Das Tal von Ottawa
Manchmal stelle ich mir meine Mutter in einem Warenhaus vor. Ich weiß nicht, warum, ich war nie mit ihr in einem; das reiche Angebot dort, die solide Geschäftigkeit hätten sie, meine ich, zufriedengestellt. Ich denke natürlich an sie, wenn ich jemanden auf der Straße sehe, der an der Parkinson’schen Krankheit leidet, und in letzter Zeit immer häufiger, wenn ich in den Spiegel schaue. Auch in der Union Station in Toronto, denn als ich zum ersten Mal dort war, da war das mit ihr und meiner kleinen Schwester. In einem Sommer während des Krieges, wir warteten auf den Anschlusszug; wir fuhren mit ihr nach Hause, mit meiner Mutter, in ihr altes Zuhause im Tal von Ottawa.
Eine Kusine, mit der sie sich zwischen den Zügen treffen wollte, erschien nicht. »Wahrscheinlich konnte sie nicht weg«, sagte meine Mutter, sie saß in einem Ledersessel im dunkel getäfelten Damenwartesaal, der jetzt mit Brettern vernagelt ist. »Sicher gab es etwas zu tun, was niemand anders erledigen konnte.« Die Kusine war Anwältin und arbeitete bei, wie meine Mutter in ihrer kategorischen Art immer erklärte, »der führenden Anwaltskanzlei der Stadt«. Einmal hatte sie uns besucht, in einem großen schwarzen Hut und einem schwarzen Kostüm, mit Lippen und Fingernägeln wie Rubine. Ihren Mann brachte sie nicht mit. Der war Alkoholiker. Meine Mutter erwähnte immer, dass ihr Mann Alkoholiker war, sofort, nachdem sie verkündet hatte, dass sie einen wichtigen Posten in der führenden Anwaltskanzlei der Stadt bekleidete. Beides schien einander auszugleichen, auf unvermeidbare und schlimme Art miteinander verbunden zu sein. In gleicher Weise sagte meine Mutter von einer Familie, die wir kannten, dass sie alles hatte, was sich mit Geld kaufen ließ, aber dass der einzige Sohn Epileptiker war, oder dass die Eltern der einzigen Person aus unserer Stadt, die zu bescheidener Berühmtheit gelangt war, einer Pianistin namens Mary Renwick, gesagt hatten, dass sie den Ruhm ihrer Tochter gern für zwei Babyhändchen hingeben würden. Zwei Babyhändchen? In ihrem Universum warf das Glück immer auch einen Schatten.
Meine Schwester und ich gingen in die Bahnhofshalle, die mit ihren hell erleuchteten Geschäften wie eine Straße war und mit dem hohen, gewölbten Dach und den großen Fenstern an jedem Ende wie eine Kirche. Sie war erfüllt vom Donner der Züge, die gleich hinter den Wänden vorbeizufahren schienen, und von einer mächtigen, wohlklingenden Lautsprecherstimme, die kaum zu verstehende Ortsnamen verkündete. Mit dem Geld, das wir bekommen hatten, kaufte ich mir eine Filmillustrierte, und meine Schwester kaufte sich Schokoladenriegel. Ich wollte zu ihr sagen: »Gib mir einen Haps ab, oder ich zeige dir nicht den Weg zurück«, aber sie war so eingeschüchtert von der Pracht des Ortes oder verängstigt durch ihre Abhängigkeit von mir, dass sie unaufgefordert ein Stück abbrach.
Am späten Nachmittag stiegen wir in den Zug nach Ottawa. Wir waren von Soldaten umgeben. Meine Schwester musste bei meiner Mutter auf dem Schoß sitzen. Ein Soldat, der vor uns saß, drehte sich um und scherzte mit mir. Er sah Bob Hope sehr ähnlich. Er fragte mich, aus welcher Stadt ich kam, und sagte dann: »Gibt’s da schon Häuser, höher als das Erdgeschoss?«, genauso scharf, todernst und klugscheißerisch, wie Bob Hope es gesagt hätte. Ich dachte, vielleicht war er wirklich Bob Hope und reiste inkognito in der Uniform eines einfachen Soldaten durchs Land. Das kam mir nicht unwahrscheinlich vor. Außerhalb meiner Heimatstadt – oder zumindest so weit fort davon – schien mir gut möglich zu sein, dass all die Großen und Berühmten der Welt frei umherschwebten und irgendwo auftauchten.
