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Owen war klar, dass er kein Recht hatte, wegen Virginias überaus wachsamer Haltung beleidigt zu sein. Schließlich war er ein Sweetwater. In der Regel waren Frauen entweder fasziniert von den Männern seiner Familie, oder sie fühlten sich abgestoßen. Einen Mittelweg gab es selten. Aber in welche Gruppe sie fallen mochten – Frauen hielten die Sweetwater-Männer intuitiv für gefährlich. Laut seiner Tante Marian, einem Aura-Talent, bewirkte die Aura der Sweetwater-Männer, dass empfindliche Menschen, ob mit oder ohne Talent, ein unbehagliches Gefühl überkam.

Virginias Misstrauen hatte ihn völlig unerwartet getroffen. Er war ein hoffnungslos romantischer Narr. Enttäuscht nahm er wahr, dass er tatsächlich ziemlich niedergeschlagen war. Aber er war selbst schuld, da er zu einer falschen Taktik gegriffen hatte. Rückblickend erkannte er, dass es ein Fehler gewesen war, sich als Ermittler zu etablieren, dessen Spezialgebiet das Entlarven betrügerischer Talente war. Aber wie sonst hätte er sich Zutritt zu dem engen Zirkel professionell praktizierender Talente, die mit dem Leybrook Institute in Verbindung standen, verschaffen sollen?

Er bückte sich nach dem mechanischen Gefährt und nahm es unter den Arm. Die kleinen Pferde baumelten an ihrem Geschirr. Später würde genug Zeit sein, sich über diesen Schnitzer den Kopf zu zerbrechen, jetzt musste er zwei Frauen in Sicherheit bringen.

»Miss Dean, würden Sie wohl die Lampe nehmen?«, fragte er.

»Hab sie schon«, sagte sie und hielt sie in die Höhe.

Er sah die zwei Frauen an und ging los. »Bleibt in der Nähe. Wir werden das Haus so verlassen, wie ich hereinkam, nämlich durch den alten Trockenschuppen. In der Nähe wartet ein Wagen.«

Er vernahm hinter sich einen kleinen erstickten Laut. Das Licht zuckte hell über die Wände.

»Alles in Ordnung, Miss Dean?«, fragte er.

»Ja, natürlich«, sagte sie. »Ich bin nur gestolpert. Der Boden ist uneben und das Licht sehr schlecht.«

Trotz seiner Verdrossenheit lächelte er. Virginia Dean erfüllte seine Erwartungen. Um ihre Nerven zu erschüttern, bedurfte es mehr als einer blutigen Leiche und einer Begegnung mit einem todbringenden mechanischen Spielzeug. Er hatte auch nicht erwartet, dass sie schwache Nerven hatte. Er wusste längst, dass sie eine unerschrockene Lady war, voller Entschlossenheit und großer Tatkraft. Auch war sie eine Frau mit beträchtlichem Talent, größer als das so vieler anderer Spiegel-Deuterinnen. In der sie umgebenden Atmosphäre gab es anregende Energie – zumindest fand er sie anregend.

Seiner Erfahrung nach waren die meisten ihrer Konkurrenten glatte Betrüger. Im besten Fall konnte man sie als Entertainer bezeichnen, die wie Zauberkünstler und Illusionisten verblüffende, auf Fingerfertigkeit beruhende Tricks perfektioniert hatten. Schlimmstenfalls waren sie Halunken, die Leichtgläubige hinters Licht führten.

Virginia Dean hatte ihn vom ersten Moment an gefesselt. Es war eine Woche zuvor gewesen, als er in der Nähe einer kleinen Gruppe von Arcane-Ermittlern im Hintergrund von Lady Pomeroys elegantem Salon gestanden und Virginia bei ihrer Spiegel-Deutung beobachtet hatte. Er hatte deutlich knisternde Energie in der Atmosphäre gespürt. Ihre Blicke hatten sich flüchtig im Spiegel getroffen. Während dieses kurzen Kontakts hatte er gespürt, dass sie sich seiner Gegenwart ebenso bewusst war wie umgekehrt, jedenfalls hatte er das glauben wollen.

Ihr dunkles, konservativ geschnittenes Kleid mit dem hohen Kragen und den langen, engen Ärmeln war mit einer kleinen, diskret angebrachten Turnüre geschmückt gewesen, ähnlich jener, die sie jetzt trug. Ihr rotgolden schimmerndes Haar hatte sie unter einem flotten kleinen Hütchen festgesteckt. Falls sie die strenge Aufmachung gewählt hatte, um die feenhafte Wirkung ihrer scheuen blaugrünen Augen vergessen zu lassen, war es ihr misslungen. Sie war keine Schönheit im herkömmlichen Sinn, doch für einen Mann seiner Natur war das umso reizvoller – eine unergründliche Frau voller Stärke. Er war vollkommen hingerissen gewesen.

Er war sicher gewesen, dass sie sein starkes Interesse gespürt hatte, und er hatte noch etwas gewusst. In ihr hatte es insgeheim gekocht. Lady Pomeroy, die sie für die Sitzung engagiert hatte, hatte ihr vorher nicht gesagt, dass paranormale Ermittler unter den Zuschauern sein würden. Er hatte ihr angesehen, dass Virginia es nicht schätzte, überrumpelt zu werden.

