»Ist der Stamm nicht sehr kriegerisch?«, fragte die Kö nigin zweifelnd. Sie sagte, sie habe auf ihrer langen Wanderung so etwas läuten gehört. Im fernen Nowgorod hatten die Leute Andeutungen über einen Winterkrieg oder ein ähnliches Scharmützel gemacht, das einst geführt worden war und in dem auf der einen Seite gerade die Leute aus Ostbottnien gekämpft hatten.
Eemeli wies die Gerüchte über die kriegerische Veran lagung der Ostbottnier zurück. Er versicherte, dass sie ein friedliebendes Volk seien, die Männer am liebsten zu Hause die Felder bestellten und sich davor hüteten, an militärischen oder politischen Auseinandersetzungen teilzunehmen. Sie saßen am Feierabend daheim vor der Haustür und sangen Volkslieder.
Eemeli riet der Anführerin, sich mit ihren Frauen vom jetzigen Standort aus in westliche Richtung zu wenden, sie sollten nördlich an Nurmes vorbeiziehen, und zwar über Rautavaara nach Iisalmi und dann nach Pihtipu das, von dort könnten sie sich auf Ostbottnien verteilen. Eemeli empfahl ihnen, sich in Alajärvi, Lapua, Kauhava, Ilmajoki, Kurikka und anderen Orten niederzulassen. Aus dieser Gegend seien im vergangenen Jahrhundert viele Leute abgewandert, sodass dort ohne weiteres vierzigtausend neue Kriegsflüchtlinge unterkommen konnten, zumal es sich um Frauen und Kinder handel-te.
Eemeli pries noch die Alltagsgerichte der Ostbottnier als besonders nahrhaft und köstlich. Speziell nannte er Roggenbrei und Kloßsuppe.
Ferner riet Eemeli, tausend oder zweitausend Flücht lingsfrauen ins westliche Lappland zu schicken. Er dachte bei sich, dass diese Anzahl in der Wildmark um Kittilä und Enontekiö die passende stille Reserve wäre, für den Fall, dass er mal mit Horttanainen zum Angeln hinaufführe.
Dieses Gespräch entschied die Angelegenheit und gleichzeitig Ostbottniens Zukunft. Zwei Tage später setzten die vierzigtausend Frauen ihren Marsch fort. Es war, als würde eine Armee mobilisiert: Die Zelte wurden abgebaut, der Tross beladen, die Zugtiere angespannt, der erste Wagen fuhr am Morgen gen Westen ab, der letzte setzte sich erst am Nachmittag schaukelnd in Bewegung. Die Karawane war fünfzehn Kilometer lang. Pro Tag legte sie jedoch eine beachtliche Strecke zurück, nämlich zwanzig Kilometer, und wenn sie die Landstra ße benutzen konnte, sogar noch mehr. Als die Frauen südlich an Ukonjärvi vorbeizogen, ordnete Eemeli Toro painen an, ihnen als Abschiedsgeschenk fünf Ochsen und zehn Fässer gesalzener kleiner Maränen zu über bringen.
Als sich die Frauen gegen Ende des Sommers auf Ostbottnien verteilt hatten, entstand dort eine Lage, in der die Männer ihre Flucht in Erwägung zogen. Es wäre seit langem das erste Mal gewesen, dass die Ostbottnier von einer fremden Rasse vertrieben worden wären. Aber wohin fliehen in einer Welt, in der ein Atomkrieg wütet? Den Ostbottniern blieb nichts weiter übrig, als beste hende Tatsachen zu akzeptieren und fortan mit vierzig tausend fremdländischen Frauen zusammenzuleben.
35
Die Massenwanderung der Frauen hatte Eemeli Toro painen erschreckt. Bislang war der Weltkrieg für die Gemeinde Ukonjärvi recht friedlich verlaufen, aber wehe, wenn es erneut zu einem Zustrom Zehntausender Menschen käme. Die Frauenkarawane war völlig über raschend erschienen. In Ukonjärvi kamen nicht viele Informationen über die Weltlage an; auf die Radiomel dungen war kein Verlass, auch konnte man die Sendun gen wegen der ständigen Störungen oft nicht empfan gen. Zeitungen erschienen nicht mehr, Helsingin Sano mat, die anfangs noch einmal pro Woche veröffentlicht worden war, war bald nach Ausbruch des Krieges in Konkurs gegangen, und der Fernsehbildschirm blieb seit Jahren schwarz. Der »Fliegende Engel« trabte zwar nach wie vor zwischen Ukonjärvi und Valtimo hin und her, doch die Nachrichten, die das Mädchen brachte, waren für gewöhnlich lokaler Art und basierten auf Gerüchten. Man brauchte unbedingt zuverlässigere Informationen über die Situation in der Welt, damit man sich auf mög liche Umwälzungen einstellen konnte.
Eemeli Toropainen beschloss, einen eigenen Kund schafter auszusenden, der herausfinden sollte, was in der Welt geschah. Severi Horttanainen meldete sich als Freiwilliger. Er war in der Tat gut geeignet für die Reise, da er bereits achtundsiebzig Jahre alt war und zwar noch Orgel spielte, aber nicht mehr auf dem Feld arbei ten konnte. Trotzdem war er äußerst mobil und erpicht darauf, sich auf seine alten Tage die Welt anzusehen.
Eemeli vereinbarte die Route mit ihm. Er sollte zu nächst mit dem Zug in den Süden fahren und dann versuchen, auf irgendeine Art nach St. Petersburg zu gelangen. Wenn möglich, sollte er anschließend über Archangelsk zurückkehren. Seine Aufgabe war die eines Spions, er sollte erkunden, wie die Situation in Russ-land war und ob von dort möglicherweise neue Massen wanderungen drohten. Auch sollte er klären, wie man sich am besten verhielt, falls ungebetene Gäste im An marsch waren. Wäre es empfehlenswert, sie gleich an der Grenze auf saubere Art zu beseitigen?
Severi Horttanainen wurde unmittelbar nach der Ern-te losgeschickt. Man packte ihm Brot, gesalzenes Fleisch, Trockenfisch und einen Krug Schnaps in den Rucksack und stattete ihn mit einer angemessenen Geldsumme aus.
Ein paar Begleiter brachten ihn mit dem Pferdewagen zum Bahnhof Valtimo, wo er in einen Zug stieg, der von einer Dampflok gezogen wurde. Die Begleiter wünschten ihm eine interessante Spionagereise und fuhren wieder nach Hause. Man erwartete allgemein, dass Horttanai nen zu Weihnachten zurückkehren werde.
Es wurde Weihnachten, doch wer nicht erschien, war Severi Horttanainen. Es kamen der Frühling und der Sommer, aber von Horttanainen keine Spur. Noch ein zweites Weihnachtsfest und ein weiterer Frühling und Sommer vergingen. Horttanainen ließ sich nicht blicken.
Erst im August 2017 traf die Kunde ein, dass Hortta nainen immerhin am Leben war. Eines Abends kam der »Fliegende Engel« aus Valtimo angehetzt und berichtete, dass ein Mann, der behauptete, Horttanainen zu heißen, in Nurmes gesehen worden sei und sich nun auf den Weg nach Norden gemacht habe.
Eemeli Toropainen befahl, einen Traber anzuspannen und Horttanainen vom Bahnhof Valtimo abzuholen, und ein paar Tage später kam der Wagen auch tatsächlich mit dem Mann zurück.
Der arme Alte war in elender Verfassung. Er war bis auf die Knochen abgemagert, seine Kleidung bestand nur noch aus schäbigen Fetzen, er hinkte und stützte sich auf einen Stock. Horttanainen sah wie ein Hundert jähriger aus, obwohl er erst achtzig war.
Er wankte in Eemelis Herrenhaus. Seppo Sorjonen untersuchte ihn. Der Alte war stark unterernährt, au ßerdem litt er an einer schweren Depression. Sorjonen ordnete an, ihm als Erstes eine leichte Fischsuppe und Buttermilch zu verabreichen. Man führte den Alten in die Sauna und steckte ihn anschließend in saubere Sachen. Damit er sich erst mal ein paar Tage ausruhen konnte, machte man ihm ein Lager in dem stillen und geräumigen Speicher des Herrenhauses zurecht, und die Frauen brachten ihm zu essen und zu trinken. Jeden zweiten Tag besuchte ihn eine Masseurin vom Grünberg, die die steifen Glieder des alten Spions zu lockern ver suchte.
Allmählich bekam Severi Horttanainen neuen Le bensmut. Seine körperliche Verfassung besserte sich dank des guten Essens und der guten Behandlung, sodass er bereits nach einer Woche den Speicher verlas
sen und ausführlich von seiner zweijährigen Spionage reise berichten konnte.
Es war eine lange Geschichte. Zuerst war Severi mit dem Bummelzug nach Hämeenlinna gereist, wo er er fahren hatte, dass nach Helsinki keine Zivilpersonen hineingelassen wurden; die Stadt war wegen des Krieges gesperrt, und der größte Teil der Bevölkerung war aufs Land evakuiert worden. In Hämeenlinna hingegen lebten die Leute in relativer Sicherheit. Der gute Severi blieb zunächst dort, um sich ein paar flotte Tage zu machen, da er einmal Zeit hatte und auch nette Gesellschaft fand.
Von Hämeenlinna nahm ihn schließlich ein Lastwa gen nach Kotka mit, wo es ihm gelang, einen Platz auf einem Schleppkahn zu ergattern, der über den Finni schen Meerbusen nach Estland fuhr. Er beobachtete das Weltkriegsgeschehen einige Wochen von Tartu aus und wartete auf eine Gelegenheit, nach St. Petersburg zu reisen. Zu seinem Unglück erkrankte er an Tripper und musste zwischendurch nach Finnland zurück, um sich behandeln zu lassen. Gegen Ende des Herbstes überquerte Severi die Staatsgrenze heimlich mit dem Boot und schlug sich zur Bahnstrecke durch, die nach Norden, nach Vyborg, führte. Doch es gab keinen Zug verkehr, die Schienen waren mit Gras überwuchert. In den Wäldern hielten sich Räuber versteckt. So war größte Vorsicht geboten, als Severi längs der Bahnstre cke nach Vyborg trabte. Die Stadt war teilweise abge brannt und völlig verwaist. Severi musste an den Schie nen zu Fuß bis nach St. Petersburg weitergehen.
Anfang November kam er in St. Petersburg an. Die Vororte waren verlassen, und je weiter sich Severi dem Zentrum näherte, desto trauriger wirkte die frühere Millionenstadt. Nur wenige Menschen irrten in den Straßen umher. Auch ein paar Soldaten kamen ihm entgegen, aber im Grunde genommen war die Stadt leer.
Severi erkundigte sich bei Passanten, die er traf, wo die Einwohner geblieben seien. Man erklärte ihm, dass die Stadt evakuiert worden sei, da Seuchen drohten. Das große Staubecken in der innersten Bucht des Finni schen Meerbusens hatte sich mit stinkendem Schlamm gefüllt, denn die Kanalisation der Stadt war schon seit Jahren verstopft gewesen, und der Müll hatte alles unter sich begraben. Es war ähnlich wie in New York gewesen, nur dass man hier von vornherein die Hoffnung aufge geben hatte, die Stadt zu retten. Das neue St. Peters burg wurde dem Vernehmen nach am anderen Ufer des Ladoga, in Tihvin, gebaut. Dort wohnten inzwischen angeblich bereits zwei Millionen Menschen. Tihvin war, wie man Severi erzählte, die größte ganz und gar aus Holzbalken gebaute Stadt der Welt. Da St. Petersburg untergegangen war, und es auch um Moskau nicht besser stand, sollte Tihvin die neue Hauptstadt Russ-lands werden, wenn es denn erst einmal fertig wäre. Unter Kriegsbedingungen dauerten Bauarbeiten lange. Aus den Palästen von St. Petersburg waren Mauersteine nach Tihvin geschafft und für den Bau von Hafenkais verwendet worden. Fast alle Newa-Brücken waren einge stürzt, weil ihre Steinkästen vom Ufer abtransportiert worden waren. Die Newa war verstopft wie die ganze Stadt, und so hatte sich der Strom ein neues Bett über Peterhof in den Finnischen Meerbusen gebahnt. Die neue Newa hatte viele alte Palastviertel mit sich geris sen, der größte Teil des ehemaligen prachtvollen Zent rums war jedoch noch vorhanden.
Durch die Straßen der Stadt strichen Füchse und Marderhunde, und nachts war manchmal das Heulen von Wölfen zu hören. Severi sicherte sich seinen Le bensunterhalt, indem er mit den Füchsen um die Wette Jagd auf die Hasen machte, die die Gegend um den Finnischen Bahnhof bevölkerten und sich in den verwil derten Parks der Großstadt anscheinend wohl fühlten.
Die Straßen und Kanäle waren bis zu einem Meter hoch mit Schlamm bedeckt, den die Newa mitgebracht hatte und der jetzt gefroren war. Severi schlitterte durch die vereisten Straßen und betrachtete traurig die verfal lenen Paläste. Er hatte im vergangenen Jahrhundert mehrmals das damalige Leningrad besucht und dachte wehmütig an die hellen Nächte in der großen Stadt, als die Taxis herumgeflitzt waren, der Wodka in Strömen geflossen war und die unbekümmerten Russen ihre ausufernde Gastfreundschaft gezeigt hatten.