Tante Dodie holte uns im Dunkeln am Bahnhof ab und fuhr uns zu ihrem Haus, meilenweit draußen auf dem Land. Sie war klein, hatte ein spitzes Gesicht und lachte am Ende jedes Satzes. Sie fuhr ein altes rechteckiges Auto mit Trittbrettern.
»Na, ist Ihre Majestät erschienen, um sich mit dir zu treffen?«
Sie meinte damit die Anwältin, die in Wahrheit ihre Schwester war. Tante Dodie war eigentlich gar nicht unsere Tante, sondern Mutters Kusine. Sie redete nicht mit ihrer Schwester.
»Nein, sie muss beschäftigt gewesen sein«, sagte meine Mutter neutral.
»Ah, beschäftigt«, sagte Tante Dodie. »Sie ist damit beschäftigt, sich die Hühnerkacke von den Schuhen zu kratzen. Was?« Sie fuhr schnell, über Furchen und Schlaglöcher.
Meine Mutter winkte der Schwärze auf beiden Seiten von uns zu. »Kinder! Kinder, das ist das Tal von Ottawa!«
Es war kein Tal. Ich hielt nach Bergen oder wenigstens Hügeln Ausschau, aber alles, was ich am Morgen erblickte, waren nur Felder und Wald und Tante Dodie draußen vor dem Fenster, die einem Kalb einen Eimer mit Milch hinhielt. Das Kalb stieß den Kopf so heftig in den Eimer, dass die Milch herausschwappte, und Tante Dodie lachte und schimpfte und schlug es, damit es langsamer trank. Sie nannte es einen Scheißer. »Gieriger kleiner Scheißer!«
Sie hatte ihre Melksachen an, die vielschichtig und vielfarbig, zerlumpt und flatterig waren wie die Kleidung einer Bettlerin in einer Schüleraufführung. Ein Männerhut, der fast nur noch aus der Krempe bestand, saß – zu welchem Zweck? – auf ihrem Kopf.
Meine Mutter hatte mich nie darauf vorbereitet, dass wir mit Leuten verwandt waren, die sich so kleideten oder das Wort Scheißer benutzten. »Ich dulde keinen Unflat«, sagte meine Mutter immer. Aber offenbar duldete sie Tante Dodie. Sie sagte, sie wären wie Schwestern gewesen, als sie aufwuchsen. (Die Anwältin, Bernice, war älter gewesen und früh von zu Hause fortgegangen.) Dann sagte meine Mutter meistens, dass Tante Dodie ein tragisches Leben gehabt hatte.
Tante Dodies Haus war kahl. Es war das ärmste Haus, in dem ich mich je aufgehalten hatte. Aus dieser Entfernung sah unser eigenes Haus – das ich immer für arm gehalten hatte, denn wir wohnten zu weit außerhalb der Stadt, um eine Toilette mit Spülung oder fließendes Wasser zu haben, und gewiss hatten wir keine wahren Anzeichen von Luxus wie Jalousien – sehr gemütlich eingerichtet aus, mit seinen Büchern und dem Klavier und dem guten Geschirr und dem einen Teppich, der gekauft und nicht aus Lumpen gemacht worden war. In Tante Dodies guter Stube gab es nur einen zu hart gepolsterten Sessel und einen Zeitungsständer voll mit alten Sonntagsschulschriften. Tante Dodie lebte von ihren Kühen. Ihr Land lohnte sich nicht für den Ackerbau. Jeden Morgen, nachdem sie mit dem Melken und Zentrifugieren fertig war, lud sie die Kannen auf die Ladefläche ihres Kleinlasters und fuhr sieben Meilen weit zur Molkerei. Sie lebte in ständiger Furcht vor dem Milchkontrolleur, der herumfuhr und Kühe für tuberkulös erklärte, und zwar, so gab sie uns zu verstehen, aus reiner Bosheit, um kleine Farmer kaputt zu machen. Er stand im Dienst der Großindustrie, sagte Tante Dodie.
