«, fragte Virginia.
»Ich habe mich schon davon überzeugt. Das Haus steht noch leer. Die Gerüchte um den Tod der einstigen Bewohnerin schrecken neue Bewohner ab. Wohlhabende Mieter scheuen sich, ein Haus zu beziehen, in dem womöglich Geister aus dem Jenseits die Vormieterin zu sich holten.«
Virginia sah Owen an. Eine Gaslaterne warf ihr milchiges Licht auf sie, dennoch konnte er ihr Gesicht nicht deutlich sehen. Es wurde von ihrer Kapuze beschattet.
»Um Spiegel-Deuterinnen ranken sich immer Gerüchte«, sagte sie. »Viele sind überzeugt, dass wir Geister und Gespenster sehen. Sie verstehen nicht, dass es nur im Spiegel eingefangene Nachbilder sind, die wir erfassen. Spiegel sind wie übersinnliche Kameras, die etwas von der Energie einfangen, die zum Zeitpunkt des Todes oder nahen Todes frei wird.«
»Ich verstehe.«
Sie gingen ein Stück die Gasse entlang und dann zur Hinterseite des Hauses. Owen öffnete die Pforte zu einem winzigen Garten, und sie stiegen die Stufen zur Hintertür hinauf. Die Vorhänge waren zugezogen, doch Owen sagte, dass sie in die Küche führe. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, und es gab sofort nach.
»Darf ich fragen, wo man diese Sorte von Werkzeugen bekommt?«, fragte Virginia.
Die Neugier ihres Tons entlockte ihm ein Lächeln. »Dieser spezielle Nachschlüssel wurde von einem meiner Onkel entwickelt. Er hat ein Talent für diese Dinge.«
»Sie haben eine interessante Familie.«
»Ja, damit ist meine Verwandtschaft gut beschrieben.«
Owen öffnete die Tür, lauschte mit allen Sinnen. In dem Haus, in dem Mrs. Ratford den Tod gefunden hatte, herrschte eine seltsame Atmosphäre. Als Virginia eintrat, streiften die Volants an ihrem Kleidersaum mit leisem Rascheln seine Stiefelspitzen. Ihr Duft drohte, seine Sinne zu vernebeln. Es war nicht nur Jagdleidenschaft, die ihn erregte, sondern die Frau, die heute mit ihm jagte.
Er folgte ihr in den schmalen Flur, schloss die Tür und entzündete die mitgebrachte Lampe. Das Licht tat wenig, um die Dunkelheit, die schwer auf ihren Schultern lastete, zu erhellen.
»Der Tod prägt ein Haus immer, finden Sie nicht?« Virginia blickte um sich. »Man spürte ihn in der Atmosphäre.«
»Ja. Deshalb fällt es manchen Menschen so leicht, an Geister zu glauben.«
»Was suchen wir eigentlich?«, fragte Virginia.
»Etwas, das uns einen Hinweis darauf gibt, wie Mrs. Ratford getötet wurde. Kurz nachdem ich den Fall übernahm, sah ich mich in diesem und auch in Mrs. Hacketts Haus um. Ich bin sicher, dass beide Todesfälle durch einen paranormal Agierenden herbeigeführt wurden, doch glaube ich nicht, dass der Mörder dabei tatsächlich anwesend war. Seit den Morden ist er aber mehrmals gekommen und wieder gegangen.«
»Sie können diese Details so klar sehen?«
»Das liegt in der Natur meines Talents, Virginia«, sagte er, sehr darauf bedacht, dass sie den Zwang, der ihn antrieb, verstand.
Virginia sagte nichts. In der Tür zum kleinen Salon blieb sie stehen. »Über dem Kamin hängt ein Spiegel. Vielleicht kann ich darin etwas sehen.«
Owen blieb hinter ihr stehen und wartete. Das Lampenlicht huschte über den Spiegel und warf bedrohliche Schatten in den Raum. Virginia betrat den Salon und blieb vor dem Kamin stehen. Ihre Blicke trafen sich in dem dunklen versilberten Spiegel. Die Hitze, die nun spürbar wurde, verriet Owen, dass sie sich ganz auf ihr Talent konzentrierte.
Virginia richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Spiegel und verharrte eine Weile wortlos. Wenig später drehte sie sich mit einem nicht gleich zu deutenden Blick zu Owen um.
»Der Spiegel hängt schon sehr lange über dem Kamin«, sagte sie. »Er birgt Schatten, die nicht deutlich zu erkennen sind. Ganz sicher keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod.«
»Das ist sehr wahrscheinlich so. Die Tote wurde in einem Raum im Obergeschoss gefunden. Auf dem Frisiertisch steht ein Spiegel.«
Sie gingen hinaus in den Flur und die schmale Treppe hinauf.
»Mir fiel auf, dass der Spiegel über Ihrem eigenen Kamin neu ist«, sagte er.
»Ich erwarb ihn, als ich das Haus mietete. Den alten, der dort hing, und einen zweiten aus dem vorderen Flur habe ich abgehängt.«
»Sie mögen alte Spiegel nicht?«
»Im Laufe der Jahre absorbieren Spiegel Energie. Die alten enthalten viele Schatten. Ich finde sie verstörend.«
»Aber Mrs. Ratford behielt den alten in diesem Haus.«
»Vielleicht konnte sie es sich nicht leisten, ihn zu ersetzen. Möglich ist auch, dass er sie nicht sehr störte. Sie besaß Talent, war aber keine starke Spiegel-Deuterin. Nur starke Deuterinnen finden alte Spiegel beunruhigend.«
Am oberen Treppenabsatz hielten sie inne. Das Licht ihrer Lampe fiel auf drei Türen – zwei standen offen, die am anderen Ende des Ganges war geschlossen.
»Das ist der Raum, in dem sie starb«, sagte Owen.
Beide hörten das gedämpfte Geräusch gleichzeitig. Ein Klirren und Scharren drang aus der ersten offenen Tür.
»Was um Himmels willen ist das?«, flüsterte Virginia.
Owen hielt die Lampe schräg, um besser sehen zu können. Aus dem dunklen Raum tauchte ein wunderschön gearbeiteter mechanischer Drache von der Größe eines kleinen Hundes auf, sein gegliederter kristallbesetzter Schwanz schlängelte hin und her. Lange vergoldete Klauen scharrten über den Boden. Aus den Glasaugen strahlte ein kaltes, bezwingendes paranormales Feuer.
»Wieder eine dieser verdammten Waffen«, sagte Owen. »Woher kann sie kommen? Bei meinem letzten Besuch war sie noch nicht da.«
Er packte Virginias Arm und zog sie zurück zur Treppe. Sie ließ sich mitziehen, doch es war zu spät. Dunkler Nebel senkte sich über sie. Der Albtraum explodierte und überflutete den Gang mit höllischen Visionen aus den Fieberträumen eines Wahnsinnigen. Tote und Sterbende bedrängten sie, die Münder zu stummen Schreien aufgerissen.