Severi entdeckte viele bekannte Orte, leer stehende Restaurants und verwaiste Museen, deren Sammlungen verschwunden oder fortgebracht worden waren. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Türen aus den Angeln gefallen. Vom ehemaligen Museum der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution war nicht mehr viel übrig: Im Hauptsaal war die Decke einge stürzt, im Schlamm schwamm ein einsamer Bus, in dem noch das russischsprachige Hinweisschild zu erkennen war, das Rauchen und Wodkatrinken verbot. Die Samm lungen der Eremitage waren zum Glück ausgelagert worden, denn auch dieser große Komplex steckte im vereisten Schlamm.
Severi rutschte über den alten Newski Prospekt, vom Museum für Bildhauerkunst bis hin zur ehemals so prachtvollen Isaak-Kathedrale. Die Kirche stand fest auf ihrem Platz, Krieg und Schlamm hatten ihr kaum etwas anhaben können. Die goldenen Kuppeln waren freilich grau geworden, und drinnen fehlten die Kunstschätze, auch das Pendel, das von der Kuppel herabgehangen und die Bewegung der Erdkugel angezeigt hatte, war nicht mehr da. Wo mag es jetzt wohl schwingen?, fragte sich Severi und entzündete auf dem Platz vor der Ka thedrale ein Lagerfeuer auf einem leeren Denkmalsockel. Vielleicht hatte dort früher eine Leninbüste gestanden; wie auch immer, nun war jedenfalls keine mehr da, und der Sockel eignete sich gut als Feuerstelle. Die Steine waren aus Marmor, und Stufen aus rotem Granit führ ten zu ihnen hinauf.
Severi machte sich Hasenbraten, als drei verfrorene Soldaten auftauchten. Severi gab ihnen ein paar Bissen ab und fragte, woher sie stammten. Zwei von ihnen kamen aus Astrachan, der dritte aus Sibirien. Zurzeit bestand ihre Aufgabe darin, den letzten Wärtern der Stadt Gemüse zu bringen. Mit Eselskarren transportier ten sie den Kohl von St. Petersburg nach Schlüsselburg. Severi tauschte zwei Hasenfelle gegen eine aufgerollte Leinwand von den Soldaten ein. Es war das Gemälde Unerwartet von Ilja Repin, das die Burschen im Herbst in der Nähe der Eremitage auf der Straße gefunden hatten, wohin es vom Wind geweht worden war.
Severi besuchte auch die Peter-und-Paul-Festung auf der Newa-Insel. Zu seinem Erstaunen sah er, dass dort Leben und gemächliches Treiben herrschte: In der Fes-tung existierte immer noch ein Gefängnis, so wie bereits viele Jahrhunderte lang. Darin hatten seinerzeit De kabristen, die verschiedensten Revolutionäre, sogar finnische Häftlinge geschmachtet, später weiße Generäle und Aristokraten aus dem alten St. Petersburg. Neugie rig erkundigte sich Severi im Büro des Kommandanten, welche Häftlinge derzeit in den Zellen schmorten. Man reagierte misstrauisch und fragte nach seinem Passier schein, dem Propusk. Severi erklärte, dass er ein harm-loser finnischer Tourist sei, und wollte rasch den Rück zug antreten, was jedoch nicht mehr möglich war. Die Angelegenheit verlangte nach einer Klärung, und so lange wurde Severi in eine Zelle gesperrt.
Es zeigte sich, dass dort viele Menschen einsaßen, die über ihr Schicksal im Ungewissen gelassen wurden. Die meisten waren nicht einmal verurteilt worden, sondern man hatte sie einfach irgendwo aufgegriffen, und da sie verdächtig waren wie jeder Mensch, hatte man sie fürs Erste in eine Zelle gesteckt. Ein amerikanischer Geistli cher erzählte, dass er sechs Jahre zuvor nur deshalb in die Festung gebracht worden war, weil er damals noch kein Russisch konnte. Er hatte die Absicht gehabt, in Schlüsselburg eine Mormonenkirche zu gründen, war aber gar nicht dazu gekommen. Jetzt sprach er fließend Russisch, was ihm trotzdem nicht zur Freiheit verhalf. Ein Mann, der den Gefängnisslang sprach, konnte kaum als unschuldig gelten.
Die Wärter waren freundlich, fast wohlwollend; denn ihnen taten die Häftlinge Leid, die in den öden Zellen schmachteten, nur konnten sie nichts an der Sache ändern. Sie reichten den Häftlingen täglich durch die kleinen Türluken eine magere Kohlsuppe und holten anschließend die Reste ab, die sie gewohnheitsmäßig über die Mauer aufs Eis der Newa kippten. Sie versuch ten auch, die verzweifelten Bittgesuche der Häftlinge zu befördern, auch wenn nie Antworten eingingen, denn es gab in der ganzen Stadt keine entsprechenden Behörden mehr. Die Gerichte waren nach Tihvin verlegt worden, dort befanden sich alle Richter und Polizeiinspektionen, dort wurden Fälle behandelt und entschieden. Aber St. Petersburg war St. Petersburg, und die Beamten von Tihvin betrachteten sich als nicht zuständig für den Strafvollzug der ehemaligen Großstadt. Sie hatten genug mit den eigenen Kriminellen zu tun, was man ihnen glauben durfte, denn die Verbrechensmafia von Tihvin war tatsächlich unerhört erfolgreich und grausam.
Der spionierende Organist Horttanainen lernte Mit häftlinge der verschiedensten Nationen kennen. Er bekam ausgezeichnete Informationen über den Verlauf des dritten Weltkrieges und darüber, welche Staaten auf welcher Seite kämpften und welche Zerstörungen ent standen waren. Er erfuhr auch einiges über die Zustän de im weiten Russland, angefangen von den Ufern des Pazifik bis hin zum Eismeer. Schade nur, dass er nicht nach Hause zurückfahren und sein wertvolles Wissen weitergeben konnte, denn er saß in seiner Zelle in der Peter-und-Paul-Festung sicher verwahrt wie ein mehrfa cher Mörder oder ein Dissident. Es schmerzte ihn, an das heimatliche Ukonjärvi zu denken, wohin er keine der welterschütternden Nachrichten übermitteln konnte, die bald wieder veralten und im alles verschlingenden Fass der Geschichte versinken würden. Die Monate vergingen, die Jahre verrannen, und nichts geschah, abgesehen vom Fortdauern des dritten Weltkrieges.
Im Sommer ergab es sich dann endlich so günstig, dass ein sibirischer Universitätsdozent starb. Severi wurde mit der Aufgabe betraut, die Leiche seines Mit häftlings hinauszuschaffen und auf den Eselskarren zu legen. Es war die Gelegenheit. Severi sprang zu der Leiche in den Karren und trieb die Esel an. Im Kugelha gel verließ er das Gelände und hetzte die wild geworde nen Tiere durch die Straßen, bis er an einer geeigneten Stelle vom Karren sprang und sich im verfallenden Labyrinth der verwaisten Stadt versteckte.
Die Rückfahrt nach Finnland und hinauf in den Nor-den hatte länger als zwei Monate gedauert. Es war eine harte Tortur für den von der Haft geschwächten alten Mann gewesen, der Gedanke an die Freiheit hatte ihn am Leben und in Bewegung gehalten. Und nun war er zu Hause und brachte neue Informationen über die Zustände beim östlichen Nachbarn mit.
»Ich muss sagen, dass mich Weltreisen nicht mehr sehr reizen«, lautete Severis stilles Fazit aus seinen Erfahrungen.
Er holte eine kleines und schmuddeliges aufgerolltes Öltuch hervor, auf dessen Innenseite sich ein prachtvol les Gemälde befand. Es war Ilja Repins berühmtes Un erwartet.
»Wenn mir jemand dafür einen Rahmen baut, dann wäre die Reise wenigstens nicht ganz umsonst gewesen«, sagte der Alte, während er melancholisch das Gemälde betrachtete.
36
Im Frühjahr 2017 verbreiteten sich Gerüchte, dass der dritte Weltkrieg zu Ende sei. Truppen waren nicht zu sehen, allerdings auch kaum Zivilpersonen. Die Gebiete hinter der Ostgrenze waren verwaist.
Da hatte Eemeli Toropainen die Idee, eine Expedition ans Weiße Meer zu schicken, die die dortigen Fangmög lichkeiten prüfen sollte. Wenn es stimmte, dass es an den Ufern des Meeres keine Besiedelung mehr gab, könnte man dort gut mit Schleppnetzen fischen. Im Laakajärvi gab es zwar immer noch reichlich Fisch, aber da die Einwohnerzahl der Gemeinde in den Kriegsjahren gewachsen war, brauchte man zusätzliche Fangplätze.
Bei der Gelegenheit konnte die Expedition auch gleich die arabische Wasserstoffbombe, die am Murtovaara lagerte, mitnehmen. Wenn nun der Frieden wieder in der Welt Einzug hielt, könnte die Bombe Probleme bereiten. Was sollte man den Behörden sagen, die früher oder später auftauchen und strenge Fragen stellen würden? War es etwa das erklärte Anliegen der Stiftung, sich mit Atomwaffen auszurüsten?
Man begann mit den Vorbereitungen für die große Ko-la-Expedition. Siebzig Männer sollten teilnehmen: Parti sanen, Fischer, Schmiede und Zimmerleute, außerdem die Feldpröbstin. Severi Horttanainen hatte keine Lust mitzufahren, er sagte, er habe genug von Reisen in diese Gegend. Er sei schon so alt, dass er den Verlockungen des Ostens, die im schlimmsten Falle jahrelanges Schmachten in feuchten Gefängniszellen bedeuteten, lieber widerstehen wolle. Auch Eemeli Toropainen blieb zu Hause, denn er war ebenfalls nicht mehr jung und außerdem herzkrank. Mit der Leitung der Expedition wurde Taneli Heikura, der Chef der Partisanenkompa nie, betraut.
Eine umfangreiche Ausrüstung wurde eingepackt: Waffen, Werkzeug, Seile, Nägel, Fanggeräte, dazu Ver pflegung sowohl für die Expeditionsteilnehmer als auch für die Zugochsen. Zunächst sollte es zum Murtovaara gehen, wo die Wasserstoffbombe abzuholen war, und dann weiter zum Ufer des Weißen Meeres. Dort sollte eine Schiffswerft für den Bau von fünf Fangfahrzeugen, dazu ein Stall für die Ochsen und eine Unterkunft für einen Teil der Teilnehmer gebaut werden.
Wenn die Schiffe etwa um die Weihnachtszeit fertig waren, sollten die Kernwaffe und die erforderlichen Fanggeräte aufgeladen werden. Die Hauptgruppe der Expedition, nämlich fünfzig Fischer und Partisanen, sollte in See stechen und mit der Ukonjärvi-Flotte vom Weißen Meer in die Barentssee und bis nach Nowaja Semlja segeln. Dort sollten sie die Atombombe an Land bringen. Falls sie auf der Insel arbeitsfähige russische Truppen anträfen, sollten sie mit ihnen die Vernichtung der Bombe vereinbaren, andernfalls ein Schutzdach für sie bauen, ihren Standort sorgfältig markieren und absichern, dass sie sich nicht von allein zünden konnte.
Auf der Rückfahrt sollten die Männer im Eismeer fi schen und, wenn möglich, irgendwo auf der Halbinsel Kola an Land gehen, um Flusslachse zu fangen. Etwa zu Beginn des Sommers sollten sie dann wieder im Weißen Meer sein und im Herbst 2018 mit dem Fang und den restlichen Expeditionsmitgliedern in Ukonjärvi eintref fen.
So begann die große Kola-Expedition. Eemeli Toropai nen, Severi Horttanainen und viele Einwohner von Ukonjärvi begleiteten die Karawane bis hinter den Hii denvaara. Auch der »Fliegende Engel« ging als Kurier mit auf die Reise, sie sollte zurückkommen und berichten, wie die erste Etappe bis zum Weißen Meer verlaufen war.
Zur Zeit der ersten Schneefälle kam der »Fliegende Engel« angehetzt. Sie war aufgeregt wie immer: Die Expedition war erst am Murtovaara gewesen und dann weit, weit bis ans Meer gewandert, dort waren Bäume gefällt und Bretter gesägt worden, um Schiffe zu bauen. Auch Baracken und ein Stall für die Ochsen waren entstanden. Menschen waren der Karawane unterwegs nicht begegnet. Auf dem Rückweg hatte der »Fliegende Engel« ein paar Beerensammler getroffen, die in der Nähe der Staatsgrenze Preiselbeeren gepflückt hatten. Auch der »Fliegende Engel« hatte Preiselbeeren ge pflückt, sie dann aber irgendwo liegen gelassen, all die guten Beeren.
Die Partisanen, die am Murtovaara geblieben waren, brachten im Frühjahr Nachrichten vom Werftlager am Weißen Meer. Dort war alles in Ordnung, die Männer fischten und machten hin und wieder Ausflüge auf die
Solowezkischen Klosterinseln. Zu Weihnachten hatte Feldpröbstin Hillikainen in der Dreifaltigkeitskirche des Klosters einen Gottesdienst gehalten, an dem auch ein paar alte Karelierinnen aus dem Dorf Solowezk teilge nommen hatten. Die russischen Einsiedlermönche, die auf dem Sekirnaja-Berg lebten, hatten es übel genom-men, dass eine lutherische Pastorin im Kloster predigte, doch im Allgemeinen unterhielten die Finnen gute Be ziehungen zu den örtlichen Bewohnern, sie handelten mit ihnen, tauschten Fisch gegen Getreide.