Was Virginia damals im Spiegel gesehen hatte, wusste er nicht, doch als sie fertig war, hatte sie sich abgewendet und ganz leise mit Lady Pomeroy ein paar Worte gewechselt. Die anderen Anwesenden hatten Fragen in den Raum gerufen und ihr Talent auf die Probe stellen wollen. Sie hatte sich ihnen mit einer Miene eisiger Verachtung gestellt, die einer ungnädigen Queen Victoria sehr wohl angestanden hätte.

»Meine Deutungen dienen nicht dazu, andere zu unterhalten oder ihre Neugier zu befriedigen«, hatte sie gesagt. »Als ich diesen Termin ausmachte, glaubte ich, es stünde eine ernsthafte Bitte dahinter. Mir war nicht klar, dass ich auf die Probe gestellt werden sollte. Leider habe ich für diesen Unsinn keine Zeit.«

Damit hatte sie dem Publikum den Rücken gekehrt und war wortlos gegangen. Der Schock, der die kleine Gruppe im Salon gefangen genommen hatte, hatte Owen unendlich amüsiert. Lady Pomeroy und die Forscher der Arcane Society bewegten sich in äußerst gehobenen, zuweilen sogar exklusiven Kreisen. Die kalte Verachtung einer gesellschaftlich unter ihnen stehenden psychischen Praktikerin, einer Frau, die ihre Talente zum Broterwerb nutzte, war für sie ungewohnt.

Nachdem sie sich erholt hatten, war ein hitziger Dialog zwischen der hochroten und sehr verärgerten Lady Pomeroy und den Mitgliedern der Arcane Society entfacht.

»Was sagte sie, Ma’am?«, hatte Hedgeworth gefragt.

»Miss Dean eröffnete mir, dass mein Mann nicht ermordet wurde und dass sein Tod auch kein Selbstmord war, wie vielfach vermutet wurde«, hatte Lady Pomeroy brüsk geantwortet. »Sie sagte, Carlton hätte sich allein hier im Salon befunden, als er eines natürlichen Tode starb, wie ich es immer schon vermutete. Es gäbe keine Hinweise auf Gewalt.«

»Nun, für sie war das wohl eine völlig sichere Aussage«, hatte einer der anderen hervorgehoben. »Nach mehreren Monaten kann man das Gegenteil nicht beweisen.«

»Zweifellos hat sie sich eingehend mit dem Tod Ihres Gemahls befasst, ehe sie kam, Lady Pomeroy«, war Hobson erneut zu hören gewesen. »Schließlich waren die Zeitungen voll davon. In der Presse war die Rede von einem Schlaganfall.«

»Ganz recht«, meldete sich einer der anderen zu Wort. »Diese Dean könnte eine Betrügerin sein. Die Scharlatane auf diesem Gebiet sind sehr geschickt. Und da keiner von uns ein Spiegellicht-Talent ist, können wir nicht ausschließen, dass wir getäuscht wurden.«

Owen aber hatte gewusst, dass Virginia Deans Talent echt war. Die Schatten in ihren Augen hatten ihm verraten, dass sie den Tod schon oft gesehen hatte. Er kannte diese Schatten gut. Immer wenn er in den Spiegel sah, erblickte er ähnliche Gespenster in seinen eigenen Augen.

Er bog in einen anderen Korridor ab, Virginia und Becky folgten ihm.

»Ich bewundere Ihren Mut, Miss Dean«, sagte er. »Und jenen Miss Beckys. Sie beide haben heute einiges mitgemacht. Viele Menschen, Männer wie Frauen, wären inzwischen völlig am Ende.«

»Keine Angst, Mr. Sweetwater«, sagte Virginia. »Becky und ich leisten uns unsere Nervenzusammenbrüche zu einem passenderen Zeitpunkt. So ist es doch, Becky?«

»Ja, Ma’am«, sagte Becky. »Im Moment möchte ich nichts wie fort von diesem Ort.«

»Genau wie ich«, sagte Virginia. »Becky, sind Sie sicher, dass Ihre Erinnerung völlig aussetzte, nachdem Sie in die Kutsche des Gentlemans stiegen?«

»Ja, Ma’am.« Becky zögerte. »Ich weiß nur, dass der Herr so hübsch und liebenswürdig war. Ach, und die Blumen. Ich kann mich an diese Blumen erinnern.«

»Was für Blumen?«

»Sicher bin ich nicht, aber ich roch etwas ganz Süßes wie welke Rosen.«

»Chloroform«, sagte Virginia grimmig. »Sie wurden betäubt. Becky. Deshalb setzte bei Ihnen die Erinnerung aus.«

Owen öffnete eine Tür am Ende des Korridors und ließ sie in den alten Schuppen eintreten.

»Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, Sir, Ma’am«, sagte Becky. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, aber ich begreife nicht, wie Sie mich finden konnten. Woher wussten Sie, wo ich bin?«

»Mr. Sweetwater ist Ermittler«, sagte Virginia. »Eine Art Privatdetektiv. Menschen zu finden gehört zu seinen Aufgaben. So ist es doch, Sir?«

»In gewisser Weise«, erwiderte Owen.

»Ach, ich verstehe.« Beckys Miene erhellte sich. »Einem Privatermittler bin ich noch nie begegnet. Ein interessanter Beruf.«

»Gelegentlich«, gab Owen zurück.

Er konzentrierte sich auf seine Sinnesempfindungen und spähte hinaus in die in Nebel gehüllte Gartenanlage. In der Finsternis rührte sich nichts. Das von Mauern umschlossene Anwesen war so gespenstisch still wie bei seiner Ankunft. Auch das Haus wirkte verlassen.

Owen führte die Frauen aus dem Schuppen ins Freie. Hinter sich hörte er Becky leise zu Virginia sprechen.

»Sind Sie Mr. Sweetwaters Assistentin, Ma’am?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Virginia entschieden. »Ich arbeite nicht für Mr. Sweetwater.«

»Ach, dann sind Sie seine Geliebte«, sagte Becky altklug. »Das dachte ich mir. Es muss sehr aufregend sein, die Geliebte eines Privatermittlers zu sein.«

Owen zuckte zusammen, auf das Gewitter gefasst, das im nächsten Moment im Garten losbrechen würde. Zu seiner Verwunderung aber verlor Virginia nicht die Fassung. Ihr Ton war höflich, fast sanft. Nie hätte man vermutet, dass sie eben zutiefst beleidigt worden war.

»Nein, Becky«, sagte sie. »Ich habe keinerlei persönliche oder intime Beziehung zu Mr. Sweetwater.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Becky. »Wenn Sie nicht für ihn arbeiten und auch nicht seine Geliebte sind, warum sind Sie dann mitten in der Nacht hier mit ihm?«

»Ich wusste heute Abend nichts mit mir anzufangen«, entgegnete Virginia. »Da dachte ich mir, es könnte amüsant sein, mit einem Privatermittler auszugehen und ein Abenteuer zu erleben.«

»Sicher war es aufregend«, sagte Becky.

»Ja, in der Tat«, bestätigte Virginia.

Owen warf einen Blick über die Schulter. »War es aufregend, Miss Dean?«

»Nun ja, das ist vielleicht nicht das richtige Wort«, sagte Virginia.

Er geleitete sie durch das Gartentor hinaus auf die Gasse und zu einem wartenden Kutschwagen. Die Gestalt auf dem Kutschbock regte sich und blickte herunter.

»Wie ich sehe, hast du nicht eine, sondern zwei Damen gefunden, Onkel Owen. Gute Nachtarbeit.«

»Es war ein Quäntchen Glück dabei, Matt, aber alle sind in Sicherheit.« Owen öffnete den Wagenschlag. »Wir setzen unsere Gäste an ihren Adressen ab.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Matt.

Virginia zog Owen beiseite, während Becky einstieg. »Wir bringen Becky in das Wohlfahrtsinstitut in der Elm Street«, sagte sie leise »Dort wird man sich heute Nacht um sie kümmern. Die Leiterin wird Becky ein sauberes Bett und ein gutes Essen geben und ihr einen Weg zeigen, von der Straße wegzukommen.«

»Ich kenne das Heim«, sagte Owen lächelnd. »Wissen Sie, dass die Arcane Society kürzlich die Schirmherrschaft übernommen hat?«

»Arcane unterhält eine Zuflucht für junge Prostituierte?« Virginia konnte es nicht fassen. »Ich glaube es nicht. Seit wann interessiert die Society sich für Wohltätigkeit?«

»Das ist die moderne Zeit, sagt man, Miss Dean. Die Welt verändert sich und mit ihr die Arcane Society.«

»Dass ich nicht lache. Ich bezweifle, dass dieser Haufen arroganter, engstirniger alter Alchemisten zu Veränderungen fähig ist.«

Sie drehte sich um und stieg in den Wagen. Er kletterte hinter den Frauen hinein, stellte das mechanische Miniaturspielzeug auf den Boden des Wagens und schloss die Tür. Die Kutsche rumpelte die Gasse entlang.

Becky betrachtete das verhängnisvolle Gefährt kritisch. »Ist das ein Spielzeug?«

»Nein«, sagte Owen. »Es ist ein Automat, eine mechanische Kuriosität. Jemand hat sie vergessen. Ich wollte sie retten.«

»Ach, wie hübsch«, sagte Becky.

»Ja«, sagte er.

Sofort erlosch ihr Interesse, und sie ließ sich seufzend in die Ecke des Sitzes zurücksinken. »Meinen Sie, der hübsche Mann in der Kutsche wird nach mir suchen? Sicher wird er wütend sein, wenn er entdeckt, dass ich fort bin. Er kennt meinen Standplatz an der Ecke.«

»Ich verspreche Ihnen, dass Sie ihn niemals wiedersehen werden«, sagte Virginia. Sie berührte die Hand des Mädchens. »Sie sind in Sicherheit.«