Der Stiftungsdirektor war inzwischen zweiundsechzig. Zwei Jahre zuvor, zum sechzigsten Geburtstag, hatten ihm seine Leute am See ein Herrenhaus gebaut. Es stand am selben Ufer wie das Pfarrhaus, nur ein wenig höher am Hang. Das Herrenhaus war größer als das Pfarrhaus. In einem Flügel wohnten die Dienstboten, im anderen, besseren Flügel Stiftungsdirektor Toropainen mit seiner Frau, der ehemaligen Zugreinigungschefin Taina Toropainen. Taina reinigte keine Züge mehr, das wurde in Finnland ohnehin kaum mehr getan. Sie war damit ausgelastet, das Herrenhaus in Schuss zu halten, außerdem unterstützte und begleitete sie ihren Mann, wenn er in den einzelnen Dörfern unterwegs war, um die Leute anzuleiten. Herzkrank, wie er war, sollte er weite Fahrten besser nicht allein machen, fand sie.
Ihr gemeinsamer Sohn Jussi war bereits siebzehn Jahre alt und wartete auf seine Einberufung in die Partisanenkompanie von Ukonjärvi. In der finnischen Armee wollte er seine Wehrpflicht nicht ableisten, dann würde er im Kriegsfalle womöglich an eine weit entfernte Front geschickt, schließlich gehörte Finnland zu den gemeinsamen europäischen Streitkräften. Die Union akzeptierte den Dienst in Heimatschutztruppen als Ersatz für die Wehrpflicht, eine Regelung, die die Schweiz seinerzeit durchgesetzt hatte. Die Partisanen kompanie von Ukonjärvi wurde als eine solche lokale Schutztruppe anerkannt.
Eemeli Toropainen schob das Rechnungsbuch beiseite und nahm das Inventarverzeichnis aus dem Regal. Das Heft war ein wenig schmuddelig, man sah, dass darin oft geblättert wurde.
Die Eintragungen waren unterteilt nach den einzelnen Einrichtungen der Stiftung: Mühle, Schmiede, Spanho bel, Sägewerk, Nebendörfer.
»Willst du kranker Kerl etwa wieder losfahren und je den einzelnen Gegenstand zählen?«, fragte Frau Taina ein wenig besorgt.
»Im Frühjahr ist der rechte Zeitpunkt, sich mal wieder einen Überblick zu verschaffen. Die Verwaltung darf nicht vernachlässigt werden.«
»Ich komme mit. Im Herbst hast du auch eine Woche krank im Bett gelegen, nachdem du überall rumgefah ren bist und dich dabei überanstrengt hast. Wir könnten diesmal einen Traber nehmen, zum Beispiel Jussis Fohlen.«
Taina machte belegte Brote zurecht, die sie in einen Korb aus Birkenrinde packte. Sie fügte auch noch ge räuchertes Schweinefleisch und eine Kanne Bier, ebenso einen kleinen Krug Schnaps als Medizin hinzu.
Die Stiftung besaß kein Auto, nicht mal ein Moped, dafür standen mehrere schnelle Traber im Stall. Severi Horttanainen hatte elegante Kirchenschlitten und, für den Sommer, ein paar Karriolen, leichte zweirädrige Wagen, gezimmert. Für Eemeli hatte er eine vierrädrige leichte Kutsche gebaut. Dabei hatte er die im achtzehn ten Jahrhundert verwendeten vornehmen französischen Chaise-de-poste-Wagen, also Postkarriolen, zum Vorbild genommen. Vorn befanden sich zwei kleine schwenkba re Räder, die hinteren Räder waren doppelt so groß. Die weichen Sitze waren mit Otterfell überzogen. Der Wagen hatte ein Verdeck aus Leder, war aber nach vorn offen, sodass einer der Passagiere kutschieren konnte. Im Falle der Toropainens hielt Taina die Zügel. Sie spannte auch das Pferd an und hob den Korb mit dem Proviant in den Wagen.
Taina lenkte das Fahrzeug nach Sepänkylä, ein Ne bendorf von Ukonjärvi, das erst etwa zehn Jahre zuvor besiedelt worden war. Dort befand sich die Schmiede der Stiftung, und der Schmied, der darin schwitzte, war ein pechschwarzer Somali wie auch seine Gehilfen.
Es fuhr sich gut an diesem Frühjahrsmorgen. Die Vö gel sangen, der schmale Weg schlängelte sich durch eine Heide nach Nordosten. An der höchsten Stelle des Ge ländes machten die Eheleute eine Pause, sie tranken kühles Bier und saßen eine Weile am Ufer eines Gra bens. Von dort hatten sie einen schönen Blick auf den Ukonjärvi-See in einer Entfernung von etwa einem Kilo meter. In dem glatten blauen Wasser spiegelten sich Schönwetterwolken. Am einem Ende des Sees erhob sich die hübsche Kirche, diesseits des Flusses, an der Brü cke, standen mehrere rote Häuschen, dann folgten das Pfarrhaus, die Sauna und, an der höchsten Stelle, das neue große Herrenhaus mit dem gelben Anstrich. Auf dem See waren ein paar Boote unterwegs, Netze wurden gezogen. Am gegenüberliegenden Ufer stand etwa ein Dutzend roter Häuschen, ebenfalls ziemlich neu, dazu Kuh- und Pferdeställe. Vor ihnen lag das ganze Kirch dorf Ukonjärvi wie auf dem Präsentierteller, durchzogen vom blauen Wasser des Sees.
»Wer weiß, ob sie bei diesem schönen Wetter etwas fangen«, meinte Eemeli sinnend, während er die Boote beobachtete.
»Bisher haben sie noch immer etwas herausgeholt«, erwiderte Taina und trank einen Schluck Bier aus der Kanne. »Wenn nichts anderes, dann wenigstens ein paar Maränen.«
Die beiden fuhren weiter. Bald gelangten sie ans Ufer des Iso Haukilampi, des Großen Hechtsees. Der war zwar nicht wirklich groß, höchstens dreihundert Meter lang, lag aber ganz in der Nähe eines kleinen namenlo sen Sees, daher wohl der Name. Möglicherweise waren in dem See auch große Hechte gefangen worden. In dem kleinen See schwamm ein Schwanenpaar, es hatte schon mit dem Nisten begonnen.
Einen knappen Kilometer weiter nördlich folgte der Hiidenjärvi-See. Das Dorf Grünberg am Hang des Berges war inzwischen dicht besiedelt. Dutzende von Blockhüt ten standen dort und auch ein paar größere Häuser. Hundegebell war zu hören.
Am Südzipfel des Sees bog der Weg nach Osten ab, führte in tiefer liegendes Land. Taina und Eemeli fuhren einige Kilometer auf dem staubigen Weg dahin. Sie redeten nicht viel miteinander, es war so friedlich und irgendwie feierlich, dass Worte nur störten.
Sie kamen am Berg Uuranvaara vorbei, der einen ziemlich steilen Hang hatte. Hier machten sie wieder eine Pause, um das Pferd zu tränken.
Eemeli zog sich die Lederstiefel aus und wickelte seine Fußlappen neu.
»Musst du unbedingt diese Lumpen nehmen, obwohl ich haufenweise Wollsocken gestrickt habe?«, schimpfte Taina.
Am Berg hatten sich die Jungen der umliegenden Dörfer aus Balken und Brettern eine Skisprungschanze gebaut. Im vergangenen Winter war dort ein neuer Rekord aufgestellt worden, einunddreißig Meter. Der alte Severi Horttanainen hatte es nicht lassen können und war ebenfalls hinuntergesprungen. Dabei hatte er sich außer seinen Skiern auch den Unterschenkelknochen gebrochen.
»Vorige Woche hat Severi seine Krücken in den See geworfen«, wusste Taina zu berichten, als sie an der Sprungschanze vorbeifuhren.
Gut einen Kilometer weiter kamen sie endlich in das Dorf Sepänkylä. Es lag am Fluss Heinäjoki zwischen weiten Naturwiesen und dichten Wäldern. Diese Gebiete hatte Eemeli seinerzeit für einen Spottpreis vom Ge meinwald Valtimo gekauft. Größerer Einschlag war, zumindest vorläufig, nicht vorgenommen worden. Ledig lich ein paar Dutzend Hektar Ackerland wurden gerodet, man hatte zunächst Bäume gefällt und dann die Fläche geschwendet, um anschließend Roggen auszusäen. Dann hatte man die Schwende als Weideplatz benutzt und schließlich umgepflügt. Am Rande der Felder lag das Dorf, zu dem etwa zwanzig Häuser und die Schmie de gehörten, die am Flussufer stand. Von dort klang gleichmäßiges Hämmern herüber, die Somalis schmie deten Eisen.
Das Ehepaar Toropainen erreichte die Schmiede ge-gen Mittag. Sie führten das Pferd hinter den Schuppen, wo es schattig war. Ein wütender Spitz kam auf sie zugelaufen und bellte, doch als er die Ankömmlinge erkannte, schämte er sich und lief in die Schmiede, um den Besuch zu melden. In der Tür erschien ein großer schwarzer Mann, doppelt schwarz, denn der Somali war von seiner Arbeit rußig geworden. Seine beiden ebenso schwarzen Gehilfen lugten über seine Schulter.
»Tag, Joose, was hämmerst du denn Schönes?«, fragte Eemeli den Schmied, der mit richtigem Namen Josif Nabulah hieß. Er hatte sich Ende des vergangenen Jahrtausends als Flüchtling nach Finnland verirrt.
»Tag, Taina und Eemel«, grüßte der Schmied. »Tag, Tag«, sagten auch seine Gesellen. Der Schmied erzählte, dass er Schlittenkufen fertige.
Zum nächsten Winter seien fünfzig Paar bestellt worden. Jetzt, da er die Mähmaschinen und die anderen Som mergeräte instand gesetzt hatte, bliebe ihm Zeit, für den nächsten Winter vorzuarbeiten.
Bessere Schmiede als die Somalis gab es weit und breit nicht, dachte Eemeli bei sich. Schon in ihrem Heimatland waren sie sehr geschickt in der Eisenbear beitung gewesen. Außerdem machten sie auch Blechar beiten und beherrschten das Verzinnen. Schöne Formen entstanden unter ihren Händen, und sie beklagten sich nicht über die Hitze an ihrem Arbeitsplatz.
Der Somali führte seine Gäste in die Schmiede, um ihnen die Kufen zu zeigen. Eemeli nahm ein fertiges Exemplar in die Hand und ging damit nach draußen, um es im Sonnenlicht zu betrachten. Er fuhr über die glatten Kanten und prüfte die Festigkeit der Schleife. Obwohl die Kufe handgearbeitet war, war sie gleichmä ßig, als wäre sie aus dem Schlund eines Walzwerkes gezogen worden.
»Daheim in Afrika gab es ja keine Schlittenkufen, ich kenne sie erst, seit ich hier bin. Sind sie dafür nicht gut geworden?«, lobte der Schmied seine Arbeit. Eemeli bestätigte es gern.
Dann sprachen sie über die eventuelle Gründung ei ner Gießerei. Es gab nämlich kaum noch Ersatzteile für die Dreschmaschine oder für andere Landmaschinen. Falls überhaupt noch irgendwo Maschinen hergestellt wurden, hatte niemand das Geld, sie zu kaufen, und Ersatzteile interessierten die Verkäufer nicht mehr, weil noch im vergangenen Jahrtausend das Öl rationiert worden war. So verschlimmerte sich die Situation nach und nach.
Der Somali Josif Nabulah erklärte, dass in einer Gie ßerei Halbfabrikate hergestellt werden könnten. Er sei bereit, die Anlage zu bauen, wenn mit der Stiftung eine entsprechende Einigung zustande komme. Er habe Leute, die in der Gießerei arbeiten könnten, und er könne auch einige Weiße für diesen Beruf ausbilden.
Sie einigten sich auf einen anständigen Preis: Für die Gießerei sollte der Somali hundert Kilo Wildschwein fleisch und zwei Zentner Weizen bekommen.
Eemeli Toropainen regte außerdem den Bau einer Dampfmaschine an. Es gab im Fluss Ukonjoki einen Damm und eine Turbine, deren Kraft jedoch nur für die Stromerzeugung unmittelbar im Kirchdorf reichte, da sie außerdem noch die Mühle antrieb. Eine Dampfmaschine war also unabdingbar; im Sommer könnte sie die Dreschmaschine und die anderen Landmaschinen an treiben, im dunklen Winter für die Nebendörfer Strom erzeugen.
Der Schmied schätzte, dass er innerhalb eines Jahres ein Probeexemplar konstruieren könne. Danach könnten problemlos weitere hergestellt und das Modell weiter entwickelt werden.
Die Männer bestätigten die Absprache mit Hand schlag, und Taina Toropainen holte den Schnapskrug aus ihrem Korb. Alle tranken einen Schluck, auch Taina und die Gesellen. Dann begannen die Burschen, mit der Schmiedezange auf einen Fassdeckel zu schlagen, und der Jüngste von ihnen führte dazu einen Tanz auf.
In dem Moment kam aus Richtung Valtimo ein acht zehnjähriges, offenbar geistesgestörtes Mädchen ange rannt. Sie war völlig außer Atem und rief im Näher kommen:
»New York ist im Müll versunken!«
Bedauernswerte Geschöpfe wie sie trieben sich jetzt überall im Land herum, seit die Nervenkliniken aus Mangel an Personal geschlossen worden waren. Dieses Mädchen stammte dem Vernehmen nach ursprünglich aus Loimaa, war aber, vom Hunger getrieben, in Kainuu gelandet. Sie war mit einem Proviantbündel über der Schulter durch die Straßen gelaufen, bis man ihr in einer Bierbar in Valtimo den Tipp gegeben hatte, nach Ukonjärvi zu gehen, wo die Leute, wie allgemein bekannt war, mehr zu essen hatten, als sie selbst brauchten. Das Mädchen hatte die Angewohnheit, vornübergebeugt zu laufen, da sie früher einmal geritten war. Sie wieherte auch gern.