Im Frühjahr 2018 war nordöstlich von Ukonjärvi eine seltsame Lichterscheinung am Himmel zu sehen. Mit Angst im Herzen dachten die Leute, dass dort vielleicht ihre Wasserstoffbombe explodiert sei und mit ihr die Männer, die sie transportiert hatten. Diese Angst hielt sich das ganze Frühjahr und den Sommer in Ukonjärvi, und erst im Herbst, als die ausgesandte Expedition von der Halbinsel Kola und vom Eismeer zurückkehrte, erfuhren die Leute Genaueres.
Die Teilnehmer der Expedition waren bei guter Ge sundheit und die Wagen schwer beladen mit der reichen Ausbeute. Taneli Heikura berichtete, dass sie, sowie die Schiffe fertig gewesen seien, zunächst nach Solowezk und von dort längs des Südufers der Halbinsel Kola durch das Weiße Meer in die offene Barentssee gesegelt seien. Unterwegs hatten sie scharenweise Weißwale gesehen. Drei Exemplare hatten sie erlegt.
Am östlichen Ende der Halbinsel Kola, an der Mün dung des Flusses Ponoi, hatten sie von den ortsansässi gen Bewohnern, hauptsächlich Kola-Saamen, einen Fangplatz gepachtet. Sie hatten mit den Leuten Handel getrieben und sich mit ihnen richtig angefreundet, sogar in dem Maße, dass sich auf der Rückfahrt zwei Expedi tionsmitglieder dort als Fischer niedergelassen und einheimische Frauen geheiratet hatten, gleichzeitig wollten sie nun für die Wahrung der Pachtrechte Ukon järvis auf der Halbinsel Kola sorgen.
Von der Halbinsel Kola aus waren die Männer dann gen Nowaja Semlja gesegelt, um die Atomwaffe loszu werden, die sie die ganze Zeit mit sich geschleppt hat-ten. Die letzten Winterstürme hatten der Flotte jedoch
arg zugesetzt und sie an Nowaja Semlja vorbei weit ins Eismeer hinaus getrieben. Die Männer hatten mit den Schiffen in einem Nothafen geankert, an der windge schützten Seite einer kleinen Felsinsel. Diese war so klein gewesen, dass sie gar nicht auf der alten allgemei nen Karte eingezeichnet war.
»Und jetzt wird man sie auch auf genaueren Karten nicht mehr finden…, oder falls man den Namen findet, dann jedenfalls nicht mehr die Insel, weil sie uns näm lich versehentlich explodiert ist«, erzählte Taneli Heiku ra.
Folgendes war passiert: Das Schiff, an dem die Atom-bombe befestigt gewesen war, war an Land getrieben. Dann war erneut Sturm aufgekommen, der das Schiff an die Felsen geschleudert hatte. Die Männer hatten es dort zurücklassen müssen. Sie hatten die Bombe nicht in ein anderes Schiff umladen können, da das Ufer steil war und sie außerdem keine Balken hatten, um einen Kran zu bauen. Sie hatten sich eine andere Lösung einfallen lassen. Mit einer Winde hatten sie die Bombe auf die Spitze der Felsinsel gehievt, wo sie sie mit Seilen an den Steinen und Felskanten befestigt und ein Schutzdach darüber errichtet hatten. Auf den Deckel der Kiste hatten sie in allen Sprachen, die sie konnten, Warnungen geschrieben und zufällige Besucher aufge fordert, die Insel wegen atomarer Gefahr zu meiden. »Auf einmal hörten wir dann von der Bombe so merkwürdige Geräusche. Wir machten den Deckel der Kiste auf und legten das Ohr ans Metall, und da hörten wir von drin nen leises Zischen und Knacken.«
Somalischmied Josif Nabulah hatte die Vermutung geäußert, dass sich im Inneren der Bombe womöglich ein zusätzlicher Zündmechanismus befinde, der durch die stürmische Überfahrt und die Havarie in Gang ge setzt worden sei. Solche Geräte seien zu Beginn des dritten Weltkrieges verwendet worden, hatte er gesagt. Der Sinn dieser Selbstzünder war es wahrscheinlich, die Bombe zur Explosion zu bringen, falls der Feind sie in die Hände bekam und zu demontieren versuchte.
»Wir haben gemacht, dass wir von dem Felsen weg kamen. Wir sind zu unseren Schiffen gerudert und haben die Bombe ihrem Schicksal überlassen. In aller Eile haben wir die Segel gesetzt und Kurs auf die Halb insel Kola genommen, dann sind wir drei Tage und drei Nächte ohne Pause gesegelt. Eines Morgens haben wir ein schreckliches, lang gezogenes Donnern gehört, und das ganze nördliche Firmament wurde erst blendend weit? und anschließend rostrot. Daraus haben wir ge schlossen, dass es die Insel jetzt nicht mehr gibt. Vier Stunden später kam aus der Richtung der Explosion eine mehr als zehn Meter hohe Sturzwelle, die beinah unsere ganze Flotte verschlungen hätte. Viele Gegens tände wurden ins Meer gespült, und wir bekamen blaue Flecken, als die Schiffe auf den wilden Schaumkronen tanzten und wir hin und her geschleudert wurden.«
Die Expedition brachte hundertvierzig Fässer gesalze nen Fisch mit, hauptsächlich Lachs, aber auch anderen Schuppenfisch wie Maränen und Forellen. Außerdem fünfzehn Fässer Walfett und tausendvierhundert Kilo getrockneten Dorsch. Weißwale hatten die Männer hauptsächlich im Weißen Meer, aber ein paar auch in der Barentssee gefangen. Die Ausbeute an Fellen war ebenfalls beachtlich: Zwei Eisbären, fünf Polarfüchse, ein paar Wölfe und an die hundert Füchse hatten dran glauben müssen.
Außerdem waren fünf Frauen aus Archangelsk, wo die Expedition auf dem Hinweg Halt gemacht hatte, mitgekommen. Die Stadt war sehr verwahrlost, und es hatten noch weit mehr Frauen Interesse bekundet, in Ukonjärvi finnische Männer zu heiraten. Nach großen Kriegen herrschte ja zumeist an Frauen kein Mangel. Da allerdings kein weiterer Bedarf bestanden hatte, hatte sich die Expedition mit den fünf willigsten begnügt.
37
Im August 2022 wurde in Ukonjärvi eine Landwirt schaftsausstellung organisiert. Es war die erste, die in einem nordischen Land nach dem dritten Weltkrieg stattfand. Während das übrige Europa noch schwer an den Folgen des Krieges zu tragen hatte, kannten die Leute in Ukonjärvi keinen Mangel.
Eemeli Toropainen hielt die Ausstellung für wichtig, weil die Gemeinde auf diese Weise die Produkte ihrer Naturalwirtschaft mit Blick auf einen eventuellen Export präsentieren konnte. Gleichzeitig würden das Selbstver trauen und die Zuversicht der Einwohner gestärkt. Einen besonders festlichen Charakter bekam die Aus stellung dadurch, dass Eemeli gerade zu dem Zeitpunkt seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feierte.
Der Gewerbebeauftragte von Kajaani hatte Eemeli schon im Frühjahr vorgeschlagen, die Messe gemeinsam zu veranstalten. Er hatte sogar angeregt, Kajaani und Ukonjärvi zu einer Gemeinde zusammenzufassen, wobei Ukonjärvi das Zentrum und der Sitz der Verwaltung sein sollte. Eemeli Toropainen hatte den kommunalen Zu sammenschluss abgelehnt. Er hatte erklärt, dass es nicht das Anliegen der Asser-Toropainen-Stiftung sei, sich nahe gelegene Städte einzuverleiben. So blieb Ka jaani also selbstständig, und Ukonjärvi organisierte allein die Eemeli-Toropainen-Jubiläumsausstellung.
Zum Messezentrum wurde die neue Schule am Hii denvaara auserkoren, die im Sommer desselben Jahres fertig gestellt worden war. Auf dem Hof wurden mehrere Zelte und ein großer Pavillon errichtet, in denen die einzelnen Abteilungen Platz fanden. Auch der Festsaal der Schule wurde in die Ausstellungsfläche einbezogen.
Ukonjärvi hatte zu diesem Zeitpunkt gut siebentau send Einwohner. Zur Ausstellung kamen außerdem Tausende Besucher aus der Umgebung. Auch Ehrengäs te waren eingeladen, zum Beispiel Bischof Julius Ry teikköinen aus Kuopio. Die Feuerwehrkapelle von Sot kamo spielte auf dem Festplatz zur Unterhaltung.
Eemeli und seine Frau Taina führten die Ehrengäste durch die Ausstellung, mit im Gefolge waren auch Parti sanenchef Taneli Heikura mit Gattin, Severi Horttanai nen und Eemelis und Tainas erwachsener Sohn Jussi,
ein fast dreißigjähriger, breitschultriger junger Mann. Zuerst wurden die Maschinen besichtigt. Auf dem Hof
der Schule standen die Dresch- und die Dampfmaschi ne, außerdem Mähmaschinen, Eggen, Pflüge, Stubben haken und die Drainagemaschine. Weiterhin die But termaschine und Käseformen aus der Molkerei sowie ein alter Schnapskessel und ein von Hand zu bedienender Abfüllautomat aus der Schnapsbrennerei.
Auf den Feldern am Laakajärvi fanden an allen drei Messetagen die verschiedensten Schauveranstaltungen statt, am beliebtesten war das zweimal täglich vorge führte Pflügen. Mit einem vierscharigen Pflug, der von Ochsen gezogen wurde, entstanden vier Furchen auf einmal. Kräftiger Erdgeruch wehte den Besuchern in die Nase, die Ochsen schritten mit ruhiger Würde dahin, und fruchtbarer Acker wurde für die Bestellung fertig. Im See wurde, ebenfalls zu Schauzwecken, mit dem Zuggarn gefischt, die Ausbeute von vierhundert Kilo kleiner Maränen fand in der Feldküche der Messe Ver wendung. Am Ufer der Russenhalbinsel wurde Erz aus dem See geholt. Die Gattin des Bischofs bekam einen Halsschmuck geschenkt, der aus Erz geschmiedet und auf dem die Kirche von Ukonjärvi dargestellt war.
Hinter dem Dorf Sepänkylä, wo neue Schwenden ent stehen sollten, fand ein Wettbewerb im Bäumefällen statt, den die Mannschaft aus Sepänkylä gewann, ge folgt von der aus Ukonjärvi, dritte wurde die Gastmann schaft aus Sotkamo. Im Anschluss wurde eine riesige Teergrube abgebrannt, die Bischof Ryteikköinen zuvor weihte.
Die Grünen präsentierten ihren Kräutergarten, der, so hieß es, der modernste in allen nordischen Ländern war. Die Ehrengäste bekamen ein Messesortiment verschie dener getrockneter Kräuter überreicht.
Die Handwerker zeigten den Besuchern ihre Kunst: Der Seilmacher fertigte ein starkes Seil aus Naturhanf, der Gerber schabte Häute aus, der Schuster fertigte Stiefel, der Schneider nahm bei den Messegästen Maß. Andere stellten ihre Meisterstücke aus: der Sattler den Sattel eines reitenden Partisanen, der Tischler einen Schaukelstuhl, der Böttcher verschiedene Zuber und Fässer, die Weberinnen herrliche Wandteppiche in Naturfarben und andere Stoffe und die Näherinnen Kleidungsstücke nach eigenen Entwürfen.
Ausgestellt waren auch zahlreiche andere Produkte aus der Gemeinde Ukonjärvi: Teer, Hanf, Flachs, Kien ruß, Tongefäße, Schmiedearbeiten, Gläser, Blechkan nen. Zu bewundern waren außerdem Skier, Tretschlit ten, Pferdeschlitten, Sommerschlitten, Zaumzeug, Kar ren und sogar eine luxuriöse, von zwei Pferden zu zie hende geschlossene Kutsche nach dem Vorbild der alten französischen Diligence. Am Seeufer lagen mehrere Boote, ein Floß und zwei Kanus.
Im Festsaal der Schule gab es eine Kunstausstellung, deren klassischer Teil aus zwei bedeutenden Gemälden bestand. Das eine war Ilja Repins Unerwartet und das andere Leonardo da Vincis Mona Lisa. Letzteres war im Gepäck eines versoffenen Mönches nach Ukonjärvi gelangt, der das Gemälde in den Kriegswirren aus dem Louvre gestohlen hatte. In Ukonjärvi hatte er es gegen zwei kleine Fässer mit gesalzenem Fleisch eingetauscht. Die Leinwand war aufgerollt und ziemlich schmuddelig gewesen. Man hatte sie gereinigt und einen passenden Rahmen dazu angefertigt.
Des Weiteren waren anatomische Kohlezeichnungen von Feldscher Seppo Sorjonen ausgestellt sowie zwei Pasticcios von Tuirevi Hillikainen zu religiösen Themen. Auch die ausländische Kunst hatte ihre eigene Abtei lung, der Somalischmied zeigte Negerskulpturen aus Eisen, die Russen hatten ein paar Ikonen beigesteuert und die arabischen Piloten Brandmalerei auf schnörke ligen Keramikplatten, die, so behaupteten sie, die schwungvollen Gedanken des Propheten Mohammed darstellten.
In den Räumen der Schule gab es ferner eine umfang reiche und interessante Sammlung zum Thema Natur. Dort waren gebräuchliche Jagdwaffen und Fallen zu sehen, dazu die Häute der Beutetiere. Das wertvollste Exponat war der Schädel eines Eisbären, den die Expe dition von der Barentssee mitgebracht hatte. Der Wir belknochen eines Weißwals und der Zahn eines Mo schusochsen aus der Ponoi-Niederung waren die Attrak tionen der Ausstellung.