Die Tragödie in ihrem Leben war, dass sie sitzengelassen worden war. »Wusstet ihr«, fragte sie, »dass ich sitzengelassen worden bin?« Meine Mutter hatte gesagt, dass wir das nie erwähnen durften, und da stand Tante Dodie in ihrer eigenen Küche, wusch das Geschirr vom Mittag ab, wobei ich es abtrocknete und meine Schwester es wegstellte (meine Mutter musste sich ausruhen), und sagte stolz »sitzengelassen«, wie jemand sagen würde: »Wusstet ihr, dass ich Kinderlähmung hatte?« oder irgend solch eine schlimme, bedeutende Krankheit.
»Ich hatte meine Hochzeitstorte gebacken«, sagte sie. »Ich hatte mein Hochzeitskleid an.«
»War es aus Satin?«
»Nein, es war aus schöner dunkelroter Merinowolle, denn es war eine Hochzeit im Spätherbst. Wir hatten den Pfarrer da. Alles war vorbereitet. Mein Vater rannte immer wieder auf die Straße und hielt nach ihm Ausschau. Es wurde dunkel, und ich sagte, Zeit, rauszugehen und die Kühe zu melken! Ich hab mein Kleid ausgezogen und hab’s nie wieder angezogen. Ich hab’s verschenkt. Viele Mädchen hätten geweint, aber ich, ich hab gelacht.«
Meine Mutter erzählte dieselbe Geschichte und sagte: »Als ich zwei Jahre danach zu Hause war und bei ihr gewohnt habe, bin ich nachts immer aufgewacht und habe sie weinen hören. Jede Nacht.«
Ich war schon in der Kirche,
Stand vor dem Traualtar,
Stand vor dem Traualtar,
Doch rat mal, wer nicht kam,
Das war der Bräutigam,
Das war der Bräutigam,
Ließ elend mich im Stich.
Tante Dodie sang uns das vor, während sie an ihrem runden Tisch mit der gescheuerten Wachstuchdecke das Geschirr abwusch. Ihre Küche war groß wie ein Haus, mit einer Hintertür und einer Vordertür; ständig wehte ein Lüftchen. Sie hatte eine selbstgebaute Eiskiste, wie ich sie noch nie gesehen hatte, mit einem großen Eisklotz darin, den sie in einem Bollerwagen aus dem Eishaus holte. Das Eishaus selbst war bemerkenswert, ein überdachter Unterstand, in dem das im Winter aus dem See gesägte Eis im Sommer in Sägemehl lagerte.
»War’s natürlich nicht«, sagte sie, »in meinem Fall war’s nicht die Kirche.«
Hinter den Feldern von Tante Dodie lebte auf der nächsten Farm der Bruder meiner Mutter, Onkel James, mit seiner Frau, Tante Lena, und acht Kindern. Das war das Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen war. Es war ein größeres Haus mit mehr Möbeln, aber trotzdem draußen nicht angestrichen, dunkelgrau. Die Möbel bestanden hauptsächlich aus hohen, hölzernen Bettgestellen mit Federbetten und dunklen, geschnitzten Kopfbrettern. Unter den Betten standen Nachttöpfe, die nicht jeden Tag geleert wurden. Wir gingen dorthin zu Besuch, aber Tante Dodie kam nicht mit. Sie und Tante Lena sprachen nicht miteinander. Aber Tante Lena sprach mit niemandem viel. Sie war ein sechzehn Jahre altes Mädchen aus der tiefsten Provinz gewesen, sagten meine Mutter und Tante Dodie (was die Frage aufwarf, was war dann das hier?), als Onkel James sie heiratete. Zu jener Zeit muss sie seit zehn oder zwölf Jahren verheiratet gewesen sein. Sie war groß und gerade, hinten und vorne flach wie ein Brett – obwohl sie noch vor Weihnachten ihr neuntes Kind austragen sollte –, mit dunklen Sommersprossen und großen, dunklen, etwas entzündeten Augen wie die Augen von Tieren. Alle Kinder hatten sie geerbt statt der sanften blauen von Onkel James.