Jetzt kam das Mädchen, das der »Fliegende Engel« ge nannt wurde, aus Valtimo und erklärte, dass sie am nächsten Tag wieder dorthin zurücklaufen wolle. Manchmal lief sie bis zu hundert Kilometer an einem Tag, sie liebte die Bewegung, und man ließ ihr das Ver gnügen. Im Sommer lief sie barfuss, im Winter trabte sie in Lappenstiefeln über die Straßen.
Hin und wieder gaben ihr die Leute Briefe mit, oder sie versuchten ihr Besorgungen aufzutragen. Nur selten gingen die Briefe verloren, und im Allgemeinen wurden die Aufträge erledigt. Schwere Lasten mochte der »Flie gende Engel« beim Laufen allerdings nicht tragen. Ein mal hatte ihr jemand ein Drittelfass Butter auf den Rücken geschnallt. Das war ihr schon auf halber Stre cke zu viel geworden, sie hatte zwei Kilo davon gegessen und mit dem Rest die Kiefernstämme am Straßenrand eingeschmiert.
Der »Fliegende Engel« bekam belegte Brote und Bier, jedoch keinen Schnaps. Auch die Schmiedegesellen bekamen vorsichtshalber keinen mehr. Taina Toropai nen sagte:
»Armes Mädchen. Ich würde sie zu uns ins Haus nehmen, aber sie hält es ja nirgendwo auch nur einen Tag aus, sowie man sie aus den Augen lässt, ist sie weg.«
»So sind die Frauen eben«, bestätigte der Somali, des-sen weiße Frau im vergangenen Herbst nach Grünberg gezogen war.
Taina und Eemeli brachen auf. Die Schmiedegesellen trommelten vor der Werkstatt weiter auf dem Fass herum und tanzten. Der »Fliegende Engel« flatterte bei ihnen herum, bis ihr einfiel, dass sie weitermusste. Sie rannte auf die Straße und verschwand in Richtung Uuranvaara, ihre lange blonde Flachsmähne wehte im Wind.
27
Am Nachmittag kamen Taina und Eemeli im Dorf Raja kylä an, das sich genau wie Sepänkylä auf dem Gebiet des ehemaligen Gemeinwaldes von Valtimo befand. Um den See Rajalampi herum waren etwa zwanzig Häuser entstanden, dazu ein Kuhstall, eine Hühnerfarm und ein Gefängnis.
Das Gefängnisgebäude war bald nach der Jahrtau sendwende aus stabilen Balken errichtet worden, es enthielt zwei Zellen, dazu eine Wohnung für den Wärter, und es stand an der Nordseite des Sees in einem dunk-len Fichtenwald. Melancholische Saxofonklänge waren aus der Richtung des Gefängnisses zu vernehmen, als die Toropainens auf den schmalen Weg, der zu dem Gebäude führte, einbogen.
Das Gefängnis wurde derzeit von Oberst Arkadi Lebe dew geleitet, auch er inzwischen ein Mann von über sechzig. Lebedew hatte sein Amt als Hirte schon vor Jahren aufgeben müssen, als mit zunehmendem Alter sein Orientierungssinn nachließ. In seinem letzten Hirtensommer hatte er die Bullenherde zweimal in der Einöde verloren. Eines der Tiere war in einem Sumpf ertrunken, und der Oberst selbst war halb verhungert in der Nähe der russischen Grenze gefunden worden. Das Saxofon war voller Schlamm gewesen.
Der Gefängnisdirektor, der eine altmodische Uniform trug, legte das Saxofon auf die Stufen und eilte dem Stiftungsdirektor und seiner Frau entgegen.
»Welche Überraschung, liebe Freunde! Tretet ein, ich koche Tee!«
Der Oberst führte das Ehepaar in seine Wohnung. Sie bestand aus zwei Räumen, einer Wohnküche und einer Schlafkammer. Alles war sauber, auf dem Tisch lagen Spitzendecken, und auf dem Herd stand ein Samowar. Der Oberst stellte den Samowar auf den Esstisch, dann trug er allerlei Herzhaftes auf: Gurken, Sauerkohl, Käse, Brot. Man setzte sich zur Mahlzeit.
Die angenehme Teestunde wurde von Zeit zu Zeit da durch gestört, dass es hinter der Balkenwand laut dröhnte, das kleine Haus schien jedes Mal zu schwan ken. Der Oberst erzählte, dass sich hinter der Wohnkü che die Zelle für die männlichen Gefangenen befand. Derzeit saß dort ein wüster hünenhafter Mörder ein, der die Eigenheit hatte, gegen die Wand zu treten und daran zu rütteln. Das hatte er sich im Laufe seiner vielen Haftaufenthalte in den verschiedenen Gefängnissen des Landes angewöhnt.
Eemeli Toropainen wunderte sich ein wenig. Er konn te sich nicht erinnern, dass bei den Gerichtssitzungen von Ukonjärvi – die seit der Jahrtausendwende regelmä ßig stattfanden – ein solcher Fall behandelt worden war. Wie war es möglich, dass in seinem Gefängnis ein Mör der saß, von dem er nichts wusste?
Der Oberst erklärte, die Sache sei ihm nicht so wich tig erschienen, dass sie im Herrenhaus hätte gemeldet werden müssen. Es verhielt sich nämlich so, dass der besagte Mörder kein Hiesiger war. Naukkarinens Parti
sanen hatten ihn auf der Straße zum Hiidenvaara fest genommen. Der Mann hatte gestanden, dass er aus dem Turkuer Zentralgefängnis Kakola ausgebrochen war. Er hatte die Absicht gehabt, sich unbemerkt über Hiiden vaara nach Sotkamo und von da in den Norden des Landes durchzuschlagen.
Nachdem der Mann zum Verhör ins Gefängnis ge bracht worden war, hatte sich dann herausgestellt, dass er im Jahre 2008 einen Mord begangen und von der Strafe, zu der er verurteilt worden war, erst zwei Jahre abgesessen hatte. Da die Tat nicht auf dem Gebiet der Stiftung verübt worden war, bestand aus juristischer Sicht kein Anlass, das dafür verhängte Urteil im Ge fängnis von Rajakylä zu vollstrecken, und außerdem verursachte ein so hünenhafter Häftling einer kleinen Gemeinde nur Kosten.
»Er ist ein großer Kerl und braucht eine Menge Es sen«, erklärte der Oberst. Nur konnte seiner Meinung nach ein Mann, der ein Menschenleben auf dem Gewis sen hatte, nicht so ohne weiteres wieder auf freien Fuß gesetzt werden. So hatte er in seiner Eigenschaft als Gefängnisdirektor den Mann zu einem Monat Haft ver urteilt, den dieser jetzt abbüßte. Er donnerte schon seit drei Wochen gegen die Wand seiner Zelle. In der folgen den Woche würde der Oberst ihn mit Stricken auf einem Pferdewagen festbinden und nach Sotkamo schaffen, wo er ihm einen derben Tritt in den Hintern geben und ihn auffordern würde, künftig um die Gemeinde Ukonjärvi einen großen Bogen zu machen.
Eemeli Toropainen billigte ohne Einwände die admi nistrative Entscheidung des Oberst.
Der Tee war getrunken und die Neuigkeiten waren ausgetauscht. Der Oberst brachte die Gäste nun zu dem Mörder, der tatsächlich überaus groß und starkknochig und vielleicht vierzig Jahre alt war. Als die Zellentür
geöffnet wurde, versuchte er auszubrechen, wich aber zurück, nachdem er die Faust des Oberst zu spüren bekommen hatte.
Eemeli Toropainen fragte ihn, ob er im Gefängnis von Rajakylä anständig behandelt werde. Ob das Essen zufrieden stellend und die Zelle erträglich sei.
Der Mörder hatte keine anderen Klagen als die, dass man ihn ohne rechtswirksames Urteil festhalte. Er erklärte, er falle unter den Strafvollzug des finnischen Staates und somit habe eine private Haftanstalt kein Recht, seine Freiheit einzuschränken. Außerdem habe ein Oberst, der aus Russland stamme, in Finnland keine richterlichen Befugnisse. Das Essen sei ansonsten gut und ausreichend, da gebe es nichts zu bemängeln. Die Bedingungen seien mit Kakola gar nicht zu vergleichen. Dort sei es schmutzig und dunkel gewesen, und es habe so wenige Wärter gegeben, dass manchmal tagelang niemand in die Zelle geschaut habe. Die Häftlinge hatten regelrecht gehungert, und viele seien krank oder ver rückt geworden. Wegen dieser Qualen habe er beschlos sen zu fliehen. Nach diesen Worten brach der Mann in Tränen aus.
Der Oberst schloss die Zelle ab.
»Durch Weinen kommt man hier nicht raus«, konstatierte er und öffnete dann die Tür der Frauenzelle.
In der hintersten Ecke saß eine etwa dreißigjährige Frau mit wirren Haaren, die ihr Gesicht zur Wand dreh te und kein Wort sagte. Sie hatte zehn Tage Haft ohne Bewährung bekommen, wozu sie das Dorfgericht von Hiidenvaara nach der Maifeier verurteilt hatte. Grund für das Urteil waren ihr loses Mundwerk und ihr fortge setzter unsittlicher Lebenswandel gewesen. Die Anzeige war durch die Frauen vom Hiidenvaara erfolgt, die den ständigen Klatsch und vor allem die Tatsache satt hat-ten, dass diese Frau regelmäßig die Männer des Dorfes zu sich lockte, allem Anschein nach mit großem Erfolg. Die Beschuldigte hatte zwischen zwei Urteilen wählen dürfen: entweder auf dem Kirchenhügel von Ukonjärvi an drei Sonntagen für jeweils eine Stunde am Pranger zu stehen oder für zehn Tage ins Gefängnis zu gehen. Die Frau hatte die letztere Alternative gewählt, inzwi schen bereits sieben Tage von ihrer Strafe abgebüßt und würde in der folgenden Woche entlassen.
Der Oberst erzählte, dass für gewöhnlich beide Zellen leer waren. Im letzten Frühjahr, als die neue Schnaps fabrik eröffnet worden war, war zwar die Männerzelle eine Zeit lang durchgehend besetzt gewesen, ansonsten war es jedoch sehr still, und manchmal wurde ihm die Zeit lang.
»Zum Glück habe ich das Saxofon, darauf spiele ich oft zum Zeitvertreib. Manche Gefangenen mögen die Musik und lauschen still.«
Die Schnapsbrennerei der Stiftung war einen Kilome ter von Rajakylä entfernt am Ufer des von Sümpfen umgebenen Sees Rätsinlampi errichtet worden. Es war eine abgelegene und unbewohnte Gegend, sodass sie sich gut als Standort für das Objekt eignete. Destillieren von Alkohol war in Finnland auch im dritten Jahrtau send noch verboten – warum eigentlich? –, und so konn te selbst die Stiftung es nicht wagen, eine solche Anlage an einem öffentlich zugänglichen Ort zu betreiben. Jedenfalls lag die Schnapsherstellung in den Händen der verwitweten Bäuerin Tyyne Reinikainen aus Valtimo. Als Gehilfe stand ihr erwachsener Sohn Jalmari ihr zur Seite.
Eemeli und Taina trafen am Nachmittag ein, um die Brennerei zu inspizieren. Ein kleines Gebäude aus grauen Balken stand da am Ufer des schwarzen Sumpf sees. Am Giebel befand sich ein Anbau aus Brettern, eine geräumige Küche, in der zwei Kessel standen: ein größerer für sechzig und ein kleinerer für zwanzig Liter.
Als Rohstoff wurde überschüssiges Getreide verwen det, hauptsächlich der Roggen, der auf den Schwenda ckern wuchs. In dem größeren Kessel wurde Wodka destilliert, in dem kleineren mit einer Würzbeimischung Kräuterschnaps hergestellt. Letzterer war mittlerweile ein regelrechter Exportschlager der Stiftung, sogar in Turku und Helsinki gab es Abnehmer. Tausende von Litern wurden jährlich produziert.
Die Inspektion der Schnapsfabrik war eine vergnügli che Angelegenheit. Die Toropainens kosteten den ganzen Abend lang die Produkte und verglichen gründlich die Qualität. Sie besprachen außerdem mit ihrer Gastgebe rin die Erweiterung der Fabrik um einen dritten Kessel. Darin sollte Pomeranzenschnaps oder vielleicht Küm melwodka hergestellt werden. Es war einen Versuch wert.
Der Sohn der Brennmeisterin heizte die Sauna, wäh rend Taina Toropainen im See badete. Die Unterhaltung an diesem lauen Sommerabend drehte sich auch um die Angelegenheiten des Nachbardorfes Rajakylä. Tyyne Reinikainen erkundigte sich, ob der Mörder und die Hure noch im Gefängnis saßen. Sie wusste zu berichten, dass diese Frau zeitweilig auch die Geliebte des Oberst gewesen war, damals, als er noch als Hirte die Bullen herde betreute. Der uniformierte Mann mit dem Saxofon hatte die Frau offensichtlich beeindruckt. Später hatte sie dann vom Blues genug gehabt, sie hatte den Oberst verlassen und einen Jüngeren geheiratet.
»Es wird sie fuchsen, dass sie in dem Knast einge sperrt ist, den ihr Verflossener bewacht«, meinte die Schnapsbrennerin Tyyne Reinikainen.
Beflügelt von gründlicher Qualitätskontrolle, fuhren Eemeli und Taina in vollem Galopp nach Rajakylä zu rück. Arm in Arm saßen sie auf dem Wagen und sangen fröhliche Trinklieder. Eemeli hatte die Zügel übernom men. Der Weg staubte unter den Rädern.
Es war ein herrliches Gefühl, über die dämmrige Dorfstraße rasen zu können, ohne sich wegen Trunken heit am Steuer Gedanken machen zu müssen. Schließ lich war das Pferd stocknüchtern.