Zum Abschluss des langen Rundgangs zeigte Eemeli seinen Gästen die Sammlungen des unlängst eröffneten Heimatmuseums von Ukonjärvi. Hier waren allerlei Gegenstände aus dem vorigen Jahrtausend zu bewun dern: ein Elektrobohrer, mit dem beim Kirchenbau die Löcher für die Verbindungszapfen in die Balken gebohrt worden waren, ein digitaler Reisewecker, ein ramponier ter Farbfernseher, eine elektrische Zahnbürste und ein Fön, ein Mopedgestell und natürlich Jaritapio Pärssi nens erloschener Laptop. Diese Gegenstände aus alten Zeiten sorgten für allgemeine Belustigung. Was hatte man sich nicht alles im vorigen Jahrtausend für teures Geld angeschafft! Das größte Interesse erregte jedoch die Abschussvorrichtung für eine Atombombe, die die arabi schen Piloten dem Museum geschenkt hatten. Man war sich einig, dass diese Sammlung spätestens ab dem Jahre 3000 das verdiente Interesse finden würde.
Schließlich stieg Eemeli Toropainen mit seiner Frau und den Ehrengästen noch in die Kutsche, um mit ihnen an dem heißen Augustabend zunächst in die Schnapsbrennerei und dann nach Kamulanmäki in den neu angelegten Wildschweinpark zu fahren. In der Schnapsfabrik hatten die Gäste Gelegenheit, an einer Verkostung teilzunehmen und dabei um die Wette zu raten, mit welchen Kräutern die jeweilige Sorte gewürzt war. Dazu war am Ufer des Sees ein Tisch aufgestellt, auf dem viele kleine Gläser standen, die randvoll mit den verschiedenen Schnäpsen gefüllt waren.
Den Test gewann souverän Bischof Ryteikköinen. Nicht einmal Severi Horttanainen konnte es mit ihm aufnehmen. Der Bischof rühmte sich denn auch, ein Kenner von Gewürzgärten zu sein.
Leicht angeheitert traf die Gesellschaft im Wild schweinpark ein. Man nahm auf Campingstühlen vor der Umzäunung Platz und beobachtete die Tiere, die neugierig näher kamen, um die Fremden zu bestaunen. Als kleinen Imbiss gab es für die Gäste Butterbrote mit Wildschweinfleisch. Bischof Ryteikköinen gestand, dass er zuletzt vor dem dritten Weltkrieg so üppig gegessen hatte.
»Apropos Krieg, bevor ich herkam, hörte ich, dass eine Million Hungusen durch Deutschland nach Belgien oder in eines dieser Länder marschiert sind«, plauderte der Bischof. »Sie hier in Ukonjärvi sind wohl weitgehend von Völkerwanderungen verschont geblieben?«, erkundigte er sich bei Eemeli Toropainen.
Eemeli bestätigte, dass fremde Völker in den Kriegs jahren den Frieden von Ukonjärvi kaum gestört hatten. Wenn man mal von den vierzigtausend Frauen absah, die seinerzeit das Gebiet der Gemeinde gestreift hatten, aber das war auch alles gewesen.
»Ja…, Sie leben hier in einer wahren Idylle«, bestätigte der Bischof.
Man kehrte ins Dorf zurück. In der Kirche von Ukon järvi fand ein Messegottesdienst statt, es predigte Feldpröbstin Hillikainen, und als Liturg fungierte Bi schof Ryteikköinen. An der Orgel saß Severi Horttanai nen.
Zum Abschluss der Messetage bekam Eemeli Toro painen einen ungewöhnlich schweren Herzanfall.
38
Seppo Sorjonen ordnete für Eemeli Bettruhe an. Nach ein paar Tagen kam der Patient so weit zu Kräften, dass er aufstehen konnte. Sorjonen gab ihm Medikamente und schlug ihm eine Bypassoperation vor. Er, Sorjonen, könne nach all den Jahren, die er praktiziere, einen solchen Eingriff durchaus wagen, so glaube er.
Er führte Eemeli in den Speicher des Pfarrhauses, der bereits vor dem dritten Weltkrieg zum Krankenhaus umfunktioniert worden war. Dort gab es eine kleine Bettenstation für drei Patienten, und am anderen Ende des Gebäudes, durch einen Vorhang abgeteilt, einen Operationssaal. Dieser war nicht wirklich ein Saal – der Raum maß fünf mal fünf Meter –, doch Sorjonen fand ihn groß genug. Im Allgemeinen behandelte er dort kleinere Gebrechen. Seine chirurgische Laufbahn hatte er vor zehn Jahren damit begonnen, die Krampfadern der Bäuerin Matolampi zu operieren. Danach hatte er seine Künste weiter erprobt, indem er ein paar entzün dete Blinddärme entfernt und Leistenbrüche operiert hatte. Auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie konnte er die Begradigung der abstehenden Ohren einiger Dorf buben vorweisen.
Eemeli Toropainen musterte misstrauisch die Aus stattung des Operationsraumes. An der Decke hing eine helle Lampe. Somalischmied Josif Nabulah hatte den Operationstisch aus den Aluminiumrohren des arabi schen Bombers zusammengebaut. Dünnere Schläuche hatte er ebenfalls dort entnommen. Auch die meisten Instrumente hatte der Schmied angefertigt, nur die Injektionsspritzen und die übrigen feinmechanischen Geräte hatte sich Sorjonen in der Apotheke von Kajaani besorgt. Wegen der allgemein herrschenden Krise hatten sie enorm viel gekostet, und Einwegspritzen hatte es gar nicht gegeben. Die hygienischen Anforderungen deckte eine Wasserleitung ab, die aus dem Fluss kam, Strom erzeugte das Kraftwerk im Fluss, und für die Desinfekti on der Instrumente verwendete Sorjonen kochendes Wasser. Aus der Schnapsbrennerei am Rätsinlampi wurde die erforderliche Menge Arzneispiritus geliefert. Dieser konnte sowohl äußerlich als auch innerlich an gewendet werden. Die Fäden für das Vernähen von Operationswunden hatte Sorjonen von den Netzmachern bekommen.
In einer Ecke des Krankenhauses stand ein Bücher regal, in dem Seppo Sorjonen die Quellen seines medizi nischen Wissens aufbewahrte, darunter zwei deutsch sprachige Werke, eines über die inneren Krankheiten und das andere über die Thoraxchirurgie. Er besaß auch Bücher über Anästhesie und Chemie sowie natür lich ein paar allgemeinere medizinische Werke, ferner einen äußerst anschaulichen Bildband namens Anato mischer Atlas. Aus den unterstrichenen Stellen war zu ersehen, dass sich der Feldscher eingehend mit dem Gebiet befasst hatte.
An der Wand hing ein Vierfarbendruck, auf dem ein geöffneter Mensch in natürlicher Größe abgebildet war. Alle Organe waren deutlich zu erkennen – das Herz, die Lunge, die Leber, die Nieren und die Milz. Sorjonen zeigte seinem Patienten den Längsschnitt einer Herz kammer: »Du leidest an einer Unterfunktion des Her zens, insufficientia cordis. Diese wiederum wird verur sacht durch eine Erkrankung der Herzkranzarterie, morbus cordis coronarius, mit anderen Worten, der Herzmuskel bekommt keine Zufuhr von Blut und Sau erstoff, da die Adern verengt und vielleicht schon ver stopft sind. Die in diesem Stadium einzig erfolgreiche Behandlung wäre eine Bypassoperation.«
Eemeli Toropainen starrte auf die Abbildung mit dem aufgeschnittenen Herzen. Ihm wurde schwindelig.
»Ich denke, ich werde mich lieber in Helsinki operie ren lassen«, brachte er heraus, drückte die Hand aufs Herz und verzog sich nach draußen.
Der Arzt folgte ihm.
»Du glaubst wohl nicht an ein Gelingen der Operati on?«
Eemeli bemühte sich, den wohlmeinenden Sorjonen nicht zu beleidigen. Doch der provisorische Operations saal in dem ehemaligen Speicher schien ihm einfach nicht sicher genug. Außerdem hatte er sowieso etwas in Helsinki zu erledigen, er musste auf dem Finanzamt einige Steuerangelegenheiten der Gemeinde Ukonjärvi klären.
Seppo Sorjonen erzählte voller Stolz, dass er bereits eine Bypassoperation in der Praxis geübt habe, Eemeli wäre nicht sein erster Herzpatient. Im vergangenen Herbst hatte er beim bösartigsten Bock der Schafherde eben diese anspruchsvolle Operation vorgenommen, zu Studienzwecken, und zwar zur Zeit der Herbstschlach tungen.
»Hat der Bock überlebt?«, fragte Eemeli. »Ich habe irgendwie im Gefühl, dass ich es bei dir
bestimmt schaffen würde.«
Trotz dieser Überredungsversuche rüstete sich Eemeli für die Fahrt nach Helsinki. Seine Frau Taina begleitete ihn. Sie wollte ihren alten herzkranken Mann nicht allein reisen lassen. Seppo Sorjonen bat Taina, ihm für seinen Operationssaal Betäubungsspritzen und Nylon garn mitzubringen. Sohn Jussi brachte seine Eltern zum Bahnhof Valtimo, wo sie in den Zug stiegen. Nach vier undzwanzig Stunden fuhr die schnaufende Dampflok in den Bahnhof Helsinki ein.
Wie hatte sich doch Finnlands Hauptstadt inzwischen verändert! Das Bahnhofsgebäude war schmutzig und heruntergekommen. Nur wenige Menschen waren zu sehen, hauptsächlich Betrunkene und anderer Ab schaum. Das Dach über dem Westflügel der Halle war irgendwann eingestürzt, es wurde notdürftig durch Balken gestützt. Auf dem Steinfußboden standen Dreckpfützen. Im ganzen Gebäude war kein einziges Restaurant mehr in Betrieb. Vor der benachbarten Post saßen verkommene Gestalten um ein Lagerfeuer. Das Gebäude selbst hatte keine Fenster mehr. Auch der ehemalige Sokos-Komplex sah nicht besser aus.
Taina buchte eine Übernachtung am Erottaja, im Ho tel Klaus Kurki, das ebenfalls sehr verwahrlost war. Die Zimmer wurden kaum sauber gemacht, die Restaurants waren geschlossen, aber immerhin funktionierte die Heizung. Den Gästen wurde abgeraten, das Wasser aus der Leitung zu trinken, und so löschte Eemeli seinen Durst mit dem heimischen Bier aus Ukonjärvi.
Das Telefonbuch stammte aus der Zeit vor dem Krieg, und bei der Auskunft meldete sich niemand. So machte Taina sich in die Stadt auf, um zu erkunden, wo By passoperationen durchgeführt wurden. Sie kehrte ent täuscht zurück. Die Universitätsklinik war geschlossen. Das Krankenhaus von Jorvi arbeitete zwar, war aber nur mehr eine reine Entbindungsklinik. Die einzige Einrich tung, die halbwegs funktionierte und noch erwachsene Patienten aufnahm, war die uralte Chirurgische Klinik von Eira. Taina geleitete Eemeli dorthin.
Auch dieses Gebäude wirkte äußerst schäbig. Eemeli musste ganze zwei Stunden warten, bis er an die Reihe kam. Kranke Menschen in abgetragener Kleidung füllten die Gänge. Die früher so weißen Kittel der Ärzte schrien danach, gewaschen zu werden. Als Eemeli ins Sprech zimmer gerufen wurde, registrierte er, dass der Arzt eine Schnapsfahne hatte.
Die Untersuchung musste im Voraus bezahlt werden. Hundert Euro, was in Naturalien zehn Kilo besten Rind fleisches bedeutete. Feilschen war sinnlos, es warteten genug andere Patienten.
Die Untersuchung war oberflächlich, und der Arzt kam zu dem Schluss, dass Eemeli herzkrank sei. Er holte ein kleines Röhrchen mit gelben Tabletten aus der Tasche. Die sollte Eemeli jedes Mal schlucken, wenn er Herzbeschwerden hatte.
Taina erklärte, dass die Tabletten Eemeli nicht halfen. Er brauche eine Bypassoperation, diese Diagnose hatte der Doktor zu Hause gestellt.
Der Arzt verweigerte jedoch die nötige Operation. Er sagte, er sei Trinker und könne daher für nichts garan tieren, wenn er zum Messer griff. Außerdem sei der Patient bereits in einem Alter, dass er durchaus Jünge ren Platz machen könne.
»Der Mensch lebt nicht ewig. Vita brevis, mediana longa«, sagte er.
Taina gab sich damit nicht zufrieden. Sie verlangte Maßnahmen. Ihr Mann würde sterben, wenn man ihn nicht operierte.
Widerwillig erkundigte sich der Arzt nach den Mög lichkeiten für eine Operation im Haus. Wie sich zeigte, war die Warteschlange so lang, dass Eemeli erst neun undzwanzig Jahre später mit seiner Bypassoperation würde rechnen können.
Eemeli überschlug, dass er dann hundertvier Jahre alt wäre. Es schien ihm sinnlos, sich in eine Schlange einzureihen, die erst hinter der Tür des Totenreiches endete.
»Ein Privatpatient kommt natürlich schneller dran, vorausgesetzt, er verfügt über die nötigen finanziellen Mittel«, verriet der Arzt. Er holte einen kleinen Zettel hervor, auf dem die Preise für die einzelnen Operationen in Euro aufgelistet waren. Er erklärte, dass die Summen ohne weiteres in Lebensmittel umgerechnet werden konnten. Der Kurs sei günstig, wie er betonte.