»Als deine Mutter starb«, sagte Tante Dodie, »ach, ich kann sie noch hören. Fass das Handtuch nicht an! Nimm dein eigenes Handtuch! Krebs, sie dachte, den kann man sich einfangen wie Masern. So beschränkt war sie.«
»Ich kann ihr nicht verzeihen.«
»Und sie ließ keins von den Kindern an sich ran. Ich musste selbst rübergehen, um deine Mutter immer zu waschen. Ich hab alles mitangesehen.«
»Ich kann ihr nie verzeihen.«
Tante Lena war die ganze Zeit über starr vor dem, was ich jetzt als panische Angst erkenne. Sie erlaubte ihren Kindern nicht, im See zu baden, aus Angst, sie könnten ertrinken, sie erlaubte ihnen im Winter nicht, Schlitten zu fahren, aus Angst, sie könnten vom Schlitten fallen und sich den Hals brechen, sie erlaubte ihnen nicht, Schlittschuhlaufen zu lernen, aus Angst, sie könnten sich die Beine brechen und fürs Leben verkrüppelt sein. Sie schlug sie ständig, aus Angst, sie könnten zu Faulenzern oder Lügnern oder Tollpatschen heranwachsen, die vieles kaputt machten. Faul waren sie nicht, aber kaputt machten sie vieles; andauernd sausten sie los und grapschten nach allem; und sie waren natürlich alle Lügner, sogar die kleinsten, brillante, instinktive Lügner, die sogar logen, wenn es nicht erforderlich war, einfach zur Übung und vielleicht aus Spaß daran. Ständig verrieten und verbargen sie, schmiedeten und brachen Bündnisse; sie hatten die raffiniertesten und rücksichtslosesten politischen Instinkte. Sie heulten, wenn sie geschlagen wurden. Stolz war ein Luxus, den sie schon lange nicht mehr kannten oder nie gekannt hatten. Wenn du vor Tante Lena nicht heultest, wann hörte sie dann je auf? Ihre Arme waren so lang und stark wie die eines Mannes, ihr Gesicht starr von ferner, unerreichbarer Wut. Aber schon fünf Minuten oder drei Minuten hinterher hatten ihre Kinder alles vergessen. Bei mir konnte solch eine Demütigung wochenlang nachwirken oder lebenslang.
Onkel James hatte den irischen Singsang beibehalten, den meine Mutter ganz und Tante Dodie halb verloren hatten. Seine Stimme war entzückend, wenn er die Namen der Kinder nannte. Mar-ie, Ron-ald, Ru-thie. Er sagte ihre Namen so zärtlich, tröstend und vorwurfsvoll, als seien die Namen oder die Kinder selbst Streiche, die man ihm spielte. Aber er bewahrte sie nie vor Schlägen, protestierte nie dagegen. Man hätte meinen können, all das hatte nichts mit ihm zu tun. Man hätte meinen können, Tante Lena hatte nichts mit ihm zu tun.
Das jüngste Kind schlief im Bett der Eltern, bis ein neues Baby es ablöste.
»Früher kam er mich immer besuchen«, sagte Tante Dodie. »Was haben wir zusammen gelacht! Er brachte immer zwei, drei von den Kindern mit, aber dann nicht mehr. Ich weiß auch, warum. Sie hätten ihn verpetzt. Dann ist er selber auch nicht mehr gekommen. Sie führt das Regiment. Aber er rächt sich an ihr, und ob!«
Tante Dodie bezog keine Tageszeitung, nur die wöchentliche, die in der Stadt erschien, in der sie uns abgeholt hatte.