Aus Richtung des Gefängnisses waren melancholische Saxofonklänge zu hören. Der Oberst saß auf den Stufen vor der Frauenzelle und spielte Blues für seine ehemali ge Geliebte. Die Tür hielt er dabei allerdings fest ver schlossen. Eemeli und Taina übernachteten beim Ge fängnisdirektor. Nach der Inspektion der Schnapsbren nerei hatten sie nicht mehr die Kraft, weiterzufahren. Der Oberst machte ihnen das Bett in seiner Schlafkam mer zurecht und schlief selbst in der Wohnstube. Am Morgen kochte er zum Frühstück Tee im Samowar und machte Blinis.
Die Fahrt ging weiter nach Kalmonmäki, wo Eemeli die Kaserne der Partisanenkompanie inspizierte. Sulo Naukkarinen, inzwischen bereits Hauptfeldwebel, orga nisierte auf dem Hof eine Parade, die Eemeli abnahm. Anschließend wurden die Mannschaftsräume besichtigt. Überall herrschte lobenswerte Ordnung. Zum Schluss führte die leichte Granatwerfermannschaft im Gelände ein Schießen mit scharfer Munition vor.
In Grünberg besichtigten Eemeli und Taina den Kräu tergarten und die Pilztrocknungsanlage. Im Frühjahr hatten die Mitarbeiter fast zweihundert Kilo Steinmor cheln gesammelt und getrocknet, berichtete stolz die Leiterin, eine profunde Kennerin der natürlichen Sam melwirtschaft. Im Kräutergarten keimten auf einer Flä che von mehreren Ar die verschiedensten Gewürz- und Arzneipflanzen. Zum Abschluss der Inspektion wurden den Gästen Kräutertee und kalorienarme Biokekse serviert.
Als Eemeli im Wagen saß, holte er sofort den geräu cherten Schweinespeck aus dem Proviantkorb, schnitt sich ein tüchtiges Stück davon ab und aß es zusammen mit einer Scheibe Brot. Zum Nachspülen trank er Kräu terschnaps. Letzterer war die Form, in der er Gewürz pflanzen am liebsten zu sich nahm.
Die Heimfahrt konnte beginnen. Taina lenkte das Pferd auf die Straße nach Ukonjärvi. Sie kamen an einem kleinen See vorbei, dem Hiidenkattila, der in einer tiefen Schlucht am Südzipfel des Berges lag. An seinem Ufer wuchs üppiger Laubwald, dort war es schattig und kühl.
Der Hengst trabte bedächtig über den schmalen Weg, der sich zu dem Wäldchen hinunterschlängelte, aber plötzlich wurde er unruhig. Er witterte eine Gefahr, fiel in nervösen Galopp und ließ sich nicht mehr lenken.
Eemeli wollte gerade den Schnapskrug in den Korb stellen, als er flüchtig am Wegrand einen großen Bären mit grauem Fell sichtete. Der Petz erhob sich auf zwei Beine und nahm Witterung nach dem Hengst auf, dabei brummte er dumpf.
Der Hengst ging durch und raste in vollem Galopp über den kurvenreichen Fahrweg. Eemeli und Taina mussten sich festklammern, um nicht aus dem Wagen zu fallen, der in den Kurven auf zwei Rädern schleifte.
Der Hengst galoppierte mit schaumbedeckten Flanken am Iso Haukilampi vorbei und bog auf den Weg nach Ukonjärvi ein. Zum Glück kam ihnen niemand entgegen. Der Wagen donnerte über die Brücke. Der wilde Galopp endete erst auf dem Hof des Herrenhauses, wo Taina den Hengst vor der Stallwand zum Stehen brachte.
Mit vereinten Kräften konnten sie das Tier beruhigen, sie brachten es in den Stall, wo es sich in seine Box stellte und zitterte.
Eemelis Herz vertrug so viel Aufregung nicht. Er drückte die Hand auf die Brust und setzte sich auf den Brunnendeckel. Sein Gesicht war schneeweiß. Taina und die Dienstmädchen führten ihn in die Schlafkam mer und steckten ihn ins Bett. Er bekam einen Schluck Schnaps eingeflößt und Engelwurzextrakt unter die Zunge. Dann forderte Taina ihn auf zu schlafen und schloss die Tür.
28
Eemeli Toropainen erholte sich von seinem neuerlichen Herzanfall gerade rechtzeitig, um die erstaunlichen Nachrichten vom Untergang New Yorks zu hören. Wie der »Fliegende Engel« in Sepänkylä verkündet hatte, war diese führende Weltmetropole buchstäblich im Müll ertrunken.
Es ergab sich, dass ein Amerikaner finnischer Ab stammung im Herrenhaus von Ukonjärvi erschien, ein gewisser John Matto oder Jussi Mättö, ein fünfzigjähri ger Taxifahrer aus der Bronx. Er schob seine achtzigjäh rige Mutter Eveliina Matto im Rollstuhl. Die beiden waren auf einem leeren Öltanker von den USA nach Rotterdam und von dort mit dem Zug über Tornio nach Kontiomäki und Valtimo gereist, dann hatte der Sohn seine Mutter nach Ukonjärvi geschoben.
Eveliina Mättö war im vergangenen Jahrhundert, in den Fünfzigerjahren, nach Amerika ausgewandert. Dort war sie erst eine Weile umhergezogen, ehe sie sich in New York niederließ. Zunächst hatte sie in herrschaftli chen Familien als Dienstmädchen gearbeitet, dann eine Anstellung beim Etagenservice eines Hotels gefunden und war später in höhere Positionen aufgerückt. Als New York nun zerstört war, hatte es sie wieder in ihr altes Land gezogen, denn sie wollte in Finnland beerdigt werden, und so hatten Mutter und Sohn die Heimreise angetreten.
»Wir erfuhren beim Zwischenaufenthalt in Stockholm von diesem Dorf, man erzählte uns, dass es hier einen kostenlosen Friedhof gibt.«
Eemeli Toropainen fand es unglaublich, dass die mächtigste Stadt der Welt einfach so mir nichts, dir nichts untergegangen war. Davon hatten sie in Ukonjär vi nichts geahnt. Sie hatten nur gehört, dass sich New York stark nach Norden und Westen ausgedehnt hatte.
Taxifahrer John Matto erzählte, dass der Bundesstaat nicht die ganze Wahrheit hatte preisgeben wollen. Au ßerdem hatte sich die Stadt tatsächlich weit nach Nor-den und Westen ausgedehnt. Sie war im Grunde ge nommen ganz und gar von ihrem ehemaligen Standort dorthin verlegt worden.
Die Katastrophe hatte nach den wilden Millenniums feiern ihren Anfang genommen. In New York hatten die Leute den Jahrtausendwechsel wie verrückt gefeiert. Die Straßen waren über und über mit Müll bedeckt gewe sen. Man kann sich vorstellen, was zehn Millionen Be trunkene bewirken. Banden waren umhergezogen, hat-ten Läden und Warenhäuser geplündert, und ganze Geschäftsviertel waren anlässlich der Feier abgefackelt worden. Als sich die Situation ein wenig entspannt hatte, waren die Angestellten der Stadtreinigung in den Streik getreten, weil ihre Löhne um die Hälfte gekürzt worden waren. Das war der Anfang vom Ende gewesen. Die Straßen hatten sich mit Abfällen gefüllt. »Der Som mer war für uns Taxifahrer die reinste Hölle. Die Staus waren einfach unglaublich. Müllberge verstopften die Straßen. Eine Fahrt vom Kennedy-Airport nach Manhat tan dauerte bis zu sechs Stunden, es war hoffnungslos.«
Die Hauptstraßen, wie die Fifth Avenue und die 42nd Street, konnte man mit Räumfahrzeugen offen halten. In den Nebenstraßen musste man sich damit begnügen, die Müllberge einigermaßen zu glätten und festzustamp fen, damit die Menschen darauf gehen konnten. Über die besonders morastigen Straßenabschnitte wurden Stegbrücken gebaut. Gleich im ersten Sommer erreichte die Müllschicht mehr als einen Meter Höhe, und im nächsten Jahr bedeckte der Müll die Straßen bis an die ersten Stockwerke der Häuser. Die Bewohner der Erdge schosse mussten ausziehen, die untersten Türen der Fahrstühle wurden geschlossen, die Fenster zu Eingän gen umfunktioniert, oder es mussten Tunnel durch die Müllmassen gegraben werden, damit die Menschen in die Häuser gelangen konnten.
Im dritten Jahr waren schon zwei Etagen vom Müll bedeckt, in den schlimmsten Gegenden sogar drei. Höher wuchs die Schicht nicht mehr, allerdings nur, weil in den Häusern niemand mehr wohnen oder Ge schäfte betreiben konnte. Der übliche Verlauf war der, dass aus diesen Vierteln die Einwohner und Arbeitsplät ze verschwanden. Die Wasserleitungen waren verstopft oder froren ein, die Fenster barsten oder wurden einge worfen, Drogenkriminelle zogen in die Häuser ein, bis sie schließlich völlig ausbrannten. Dergleichen war ja be reits im vergangenen Jahrtausend in Harlem vorge kommen, doch nun weitete sich diese Zerstörung bis nach Downtown aus.
Eveliina Mättö beklagte besonders, dass sogar die prächtige Parade zum Thanksgiving Day auf den Frank lin D. Roosevelt Drive verlegt werden musste. Als dann später auch der verstopft war, hatte man ganz auf diese Tradition verzichtet.
Der Autoverkehr wurde schließlich unmöglich. John blieb eines Nachts mit seinem Taxi an der Brooklyn Bridge stecken; er hatte versucht, den Wagen von Man hattan über die Park Row auf die Brücke zu retten, aber die Karre versank bis zu den Fenstern im Morast. Da musste er sie dann wohl oder übel aufgeben.
»Aus Bosheit ließ ich den Motor laufen. Die Straßen waren voll von verlassenen Autos. Manch einer hatte versucht, sein Auto auszugraben, aber es war hoff nungslos. Wenn das Auto auch nur für eine Nacht im Morast stecken blieb, brauchte man am nächsten Tag gar nicht erst den Versuch zu machen, es herauszuho len, es war zerstört und von anderen Autos eingekreist. Nagelneue Limousinen versanken zu Tausenden im Dreck. Die Passanten liefen über die glatten Autodächer. Wegen des Morasts mussten sich die Leute Gummistie fel kaufen. Die wurden regelrecht gehamstert, und bald kostete ein Paar von Nokia auf dem Schwarzmarkt hundert Dollar.«
Als der Verfall erst weit genug fortgeschritten war, war er durch nichts mehr zu stoppen. Die Verteilung von Gas und Strom brach ab, die Wasserleitungen waren verstopft, die Abflüsse nahmen schon lange nichts mehr
auf. In einigen Wolkenkratzern wohnten die Angestellten inzwischen in ihren Büros, da das Verkehrssystem lahm gelegt war; der schlimmste Schlag war, dass die U-Bahn-Linien geschlossen werden mussten. Zahlreiche Züge blieben in den Tunneln stecken, die Leute stiegen aus und irrten unter der Erde herum, manche fanden nie wieder heraus.
Im vergangenen Jahr wurden auch die letzten der rie sigen Wolkenkratzer geräumt: die UNO, General Motors, Lincoln Center, Rockefeller Center.
Das Schlimmste war, dass sich viele gefährliche Krankheiten in der Stadt ausbreiteten. An den heißen Sommertagen wimmelte es auf den Müllbergen und in den Schlammpfützen von Bakterien, unerträglicher Gestank setzte den Menschen zu. Die Ratten und au genlose Alligatorenbrut, die sich in der Kanalisation eingenistet hatten, feierten Freudenfeste. Im Winter vernichteten der erbarmungslose Frost und der eisige Wind, der durch die öden Straßenschluchten der ster benden Stadt fegte, den letzten Rest dessen, was die Menschen einmal aufgebaut hatten. Die berühmten Theater am Broadway schlossen ihre Türen, die Schau spieler tanzten höchstens noch im Fieberwahn, die Türsteher fegten Dreck und röchelten Legionellenbakte rien. Fleckfieber wütete, die Frauen gebaren vor der Zeit, und falls die Babys lebend zur Welt kamen, starben sie bald, aufgedunsen von der Pest.
Die Zensur verbot der Presse und den Rundfunk- und Fernsehanstalten, der Welt die schreckliche Wahrheit zu berichten. Insofern es überhaupt noch jemanden gab, der berichtete. Die Studios waren ausgebrannt, die Reklamelichter erloschen, Kojoten liefen den Broadway rauf und runter und rissen die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren.
Verwilderte Räuberbanden leerten die letzten Le bensmittellager und Warenhäuser, fackelten ein Stadt viertel nach dem anderen ab, töteten Menschen, bis sie selbst von Krankheiten dahingerafft wurden oder im Morast versanken.
Feuerwehr und Polizei waren machtlos. Die besten Männer der Nationalgarde wurden ausgesandt, die ertrinkende Stadt zu retten. Ausgerüstet mit Räumpan zern, Baggern, Flammenwerfern und Riesenpumpen, sollten tausende Kämpfer in Overalls Manhattan zu Leibe rücken. Doch König Morast war ein erbarmungs loser Feind: Er zog sich nicht mehr zurück, sondern ließ die Arbeitsmaschinen absaufen, betäubte die Gardisten, verbreitete Krankheiten und verursachte blinde Panik. Wenn es den Soldaten gelang, irgendwo ein Viertel zu erobern, brach in einem anderen ein wütendes Feuer aus, und die giftigen Gase, die ihm entströmten, zwan gen die Männer, sich zurückzuziehen. Auf dem Schlachtfeld blieben die robusten Panzer, die Bagger, die Pumpen zurück. Ein Stadtviertel nach dem anderen musste endgültig aufgegeben werden. Zahlreiche Men schen waren in der untergehenden Stadt eingeschlos sen. Sie kletterten auf die Dächer der letzten übrig gebliebenen Wolkenkratzer, von wo man sie mit Helikop tern zu retten versuchte.