Taina informierte sich, welchen Preis das Leben ihres Mannes hatte. Für eine Bypassoperation wurden 6000 Kilo gesalzener kleiner Maränen verlangt. Im Vergleich dazu kostete eine Blinddarmoperation 1500 und Hämorrhoiden 500 Kilo. Billiger waren Probleme mit der Prostata, eine solche Operation kostete nur 100 Kilo. Weitaus teurer hingegen würde das Einsetzen eines künstlichen Gelenkes, dafür waren 100 Fässer Salzfisch zu berappen.
Eemeli und Taina liefen deprimiert kreuz und quer durch Helsinki. Das Reichstagsgebäude war jetzt Sitz des Stabes der Europäischen Union. Das finnische Parlament war in die Räume der ehemaligen Nationalen Aktienbank, in alten Zeiten unter dem Namen Kamp bekannt, umgezogen. Die Anzahl der Abgeordneten war auf die Hälfte geschrumpft und betrug nur mehr einhundert. Das lokale Parlament tagte einmal im Jahr, und auch dann nur für zwei Wochen. Welchen Sinn hätte es gehabt, zu debattieren und Gesetze zu erlassen, die man nicht durchsetzen konnte. Finnland beschließt, Europa erlässt.
Das im vergangenen Jahrtausend an der Bucht von Töölö gebaute prachtvolle Opernhaus war jetzt ein inter nationales Heim für Kriegsinvaliden. Auf dem Hof hink ten Italiener und Franzosen an Krücken herum. Die in
den Gefechten des Atomkrieges geschundenen Kämpfer halfen sich gegenseitig, Personal war anscheinend für Versehrte nicht vorgesehen. Der Hauptsaal der Oper war offensichtlich der Speisesaal, denn auf der Bühne stand eine Gulaschkanone. Die gute alte Finlandiahalle am anderen Ende der Bucht sah sehr deprimierend aus, sie war mit teergetränkten Schindeln abgedeckt worden. Das düstere Gebäude spiegelte sich im schwarzen Was ser, ein wahrhaft harmonisches Bild.
Taina führte Eemeli auf den Friedhof von Hietaniemi. Dort gab es viele hungrige Eichhörnchen. Eemeli wollte gern das Grab des vor Weihnachten verstorbenen Mau no Koivisto sehen. Der ehemalige Präsident war neun undneunzig Jahre alt geworden. Sein Grabstein war aus rotem Granit und hatte eine wuchtige Form, die Vorder seite war glatt geschliffen. Auf dem Grabhügel lagen zwei vertrocknete Sträuße, der eine trug eine Vignette mit einem Gruß der Arbeitersparbank.
In diesem Moment näherten sich zwei betagte Damen mit frischen Blumensträußen. Die eine war bestimmt an die hundert Jahre alt, und auch die andere war nicht mehr jung. Taina fing sofort an zu zischeln und zog Eemeli vom Grab weg.
Es war Frau Tellervo Koivisto, die da herankam, ge stützt von ihrer Tochter Assi. Die Frauen brachten rote Nelken zum Grab des Ehemannes und Vaters, Blumen waren schwer zu haben in diesen Krisenzeiten. Tellervo Koivisto übergab den Strauß ihrer Tochter, die ihn auf den Hügel stellte. Danach verbrachten die beiden Da-
men eine Schweigeminute am Grab. Taina rechnete schnell aus, dass Assi jetzt bereits über sechzig sein musste, Herrgott, wie schnell doch die Zeit verging.
Die beiden stillen Damen verließen den Friedhof und gingen durch das Tor auf die Straße, wo sie in eine Kutsche stiegen. Ein Adjutant war nicht zu sehen. Assi nahm die Zügel. Eemeli fand, dass seine eigene Kutsche daheim in Ukonjärvi viel stattlicher aussah. Auch das Pferd der Koivistos machte nicht gerade den besten Eindruck. Vielleicht standen sich die alten Damen wirt schaftlich nicht gut? Da ging es ihnen wohl so wie den meisten anderen Leuten dieser Tage in Finnland.
Bei diesen Gedanken erinnerte sich Eemeli an seinen geplanten Besuch im Finanzamt, den er umgehend antrat. Er monierte dort den Tragfähigkeitsindex für Ukonjärvi, der um mehrere Prozent heraufgesetzt wor den war, angeblich wegen des raschen ökonomischen Wachstums der Gemeinde.
Es zeigte sich, dass diese Entscheidungen seit dem vergangenen Herbst in Brüssel getroffen wurden. Even tuelle Beschwerden musste Eemeli also dorthin richten.
Dafür erhielt Ukonjärvi die Kirchensteuer für die letz ten Jahre erstattet. Nach den neuesten Bestimmungen brauchten die Kommunen keine Kirchensteuer mehr zu bezahlen. Der Beamte fragte Eemeli, ob er keine ent sprechende Mitteilung erhalten habe. Wie dem auch sei, er bekam einen Beleg, der ihn berechtigte, hundert Fässer Pemmikan im Lager der staatlichen Beschaf fungsstelle in Pasila in Empfang zu nehmen.
Eemeli freute sich, denn mit der überraschenden Steuererstattung konnte er vielleicht die Bypassoperati on bezahlen. Beschwingt machten er und Taina sich auf nach Pasila, um die Fleischfässer zu holen.
Das Lager befand sich in einem alten Felsbunker, in den eine Wendeltreppe aus Metall hinabführte. Die Fahrstühle funktionierten nicht. Je tiefer die Eheleute hinunterstiegen, desto ekelerregender stank es. Als sie schließlich in der riesigen Halle ankamen, waren sie kurz davor, sich zu übergeben. Das Fleisch in den Fäs sern, die sie bekommen sollten, war verfault. Sie hätten die Steuererstattung schon vor Jahren abholen müssen.
Eemeli weigerte sich, die stinkende Ware zu quittie ren. Man händigte ihm ein fremdsprachiges Formular aus, mit dem er sich bei der Europäischen Kontroll kommission für verderbliche Lebensmittel beschweren konnte. Die Behandlung der Beschwerde würde vermut lich fünf bis sechs Jahre in Anspruch nehmen, wie man ihm sagte. Bis dahin wäre das Fleisch in noch schlim merem Zustand.
Die Toropainens ließen die Steuererstattung in der Halle stehen. Eemeli verzichtete auch auf die Beschwer de, denn wegen seiner Herzkrankheit würde er vermut lich den Tag gar nicht mehr erleben, an dem der Vor gang abgeschlossen wäre.
Eemeli wollte wieder nach Hause, und sei es, um zu sterben. Er wollte auf keinen Fall für seine Gesundheit auf die Wucherpreise der Chirurgen eingehen. Erpressen ließ er sich nicht, und wenn er es mit dem Leben bezahl te.
39
Während Eemeli und Taina Toropainen noch in Helsinki unterwegs waren, schleppte sich ein herzkranker Braunbär nach Ukonjärvi. Er stammte aus demselben Geschlecht wie jene Bärin, die einst den Postbeamten von Valtimo aufgefressen hatte, und war rein zufällig in gerader Linie verwandt mit dem grimmigen Tier, das die finnische Auswanderin Eveliina Mättö getötet hatte. Ursprünglich kamen die Petze aus Russland. Ihr Stammvater war zur Zeit der stalinistischen Verfolgung von den Ufern des Weißen Meeres nach Finnland ge wandert. Als ungebildetes Raubtier war er vermutlich nicht vor politischer Unterdrückung geflohen, sondern eine Eingebung hatte ihn durch die Wälder nach Westen getrieben.
Der Bär war alt und krank. Bereits seit etwa zwei Jahren litt er an unangenehmen Herzbeschwerden. Sowie er eine Beute über eine längere Strecke verfolgte, begann sein Herz zu hämmern, und er musste die Jagd aufgeben. Die Krankheit lag in der Familie. Der Bär musste sich mit Aas und anderer provisorischer Nah-rung begnügen. Wenn es ging, verschlang er Schafe oder sah in Reusen nach, die in den kleinen Einödseen ver gessen worden waren. Er fristete kümmerlich sein Le-ben.
Auf der Straße nach Valtimo traf er eines Morgens im August den ältlichen »Fliegenden Engel«, der nicht mehr so schnell auf den Beinen war wie einst. Eine gute Beu te, dachte sich der Bär und machte sich hoffnungsvoll an die Verfolgung.
Die beiden langten mit großem Getöse vor Eemelis Herrenhaus in Ukonjärvi an. Der »Fliegende Engel« schrie vor Entsetzen, der Bär hechelte mit heraushän gender Zunge hinterher. Er war jedoch bereits so er schöpft, dass er neben dem Brunnen zu Boden sank, wobei er sich die Tatze aufs Herz drückte. Der »Fliegende Engel« stürmte ins Haus und berichtete, was passiert war.
John Matto wollte das Tier sofort erschießen, doch Seppo Sorjonen ging dazwischen. Er brauchte dringend einen geeigneten Patienten, an dem er die Bypassopera tion üben konnte. Da sich Menschen kaum für medizi nische Versuche hergaben, konnte der Bär als Ersatz dienen, dachte sich Sorjonen. Der Organismus war fast identisch mit dem des Menschen, ein gehäuteter Bär sah manchem Mann, der aus der Sauna kam, zum Verwechseln ähnlich, und auch die Lebensweise war, zumindest im Sommer, durchaus vergleichbar.
Der Bär bekam einen Sack über den Kopf gestülpt, in dem sich Fliegenpilzextrakt befand, der mit Äther und Spiritus angereichert war. Die beiden letzteren Narko semittel hatte sich Sorjonen in der Schnapsbrennerei bestellt. Jalmari, dem Sohn der alten Brennmeisterin, war es gelungen, Äther aus Äthen herzustellen, das er zusammen mit Wasser und Schwefelsäure erhitzt hatte. Aus dem so gewonnenen Äthylsulfat und Äthanol hatte er Äther entstehen lassen, und der bleibt auch bei einem Bären nicht ohne Wirkung. Mehrere Männer hoben den betäubten Petz mit vereinten Kräften auf einen Ochsen karren.
Seppo Sorjonen begann rasch mit den Vorbereitungen für die große Operation. Er beschloss, sie auf dem Kar ren durchzuführen, denn die Ladefläche hatte die glei che Höhe wie der Operationstisch. Das Gefährt passte jedoch nicht durch die Tür des Krankenhauses, sodass er einen anderen Raum finden musste. Daher bat er die Pastorin, die Kirche als Operationssaal benutzen zu dürfen. Zunächst lehnte Tuirevi Hillikainen ab, denn blutige Handlungen in der Kirche schienen ihr nicht gottgefällig, und überhaupt, ein heidnisches Tier in den Tempel zu schleppen war alles andere als wünschens wert. Seppo Sorjonen verwies jedoch auf die Notwendig keit, die medizinische Forschung voranzutreiben, und erinnerte die Pastorin daran, dass Blut in der Kirche durchaus eine Rolle spielte, man denke nur an die Bedeutung des Abendmahls. Er bekam seine Erlaubnis, und Tuirevi Hillikainen sprach sogar ein Gebet für das Gelingen der Operation.
Sorjonen holte sich fünf Helfer; nämlich zwei Sanitä ter der Partisanenkompanie, außerdem Henna Toropai-nen-Heikura, Severi Horttanainen und die Pastorin. Die Assistenten mussten weiße Kittel anziehen. Alle wu schen sich sorgfältig die Hände und banden sich ein sauberes Tuch vor den Mund.
Dann holte Sorjonen die Instrumente aus dem Kran kenhaus: eine Axt, eine Metallsäge, Klammern, eine Schere, einen Dolch und Nadeln, die er sich in der Apo theke von Kajaani besorgt hatte. Die sauberen Leinentü cher für die Operation wurden vor Beginn sorgfältig gezählt. Wenn die Brusthöhle des Bären wieder ge schlossen war, mussten die Tücher erneut gezählt wer den, und wehe, wenn eins fehlte!
Schließlich wurde der Patient in die Kirche gekarrt. Der Wagen bekam seinen Platz in der Nähe der Kanzel, dort, wo sich die Gänge kreuzten. Der Bär wurde auf den Rücken gedreht, seine Gliedmaßen wurden mit breiten Lederriemen an den Eckbalken des Wagens und außerdem noch an den Kirchenbänken festgebunden. So wollte man ausschließen, dass er sich während der Operation losriss. Zusätzlich verpasste man ihm eine neuerliche Betäubung.
Am Kronleuchter wurde die Infusionskanne aufge hängt, aus der ein Schlauch in die Vene der linken Tatze des Bären geführt wurde. In das Gefäß kamen mehrere Liter Salzlösung. Von der Kanzel aus wurde ein steifes Aluminiumrohr in den Schlund des Bären geführt, durch das Druckluft in seine Lunge gepumpt werden sollte, damit diese sich nicht während der Operation durch Unterdruck zusammenzog. Tuirevi Hillikainen stieg auf die Kanzel und machte sich bereit, in das Rohr zu pusten. Sie musste also während der ganzen Opera tion nicht nur beten, sondern auch für Überdruck in der Lunge des Patienten sorgen. Das anfallende Blut wollte Sorjonen mit einem Schlauch in einen Zuber führen, der unter dem Wagen bereitstand.
Gegen Mittag waren die Vorbereitungen abgeschlos sen. Obwohl klares Wetter herrschte, wurden die Kerzen im Kronleuchter angezündet, denn Herzchirurgie ver langt Präzision.