»Hier steht was über Allen Durrand.«
»Allen Durrand?«, fragte meine Mutter unsicher.
»Ach, der ist jetzt ein großer Holstein-Mann. Er hat eine West geheiratet.«
»Was steht denn da?«
»Was von der Konservativen Vereinigung. Ich wette, er will nominiert werden. Da wette ich.«
Sie saß im Schaukelstuhl, hatte die Stiefel ausgezogen und lachte. Meine Mutter saß an einen Verandapfosten gelehnt. Beide schnippelten Wachsbohnen fürs Einwecken.
»Ich dachte gerade daran zurück, wie wir ihm die Limonade gegeben haben«, sagte Tante Dodie und drehte sich zu mir um. »Damals war er bloß ein frankokanadischer Junge, der hier im Sommer ein paar Wochen lang gearbeitet hat.«
»Nur sein Name war französisch«, sagte meine Mutter. »Er hat ihn nicht mal französisch ausgesprochen.«
»Davon ist jetzt nichts mehr zu merken. Er hat sogar die Religion gewechselt, geht jetzt in die St. John’s-Kirche.«
»Er war immer intelligent.«
»Da kannst du drauf wetten. Ha, intelligent! Aber wir haben ihn mit der Limonade reingelegt.
Stell dir den allerheißesten Tag im Sommer vor. Deiner Mutter und mir machte er nicht so viel aus, wir konnten im Haus bleiben. Aber Allen musste auf dem Heuboden sein. Es war Heuernte, musst du wissen. Mein Vater brachte das Heu ein, und Allen verteilte es. Ich wette, James hat auch dabei geholfen.«
»James lud es auf«, sagte meine Mutter. »Dein Vater verstaute es und fuhr den Wagen.«
»Und Allen hatten sie auf den Heuboden gesteckt. Du machst dir keine Vorstellung, wie ein Heuboden an so einem Tag ist. Die Hölle auf Erden. Also dachten wir, es wäre eine gute Idee, ihm etwas Limonade zu bringen … Nein, ich greife voraus. Ich wollte erst von der Latzhose erzählen.
Allen hatte mir diese Latzhose zum Flicken gebracht, als die Männer sich zum Mittagessen hinsetzten. Er selbst hatte eine wollene alte Anzughose an und ein Arbeitshemd, muss ihn umgebracht haben, obwohl er das Hemd wahrscheinlich ausgezogen hat, als er in die Scheune kam. Aber er hat bestimmt die Latzhose anziehen wollen, weil sie nicht so warm ist, verstehst du, luftiger. Ich hab vergessen, was daran geflickt werden musste, irgendeine Kleinigkeit. Er muss in der alten Hose schlimm gelitten haben, dass er sich dazu überwunden hat, darum zu bitten, denn er war schrecklich schüchtern. Da war er … wie alt?«
»Siebzehn«, sagte meine Mutter.
»Und wir beide achtzehn. Das war das Jahr, bevor du zum Lehrerseminar weggegangen bist. Ja. Also ich habe seine Hose genommen und geflickt, war nur eine Kleinigkeit dran zu machen, während du das Mittagessen aufgetragen hast. Und so saß ich in der Ecke von der Küche an der Nähmaschine, als ich meine Eingebung hatte, richtig? Ich hab dich rübergerufen. Angeblich, damit du mir den Stoff gerade hältst. Aber eigentlich solltest du sehen, was ich mache. Und keine von uns beiden hat gefeixt, wir haben uns auch nicht zugezwinkert, oder?«
»Nein.«
»Denn meine Eingebung war, ihm den Hosenschlitz zuzunähen!