In den Konferenzräumen der obersten Etage des RCA Center hatten sich sechshundert Werbestrategen zu einem Abschlussgespräch zusammengefunden. Die begabtesten Karriereplaner der USA wollten entschei den, in welcher Stadt sie künftig die schöpferische kommerzielle Kommunikation betreiben wollten, wenn New York endgültig verloren wäre. Im Rainbow Room in der fünfundsechzigsten Etage des Gebäudes saßen zur selben Zeit Hunderte Rundfunk- und Fernsehjournalis ten der NBC, die ihren Sitz im Haus hatte, bei einem gemeinsamen Abschiedsessen. Sie erhielten die Nach richt, dass die Ausgänge des Gebäudes geschlossen wurden, weil in den untersten Etagen Feuer ausgebro chen sei. Die Berichterstatter und die Werbeleute kämpften um die Plätze auf dem Dach, sie waren Kon kurrenzkampf gewöhnt. In Panik strebten sie auf die Helikopterlandeplätze zu. Das war das Ende dieser Vorkämpfer westlicher Kultur, die Rundfunkstimmen verstummten, die Fernsehbilder verschwanden. Nun gab es keine Betreiber von Werbekampagnen mehr, die mit ihren Botschaften die Menschheit beglücken konnten.
Unter den Letzten, die aus der Stadt flohen, waren die Mättös. John trug seine alte Mutter auf den Armen, ein Leidensweg für beide. Es war eine Februarnacht, und die gesamte Bronx wurde evakuiert, Manhattan war bereits vor Weihnachten aufgegeben worden. Die Aus fallstraßen waren bis weit in den Norden hinein ver stopft, Busse waren von der Straße abgekommen und Züge entgleist, Häuser brannten, die Sirenen heulten, und in der satanischen Finsternis flimmerten nur die Blinkleuchten der blind umherirrenden Krankenwagen und Polizeiautos.
»Wie gern hätte ich etwas gerettet«, klagte Eveliina Mättö, eine Nordkarelierin, die ursprünglich aus Valtimo stammte. »Aber ich konnte nicht mal die Kaffeekanne mitnehmen, auch nicht die Konfirmationsfotos, das Silber, die Perlen, alles, alles musste ich zurücklassen.«
Die Zerstörung war vollkommener als im Krieg. Die Luftstreitkräfte des Bundesstaates bombardierten zwei Wochen lang die Stadt mit schweren Waffen, um zu erreichen, dass der brodelnde Müll ins Meer floss. Die
letzten Wolkenkratzer wurden zu Schutt, das Feuer verbrannte alles, was noch übrig war, das Meer umspül te die rußigen Ufer. Üppige Weidenröschen und Weiden gebüsche sollten später aus dem Gemisch von Morast und Asche sprießen, doch zunächst wurde das gesamte Stadtzentrum New Yorks und weite Gebiete der Periphe rie zur verbotenen Zone erklärt. Ein hoher Zaun wurde um die zerstörte Stadt gebaut, das Betreten des Gelän des verboten. Der Außenwelt teilte man mit, dass man beschlossen habe, die Stadt zu verlegen. Die Zensur erklärte, dass man aufgrund der nachteiligen Auswir kungen des übermäßigen Bevölkerungswachstums den Bürgern die Möglichkeit geben wolle, sich unter ökolo gisch günstigeren Bedingungen anzusiedeln. Die Auto bahnen und Metrotunnel wurden am Rande der verlas senen Stadt gekappt, sie bekamen einen neuen Stre ckenverlauf, sodass sie »Most New York« umschlossen, das bald, weit von der ehemaligen Metropole entfernt, in die Höhe wuchs.
»Du liebe Zeit, was gab es dort für Mengen von Raben, you know«, erzählte Eveliina Mättö. »Sie flogen rum wie Mückenschwärme. Ich las in einer Zeitung, dass sie sich nachher bis nach Dakota ausgebreitet haben.«
29
In dem dichten Fichtenwald am Ufer des Flusses Tuo henjoki, der in den Südzipfel des Ukonjärvi mündete, befand sich das Winterquartier eines grimmigen alten Braunbären. Dabei handelte es sich übrigens um genau den, den Eemeli Toropainen auf der Rückfahrt von seiner Inspektion flüchtig gesehen hatte.
Es war der Spätfrühling 2014. Der Bär erwachte Ende Mai, als das Schmelzwasser in seine Höhle rann. Sein Hintern wurde nass. Ein solches Erwachen stimmt niemanden besonders positiv, selbst dann nicht, wenn der Frühling naht. Der Bär war im Alter recht schwach geworden, sodass er unter den Tieren des Waldes keine Beute mehr machen konnte. Die Hasen hoppelten da-von, die Hühnervögel flogen schon hundert Meter vor ihm auf, die Rehe sausten mit Windgeschwindigkeit ins weite Moor. Der Bär musste sich damit begnügen, in Ameisennestern zu stochern und in den Sümpfen nach überjährigen Moosbeeren zu suchen.
Er hoffte trotzdem auf bessere Zeiten. Wenn erst das Gras wuchs, würden die Menschen das Vieh auf die Weide treiben, und er konnte sich ein ungeschicktes Kalb oder ein umherirrendes Schaf einverleiben.
Passenderweise wurde das Vieh von Ukonjärvi zu die ser Zeit auf die üppigen Waldwiesen am Tuohenlampi-See getrieben. Gehütet wurde es von der alten finni schen Auswanderin Eveliina Mättö. Sie war insofern eine verwandte Seele des früheren Hirten Arkadi Lebedew, als auch sie Musik liebte und genau wie er vorzugsweise amerikanische. Hatte der Oberst dem Vieh melancholi schen Blues vorgespielt, sang Eveliina Mättö New Yorker Gospels. Die Tiere lauschten auch dieser Musik ernst. Da sie schon Bekanntschaft mit dem Blues gemacht hatten, klang ihnen der Gospelsound irgendwie vertraut.
Der alte Bär vom Tuohenjoki hingegen war kein Freund von Musik, eigentlich auch von nichts anderem. Übel gelaunt horchte er auf den krächzenden Gesang der alten Frau. Allerdings witterte seine Nase überaus leckeres Fleisch. Er schlich näher, um sich die Herde anzusehen.
Etwa hundert Tiere liefen auf der Weide herum, große Stiere, aber auch Kühe und Kälber. Der Bär plante, sich eines der Kälber vom Rande der Weide zu greifen, aber das singende alte Weib beunruhigte ihn. Um die alte Frau musste er sich zuerst kümmern, erst dann konnte er nach einem Kalb jagen. Einmal zupacken, und knacks, die Sache wäre erledigt, beschloss der Bär.
Kurz darauf fand im Wald am Tuohenlampi ein erbarmungsloser Kampf statt. Der Bär stürzte sich von hinten auf die alte Frau, die auf einem Baumstumpf saß, und wollte sie mit einem einzigen Schlag töten. Die Alte spürte jedoch die Gefahr, sie drehte sich um, schrie auf und wich zur Seite aus. Der Bär rannte vorbei, kehrte aber sofort wieder um.
Jetzt hatte die Alte einen Dolch in der Hand. Der Bär attackierte und schüttelte die kleine Frau, die sich jedoch widersetzte. Die Schneide des Dolches ritzte dem Bären die Brust und den Hals auf, traf sogar sein Maul. Das wütende Tier schleuderte die Widersacherin auf den Boden. Es hallte und dröhnte, als der Bär die alte Frau malträtierte, während sie laut um Hilfe rief. Es war ein ungleicher Kampf: Der Bär siegte, und die arme Alte, die so zäh gewesen war, unterlag und gab ihren Geist auf. Das grausame Schauspiel im Wald am Tuohenlampi war zu Ende.
Im Dorf erfuhren die Leute bald von dem Drama, denn die wild gewordenen Tiere rannten mit erhobenen Schwänzen und kotbespritzten Flanken in ihre Ställe. Als aus dem Wald die schwächer werdenden Hilferufe des alten Hirtenmütterchens und das Brüllen des Bären zu hören gewesen waren, war bereits die Partisanen kompanie alarmiert worden. Ihr Chef Naukkarinen schickte eine Streife an den Tuohenlampi, doch diese konnte nur noch das Geschehene zur Kenntnis nehmen; die alte Frau lag zerquetscht und übel zugerichtet unter einer Fichte. Sofort war klar, dass ein Bär das Unglück verursacht hatte.
Die ganze Partisanenkompanie rüstete sich zur Bä renjagd. Auch an Zivilisten wurden Gewehre ausgeteilt. Am eifrigsten war natürlich John Matto, der einzige Sohn der Verunglückten, bei der Sache. Die Hunde wurden auf die Spur des Bären gehetzt. Feldpröbstin Tuirevi Hillikainen segnete die Waffen und bat den Allmächtigen, den Jägern Erfolg zu bescheren. Denn im sommerlichen Ödwald einen Bären zu jagen ist eine schier unmögliche Aufgabe. Immer wieder kehrte die hundertköpfige Jägerschar müde und ohne die erhoffte Beute zurück.
Eveliina Mättö wurde auf dem Friedhof von Ukonjärvi beigesetzt und zur ersten Heldentoten des Dorfes er klärt. Auf ihren Grabhügel wurde ein quadratischer Feldstein gesetzt, in den der Somalischmied eine Kup ferplatte genietet hatte. Sie enthielt die Inschrift: Pro Ukonjärvi. Gefallen für das Vaterland.
Die Männer legten für den Bären hinter dem Hiiden vaara Kadaver aus. Tagtäglich streiften sie durch die Wälder. Nicht einmal Mittsommer mochten sie recht feiern; in aller Eile brannten sie am Abend ein Lagerfeu er ab, aber gleich am nächsten Morgen setzten sie die Jagd auf den Bären fort.
In der Woche nach Mittsommer führte die hartnäckige Jagd endlich zum Erfolg. Der Mörder des Ödwaldes fand am Rumavaara, etwa drei Kilometer nördlich des Hiiden-järvi-Sees, sein Ende. Ausgerechnet John Matto, der Sohn der Toten, feuerte den tödlichen Schuss in die Brust des angreifenden Tieres ab.
Die Jäger trugen den Bären auf Stangen ins Dorf. Eemeli Toropainen beschloss, ein anständiges Jagdfest auszurichten. Diese Beute musste zünftiger als andere gefeiert werden, schon allein Eveliina Mättö zu Ehren. Er schickte an die Schnapsbrennerei eine üppige Bestel lung.
Seppo Sorjonen hatte sich seinerzeit mit der finni schen Mythologie beschäftigt und schlug vor, das Jagd fest nach Art der Vorväter zu feiern. Der Vorschlag wurde nur zu gern akzeptiert.
Dementsprechend wurde an der höchsten Stelle des Hiidenvaara ein hundert Meter langer Tisch errichtet, ein Ende zeigte nach Norden, das andere nach Süden. In einer Schüssel wurde der Schädel des Bären auf den Tisch gestellt. Die Jäger und die anderen Festgäste setzten sich zum Mahl. Es gab Erbsensuppe mit dem Fleisch des getöteten Bären.
Bier und Schnaps flossen in Strömen. Viele der Fei ernden schnüffelten Fliegenpilzextrakt, wovon man fast verrückt wurde. Das Gelage dauerte den ganzen Tag. Am Abend wurden dann die Zähne aus dem Schädel des Bären gerissen. Den größten bekam der erfolgreiche Jäger John Matto, der sich den Zahn an einer Kette um den Hals hängte.
In den frühen Morgenstunden ordneten sich die Fei ernden zu einem langen Zug und trugen johlend den Schädel ans Ufer des Tuohenlampi, dorthin, wo der Bär die alte Eveliina getötet hatte. Hier ästeten sie eine hohe Kiefer ab und setzten den Schädel auf deren Spitze, und zwar so, dass die Augenhöhlen nach Norden zeigten.
Der Totenbaum wurde mit einigen Gebeten bedacht, anschließend wurde die Stelle »Romentola« getauft.
Am nächsten Tag ging die Feier weiter. In der folgen den Nacht wurden die Knochen des Bären in die Höhle gelegt, die die Hunde im Fichtenwald aufgespürt hatten. Das sollte bewirken, dass sich dort nie wieder ein Bär einnistete und dass das Vieh künftig Ruhe hatte. Die Höhle sah widerlich aus und stank grässlich.
Man beschloss, noch einen dritten Tag dranzuhängen. In der Nacht sahen die Feiernden, dass der Schädel an den Himmel gewandert und zu einem Stern geworden war, als Fortsetzung des Sternbildes Orion. In dieser Gewissheit fielen sie endlich auf dem Festplatz um.
Am Morgen des vierten Tages kam der »Fliegende En gel« zum Hiidenvaara gerannt. Das arme schwachsinnige Mädchen war schrecklich aufgeregt. Sie versuchte die Schlafenden wachzurütteln, denn sie hatte eine riesige Neuigkeit:
»Der dritte Weltkrieg ist ausgebrochen!« Die Botschaft kam nicht recht an. Die Leute lagen
schnarchend auf dem Heideboden, unfähig, am Weltge schehen Anteil zu nehmen. Eemeli Toropainen, der unter einem Wacholderbusch lag, hob den Kopf. Er sah das keuchende
Mädchen aus glasigen Augen an.
»Der dritte Weltkrieg? Tss…«
Es war der 28. Juni. Hundert Jahre zuvor waren in Sarajewo Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin erschossen worden. Na und?
30
Die Leute hatten den Kater des Jahrtausends. Die ganze Gemeinde Ukonjärvi lag halb tot auf dem Festhügel. Die Verderbtheit hatte so weit um sich gegriffen, dass sogar Feldpröbstin Tuirevi Hillikainen würgen und ihr Inners-tes nach außen kehren musste. Eemeli Toropainen hockte im Schatten des Wacholderbusches. Seine Stirn war mit Schweiß bedeckt, das Herz schlug unregelmä ßig, und ihm war, als hätte ihm eine starke und bösarti ge Kraft die Seele aus dem Leib gerissen. Die Nachricht, die der »Fliegende Engel« gebracht hatte, passte irgend wie zur Situation. Der Ausbruch des dritten Weltkrieges krönte gleichsam die allgemeine Katerstimmung.