Nachdem alles fertig war, durchschlug Sorjonen mit der Axt den Brustknochen des Bären, und als die Öff nung groß genug war, begann er den Brustkorb aufzu sägen. Die Sanitäter halfen beim Öffnen der Höhle. Severi Horttanainen steckte einen Holzknebel, den er für diesen Zweck geschnitzt hatte, zwischen die Flanken, damit sie sich nicht schließen konnten.
Tuirevi Hillikainen begann in das Rohr zu pusten. In dieser Phase der Operation musste Sorjonen an das Werk Mein Leben als Chirurg denken, das er einst gele sen hatte. Darin berichtete Geheimrat Ferdinand Sauer bruch von seinen Erfahrungen. Der Geheimrat war der Erste gewesen, der eine Operation in einer Unterdruck kammer durchgeführt hatte. Und nun sorgte eine Pasto rin auf der Kanzel für den Druckausgleich.
Seppo Sorjonen öffnete auch ein wenig den vorderen Rand des Zwerchfells und den Herzbeutel, das Pericar dium, wodurch das pulsierende Herz des Bären sichtbar wurde. Er tastete die Kranzarterien ab und fand sofort ein paar verhärtete Stellen, also die untrüglichen Zei chen für die Erkrankung. Bei einer Bypassoperation gehe es gerade darum, an diesen erkrankten Arterien gesunde vorbeizuführen, erklärte er seinen Hilfskräften, die mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugier auf das zuckende Herz des Tieres starrten.
Sorjonen trennte mehrere fünf Zentimeter lange Stü cke aus der Beinvene. Drei Bypässe mussten gelegt werden, erforderlich waren also drei Venenstücke und insgesamt sechs Nähte. Beim Menschen betrug der Durchmesser der Sehnen etwa drei bis fünf Millimeter, wie Sorjonen wusste, dieser Patient jedoch hatte sieben Millimeter dicke Sehnen.
Als alles für die wichtigste Phase der Operation bereit war, wurde das Herz des Patienten zum Stillstand ge bracht. Das geschah einfach dadurch, dass mit einem Eisbeutel die Temperatur abgesenkt wurde, sodass das Herz immer langsamer schlug, bis es ganz stehen blieb. Rasch legte Sorjonen die Bypässe, dabei wurden die offenen Venen mit eigens angefertigten Wäscheklam mern, die an den Innenseiten weich gefüttert waren, abgedrückt.
Die Arbeit war anstrengend und verlangte äußerste Konzentration. Außerdem musste Sorjonen sich beeilen, denn allzu lange durfte das Herz des Patienten nicht still stehen. Henna Toropainen-Heikura wischte dem Chirur gen den Schweiß von der Stirn. Severi Horttanainen ging in die Sakristei, um zur Beruhigung eine Zigarette zu rauchen. Die jüngeren Gehilfen reichten Sorjonen die Instrumente. Nachdem er die Bypässe noch einmal sorgfältig kontrolliert hatte, ließ er den Eisbeutel entfer nen, nähte den Herzbeutel zu und registrierte, dass der Herzmuskel wieder zu zucken begann. Die kritischste Phase der Operation war vorbei.
Zuschauerin bei dieser feierlichen und spannenden Aktion war eine kleine Kirchenmaus, vielleicht eine Nachfahrin jener Maus, die einst in Asser Toropainens Pelzmütze nach Ukonjärvi gelangt war. Wie dem auch sei, das Mäuschen, das durch einen Türspalt aus der Sakristei in den Saal lugte, kam, neugierig und von den interessanten Gerüchen angelockt, näher, es huschte an der Wand entlang und dann im Schutz der Kirchenbän ke bis unter den Operationswagen. Dort lagen Spritzer von frischem Bärenblut, die das Mäuschen schnell und ungeniert aufleckte. Es war ein mutiges und blutrünsti ges Mäuschen und hatte es nicht eilig, wieder in die Sakristei zu gelangen.
Der Holzstab, der den Brustkorb des Bären offen gehalten hatte, wurde entfernt und die Höhle zugenäht. Nur der Schlauch, durch den das Blut abfloss, blieb vorläufig noch darin. Tuirevi Hillikainen konnte mit dem Blasen aufhören. Mit feuerrotem Gesicht wankte sie von der Kanzel.
Seppo Sorjonen prüfte den Blutdruck des Bären, der sich langsam normalisierte. Er beobachtete den Puls und die Atmung, und am Nachmittag konnte er feststel len, dass die Operation allem Anschein nach geglückt war. Mit vereinten Kräften schob das Operationsperso nal den Karren aus der Kirche und weiter in die Scheu ne, wo am Dachbalken ein Tropf installiert wurde. Der Bär selbst blieb für alle Fälle noch gefesselt. Für die Nachtstunden organisierte Seppo Sorjonen eine Bewa chung für den Fall, dass sich der Zustand des Patienten veränderte.
Am folgenden Morgen war der Bär aus der Narkose erwacht. Er war äußerst schlecht gelaunt. Seppo Sorjo nen wunderte sich kein bisschen darüber, denn nach solchen Eingriffen litten die Patienten oft an schweren Depressionen, und der Grund dafür war Sauerstoffman gel im Gehirn während der Operation. Aus der Depressi on würde jedoch tierische Freude werden, würde der Bär erst seine gestiegene Leistungsfähigkeit und verbesserte Lebensqualität wahrnehmen.
Seppo Sorjonen ordnete Beeren- und Pflanzennah rung an, denn nach einer Herzoperation soll der Patient Cholesterol meiden. Nach etwa zwei Wochen könnten die Fäden gezogen, der Bär aber noch nicht in den Wald entlassen werden, denn auch nach einer geglückten Operation ist körperliche Arbeit für vier Wochen verbo ten.
40
Eemeli und Taina Toropainen kehrten ziemlich nieder geschlagen von ihrer vergeblichen Helsinki-Tour zurück. Die Fahrt war anstrengend gewesen und hatte nichts gebracht. In Ukonjärvi herrschte die übliche Geschäftig keit, die Leute waren bei den Herbstarbeiten auf dem Feld oder fischten mit dem Zuggarn im See. Die Hunde begrüßten die Ankömmlinge mit Gebell, und als Taina und Eemeli auf dem Weg zum Haus an der Scheune vorbeikamen, hörten sie von drinnen das Gebrüll eines Bären.
Vor der Scheune saßen mehrere Männer beisammen und beratschlagten, ob der Bär geschlachtet werden sollte oder nicht. Sie berichteten Eemeli, dass Seppo Sorjonen in seiner Abwesenheit eine in jeder Weise gelungene Bypassoperation bei einem Bären, der im Dorf aufgetaucht war, vorgenommen hatte. John Matto und etliche andere waren dafür, den Bären zu töten, aber Sorjonen wollte gern den Heilungsprozess noch ein paar Wochen beobachten. Außerdem fand er, dass es Verschwendung wäre, einen Patienten zu töten, den man mit so viel Aufwand von seinen Beschwerden ge heilt hatte.
Seppo Sorjonen besann sich auf Eemelis Operation und fragte, wie diese in Helsinki verlaufen sei. Der Patient sei offenbar zeitig entlassen worden und sehe im Übrigen nicht besser aus als bei seiner Abfahrt. Eemeli sagte lakonisch, dass die Stadt völlig verkommen sei und dass es nicht lohne, dort zum Arzt zu gehen.
Sorjonen erklärte sich sofort bereit, Eemeli zu operie ren. Der Bär sei ein lebendes Beispiel für seine Kunst.
Eemeli ging in die Scheune, um sich den Patienten anzusehen. Dieser lag auf Stroh und war mit Riemen an den Wandbalken festgebunden. Zu fressen bekam er hauptsächlich Pilze und Beeren, von denen die Wälder zu dieser Jahreszeit voll waren. Gerade hatte er ein paar Kilo Aalraupen vor sich liegen, die ihm anscheinend schmeckten. Sorjonen erklärte, dass man ihm noch kein Fleisch gebe, da er Cholesterol meiden müsse. Der Bär schien in guter Verfassung zu sein. Er brummte, wie es für seine Art typisch war, schien aber nicht sehr unter seiner Gefangenschaft zu leiden. Wenn der Bär Sorjo nens Operation überlebt hatte, dann würde er selbst sie vielleicht auch durchstehen, dachte Eemeli bei sich.
Zunächst wurde gemeinsam über das Schicksal des Bären entschieden. Er sollte am Leben bleiben, aber nicht in der Nähe von Ukonjärvi ausgesetzt werden. Auch John Matto war schließlich mit dem Vorschlag einverstanden: Man würde ihn auf irgendeine Weise nach Russland schaffen, wo er vermutlich sogar her stammte.
Eemeli entwickelte den Plan, ihn zum Weißen Meer zu bringen. Ukonjärvis dortiger Fischereistützpunkt müsste ohnehin im Herbst mit Nachschub, also mit Seilen, Material zum Netzflicken und mit Schnaps und Tee für die Fischer, beliefert werden. Bei der Gelegenheit könnte man den Bären mitnehmen. So könnte sich der Petz in den heimischen Wäldern von der Operation erholen und sich vor Einbruch des Winters dick und rund fressen.
Taina gesellte sich zu den Männern und bestürmte Seppo Sorjonen, Eemeli zu operieren. Sie hatte im Lager der Chirurgischen Klinik von Helsinki die Ampullen besorgt, die Sorjonen haben wollte, und die könnte er für Eemelis Betäubung verwenden. Die Mischung aus Fliegenpilzextrakt, Äther und Spiritus mochte vielleicht für einen Bären geeignet sein, jedoch nicht für einen Menschen, und zumindest ihrer Meinung nach sah Eemeli mehr wie ein Mensch aus. Der Einsatz dieses Betäubungsmittels hätte zusätzlich den Vorteil, dass dann beim Patienten keine künstliche Beatmung vorge nommen werden musste. Taina hatte außerdem eine Rolle von dem hauchdünnen Nylongarn mitgebracht, das in der Herzchirurgie gebraucht wurde. Sie über reichte Sorjonen das Material, und er bedankte sich gerührt.
An diesem Abend gingen Eemeli Toropainen und Sep po Sorjonen zusammen in die Sauna. Der Arzt schrubb te Eemeli den Rücken und untersuchte ihn. Sie mach-ten nur leichte Aufgüsse und redeten ein ernstes Wort miteinander. Als sie dampfend herauskamen, sahen sie noch einmal nach dem Bären und gingen dann ins Haus. Die Entscheidung über die Operation war gefal len. Seppo Sorjonen gab den Frauen Anweisungen, was Eemeli an diesem Abend und am nächsten Morgen zu essen bekommen solle. Am nächsten Tag nämlich werde bei dem Stiftungsdirektor eine Bypassoperation vorge nommen.
Der Eingriff erfolgte in Sorjonens Krankenhaus. Der dortige Operationsraum war wesentlich besser geeignet als die Kirche. Der Operateur stellte dank seines Übungsfalles fest, dass sich ein finnischer Mann nicht sehr von einem Bären unterschied, wenn man tief genug hineinging. Äußerlich war der Bär behaarter und irgendwie animalischer, aber bei einer Operation an den inneren Organen waren die Unterschiede gering.
Eemeli erholte sich von der Operation schneller als der Bär, was möglicherweise daher kam, dass er sich über den Zweck der Operation im Klaren war und eine positive Einstellung dazu hatte. Wie auch immer, zwei Wochen später zog Seppo Sorjonen sowohl bei Eemeli als auch beim Bären die Fäden. Bei Letzterem war das nicht ungefährlich, denn der Patient versuchte, seinen Chirurgen zu beißen. Der Holzknebel, den Horttanainen ihm ins Maul gesteckt hatte, verhinderte jedoch das Unglück.
Die Patienten waren jetzt in der Verfassung, dass sie die lange Fahrt ans Weiße Meer antreten konnten. So wurde der Bär wieder mit vereinten Kräften auf den Wagen gehievt, den zwei Ochsen ziehen sollten. Ein zweiter Wagen wurde mit Fassstäben, Fischereibedarf, Teer, Schnaps und anderen notwendigen Dingen bela den. Neben Eemeli Toropainen, Seppo Sorjonen, Taneli Heikura, Tuirevi Hillikainen und einigen Partisanen nahm diesmal auch Severi Horttanainen an der Expedi tion teil, denn seine düsteren Erinnerungen an Russ-land waren im Laufe der Zeit verblasst.
Beim vorigen Mal hatte man eine Wasserstoffbombe transportieren müssen, jetzt aber herrschte Frieden, und außerdem nahmen zwei Herzpatienten an der Ex pedition teil, also wählte man eine leichtere Strecke. Zunächst ging es nach Sotkamo und von dort an die Grenze nach Kuhmo. Die Bewohner von Ukonjärvi hat-ten weiterhin das Recht, die Landesgrenze zu über schreiten, ein Verdienst ihres Feldpostens am Murtovaa ra. Die Grenzstation Kuhmo war im Krieg abgebrannt. Der Schlagbaum war offen, auf der Straße wuchs Moos, und die Schienen der Erzbahn von Kostamus waren mit dickem Rost überzogen. Aus der Sauna, dem einzigen Gebäude, das nach dem Brand von der Grenzstation übrig geblieben war, trat ein Feldwebel in abgenutzter Uniform. Er freute sich, dass nach Jahren wieder einmal Grenzgänger kamen, denn er war der einzige offizielle Vertreter Europas in diesem abgeschiedenen Winkel. »Nur zu, von mir aus können Sie gern nach Russland einreisen«, sagte er großzügig. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Ladung, schrieb sogar ein Zollformular aus, das er auch mit einem Stempel versehen hätte, wenn ein solcher in seiner Sauna vorhanden gewesen wäre. Als er den finster dreinblickenden Bären auf dem zweiten Wagen sah, kam er jedoch ins Grübeln, was die Zollgesetze wohl dazu sagten. Die Direktiven der Euro päischen Union sahen keinen solchen Fall vor. Bei toten Tieren war der Grenzübertritt unproblematisch, sie waren letztlich nur Fleisch, aber dieser Bär lebte. Die Ochsen lebten ebenfalls, doch sie wurden als Zugtiere beziehungsweise Haustiere über die Grenze geführt. Aber ein Bär? Er war kein Zugtier, kein Haustier, kein Schoßtier. Der Feldwebel betrachtete den Petz zweifelnd. Der wusste nicht, was gut für ihn war, und brummte drohend.