Und dann, ein bisschen später am Nachmittag, als alle wieder bei der Arbeit waren, hatten wir den Einfall mit der Limonade. Wir machten zwei Eimervoll. Einen brachten wir raus zu den Männern, die auf dem Feld arbeiteten; wir riefen ihnen zu und stellten ihn unter einen Baum. Und den anderen brachten wir hoch auf den Heuboden und sagten, für dich. Wir hatten alle Zitronen genommen, die im Haus waren, trotzdem war die Limonade dünn. Ich erinnere mich, wir mussten Essig reintun. Aber er hat das gar nicht gemerkt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemand gesehen, der solchen Durst hatte. Erst trank er schöpfkellenweise, dann hat er einfach den Eimer an den Mund gesetzt und ausgetrunken. Wir standen da und sahen zu. Wie haben wir’s geschafft, ernst zu bleiben?«
»Keine Ahnung«, sagte meine Mutter.
»Dann haben wir den Eimer genommen und sind ab ins Haus, und da haben wir zwei Sekunden gewartet, bevor wir uns zurückgeschlichen haben. Wir haben uns im Kornspeicher versteckt. Der war auch wie ein Ofen. Ich weiß nicht, wie wir das ausgehalten haben. Aber wir sind auf die Futtersäcke geklettert und haben uns jede einen Spalt oder ein Astloch zum Gucken gesucht. Wir wussten, in welche Ecke der Scheune die Männer immer pinkelten. Wenn sie oben waren, pinkelten sie auf die Schütte. Unten im Viehstall pinkelten sie wahrscheinlich in die Rinne. Und bald, sehr bald schlendert er in die Richtung. Lässt die Heugabel fallen und schlendert rüber. Greift dabei mit der Hand nach sich. Wie uns von der Hitze der Schweiß übers Gesicht lief, und wie wir uns das Lachen verkneifen mussten. So was von grausam! Anfangs war er ja ganz entspannt. Dann, denk ich mal, wird der Drang stärker; er schaut an sich runter und fragt sich, was los ist, und bald reißt und zerrt er in alle Richtungen, versucht alles, was er kann, um sich zu befreien. Aber ich hatte ihn gründlich zugenäht. Möchte mal wissen, wann ihm aufgegangen ist, was passiert war.«
»Spätestens da, denke ich. Dumm war er nie.«
»Nein, nie. Also muss er es sich zusammengereimt haben. Die Limonade und alles. Aber ich glaube, ihm ist nicht in den Sinn gekommen, dass wir oben im Kornspeicher versteckt waren. Oder hätte er sonst getan, was er als Nächstes tat?«
»Bestimmt nicht«, sagte meine Mutter fest.
»Na, ich weiß nicht. Ihm war vielleicht alles egal. Hm? Schließlich war ihm alles egal, er gab auf und hat die Latzhose runtergerissen und ließ ihn raus. Wir kriegten alles zu sehen.«
»Er stand mit dem Rücken zu uns.«
»Stand er nicht! Als er losspritzte, gab es nichts, was wir nicht gesehen haben. Er hat sich zur Seite gedreht.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Aber ich. Ich habe so was nicht so oft zu sehen bekommen, als dass ich mir leisten könnte, es zu vergessen.«
»Dodie!«, sagte meine Mutter, als wollte sie zu spät eine Warnung aussprechen. (Noch etwas, was meine Mutter sehr oft sagte, war: »Ich werde mir keinen Schweinkram anhören.«)
»Ach, du! Du bist ja auch nicht weggerannt. Oder? Hast mit dem Auge am Astloch geklebt!«
Meine Mutter sah mich an, dann Tante Dodie, dann wieder mich und hatte dabei einen ungewöhnlichen Gesichtsausdruck: Hilflosigkeit. Ich will nicht sagen, dass sie lachte. Sie schaute nur drein, als gäbe es einen Punkt, an dem sie aufgeben könnte.