Aber nichts auf dieser Welt währt ewig, nicht mal ein Kater. Der Chef der Partisanenkompanie, Stabsfeldwebel Sulo Naukkarinen, inzwischen ein fast siebzigjähriger Veteran, ging der Sache mit dem dritten Weltkrieg nach. Er suchte ein altes Kurzwellenradio hervor und stellte es auf die internationalen Sender ein. Jawohl, die Nach richt stimmte, daraus zu schließen, dass von allen Sendern mit unerhörter Wucht Kriegspropaganda ver breitet wurde. Nachrichten in vielen Sprachen schwirr ten durch die Atmosphäre, und pathetische Marschmu sik zerriss den Zuhörern fast die Ohren. Dem Sprachen gewirr war zu entnehmen, dass die regionalen Konflikte, die in den verschiedensten Teilen der Welt gewütet hatten, nun endlich hatten gebündelt werden können, sodass man mit gutem Grund vom dritten Weltkrieg sprechen konnte. Der Finnische Rundfunk spielte dem entsprechend Sillanpääs Marschlied, zwischendurch wurden Anweisungen für den Zivilschutz gegeben. Ein lautes Geräusch, das sich anhörte wie das Rattern einer Motorsäge, störte das Programm. Offenbar sägte der transkontinentale Feind am Baum der Kriegsberichter stattung.
Da sich Europa und somit auch Finnland im Krieg befand, rief Naukkarinen in Ukonjärvi ebenfalls den Kriegszustand aus. In der Praxis bedeutete das die verschärfte Bewachung der Gemeindegrenzen, die Einla gerung von Lebensmitteln und die Einberufung der jüngeren Reservisten zu zusätzlichen Übungen. Arkadi Lebedew und seine Landsleute wurden interniert und im Gefängnis von Rajakylä festgesetzt. Organist Severi Horttanainen, der schon allein wegen seines Alters zur Landwehr gehörte, wurde nach Kajaani geschickt, um Informationen darüber einzuholen, wie sich die finni sche Armee zum dritten Weltkrieg verhielt. Die Fragen lauteten: Aus welcher Richtung erwartete man den Angriff des Feindes? Beabsichtigte Finnland zu kämpfen und wenn, mit welchem Einsatz? Wo wollte man angrei fen, falls diese Alternative zur Debatte stand?
Horttanainen war noch sehr agil, obwohl er inzwi schen schon siebenundsiebzig war. Er kehrte nach ein paar Tagen aus Kajaani zurück und wusste zu berich ten, dass die Brigade von Kainuu »irgendwohin« ge schickt worden war, wohin genau, war Kriegsgeheimnis. Vermutlich in den Süden, auf die großen europäischen Kriegsschauplätze, etwa nach Polen, vermutete Hortta nainen, oder gar in die Alpen oder auf den Balkan, so jedenfalls lauteten die Gerüchte, die in Kajaani im Um lauf waren. Unter Umständen rief die Verteidigung Europas die finnischen Soldaten sogar in die entfernten Ecken des Kontinents.
In Kajaani herrschte insgesamt große Unruhe. Le bensmittel gab es in den Läden nicht mehr, alles war weggehamstert worden. Die Leute hatten Horttanainen gefragt, ob sie nach Ukonjärvi fliehen dürften, falls Kajaani bombardiert werde und es eine Hungersnot gebe. Horttanainen hatte gesagt, dass man keine Kriegs flüchtlinge aufnehmen könne, man habe vollauf zu tun, die eigenen Leute zu ernähren.
Die Brigade von Kainuu hatte Grenztruppen von der Stärke eines Bataillons zurückgelassen. Ihr Komman deur Major Ronkkanen hatte Horttanainen einen schrift lichen Befehl mitgegeben, in dem er die Partisanenkom panie von Ukonjärvi seinem Kommando unterstellte und sie anwies, an der Ostgrenze, im Gelände zwischen Kuhmo und Nurmes, einen Feldposten zu errichten. Aufgabe dieses Postens sollte es sein, die nationale Grenze zu schützen und dem Grenzbataillon von Kajaa ni Meldung zu machen, falls es in der Nähe zu Kriegs handlungen komme.
Wegen des hohen Alters von Stabsfeldwebel Naukka rinen ernannte Eemeli Toropainen den Kommissar von Ukonjärvi, Taneli Heikura, der den militärischen Rang eines Fähnrichs hatte, zum Chef der Partisanenkompa
nie, gleichzeitig beförderte er ihn zum Leutnant. Neuer Kommissar wurde der frühere Landwirtschaftsberater Jaritapio Pärssinen. Der Arzt Seppo Sorjonen wurde zum Feldscher ernannt, und Pastorin Tuirevi Hillikainen war bereits früher zur Feldpröbstin befördert worden.
Der Posten wurde am Berg Murtovaara am Ufer des Mujejärvi-Sees errichtet. Die Entfernung von der Kaser ne in Kalmonmäki bis dorthin betrug siebzig Kilometer, und bis zur russischen Grenze waren es dann noch gut zehn Kilometer. Nach Nurmes waren es fünf und nach Kuhmo sechs Kilometer.
Man begann sofort mit dem Bau der entsprechenden Befestigungen. Der Posten wurde als Stützpunkt einer Partisanenmannschaft angelegt. Es wurden zwei Unter stände für jeweils die halbe Mannschaft gegraben, zwi schen denen ein Schützengraben verlief. Unten am Berg wurden ein Unterstand für zwei Pferde und daneben ein Vorratslager errichtet. Ende Juli 2014, als der dritte Weltkrieg etwa einen Monat andauerte, war der Stütz punkt fertig und besetzt.
Aus Sicht der Soldaten war der Kriegseinsatz gemüt lich, sie patrouillierten in den Wäldern zwischen Kuhmo und Nurmes, einmal nahmen sie einen nach Westen strebenden russischen Flüchtling fest und überstellten ihn nach Kajaani, sonst war es ruhig. So konnte der Weltkrieg weitergehen, fanden sie. Was gab es Besseres als ständigen Aufenthalt im Freien, direkt am Ufer des fischreichen Mujejärvi-Sees, und hin und wieder einen Heimaturlaub zu Hause in Ukonjärvi.
Die erste Berührung mit der Wirklichkeit des Krieges stand den Dorfbewohnern erst im Herbst bevor, als die Seen vereist waren und der erste Schnee fiel. Sie hatten sich auf dem Dachreiter der Kirche aus Brettern eine Tribüne für die Luftüberwachung gebaut. Frauen und alte Männer taten hier Dienst, denn die waffenfähigen jungen Männer befanden sich entweder in der Ausbil dung oder waren am Feldposten eingesetzt.
An einem frühen Novembermorgen zerriss plötzlich das Geheul einer schweren Düsenmaschine die Stille. Das war etwas ganz Außergewöhnliches, denn in Finn-land waren wegen des Treibstoffmangels seit Jahren keine Verkehrsflugzeuge mehr unterwegs, und das Geräusch kam auch nicht von einem der kleinen Bom ber, die während des Krieges hin und wieder am Himmel zu sehen gewesen waren. Bei der Flugüberwachung tat gerade Stabsfeldwebel d. R. Sulo Naukkarinen Dienst. Er läutete die Kirchenglocke. Die Menschen kamen aus ihren Häusern gerannt und sahen mit Entsetzen, dass von Süden her ein schwerer viermotoriger Bomber U konjärvi anflog. Aus der Maschine lösten sich drei Fall schirme; der, der dem Ort am nächsten war, landete auf dem Eis des Sees, und die beiden anderen schwebten auf das Gelände am Tuohenjoki herab, wobei einer sich im Wipfel einer hohen Kiefer zu verfangen schien. Die Maschine flog sehr tief und machte so furchtbaren Krach, dass sich die Leute instinktiv bückten, als sie über ihre Köpfe hinwegdonnerte. Sulo Naukkarinen feuerte mit der Pistole in die Luft, was aber keine er kennbare Wirkung hatte.
Der Bomber verschwand hinter dem Waldrand, und das Geräusch verstummte. Kurz darauf war ein fernes Dröhnen zu hören, und ein helles Licht flammte am nördlichen Horizont auf. Der Bomber war abgestürzt.
Die Partisanen begannen, den Wald hinter dem See zu durchkämmen. In der Morgendämmerung fanden sie drei frierende Piloten, zwei hockten in den Sträuchern am Ufer, und der dritte hing im Wipfel einer großen Kiefer. Der Fallschirm des armen Kerls hatte sich so fest verhakt, dass man länger als eine Stunde brauchte, um ihn herunterzuholen. Eintönig rief er Allah um Hilfe an, als wäre er ein Muezzin, der auf dem Minarett stand und die Gläubigen zum Gebet rief. In der Einödlandschaft von Kainuu wirkte der Auftritt jedenfalls ziemlich exo tisch.
Bei Tageslicht betrachtet, zeigte sich, dass die Männer eine dunkle Hautfarbe und lockiges Haar hatten. Feinde aus der unmittelbaren Nachbarschaft konnten sie dem zufolge nicht sein, auch ihre Sprache klang nicht ver traut. Man holte einen Mitbürger herbei, der Englisch sprach, und es stellte sich heraus, dass es sich um Araber handelte, die Piloten stammten aus dem Nahen Osten.
Sie nannten ihren militärischen Rang und ihre Ein heit und zeigten ihren Militärpass, der jedoch mit Schriftzeichen ausgefüllt war, aus denen niemand schlau wurde. Ferner sagten sie, dass sie menschen freundliche und tierliebe Araber seien und dass man sie wie Gentlemen behandeln möge.
In den Verhören stellte sich heraus, dass die Piloten einige Stunden zuvor mit einer Wasserstoffbombe an Bord zu Hause gestartet waren, mit dem Befehl, die Last an einem bestimmten Punkt über Afrika abzuwerfen. Sie zeigten die Koordinaten vor. Man machte ihnen klar, dass sie nicht in Madagaskar seien, wohin die Codes wiesen, sondern in Kainuu. Darüber zeigten sie sich äußerst verwundert. Unterwegs hatten sie zwar kleine Meinungsverschiedenheiten über die Flugrichtung ge habt, aber mit einer so großen Abweichung hatten sie nicht gerechnet. Erst als sie im Morgengrauen durch Frost und Schnee über eine feindlich wirkende Einöd landschaft geflogen waren, waren sie auf den Gedanken gekommen, dass ihnen vielleicht doch ein Fehler in der Navigation unterlaufen war.
Eemeli Toropainen konnte sich nicht recht entschei den, ob die arabischen Piloten Feinde oder Freunde Ukonjärvis waren. Wie auch immer, sie wurden entwaff net und bekamen zu essen, bevor sie in das Gefängnis von Rajakylä gebracht wurden. Man beschloss, die internierten Russen aus den Zellen zu entlassen und unter Hausarrest zu stellen, denn sie hatten sich in der Anfangsphase des Weltkrieges als vertrauenswürdig erwiesen, und im Gefängnis war nicht genug Platz für sie und für die Araber.
Am Nachmittag fand man auch das abgestürzte Flug zeug. Es war von Ukonjärvi aus noch etwa zehn Kilome ter weiter geflogen und lag jetzt am Ufer des Löytölampi-Sees. Die Maschine hatte den See, der einen Kilometer lang war, von einem Ende bis zum anderen durchpflügt und dabei das Eis zermalmt, dann war sie auf dem nordwestlichen Ufer liegen geblieben. Die gewaltige Wucht der Bauchlandung zeigte sich daran, dass zwi schen dem zerbrochenen Eis Unmengen toter Fische lagen.
Das Flugzeug qualmte am Ufer vor sich hin. Es war eine viermotorige, um die Jahrtausendwende gebaute Iljuschin. Im Inneren fanden sich noch zwei tote Mitglie der der Crew. Ein Tragflügel war abgerissen, und der Rumpf lag halb auf der Seite. Vorsichtshalber wurde das Gelände abgesperrt, denn man wusste ja, dass sich in der Maschine eine Wasserstoffbombe befand, wenn nicht sogar mehrere. Wenn die Kernladung explodierte, wäre es um Ukonjärvi geschehen. Sonst wurde die Idylle am Ukonjärvi nicht weiter durch den dritten Weltkrieg gestört, außer dass man verschiedentlich Kunde von ihm erhielt. Eines dieser Zeichen fernen Kriegsdonners traf auf dem Schienenwege ein. Der Bahnhofsvorsteher von Valtimo teilte mit, dass für die Partisanenkompanie von Ukonjärvi wertvolle und geheime Kriegsfracht aus Frankreich eingetroffen sei.
Das Kollo wurde mit dem Pferdewagen abgeholt und nach Kalmonmäki in die Kaserne gebracht. Es war eine Holzkiste, etwa sechzig Zentimeter lang, einen halben Meter breit und zwanzig Zentimeter hoch. Sie wog mehr als dreißig Kilo und sah aus wie eine Obstkiste. Vorsich tig löste man den Deckel. In der Kiste lagen dicht ver packt merkwürdige schwarze Platten von der Größe eines Geldscheins und mit einer Dicke von etwa zwei Millimetern. Sie waren in Folie eingeschweißt und glüh ten eigenartig. Niemand wusste, welchem Zweck die Platten dienten, nicht einmal der Technikfachmann, Somalischmied Josif Nabulah, konnte sich einen Reim darauf machen. Ein Blatt mit einer Gebrauchsanwei sung lag dabei, eng in französischer Sprache beschrie ben. Niemand verstand den Text. Was also tun mit den sonderbaren Platten? Man sagte sich, dass es sich be stimmt um einen Irrtum handele, in Ukonjärvi brauchte man solche Gegenstände nicht. Allerdings stand auf der Sendung deutlich die Anschrift: Partisanenkompanie Ukonjärvi, Kainuu, Finnland.
31
Die am Löytölampi abgestürzte arabische Iljuschin wurde weiträumig mit einem Zaun umgeben, außerdem wurde eine Bewachung organisiert. Aus dem Rumpf der Maschine drang leichte radioaktive Strahlung, wie man mit einem alten Messgerät feststellte. Die Werte waren sehr gering, und so sagte man sich, dass die Strahlung keine große Gefahr bedeutete. Es wurde beschlossen, den Behörden nichts von dem Flugzeugabsturz mitzutei len. Andernfalls kämen sicher Experten, die alles genau wissen wollten. Darunter litte Ukonjärvis Selbstständig keit, Schnüffler brauchte man im Dorf nicht. Man fand, dies sei eine interne Angelegenheit.