»Am besten, wir erschießen ihn hier, dann sind die Bestimmungen erfüllt«, schlug der Feldwebel vor. Eemeli Toropainen wollte jedoch nicht wegen bürokratischer Regeln seinen Mitpatienten töten. Schließlich wurde das Problem dadurch gelöst, dass der Bär in das Zollformu lar als darstellender Künstler, als Zirkusbär, eingetragen wurde.
Die Expedition bezahlte einen halben Liter Kräuter schnaps als Zoll für das Tier. Der Feldwebel sagte, dass er den Schnaps sehr gern persönlich austrinken werde. Er habe den ganzen Sommer lang kein Gehalt von der EU bekommen.
Die Expeditionsteilnehmer wollten ihren Weg mit den Ochsenwagen fortsetzen, aber nachdem der Feldwebel einige Schlucke von der flüssigen Zollgebühr genommen hatte, machte er ihnen einen besseren Vorschlag. Auf den Weichen der Kostamus-Bahn standen ein paar verrostete Güterwagen und Achsengestelle, Überbleibsel des einst so wichtigen Erztransportweges. Der Feldwebel riet den Männern, die Ochsenwagen auf diese Achsenge stelle zu heben, dann könnten sie die Schienen benut zen, und die Fahrt zum Weißen Meer wäre wesentlich leichter.
Der Feldwebel wusste zwar nicht, welchem Staat die Achsengestelle gehörten, wollte sie aber umsonst zur Verfügung stellen, wenn er noch einen oder zwei Liter Schnaps bekäme. Außerdem würde er auch beim Um setzen der Ochsenwagen helfen.
Am nächsten Morgen waren die Wagen zur Weiter fahrt bereit. Jetzt genügte ein Ochse als Zugtier, die anderen wurden an der Grenze zurückgelassen. Der Feldwebel versprach, eine Nachricht nach Ukonjärvi zu schicken, dass die Tiere bei ihm abgeholt werden konn ten.
Mühelos zog der Ochse die Wagen über die Schienen. Der Bär saß mit dem Teerfass und den übrigen Waren im ersten, die Reiseteilnehmer im zweiten. Die Wagen fuhren langsam und ruhig, da das besonders günstig für die Herzpatienten war. Der Bahndamm zu beiden Seiten war dicht bewuchert, der gerade Schienenstrang führte durch Sümpfe und dichte Wälder. Der Bär saß in seiner Wagenklasse und betrachtete die Landschaft, als sein Waldinstinkt zu erwachen begann; zuweilen nahm er schnaubend Witterung auf.
Spätabends erreichte man Kostamus. Die Stadt war verwaist, die meisten Wohnsilos waren im Krieg abge brannt, und die Bergwerksgebäude waren nur noch schwarze Skelette. Der Ochse bekam Zeit zum Ausruhen und Fressen. Für den Bären sammelten die Männer einen Bottich voller Steinpilze, die hinter dem Verlade bahnhof des Bergwerkes wuchsen.
Am Morgen ging es weiter. Die Schienen führten jetzt nach Südosten. Nach zwei Tagen war Lietmajärvi er reicht, wo sich der Strang mit einem anderen, der aus dem Norden kam, kreuzte. Die Männer überlegten, ob sie in bisheriger Richtung bis zur Murmansker Bahn weiterfahren sollten. Diese Absicht mussten sie jedoch aufgeben, denn ein Stückchen weiter war die Strecke durch einen langen Zug blockiert. Er bestand aus zwan zig Schlafwagen. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass es ein Lazarettzug aus dem dritten Weltkrieg war. Die Inneneinrichtung der Wagen war geraubt worden, die Lok war kaputt. In einigen Wagen fanden sich noch Überreste der ehemaligen Patienten, auf den Tragen lagen Knochen und Kleiderbündel. Offenbar waren die Patienten mit den schwersten Verletzungen sich selbst überlassen worden, als der Zug aufgegeben worden war. Ein paar Jungen, die sich in der Nähe des Bahnhofs herumtrieben, erzählten, dass bei Ontrosenvaara und weiter südöstlich mehrere Bahnbrücken gesprengt worden waren. Der traurige Zug war mit seinen Patien ten in abgeschiedener Gegend in die Falle geraten.
Die Männer versuchten, die Weichen zu stellen, was ihnen auch so weit gelang, dass sie mit ihrem Ochsen zug nach Norden weiterfahren konnten.
In dieser Gegend gab es viele Flüsse und Seen. Hier und dort waren noch Anzeichen der alten weißmeerkare lischen Besiedelung zu erkennen. Sogar ganze Dörfer waren heil und bewohnt. In Tsirkka-Kemi kamen Män ner, Frauen und vor allem Kinder angelaufen, um den Zug zu bestaunen. Der Bär interessierte sie weniger, diese Tiere waren in der Gegend keine Seltenheit, aber ein Ochse anstelle einer Lok, das warf Fragen auf. War so etwas in Finnland üblich? Die Leute fanden, dass ein solcher Zug unerhört langsam war, aber immerhin besser als gar nichts. Denn in Karelien waren zuletzt während des Krieges Züge gefahren.
Die Reiseteilnehmer konnten sich in den umliegenden Häusern Milch und Käse und für den Bären Fisch kau fen. Die Leute in den Dörfern wollten nicht glauben, dass der dritte Weltkrieg wirklich zu Ende war. Sie fragten, ob auch in Finnland Kometen am Himmel gese hen worden seien und was das bedeutete. Stand der Weltuntergang bevor? Die Finnen sagten darauf, dass sie von Kometen nichts wussten und auch nichts wissen wollten.
Die Strecke endete in Jyskyjärvi. Dort hatte es wohl einmal Industrie gegeben, jetzt waren nur noch leere Hallen mit Blechdächern und eingestürzte Wohnhäuser zu sehen. Die Kunde war dem finnischen Ochsenzug vorausgeeilt, und so kamen mehrere Neugierige zum Bahnhof, die am Oberlauf des Weißmeer-Kemi wohnten. Sie erzählten, dass der Fluss bis ans Weiße Meer be fahrbar sei, denn die einst gebauten Staudämme seien im Krieg gesprengt worden, und es gebe sogar wieder Lachse.
Die Finnen errichteten ein Lager und machten sich daran, zwei Flöße zu bauen. Sie banden den Bären an einer dicken Kiefer fest und forderten die Dorfleute auf, ihre Hunde nicht frei herumlaufen zu lassen, damit sie den Bären nicht reizten. Die Männer des Dorfes halfen beim Bau der Kieferflöße. Bei der Arbeit war der Ochse von großem Nutzen, er zog die Stämme ans Flussufer. Schließlich tauschten die Finnen ihn gegen Proviant ein, und er konnte sich endlich in einem Stall ausruhen.
Die Dorfleute wussten davon, dass Ukonjärvi einen Fischereistützpunkt am Weißen Meer unterhielt und mehrere Segelschiffe besaß, die zum Fischen bis in die Barentssee fuhren. Das Walfett, das die Finnen auf dem Stützpunkt verkauften, wurde hier im Dorf als Lampenöl benutzt.
Die Flöße wurden sieben Meter lang und zwei Meter breit. Am schwierigsten war es, den Bären auf eines zu hieven, dabei mussten wieder die Männer aus dem Dorf helfen. Der mit einem Maulkorb versehene und mit Lederriemen gefesselte Petz widersetzte sich heftig, aber sieben Männer schafften es schließlich, die Aufgabe zu erledigen. Auf dem Floß wurde der Bär fest an die Stämme geschnallt, und es wurde zusätzlich mit einem Teerfass und weiteren Ausrüstungsgegenständen bela den; Kapitän wurde Tuirevi Hillikainen, die Besatzung bestand aus zwei Partisanen. Die übrigen Reiseteilneh mer stiegen auf das zweite Floß, das Kommando dort übernahm Taneli Heikura.
Die Fahrt auf dem schnell fließenden klaren Fluss war ein großartiges Erlebnis. Es war gerade die schönste Ruskazeit, die Birken am Ufer leuchteten in gelben und roten Farben. Die Reisenden angelten während der Fahrt, holten sogar ein paar Lachse aus dem Fluss. Die Stromschnellen sorgten jedes Mal für ein wildes Tempo, die Wellen klatschten auf die Flöße, wobei der Bär den Hintern anhob, denn er hasste es, sein Fell zu benetzen. Tuirevi Hillikainen und Taneli Heikura stakten im Schweiße ihres Angesichts und lenkten ihre Gefährte in die stärkste Strömung. Weil der Fluss tief war, stießen die Flöße kein einziges Mal gegen Steine.
Die Mahlzeiten wurden am Rande des Floßes über ei nem Feuer gekocht, das zwischen Steinen brannte. Wenn der Fluss die Richtung wechselte und der Bär Rauch in die Augen bekam, nieste und schnaubte er jedes Mal wütend. Auf dem offenen Wasser gab es keine Mücken mehr, es war bereits Herbst, und Wind wehte. Was für ein Leben! Auch nachts ging die Fahrt weiter, aber über die Stromschnellen fuhr man nur bei Tages licht.
Vom Feuer wehte der Duft einer röstenden Äsche herüber, der Mond ging am kalten Himmel auf, durch gedämpftes Brausen kündigte sich eine nahende Strom schnelle an. Eemeli Toropainen lag auf der Spitze des Floßes und ließ den Blinker in den Wasserwirbeln tan-zen. Er spürte keinen stechenden Schmerz mehr in der Brust, und das verdankte er Sorjonen, der am anderen Ende des Floßes schlief. Der Fluss machte eine Biegung, eine weite silberne Wasserfläche war zu sehen, dazu das ganze große Firmament und in dessen Mitte ein sonder barer heller Komet mit langem Schweif.
Es stimmte! Der Komet schwebte wie ein glühender Fächer am sternklaren Himmel, wie ein Tuch, das eine Göttin achtlos weggeworfen hatte, oder wie der Mantel einer Elfe. Eemeli weckte die Schlafenden und zeigte auf den Kometen. Auch die Besatzung des Nachbarfloßes erwachte, ebenso der Bär, und alle starrten verwundert auf die seltsame Erscheinung am Himmel! Dann kam überraschend die letzte Stromschnelle vor der Fluss mündung, der Strom riss die Flöße mit sich, der Schaum spritzte, die dunkle Wasserfläche wurde weiß. Unterdessen blieb der halbkreisförmige Komet fest an seinem Platz mitten am Himmel, er leuchtete seltsam klar, nur der Mond konnte es mit ihm aufnehmen.
Die Flöße passierten das ehemals so lebhafte Weiß-meer-Kemi, das am Nordufer des Flusses erbaut worden war. Die Stadt war zehn Kilometer lang und fast gänz lich verwaist. Nur hier und da schimmerte ein Licht, doch bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass selbst diese wenigen Lebenszeichen nur von Lagerfeuern stammten.
Der Strom floss nun langsamer, die Wälder am Ufer entzogen sich den Blicken, die Reisenden erreichten das Weiße Meer. Das war spätestens an den Wellen zu mer-ken, die gegen Uferfelsen und Klippen schlugen. Die Reisenden warfen die steinernen Anker und schickten sich an, auf den Morgen zu warten. Mit Sonnenaufgang verblasste das Licht des Kometen, doch wenn man genau hinschaute, war er noch zu erkennen. Dabei schien er eine andere Stellung als in der Nacht zu ha-ben.
Die Flöße schaukelten auf dem Meer. Fern am Ufer war schwarzer Rauch von Lagerfeuern zu erkennen, und ein paar Schüsse hallten. Bald näherten sich Ruderer in schnellen Fischerbooten. Es waren gute alte Bekannte
aus Ukonjärvi. Die Flöße wurden ans Ufer geschleppt, der Bär losgebunden, und dann gab es erst mal einen Begrüßungstrunk.
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Eemeli Toropainens grimmiger Mitpatient war ziemlich steif, als er endlich die Lederriemen los war, mit denen man ihn fast einen Monat lang gefesselt hatte. Er stand am Ufer, sah sich um, und fast schien es, als überlegte er, wie er künftig sein Leben gestalten sollte. Er war die Freiheit nicht mehr gewohnt. Als sein behandelnder Arzt Seppo Sorjonen in die Hände klatschte, kam der Bär
gleichsam zu sich und machte die ersten Schritte. Bald war er im Wald verschwunden und tauchte auch nicht wieder auf. An der Flussmündung hinterließen die Männer ihm fünfzig Kilo Schuppenfisch.