Der Beginn ist sehr langsam, und oft können Jahre vergehen, ehe der Betroffene oder seine Familie Behinderungen wahrnehmen. Der Patient zeigt eine langsam zunehmende körperliche Starre, verbunden mit einem Zittern des Kopfes und der Glieder. Es können verschiedene Ticks, Zuckungen, Muskelkrämpfe und andere unwillkürliche Bewegungen auftreten. Der Speichelfluss wird stärker und steigert sich häufig bis zum Sabbern. Wissenschaftlich ist die Krankheit als Paralysis agitans bekannt. Sie wird auch Parkinson-Krankheit oder Schüttellähmung genannt. Paralysis agitans befällt zuerst einen Arm oder ein Bein, dann das zweite Glied auf derselben Seite und schließlich die Glieder auf der anderen Seite. Das Gesicht verliert allmählich seine normale Ausdrucksfähigkeit und verändert sich mit wechselnden Stimmungen nur noch langsam oder gar nicht mehr. Die Krankheit tritt im Allgemeinen nur bei älteren Menschen auf und ergreift hauptsächlich Personen über sechzig oder siebzig. Heilungen sind nicht bekannt. Es gibt Medikamente, um das Zittern und den Speichelfluss einzudämmen. Ihre Wirkung ist jedoch begrenzt. [Fishbein, Medizinische Enzyklopädie.]
Meine Mutter muss in jenem Sommer einundvierzig oder zweiundvierzig Jahre alt gewesen sein, etwa in dem Alter, in dem ich jetzt bin.
Nur ihr linker Unterarm zitterte. Die Hand zitterte stärker als der Arm. Der Daumen schlug unablässig gegen den Handteller. Sie konnte ihn jedoch zwischen den anderen Fingern verstecken, und sie konnte den Arm stillhalten, indem sie ihn an den Körper presste.
Onkel James trank nach dem Abendbrot Porter. Er ließ mich davon kosten, schwarz und bitter. Das war ein neuer Widerspruch. »Bevor ich deinen Vater geheiratet habe«, hatte mir meine Mutter erzählt, »habe ich ihm das Versprechen abgenommen, nie Alkohol zu trinken, und er hat es auch nie getan.« Aber Onkel James, ihr Bruder, durfte ohne Einwände Alkohol trinken.
An einem Samstagabend fuhren wir alle in die Stadt. Meine Mutter und meine Schwester setzten sich in Tante Dodies Auto. Ich saß bei Onkel James und Tante Lena und den Kindern. Die Kinder nahmen mich in Beschlag. Ich war ein bisschen älter als das älteste von ihnen, und sie behandelten mich, als sei ich eine Trophäe, jemand, um dessen Gunst sie rangeln und wetteifern konnten. Also fuhr ich in ihrem Auto mit, das hoch und alt und rechteckig war wie das von Tante Dodie. Wir waren auf dem Heimweg, die Fenster hatten wir zur Kühlung heruntergekurbelt, und völlig unerwartet fing Onkel James an zu singen.
Er hatte wirklich eine schöne Stimme, eine schöne, traurige, nachklingende Stimme. Ich kann mich ganz genau an die Melodie des Liedes erinnern, das er sang, und an den Klang seiner Stimme, die zu den schwarzen Fenstern hinaushallte, aber an den Text kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern, hier und da ein paar Worte, obwohl ich oft versucht habe, mich an mehr zu erinnern, weil mir das Lied so gut gefiel.
Als ich einst wanderte in Kil-i-kennys Bergen …
Ich glaube, so fing es an.
Dann irgendwann etwas über Perlen oder Erlen und Manche freuen sich an … verschiedenen Dingen, und schließlich die laute, aber traurig klingende Zeile:
Doch meine ganze Wonne, das ist der Saft der Gerste.
Es herrschte Schweigen im Auto, während er sang. Die Kinder kabbelten sich nicht und wurden nicht geschlagen, einige schliefen sogar ein. Tante Lena mit dem kleinsten auf dem Schoß war eine unbedrohliche dunkle Gestalt. Das Auto rumpelte voran, als würde es für immer durch eine vollkommen schwarze Nacht fahren, in die seine Schweinwerfer einen schmalen Pfad schnitten; und ein Eselhase saß auf der Straße, sprang davon, aber niemand rief etwas, um auf ihn aufmerksam zu machen, niemand unterbrach den Gesang, seine weithin hallende, zärtliche Traurigkeit.