Der Somalischmied Josif Nabulah montierte vom Flugzeug einige Teile ab, die er in seiner Schmiede gebrauchen konnte. Aus den Spezialmetallen ließen sich Ersatzteile für Landmaschinen herstellen, aus Alumini umblech konnte man zum Beispiel ausgezeichnete Kornsiebe für die Dreschmaschinen fertigen. Josif trug auch die Abschussvorrichtung für die Wasserstoffbombe in seine Schmiede und machte sich daran, die einschlä gige Fachliteratur über Kernphysik zu studieren.
Der Löytölampi-See fror wieder zu, Schnee fiel auf das Kriegsflugzeug. Bei Frost stieg aus dem Bombentrichter leichter Dunst auf, die Wasserstoffbombe lebte und war wohlauf. Die Bewacher beobachteten sie durchs Fern glas und fragten sich, was passieren würde, wenn die Bombe plötzlich explodierte. In jedem Fall fände ihre Wachschicht dann ein jähes Ende.
Somalischmied Josif Nabulah wandte sich an Eemeli Toropainen mit dem kühnen Plan, die Kernladung an einen sichereren Ort zu bringen. Er regte an, die Bombe vorsichtig aus dem Rumpf der Maschine zu lösen und mithilfe eines Flaschenzuges auf einen stabilen, speziell für diesen Zweck gebauten und mit Achsen versehenen Schlitten zu heben. Mit zwei vorgespannten Ochsenpaa ren könnte man die Massenvernichtungswaffe vom Ufer des Löytölampi wegschaffen. Stabsfeldwebel d. R. Sulo Naukkarinen schlug als Zielort das Gelände am Feldpos ten Murtovaara vor. Dort gab es keine zivile Besiede lung, und die Soldaten des Feldpostens könnten die Bewachung der Bombe nebenbei mit übernehmen. Es war nicht auszuschließen, dass man bei größeren Kriegshandlungen, bei denen die gewöhnlichen Artille riewaffen nicht ausreichten, auf die Kernwaffe würde zurückgreifen müssen. Man könnte sie heimlich hinter die Frontlinie schaffen, möglichst weit weg von den eigenen Truppen, und sie dort in Feindesland zünden. Wer das Zünden übernehmen würde, müsste, abhängig von der Situation, gesondert überlegt werden.
Eemeli Toropainen dachte über die Vorschläge nach. Wenn die Bombe an ihrem jetzigen Standort explodierte, vernichtete sie ganz Ukonjärvi mitsamt der Kirche. Es wäre gut, sie loszuwerden oder zumindest nicht in un mittelbarer Nähe zu haben. Er akzeptierte die Pläne und beauftragte Josif Nabulah, das Vorhaben zu leiten.
Anfang Januar wurde der robuste Schlitten fertig, er hatte Kufen, die sechs Zoll breit waren, und eine aus Kiefernbalken gebaute Achse. Vier Ochsen zogen ihn zum Löytölampi, wo die Bombe bereits mit einem Fla schenzug aus dem Flugzeug geholt worden war. Die Vernichtungswaffe hatte die Form eines Zylinders und war knapp drei Meter lang und einen halben Meter dick, ihr Gewicht schätzte der Schmied auf 2,2 Tonnen. Man hob sie in die Kiste, die auf dem Schlitten wartete, wobei man sehr behutsam vorging, obwohl dem Somali schmied kein Fall bekannt war, bei dem eine Kernwaffe durch Bewegung explodiert war. Allerdings waren sicher noch nicht viele Kernwaffen auf Schlitten transportiert worden, also war Vorsicht geboten.
Bis zum Murtovaara waren es siebzig Kilometer Luft linie. Da die Ochsen keine Vögel waren, wurde die Stre cke länger, denn man musste sich nach dem Gelände richten. Die Partisanen liefen auf Skiern voraus und räumten für das Ochsengespann eine Fahrspur. Der Transport kam langsam, aber sicher voran. Hinter der Kernwaffenladung lief ein Pferd, das auf einem Leiter schlitten das Heu für die Ochsen zog. Die Geschwindig keit war angemessen, etwa zwei Kilometer in der Stun-de, und alle Begleiter passten auf, dass sie nicht gegen die unberechenbare Fracht stießen.
Der Transport der Kernwaffe zum Murtovaara dauerte eine ganze Woche. Auf der Hälfte der Strecke wurde das Ochsengespann ausgewechselt, vier vor Kraft strotzende Zugtiere wurden aus Ukonjärvi geholt und vier erschöpf te in den heimatlichen Stall entlassen.
Der Ort, an dem das Gespann gewechselt wurde, lag etwa zwanzig Kilometer nordwestlich von Valtimo. Severi Horttanainen setzte sich auf die Bombenkiste und über nahm die Zügel. Hinter dem Schlitten gingen Eemeli Toropainen und Josif Nabulah. Tuirevi Hillikainen lenk te das Pferd, das den Heuschlitten zog. Die Partisanen waren vorausgelaufen, um den Weg zu bahnen.
Drei Kriegspolizisten, die auf Skiern aus Richtung Valtimo kamen, stießen auf die langsam dahinziehende Karawane. Horttanainen hielt die Ochsen an, woraufhin die Polizisten die Skier abschnallten und näher kamen, um den sonderbaren Transport in Augenschein zu neh men. Der Schlitten, der von ungewöhnlich robuster Bauart war, erregte ihr besonderes Interesse.
Die Polizisten baten Horttanainen abzusteigen, dann durchsuchten sie ihn nach Waffen. Dieselbe Behand lung erfuhren auch Eemeli Toropainen, Josif Nabulah und Pastorin Hillikainen, da die Streife sie nicht kannte. Die Polizisten erklärten, dass sie jetzt, da ein Weltkrieg herrschte, gerade in Grenznähe streng kontrollieren mussten, und zwar im Interesse der allgemeinen Sicher heit. Niemand durfte unerlaubt Waffen mit sich führen, das war im Krieg ein schweres Verbrechen.
Es fanden sich keine Waffen. Die Opfer der Kontrolle registrierten, dass die Kriegspolizisten eine Bierfahne hatten. Pastorin Hillikainen machte zum Anführer der Streife eine diesbezügliche Bemerkung.
»Gestern haben wir ein bisschen gefeiert…, heute ha-ben wir aber nicht viel getrunken«, beteuerte der Älteste der drei verlegen. Er deutete auf die große Holzkiste, die auf dem Schlitten lag, und fragte, was sie enthalte.
»Darin ist bloß eine Wasserstoffbombe«, erklärte Seve ri Horttanainen wahrheitsgemäß.
»Ja, klar, das haben wir uns fast gedacht«, die Polizis ten lachten. Sie waren ein wenig verwirrt. Ob sie die Fracht untersuchen mussten? In ihrem verkaterten Zustand war das ziemlich peinlich, aber in der Krise sind militärische Befehle auch für Kriegspolizisten bin dend, ob es ihnen passt oder nicht. Der Jüngste wurde angewiesen, den Inhalt der Kiste zu prüfen. Er hob den Deckel an und stellte fest:
»Keine Waffen, hier liegt bloß irgendein Fass.« »Was ist das für ein Fass?«, wollte der Anführer von
Horttanainen wissen.
»Eine Wasserstoffbombe, wie ich schon sagte.« »Ja, ja, aber jetzt mal im Ernst. Ist wohl Selbstge
brannter?«
»Nein, das ist kein Schnapsfass, sondern eine Wasser stoffbombe, glaubt es endlich.«
Tuirevi Hillikainen mischte sich ein: »Ihr lagert wohl selbst irgendwo im Wald euren
Selbstgebrannten.«
Der Anführer wurde nervös. Das Weib auf der Heu fuhre war ganz schön kiebig. Und dazu die dreisten Kerle und ein pechschwarzer Neger. Verflucht, was für ein Pack. So was musste einem gerade dann über den Weg laufen, wenn man verkatert war.
»Von mir aus können Sie weiterfahren. Ziehen Sie Ihr Fass meinetwegen bis zum Ural. Hauptsache, Sie trans portieren auf dem Schlitten keine Waffen«, entschied der Streifenführer. Er schnallte die Skier unter, die beiden anderen taten es ihm gleich, dann glitten sie in Richtung Valtimo davon. Horttanainen trieb die Ochsen an. Die Karawane zog weiter in Richtung Osten.
Am Murtovaara wurde die Bombe in einer eigens aus gehobenen Grube untergebracht, der stabile Schlitten diente als Gestell. Die Grube lag etwa einen Kilometer vom Feldposten entfernt, sie wurde getarnt und die Abschussvorrichtung in einem Erdloch versteckt. Die Ochsen hatten ihre Schuldigkeit getan. Man würde sie wieder holen, wenn das Dorf beabsichtigen sollte, den Atomkrieg zu führen. Es war schon ein beängstigender Gedanke, dass auf dem Stützpunkt nun eine funktions tüchtige Wasserstoffbombe bereitlag. Andererseits gab das den Partisanen ein stolzes Sicherheitsgefühl: Wenn sie die Bombe inmitten der Feinde zündeten, wäre es mit deren Angriffslust garantiert vorbei. In einem Weltkrieg war alles möglich.
Nach erfolgreicher Mission kehrten Eemeli Toropai nen, Severi Horttanainen, der Schmied und die Pastorin mit den Ochsen und dem Pferd nach Hause zurück, wobei sie einen Umweg über Valtimo machten. Dort luden sie zwei inzwischen eingetroffene französische Kriegslieferungen auf den Pferdeschlitten, zwei eben jener Holzkisten mit den sonderbaren Metallplatten, die mit bemerkenswerter Beharrlichkeit immer wieder aus Frankreich an die Partisanenkompanie von Ukonjärvi geschickt wurden. Eemeli Toropainen sagte sich, dass er sich wohl ein französisches Wörterbuch besorgen muss-te, um die mitgelieferten Anweisungen zu übersetzen.
Am Löytölampi fuhr der Somalischmied Nabulah mit der Demontage des Flugzeugrumpfes fort. In dem Dü senbomber fand sich erstaunlich viel Verwertbares. Allein hunderte Meter starken Kabels, das als Zugseil geeignet war, holte er aus dem Wrack. Für das Dampf kraftwerk gewann er ebenfalls viele nützliche Teile, und die Spulen aus der Turbine des Elektrizitätswerkes am Fluss konnte er bei der Gelegenheit gänzlich erneuern. Weitere Teile der Düsenmotoren legte Nabulah für eine künftige Molkerei beiseite, die teuren Metalllegierungen des Rotors würden sich ausgezeichnet als Material für eine Buttermaschine eignen. Zahlreiche Messgeräte wurden ebenfalls einer neuen Verwendung zugeführt, zum Beispiel bekam die Kräutertrocknungsanlage von Grünberg ein hoch empfindliches Gerät für die Messung der Luftfeuchtigkeit. Auf dem Dachreiter der Kirche brachte Nabulah den Impulsgeber eines Windmessers an, die Anzeigentafel, die er dem Cockpit des Flugzeugs entnommen hatte, befestigte er an der Schranktür in der Sakristei. Aus den Spanten des Flugzeugrumpfes schmiedete er Stubbenhaken und Pflugschare.
32
In diesem Winter wurden in Ukonjärvi zwei neue Zug garne fertig. Das Fischen mit dem Wintergarn erwies sich im Vergleich zum Sommer sofort als lohnender. Die Fangplätze im Südteil des Laakajärvi-Sees waren sehr ertragreich; gleich beim ersten Mal holten die Männer an die sechshundert Kilo kleiner Maränen heraus.
Im Spätwinter fischten die Männer beinah jeden Tag. Eemeli Toropainen konnte sich wegen seiner Herz krankheit nicht mehr an der schweren Arbeit beteiligen, aber er gab kompetente Ratschläge und war gern mit draußen auf dem schimmernden Eis des großen Sees. Er pflegte sich in seinen Kirchenschlitten zu setzen, der an den Fangplatz herangefahren wurde. Der Schlitten wurde so gedreht, dass Eemeli die Sonne von vorn hatte und sich bräunen konnte, während er die Männer bei ihrer Arbeit beaufsichtigte. Der frische Wind rötete sein Gesicht, und die Sonne besorgte den Rest. Oder war die Gesichtsfarbe auf den feurigen Kräuterschnaps zurück zuführen, von dem Eemeli ab und an einen Schluck nahm?
An diesen goldenen Wintertagen war hoch oben am blauen Himmel hin und wieder ein weißer Streifen zu sehen, der sich schnell vorwärts bewegte. Es war nicht die Spur eines Düsenflugzeugs, sondern die einer klei neren Energiequelle. Wenn man solch einen sonderba ren Streifen durchs Fernglas betrachtete, konnte man feststellen, dass da eine Rakete, die auf tödliche Mission geschickt worden war, am Himmel entlangflog. Die Flugbahnen durchkreuzten den Himmel im Nordosten und Südwesten. Die Massenvernichtungswaffen hinter ließen ein wunderschönes Schnittmuster im All, obwohl sie in furchtbarem Auftrag unterwegs waren. Wahr scheinlich würden Hunderttausende Menschen sterben, wenn die mit Atomsprengköpfen bestückten Raketen ihr Ziel erreichten.
Jedes Mal, wenn einer dieser Boten des Weltkrieges über den Fangplatz hinwegflog, verstummte das fröhli che Gespräch der Männer, sie schauten zu diesem Selbstmordwerkzeug der Menschheit auf, und es dauer te eine Weile, ehe ihre Unruhe verflog und sie sich wie der ihren alltäglichen Verrichtungen zuwenden konnten.
Die Fangstellen der Stiftung waren zweihundert Meter breit und mehr als dreihundert Meter lang. Am Anfang befand sich die Einlassöffnung, von dort ging nach beiden Seiten je eine Reihe von Eislöchern weg, und zwar in zweimal winklig gebrochener Linie bis hin zur Aufholeöffnung. Der Abstand zwischen den Eislöchern betrug dreißig Schritt. Die Zugleinen wurden an langen Flößstangen von Loch zu Loch geschoben, wobei die Stangen aus mehreren Teilstücken zusammengesetzt waren, und an einem Ende befand sich der Ring für die Zugleine.