Die beiden Flöße wurden mit Booten zu Ukonjärvis Stützpunkt geschleppt, der etwa zwanzig Kilometer weiter südlich lag. Der Fangplatz befand sich in der Nähe. Am Stützpunkt gab es ein kleines finnisches Dorf, bestehend aus Blockhäusern, einer Schiffswerft, Lager gebäuden, der Kochstelle für Walfett und anderem Not wendigen. Die Ankömmlinge wurden jubelnd begrüßt. Sie luden die Waren aus und verteilten die mitgeschick ten Briefe. Es gab Kräuterschnaps, und die Sauna wur de geheizt. Erstmals seit Jahren wagte es Eemeli wieder, kräftige Aufgüsse zu machen. Sein Herz schien Hitze und Feuchtigkeit gut zu vertragen. Seppo Sorjonen hingegen musste die Schwitzbank verlassen, als sein Patient mit dem Quast um sich schlug.
Eemeli fühlte sich so gut bei Kräften, dass er sich vornahm, den Winter über am Weißen Meer zu bleiben. Es war bereits Anfang Oktober, was hatte er um diese Jahreszeit schon groß in Ukonjärvi zu tun. Nach Weih nachten konnte er am Walfang im Eismeer teilnehmen.
Feldpröbstin Tuirevi Hillikainen hatte auf den Solo wezkischen Inseln alte Freunde und fuhr mit dem Boot hinüber. Bei ihrer Rückkehr berichtete sie von den düsteren Prophezeiungen der Mönche. Das Erscheinen des sich ständig vergrößernden Kometen am Himmel bedeutete ihrer Meinung nach den baldigen und endgül tigen Weltuntergang. Auf die aufgeklärte Pröbstin hatten diese Vorhersagen der einfachen Männer einen derarti gen Eindruck gemacht, dass sie sofort in ihrer alten Reisebibel blätterte, in der sie dann auch die Bestäti gung fand. Die Vorzeichen der Katastrophe waren im Alten Testament ausführlich beschrieben.
Severi Horttanainen machte sich über diese Befürch tungen lustig. Seiner Meinung nach war das Gerede vom Weltuntergang Humbug. Außerdem hielt er es für Quatsch, zu glauben, dass man vor Tausenden von Jahren im alten Palästina das Auftauchen dieser Kome ten hatte voraussagen können. Aber gut, wenn das Ende kam, dann kam es eben, ihm, Severi, war es egal, er war schon alt und dazu Junggeselle. Er hatte seine Zeit gelebt.
Auf dem Stützpunkt gab es kein Radio und auch sonst keine wissenschaftlichen Quellen, anhand derer man die Bedeutung des Kometen hätte überprüfen können. Eines Nachts traf Eemeli am Ufer Severi Hort tanainen, der dort klammheimlich Messungen anstellte und den Standort des Kometen begutachtete. Der Alte hielt einen Sextanten in der Hand, wie ihn die Fischer gebrauchen, und übte sich in der Verwendung des Gerätes, wobei seine Stirn sorgenvoll gefurcht war.
»Ich messe bloß ein bisschen, für alle Fälle«, verteidig te er sich.
In solchen Nächten war Eemeli mehr als sonst in Gedanken daheim in Ukonjärvi. Dort hatte er eine Frau, ein Heim und ein Herrenhaus, einen Sohn, der heiraten wollte – eine ganze Gemeinde, für deren Schicksal er all die Jahre Verantwortung getragen hatte.
Die erste Phase des Winters war ungewöhnlich streng. Die Flüsse vereisten, und die Wale verschwanden aus dem Meer. Eemeli ordnete an, dass die Flotte zur Halb insel Kola segeln und aus der Ponoi-Niederung zwanzig Rentiere, die man vor Schlitten spannen könnte, holen sollte. Die Männer aus Ukonjärvi, die sich dort angesie delt hatten, sollten ebenfalls mitkommen. Eemeli selbst überwachte unterdessen die Anfertigung von Schlitten. Als die Schiffe zurückkamen, ließ Eemeli die Tiere füt tern und die Lachsfässer ausladen. Dann ordnete er an, die leeren Schiffe auf die Uferböschung zu ziehen, und zwar so, dass sie zehn Meter über der normalen Was serhöhe lagerten. Er glaubte, dass sie dort sicher waren, falls der Komet eine Sintflut verursachen sollte.
Der Komet am Himmel wuchs ständig und sah immer bedrohlicher aus. Ende Oktober setzte starker Schnee fall ein, und da ließ Eemeli Toropainen das finnische Dorf am Weißen Meer räumen und alles für die Heim fahrt vorbereiten. Die Schlitten wurden mit Fisch und Walfett beladen und zu einem Zug verbunden, dann wurden die Rentiere vorgespannt. Nun ging es über den vereisten Fluss stromaufwärts.
Die Fahrt durch die vereiste Landschaft dauerte drei Wochen. Die Rentiere bewältigten die Strecke gut, sie fanden überall genug Flechten als Nahrung. Die Reisen den übernachteten in Dörfern, sie verzehrten dann und wann ein ermüdetes Rentier und tauschten bei den Einheimischen Walfett gegen Käse. Die Einheimischen fragten nach Schnaps, der jedoch nur für den Eigenbe darf reichte. Die Karelier wollten, dass Feldpröbstin Hillikainen Gebete sprach, die halfen, den Kometen zu zerstören. Sie waren zwar orthodoxen Glaubens, aber in der Not vertrauten sie auch einer evangelischen Pasto rin.
Eine seltsame Unruhe bemächtigte sich der Reisen den, je weiter sie vorankamen. Nachts saßen sie am Lagerfeuer und prüften besorgt die Position des Kome ten. Eemeli musste zugeben, dass die Angst auch ihn ansteckte. Alle wollten so schnell wie möglich nach Hause, also verlängerte er die Tagestouren, auch um der Stiftungsgemeinde ihren Leiter zurückzubringen.
An der Grenze trafen sie wieder den Feldwebel, der Informationen über den Kometen hatte. Zwei Wochen zuvor hatte er einen Brief des Instituts für astronomi schen Krieg aus Berlin bekommen, worin der Komet als harmlos bezeichnet wurde. Alle Militärbehörden, also auch der Feldwebel auf seinem einsamen Grenzposten, wurden aufgefordert, die Bevölkerung zu beruhigen und darauf hinzuweisen, dass das Gerede von der Schick salhaftigkeit der Kometen auf einem lächerlichen Aber glauben beruhe. Der Feldwebel selbst vertraute jedoch nicht auf dieses Schreiben, schließlich hatten die euro päischen Kriegsherren noch nie Wort gehalten. Er hatte sich wohlweislich in den Hügel hinter seiner Sauna einen Unterstand gegraben. Eemeli Toropainen schenkte dem Feldwebel zur Absicherung seines Lebensunterhal tes drei ermüdete Rentiere. Der Rest der Wegstrecke auf den breiten und vereisten Straßen auf finnischer Seite war in zwei Tagen bewältigt.
In Ukonjärvi war alles in Ordnung, von Panik keine Spur. Die Leute fällten Bäume zur Brennholzgewinnung, im Laakajärvi wurde gefischt. Eemeli und Taina feierten ein zärtliches Wiedersehen.
»Da kommst du ja endlich, und du bist am Leben und gesund«, freute sich Taina.
Die Vorzeichen des Untergangs blieben bestehen. Der Komet wurde immer heller und füllte nach und nach den ganzen Himmel aus. Er war sogar schon durch die Wolken zu sehen, erhellte die Landschaft Tag und Nacht. Tuirevi Hillikainen hielt jeden zweiten Tag Gottesdienst, und fast immer war die Kirche voll. Eemeli wies die Einwohner der Gemeinde an, sich leinene Atemschutztücher zurechtzulegen und in den Kellern Trinkwasser bereitzustellen. Die Viehpfleger sollten auch nachts in den Ställen bei den Tieren Wache halten.
Dann, am Morgen des 24. November 2023, fiel Küster Severi Horttanainen der Löffel aus dem Mund. Die Erde bebte, blendende Helle erfüllte die Welt. Alle, die laufen konnten, eilten in die Schutzräume. Eemeli Toropainen saß im Keller seines Herrenhauses auf einem Hundert-Liter-Bierfass und bat Taina, den Zapfen zu öffnen. Wenn jetzt der Weltuntergang kam, sollte man ihn be grüßen, indem man das Fass leer trank.
Und er war da, der Weltuntergang. Asien verschwand, Europa schluckte Meerwasser. Aus Amerika kamen keine Lebenszeichen. Drei schwere Meteoriten lösten sich nacheinander von dem Kometen und schlugen mit einem großen Beben, das überall zu spüren war, in die sündige Erdkugel ein. Der Nordpol wurde herausgeris sen, und sein Magnetfeld zerschnitt die Herzwurzeln der Menschheit. Es folgte eine windige und neblige Finster nis, die zwei Tage und zwei Nächte anhielt. Lava- und Schwefelgeruch breitete sich aus. Die Stimmung war ähnlich wie einst bei der »Junifinsternis«.
Als nach der Nacht des Weltuntergangs schließlich ein Morgen graute, stieg Stiftungsdirektor Eemeli Toro painen aus seinem Keller, um sich die Landschaft anzu sehen. Die Sonne schien jetzt aus einem anderen Winkel als vorher. Sie war mit einem glühend roten Ring umge ben. Bald waren von Süden her seltsame Vogelstimmen zu hören. Zunächst kam ein verkohlter Flamingo ange flattert, er stieß grässliche Laute aus und verschwand zwischen den Kiefern. Dann folgten ganze Scharen seltsamer Meeresvögel mit arg verbrannten Schwanzfe dern. Sie setzten sich auf den First der Kirche und wirkten irgendwie unglücklich.
Nach und nach versammelten sich die Einwohner auf dem Kirchenhügel. Alle waren verstört, was kein Wun der war, schließlich hatte man soeben den Weltunter gang erlebt. Auf die Fragen, die gestellt wurden, wusste
Eemeli Toropainen nur die Antwort, dass trotz allem, was geschehen war, in Ukonjärvi alles beim Alten bleibe. Die Rundfunkstationen hatten ihre Sendungen einge stellt, von der übrigen Welt war kein Mucks zu hören, aber die Idylle von Ukonjärvi hatte keinen Schaden genommen. Eemeli fand, dass man mit den Weihnachts vorbereitungen beginnen solle, so als ob nichts gesche hen wäre.
Das Weihnachtsfest, das folgte, wich insofern von den vorhergehenden ab, als das Wetter warm und frühlings haft war. Anfang Dezember schmolz das Eis auf den Seen. Zu Advent zeigten sich die ersten Weidenkätzchen, und in der Vorweihnachtswoche kamen die Bachstelzen nach Ukonjärvi. Die Ranunkeln begannen zu blühen. Am Heiligabend sangen die Kinder ein schönes altes Weihnachtslied:
Ist denn jetzt der Sommer da,
in des Winters Mitte…?
Am Stephanstag wurden die ersten Schwalben gesich tet. Sie bauten sich unter der Dachtraufe der Kirche ihre Nester und sangen aus voller Kehle. Das Gras auf dem Kirchenhügel wurde grün. An alldem war zu erkennen, dass die Weltbücher durcheinander geraten waren, aber zumindest für Ukonjärvi war das Ergebnis durchaus nicht übel.
Aufgrund der gravierenden Wetteränderung beschloss Eemeli Toropainen, dass man anstelle von Silvester das traditionelle finnische Mittsommerfest feiern sollte. Am Seeufer wurde ein besonders großes Feuer abgebrannt. Aus allen Dörfern der Gemeinde strömten die Einwohner herbei. Man aß kleine Maränen in Brotteig und trank Bier. Gesprochen wurde unter anderem über den Lauf der Welt.
Die Feier entsprach den guten alten Traditionen, ab gesehen davon, dass die Sonne nicht an der üblichen Stelle unterging, sondern um fünfzig Grad entgegenge setzt, nämlich im Südsüdwesten. Nachdem sie für eine kurze Sommernacht hinter dem Horizont verschwunden war, ging sie keineswegs im Osten so wie früher, son dern fast im Nordnordwesten auf. Die Kirche warf ihren Schatten auf den See, während er vorher um diese Zeit den Friedhof bedeckt hatte. Jetzt hingegen badete der Gottesacker im Licht der aufgehenden Sonne.
Die Leute wunderten sich nicht groß über diese Ver änderungen. Sie fanden vielmehr, dass es Wichtigeres auf der Welt zu tun gebe, als Sonnenaufgänge zu beglot zen. Gleich nach Mittsommer zogen sie hinaus, um die Felder zu bestellen. Es war höchste Zeit, denn es herrschte bereits Hochsommer.
Im übrigen Europa war die Situation anders. Ein Welt untergang hinterlässt seine Spuren. In Montparnasse in Paris stand das Wasser sechs Meter hoch. Meeresfische schwammen auf den Straßen und in den Bistros herum. Zwei Dorsche mit ausdruckslosen Mienen studierten die vom Wasser aufgeweichte Speisekarte eines Fischre
staurants, auf der »Frittierter Dorsch für zwei Personen« zum durchaus günstigen Preis von 23 Euro angeboten war.
Es war das Jahr 2023. Aus der Richtung der ehemali gen Seine waren abgehackte Motorgeräusche zu hören. Aus dem Nebel tauchte eine faltige und enttäuscht wirkende Pariserin in einem kleinen Boot auf, das einen uralten Außenbordmotor der Marke Arlette hatte. Die Frau überquerte die ehemaligen Straßen des Pariser Zentrums und bog in Richtung Montmartre ab. Der Nebel hüllte sie ein, und es war sehr kalt.