Eemeli Toropainen besaß zwei Garne für diese Art des Fangs. Mit dem einen wurde hier im Laakajärvi gefischt, mit dem anderen im Hiidenjärvi, im Ukonjärvi oder in einem anderen See. Das Garn für den Laakajärvi war das größere, es war mehr als zweihundert Meter lang und zwölf Meter hoch. Die Simme bestanden aus selbst gewebtem Hanf, als Zugleinen diente Kabel aus dem arabischen Düsenbomber.
Am frühen Morgen rückte der Trupp mit Sack und Pack an: sechs Männer und ein paar junge Burschen als Gehilfen, dazu Eemeli Toropainen als Chef mit Pferd und Schlitten, ferner zwei Ochsen, die die Schlitten mit dem Garn und den übrigen Geräten zogen und die auch nachher bei der Arbeit als Zugtiere eingesetzt wurden. Oft kam auch Feldpröbstin Tuirevi Hillikainen mit hin aus, die bei der Arbeit gut und gern zwei Männer ersetz te. Auf dem Eis wurde zunächst ausgeladen: das Garn und Eisbeile, die Stangen für die Zugseile, spezielle Gabeln zum Schieben der Stangen und viele andere Geräte wie Trampen und Flößhaken, mit denen man unter dem Eis schwimmende Stangen suchen konnte. Die Ochsen trugen auf den Flanken derbe lederne Schwimmwesten, die mit Heu gefüllt und mit breiten Riemen befestigt waren – eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass die schweren Tiere durch das Eis bra chen. Gleichzeitig waren sie auf diese Weise vor dem scharfen Frostwind geschützt, der über den See wehte.
Wenn alles fertig war, gab Eemeli Toropainen das Kommando zum Start. Zwei Männer führten die Stangen durch die Einlassöffnung unter das Eis, ausgerichtet auf je eine Reihe der Eislöcher. Zwei weitere hackten die in der Nacht zugefrorenen Löcher auf, und die beiden letzten ließen das Garn ins Wasser gleiten. Es war eine aufregende, ja, spannende Aktion. Niemand konnte vorhersagen, wie groß der Fang sein würde. Für ge wöhnlich faltete Tuirevi Hillikainen in dieser Phase der Arbeit die Hände und bat den Allmächtigen um mög lichst reiche Beute.
Wenn die Stangen bis an den ersten Winkel gescho ben worden waren, wurden sie mit einer speziellen Gabel in die neue Richtung gelenkt. Dann wurden die Zugleinen ausgezogen, um Flügel und Stert des Garns unter Wasser in gerader Linie auszubreiten. Für diese schwere Arbeit wurden die Ochsen angespannt, zwei Männer setzten sich auf ihren Rücken, und an den Sielen wurde jeweils das Ende des Zugseils befestigt. Die Ochsen stampften mit gebeugten Köpfen über den See, langsam und wuchtig. An den Ecken wurde gewendet, hin zur Aufholeöffnung, und die Ochsen gingen nun aufeinander zu. Dabei dauerte der gesamte Vorgang länger als eine Stunde. Die Ochsen näherten sich, gin-gen hinter der Aufholeöffnung aneinander vorbei und zogen die Flügel des Garns über Kreuz. Nach dem Mittag kam die spannende letzte Phase: Mit langen Trampen scheuchten die Männer die Fische in den Stert des Garns, der, von den Ochsen gezogen, langsam herauf kam. War der Stert endlich oben, sahen die Männer, welche riesigen Mengen Fisch sie gefangen hatten. Das Garn wurde in die Zuber, die im Schlitten standen, entleert. Es war eine schweißtreibende, aber erfreuliche Arbeit. Das silbrige Gewimmel nahm kein Ende, ein Gefäß nach dem anderen füllte sich, immer neue Fässer wurden herangerollt. Wenn das Netz endlich leer war, konnte man das Ergebnis prüfen. Dutzende von Gefä ßen voll mit Edelfisch, insgesamt mehr als 1200 Kilo! Feldpröbstin Tuirevi Hillikainen dankte Gott mit warmen Worten für den Fang.
Nach getaner Arbeit versammelten sich Menschen und Tiere auf einer kleinen Insel mitten im See, wo die Gehilfen ein Lagerfeuer entzündet und mehrere Unter stände als Windschutz errichtet hatten. Über dem Feuer wurde Fischsuppe gekocht, wobei man nicht mit Butter sparte.
Am Abend ging der Mond über dem Laakajärvi auf. Von der Russenhalbinsel klang das Geheul eines Wolfes herüber. Die Hunde wurden unruhig und knurrten. Die Ochsen blieben gleichgültig. Sie wurden nach der Mahl zeit vor die Schlitten gespannt, und dann fuhr die ganze Mannschaft ans Ufer. Eemeli Toropainen stieg zusam men mit der Feldpröbstin in seinen Kirchenschlitten und trieb den Hengst an, es ging heimwärts in Richtung Ukonjärvi. Die Schlittenglöckchen klingelten, der Mond schien, die Stimmung war prächtig. Tuirevi Hillikainen zupfte Eemeli am Ärmel und zeigte an den vom Mond beschienenen Himmel. Eine einsame Rakete zog dort einen hellroten Streifen über das Himmelszelt, an dem zahllose Sterne funkelten.
33
Am 13. Juni im Jahre 2015 ging die Sonne in gewohn ter, in Jahrmillionen erprobter Weise auf. In den Mor genstunden war die Luft klar, doch gegen elf Uhr begann es seltsam zu dämmern. Eine schwarze, schleierähnli che Wolke zog von Osten über den Ukonjärvi-See, sie wurde rasch dunkler, sah immer bedrohlicher aus und bedeckte bald den ganzen Himmel. Es war völlig wind-still. Die Vögel hörten auf zu singen, die draußen wei denden Schafe suchten Schutz unter den Bäumen, und die Bullen stellten sich im Kreis auf.
Es war ein seltsames Unwetter. Die Menschen gingen in ihre Häuser, aber draußen fiel kein einziger Wasser tropfen. Stattdessen begann schwarzer Staub vom Himmel zu schweben, ein sonderbarer feinpulveriger Ruß. Gegen Mittag verdunkelte sich die seltsame Wolke immer mehr. Um dreizehn Uhr herrschte völlige Fins ternis. Die Radiosender waren nicht mehr zu empfan gen.
Die Luft war erstickend feucht. Eemeli Toropainen schickte eine Nachricht in jedes Dorf seiner Gemeinde und forderte die Bewohner auf, in Kellern und Erdhöh len Schutz zu suchen. Sie sollten das Gesicht mit einem feuchten Tuch bedecken und genügend Trinkwasser mitnehmen.
Im Schein einer Taschenlampe kletterte der tapfere Sulo Naukkarinen auf den Kirchturm und läutete die Glocke. Sie klang gedämpft, als wäre der bronzene Klöp pel mit Mull umwickelt.
Feldpröbstin Tuirevi Hillikainen begab sich vom Pfarrhaus in die Kirche. Sie zündete Kerzen an, trat in dem gespenstischen Licht vor den Altar und kniete nieder. Dort betete sie lange und erbat vom Allmächti gen Schutz und Gnade für die Menschheit und für Ukonjärvi.
Die undurchsichtige schwarze Finsternis hielt den ganzen Tag, die folgende Nacht und auch noch den nächsten Vormittag an. Erst am Nachmittag des zweiten Tages kam Wind auf. Schwarze Asche wirbelte wie im Schneesturm über das dunkle Land. Die Wolkenmasse bekam Risse, es wurde heller. Dann ging ein heftiger Sturzregen nieder; Blitze zuckten, der Donner grollte, als wäre der Himmel aus Stein und würde jetzt gesprengt. Die Bäume bogen sich, an den Fenstern floss in Rinnsa len rußiges Wasser hinunter. Die Pfützen, Bäche und Flüsse wurden schwarz wie Kienruß, die Wellen des Ukonjärvi, die an die Uferfelsen schlugen, hatten dun kelgraue Schaumköpfe. Das Unwetter wütete den gan-zen Abend und die Nacht über der Einöde. Die Flüsse schwollen an, Bäume knickten um, Schindeldächer wurden abgerissen.
Endlich, am Morgen des 16. Juni, verzogen sich die letzten Wolkenfetzen vom Himmel, der Sturm ließ nach, und die Sonne kam hervor. Die kleinen Vögel putzten den Ruß aus ihrem Gefieder und begannen aus voller Kehle zu singen. Die Kernfinsternis des dritten Weltkrie ges war vorbei.
Eemeli Toropainen befahl der Partisanenkompanie, Strahlungsmessungen durchzuführen. Zu Pferde eilten die Soldaten an einzelne Punkte der Gemeinde und nahmen Proben aus dem Boden und aus dem Wasser, das immer noch schwarz war. Die Strahlungswerte waren erheblich gestiegen, aber sie waren wesentlich niedriger als in den Anfangsstunden der langen Finster nis. Eemeli ordnete an, dass die Leute eine Woche lang in ihren Häusern bleiben und sich nicht waschen soll ten. Die Partisanen ritten durch die Dörfer und kontrol lierten, ob die Anordnung eingehalten wurde.
Bald erfuhr man auch den Grund für das Ereignis. Als die Rundfunkprogramme wieder zu empfangen waren, berichtete ein italienischer Piratensender, dass die Wolke eine Folge der starken Kernladungen gewesen war, die in verschiedenen Teilen der Welt gezündet worden waren. Aus der verbrannten Erde waren Un mengen von radioaktivem Staub aufgestiegen. Dieser hatte sich in den oberen Luftschichten gesammelt und war schließlich so dick geworden, dass die Sonne nicht mehr hindurchdrang. Die Riesenwolke war über Asien, Europa und Ukonjärvi hinweggezogen. Es war die schwarze Hexenküche des dritten Weltkrieges gewesen, schlimmer und gewaltiger als ein Feuersturm.
Die finnischen Zensurbehörden erklärten, dass diese so genannte »Junifinsternis« von anderthalb Tagen Dauer ein natürliches Ereignis gewesen sei, das aller dings ziemlich selten auftrete. Dergleichen komme vor, wenn sich in der Atmosphäre Industriegase angesam melt hatten, die sich dann mit den verschiedenen Ur stoffen verbanden und so eine ungewöhnlich starke, lichtundurchlässige Wolkenformation verursachten. Die Bischöfe wiesen in ihren Stellungnahmen auf die aus der Bibelgeschichte bekannte »Ägyptische Finsternis« hin.
Wie auch immer, die Sonne schien und die Vögel san-gen wieder. Das Leben in Ukonjärvi verlief bald in den üblichen Bahnen. Der Weltkrieg ging weiter, das Gras wuchs, die Ochsen wurden dicker.
Schon ein ganzes Jahr lang hatten Eemeli oder einer seiner Leute vom Bahnhof Valtimo regelmäßig die fran zösischen Kriegslieferungen abgeholt. Die Kisten trafen einmal pro Woche ein, immer unverändert im gleichen Takt. Für welchen Zweck die darin verpackten dünnen Metallplatten bestimmt waren, wusste immer noch niemand. Die verschiedensten Vermutungen wurden angestellt. Sollten diese seltsamen Platten vielleicht Ersatzteile für irgendeine militärische Anlage sein? Womöglich dienten sie auch zur Erkennung im Nacht krieg, denn sie glühten ja schwach in der Dunkelheit. Oder vielleicht waren sie die Verkleidung für irgendein geheimnisvolles Instrument, dienten womöglich zum Schutz vor atomarer Strahlung.
Der Somali Josif Nabulah hatte die Platten in seiner Schmiede erhitzt und mit dem Hammer bearbeitet. Er hatte festgestellt, dass sie außerordentlich bruchfest waren, sie schmolzen nicht leicht, und so ließen sich aus ihnen ausgezeichnete Gleitlager herstellen. Eine weitere Verwendung der Platten wurde durch ihre un gewöhnliche Härte erschwert, sie ließen sich nur sehr schwer verformen.
Severi Horttanainen hatte sich für die Platten eine, wie er fand, ausgezeichnete Verwendung ausgedacht. Er hatte damit den Ofen in seiner Hütte am Hiidenvaara gekachelt. Und weil genügend Platten da waren, hatte er auch noch den Fußboden vor dem Ofen gefliest. Er fand, dass sein Ofen außerordentlich schön geworden war. Die französischen Platten bewirkten, dass er immer einen schwachen Schein abgab, auch wenn er gar nicht in Betrieb war. Am schönsten aber sah es aus, wenn Severi im Ofen ein Feuer entzündete. Dann loderten die Flammen hinter der glühenden Außenhaut, und es war äußerst gemütlich. Dass die glühenden Platten eine gefährliche Strahlung absondern könnten, kam ihm gar nicht in den Sinn.
Seppo Sorjonen entschlüsselte schließlich das Ge heimnis um die ominösen Platten. Er besorgte sich ein französisches Wörterbuch, mit dessen Hilfe er die mitge schickte Gebrauchsanweisung übersetzte.
Aus der Anweisung ging hervor, dass die Sendungen vom Ersatzlager für Spezialwaffengattungen der militä risch-technischen Industrie des Vereinigten Europa kamen. Die Platten waren für Dichtungsmessungen in der Atmosphäre und für die Analyse der erhaltenen Ergebnisse vorgesehen. Sie waren so etwas wie Impuls geber, mit deren Hilfe festgestellt wurde, welche Stoffe jeweils in der Luft schwebten.
Die Anweisungen besagten, dass die Platten vorsichtig aus der Kiste herausgenommen werden sollten, wobei die sensible glühende Oberfläche nicht berührt werden durfte. Anschließend sollten sie in zwei Metern Höhe angebracht werden, zum Beispiel an einem Baum oder einem Gebäude, etwa so wie die Kontrollhäuschen für die Wetterbeobachtung. Der Abstand zwischen den einzelnen Indikatoren sollte einen Kilometer betragen. Nachdem die Platten drei Tage und drei Nächte draußen unter freiem Himmel gewesen waren, sollten sie durch ein spezielles Analysegerät geschickt werden. Die ge brauchten Platten und die Analyse hätten schnellstens und auf geheimem Wege nach Frankreich zurückge schickt und gleichzeitig hätten wieder neue Platten draußen angebracht werden müssen. All das wäre Auf-gabe der Partisanenkompanie gewesen. In dem Papier wurde auf die militärische Bedeutung der Messungen hingewiesen und betont, dass die Unterlassung ein Kriegsverbrechen sei, auf das unter Umständen die Todesstrafe folge.
Als Eemeli Toropainen die Übersetzung las, wurde er nachdenklich. Er hätte sich besser gleich, als die Kisten auftauchten, darum kümmern sollen, was es damit auf sich hatte. Hier hatte er jetzt ein Problem, das nicht so einfach zu lösen war. Eemeli fuhr nach Hiidenvaara, um sich mit Severi Horttanainen zu beraten. Vielleicht fiele dem alten Freund etwas ein.
Severi überflog den Text und war keineswegs beunru higt. Den Hinweis auf die Todesstrafe tat er mit einem Lachen ab. Seiner Meinung nach sollten die Bürokraten des Absenders, also des Ersatzlagers für Spezialwaffen gattungen, wenn sie ihre eigene Haut retten wollten, lieber in Frankreich bleiben. Die Partisanen von Ukon järvi ließen sich nicht durch diese Rotweinnasen ins Bockshorn jagen.
Eemeli staunte, dass Severis Ofen so merkwürdig glühte. Bei seinem letzten Besuch hatte das Ding ganz gewöhnlich ausgesehen.
Daraufhin erzählte Severi, dass er ihn mit den franzö sischen Platten gekachelt habe. Besonders abends im Dunkeln sehe es sehr schön aus, wenn sie glühten.
Eemeli Toropainen bekam einen Schreck. Hatte Severi keine Angst vor Strahlung? Der Kerl hatte wahrhaftig rotzfrech seinen Ofen mit geheimem Kriegsmaterial verziert.
Severi ließ sich nicht von Eemelis Furcht anstecken. Er sagte, dass er sich nichts aus Strahlung mache, das bisschen Glühen könne einem alten Haudegen wie ihm nichts anhaben, es sei ebenso ungefährlich wie das der Glühwürmchen in der Sommernacht.
»Schreib den Kerlen in Frankreich, dass wir nie ein Analysegerät besessen haben und dass sie sich von jetzt an die Platten in den Hintern stecken sollen.«
Eemeli Toropainen schickte tatsächlich eine geheime Botschaft an das Ersatzlager. Dies bewirkte lediglich, dass nun statt einer jedes Mal zwei Kisten auf dem Bahnhof von Valtimo eintrafen, von denen eine eine finnischsprachige Anweisung enthielt. Diese Praxis wurde bis zum Ende des Krieges beibehalten.
Als Eemeli wieder einmal gemeinsam mit Severi Hort tanainen im Pferdewagen unterwegs war, um zwei Kis ten vom Bahnhof abzuholen, stießen sie auf eine Horde wild aussehender Männer. Am südlichen Ende des Hiidenjärvi-Sees stürmten mehr als zehn schwarzbärtige Reiter aus dem Wald. Es waren Donkosaken.
Der Anführer fragte, ob sie in Finnland seien. Als Ee meli bejahte, erklärte der Mann, dass er mit seiner Patrouille unterwegs sei, um vor einer riesigen Horde von Frauen zu warnen, die sich durch die Wälder arbei teten, mindestens vierzigtausend seien es.
34
Der schnauzbärtige Ataman radebrechte Englisch, um sich verständlich zu machen. Die Kosaken seien die inoffizielle Vorhut, die Kundschafter des Frauenkreuz zuges. Er wolle den finnischen König sprechen, falls ein solcher regiere, oder zumindest den nächsten Stammes häuptling. Eemeli Toropainen lud den Ataman in sein Haus ein.
Der Ataman überreichte Eemeli einen Krummsäbel mit Scheide als Geschenk. Eemeli ließ Essen auftragen. Während der Mahlzeit erklärte der Ataman sein Anlie gen.
Er und seine Männer waren bereits im dritten Jahr unterwegs. Im Dontal waren seinerzeit Tausende von weiblichen Flüchtlingen aufgetaucht, die ursprünglich aus Indien und Pakistan kamen. Im Süden Asiens wa ren viele lokale Kriege geführt worden, und die Frauen und Kinder hatten darunter am meisten gelitten.
Anfangs hatten nur ein paar Hundert Frauen die Flucht angetreten, um in nördliche, ruhige Regionen auszuwandern. Ihre Kinder hatten sie mitgenommen, nicht jedoch die Männer und die größeren Söhne. Es war eine lautlose Antikriegsdemonstration des weibli chen Geschlechts, die Frauen hatten die Krieger verlas sen und waren vor dem Krieg geflohen. So erklärte es der Ataman und äußerte zugleich sein Befremden über dieses Verhalten.
Die Frauen waren in loser Gruppe durch Afghanistan und vorbei am ausgetrockneten Aralsee und bis auf die Ostseite des Kaspischen Meeres gezogen. Nachdem sie das Letztere umwandert hatten, hatten sie sich nach Westen gewandt und waren ins Donbecken gekommen, wo sie unter den Kosaken Helfer geworben hatten, denn bekanntlich hatten Frauen (und Araber) einen schlech ten Orientierungssinn. Die Schar war ständig gewach sen, besonders, nachdem der dritte Weltkrieg ausgebro chen war. In den besten Zeiten waren es fast sechzig tausend Frauen gewesen, die unterwegs waren, und wenn man die Kinder mitzählte, insgesamt sogar hun derttausend Personen. Nur ein paar alten Männern war gestattet worden, sich anzuschließen.
Die Kosaken durften nicht im Lager der Frauen woh nen, obwohl es ihnen durchaus gefallen hätte, sondern sie mussten vor dem Zug herreiten, den Weg auskund schaften und Beziehungen zu den Völkern anknüpfen, deren Gebiet die Karawane überquerte, außerdem muss-ten sie sich als Dolmetscher betätigen.
Der Ataman sagte, dass er Ende des vergangenen Jahrtausends auf dem Sprachgymnasium von Irkutsk Englisch gelernt habe. Jetzt sei er sechzig Jahre alt.
Eemeli Toropainen wollte wissen, warum ausgerech net ein Kosakenführer vom Rang eines Atamans als Anführer einer kleinen Reiterstaffel in fremden Ländern unterwegs war.
»Mir blieb nichts anderes übrig. Kurz nach dem Ein treffen der Frauen marschierten nämlich eine Million Uiguren im Donbecken ein, sie kamen nicht zu Fuß, sondern mit Panzern.«
Eemeli fragte, warum sich die Frauen nun gerade Finnland als Ziel gewählt hatten. War das Klima nicht zu kalt für Menschen aus dem Süden?
Der Ataman erzählte, dass die Frauen unterwegs in Nowgorod überwintert hatten. Das hatte sie abgehärtet. Sie beabsichtigten, so lange zu wandern, bis sie einen ruhigen Winkel auf dieser Welt fänden, in dem sie sich mit ihren Kindern niederlassen könnten. Da ein Welt krieg wütete, mussten sie Mitteleuropa meiden, sodass es ihnen vernünftig erschienen war, nach Norden zu ziehen.
Der Ataman lud Eemeli im Namen der Anführerin der wandernden Frauen zu einem Gespräch ein; sie wollte mit ihm über die Möglichkeit verhandeln, sich in Ukon järvi oder der näheren Umgebung niederzulassen. Der Ataman empfahl Eemeli, nicht allein zu kommen, da er ein Mann sei, sondern wenigstens ein paar seiner Ehe frauen mitzunehmen. Er hatte doch sicher welche? Das Gespräch würde in einer freundlicheren Atmosphäre verlaufen, wenn auch Frauen dabei wären.
Eemeli borgte sich von Taneli Heikura seine frühere Frau Henna aus und ließ sich dann mit ihr und Taina zu den fremden Frauen führen.
Sie ritten zum Kuohattijärvi-See, bis dorthin waren es elf Kilometer. Der See war zehn Kilometer lang, er lag nordnordöstlich von Nurmes, auf halbem Wege zum Feldposten am Murtovaara. Die Partisanen befanden sich gerade auf Streife und stellten die Gruppe unter ihren Schutz. Gemeinsam mit den Donkosaken führten sie Eemeli und seine beiden Frauen ans Ziel. Am West zipfel des Sees trafen sie auf die Wächterinnen, die mit Flinten und Speeren bewaffnet waren. Die kriegerisch wirkenden Frauen verlangten einen Passierschein. Die Kosaken erklärten ihnen, dass dies nun der hiesige finnische König sei. Eemeli durfte weiterreiten. Die Partisanen und die Kosaken wurden nicht durchgelas sen, sie mussten warten.
Eemeli Toropainen ritt mit seinen beiden Frauen am Nordufer des Sees entlang. Das Lager der wandernden Frauen erstreckte sich über eine Länge von zehn Kilo metern. Überall standen Zelte, und davor brannten Lagerfeuer, an denen die Frauen das Essen zubereite ten. Die meisten von ihnen trugen lange, bis auf den Boden reichende Kutten und an den Füßen Sandalen, einige waren barfuss. Es waren Frauen jeden Alters, junge und alte, und kleine Kinder tummelten sich zu ihren Füßen.
Der Tross stand auf einer Landzunge am Nordufer, es waren Hunderte von Wagen und die dazugehörigen Zugtiere, hauptsächlich Esel, aber auch Ochsen, Pferde und ein paar Kamele. Hunde bellten in der Nähe des Trosses, und zwischen den Zelten huschten hier und da Katzen herum. Außerdem gab es Unmengen von Hühnern und Schafen. Alles in allem gewann Eemeli den Eindruck, dass die Frauen bestens ausgerüstet waren, wie eine gut geführte Armee mit gesicherter Proviant- und Versorgungslage.
Obwohl das Lager riesengroß war, immerhin lebten dort mehr als vierzigtausend Frauen und Kinder, dazu Tausende von Tieren, war es gut organisiert und sehr sauber. Die Frauen wuschen im See Wäsche und häng ten sie zum Trocknen auf die Leine, viele badeten ihre Kinder oder schwammen selbst im Wasser. Von den Zelten klang fröhliches Geplapper herüber, und aus verschiedenen Richtungen war schöner Gesang von Frauenchören zu hören. Die Worte klangen fremd in Eemelis Ohr.
Die Anführerin war eine etwa sechzigjährige, große Frau mit einer Adlernase. Ihrer dunklen Hautfarbe nach mochte sie eine Inderin sein. Sie hatte eine königliche Haltung und war auch sonst eine eindrucksvolle Er scheinung. Im Übrigen sprach sie ausgezeichnet Eng lisch.
Sie empfing Eemeli unter freiem Himmel am Ufer des Sees. Als Erstes fragte sie, welche Bedeutung der Name des Sees habe. Als sie hörte, dass dieser auf die Kastra tion männlicher Tiere hinwies, huschte über ihr Gesicht ein schönes, wissendes und sehr weibliches Lächeln.
Die Königin der wandernden Frauen hielt zunächst eine kurze, aber kernige friedenspolitische Ansprache, in der sie das männliche Geschlecht wegen seines Hangs zu Kriegen und anderen Gräueltaten geißelte. Dann fragte sie, ob es in dieser Gegend in jüngster Zeit Kriegshandlungen gegeben habe. Sie wolle ihr Volk wegführen von allen Kriegen, und daher wünsche sie Informationen über die Situation in Finnland.
Eemeli Toropainen konnte vermelden, dass in der Ge gend nicht unmittelbar gekämpft worden sei, allerdings habe man Bomber und vor allem Raketen am Himmel gesehen. Und natürlich habe sich die »Junifinsternis« auch hier ausgewirkt.
Nun teilte die Frau mit, dass sie und ihre Schicksals gefährtinnen überlegten, ob sie sich in Ukonjärvi nieder lassen sollten. Die Kosakenpatrouille habe viel verspre chende Informationen von dort mitgebracht.
Für einen kurzen Augenblick spielte Eemeli mit dem Gedanken, die vierzigtausend Frauen bei sich aufzu nehmen. Im ersten Moment schien es ihm keine so üble Idee zu sein, mit den exotischen Gästen zu leben. Scha de nur, dass er nicht mehr der Jüngste war. Er betrach tete das lebhafte Gewimmel im Lager und die nackten, dunkelhäutigen Gestalten, die im See schwammen. Wenn sein Herz nur nicht so schwach wäre…
Eemeli Toropainen erklärte in offiziellem Ton, dass er keine so große Zahl von Frauen aufnehmen könne. Im Prinzip reize ihn zwar das Angebot, doch die Ressourcen von Ukonjärvi reichten bei weitem nicht aus, um so viele Mäuler zu stopfen. Außerdem sei seine Partisanenkom panie verpflichtet worden, alle ausländischen Eindring linge fern zu halten, ob es nun feindliche Soldaten oder beispielsweise Frauen seien. Ukonjärvi gehöre immerhin zu Europa, und insofern galten auch für ihn die europä ischen Gesetze.
Er verriet auch, dass sich auf seinem Gebiet eine Kernwaffe befand, was ein gewisses militärisches Risiko darstelle. Sollte sich die Waffe von selbst zünden, wäre die ganze Gegend zerstört. Er wollte nicht den Tod von vierzigtausend Frauen riskieren.
Eemeli breitete die finnische Landkarte auf dem Ra-sen aus. Die kleine Gesellschaft kniete nieder, um sie zu studieren. »Ich empfehle Ihnen, Ihr Volk nach Ostbott nien zu führen. Dort gibt es riesige Feldflächen und Unmengen geräumiger Häuser mit bis zu zehn Zimmern, in denen aber nur zwei, drei Menschen leben. Die dorti gen Männer wissen Frauen besonders zu schätzen«, rühmte Eemeli die Gegend.