Doch meine ganze Wonne, DAS IST DER SAFT DER GERSTE.
Wir machten uns früh auf den Weg zur Kirche, damit wir nach den Gräbern schauen konnten. St. John’s war eine weiße Holzkirche an der Landstraße, mit dem Friedhof dahinter. Wir blieben bei zwei Grabsteinen stehen, auf denen die Worte Mutter und Vater standen. Darunter in viel kleineren Buchstaben die Namen und Daten der Eltern meiner Mutter. Zwei flache Steine, nicht sehr groß, lagen wie Pflastersteine in dem kurz geschnittenen Gras. Ich schlenderte davon, um interessantere Dinge zu betrachten – Urnen und betende Hände und Engel im Profil.
Bald folgten mir meine Mutter und Tante Dodie.
»Wer braucht all diesen pompösen Firlefanz?«, fragte Tante Dodie und wies in die Runde.
Meine Schwester, die gerade lesen lernte, versuchte die Inschriften zu entziffern.
Bis der Tag anbricht
Er ist nicht tot, er ruht
In pacem
»Was ist pacem?«
»Latein«, sagte meine Mutter lobend.
»Viele Leute stellen diese pompösen Steine auf, und es ist alles nur Schau, sie zahlen immer noch daran ab. Einige von denen versuchen immer noch, die Grabstelle abzuzahlen, und haben mit dem Stein noch gar nicht angefangen. Schaut euch zum Beispiel mal den an.« Tante Dodie zeigte auf einen großen Würfel aus dunkelblauem Granit, weiß gesprenkelt wie ein Emaillekochtopf, der auf einer Ecke stand.
»Wie modern«, sagte meine Mutter geistesabwesend.
»Das ist der von Dave McColl. Schaut euch an, wie groß der ist. Und ich weiß ganz genau, dass sie seiner Witwe gesagt haben, wenn sie nicht bald was für die Grabstelle anzahlt, werden sie ihn ausgraben und auf die Landstraße schmeißen.«
»Ist das christlich?«, fragte meine Mutter.
»Manche Leute verdienen nichts Christliches.«
Ich spürte, wie etwas von meiner Taille runterrutschte, und merkte, dass das Gummiband von meinem Schlüpfer gerissen war. Ich hielt mir rechtzeitig die Hände an die Hüften – damals hatte ich keine Hüften, die irgendetwas aufhalten konnten – und sagte zu meiner Mutter in wütendem Flüsterton: »Ich brauche eine Sicherheitsnadel.«
»Wozu brauchst du eine Sicherheitsnadel?«, fragte meine Mutter, mit normaler oder lauter als normaler Stimme. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie in solchen Momenten immer begriffsstutzig war.
Ich konnte nicht antworten, starrte sie aber flehend und drohend an.
»Ich wette, ihr Schlüpfer ist gerissen«, amüsierte sich Tante Dodie.
»Stimmt das?«, fragte meine Mutter streng und senkte immer noch nicht die Stimme.
»Ja.«
»Na, dann zieh ihn aus«, sagte meine Mutter.
»Aber nicht hier«, sagte Tante Dodie. »Da drüben ist die Damentoilette.«
Hinter der Kirche, wie hinter einer Dorfschule, standen zwei hölzerne Klohäuschen.
»Dann hätte ich doch nichts an«, sagte ich entsetzt zu meiner Mutter. Ich konnte mir nicht vorstellen, in einem blauen Taftkleid und ohne Höschen in die Kirche zu gehen. Aufzustehen, um die Choräle zu singen, mich hinzusetzen, und das ohne Höschen! Das glatte, kühle Holz der Kirchenbank ohne Höschen!
Tante Dodie durchsuchte ihre Handtasche. »Ich wünschte, ich könnte dir eine geben, aber ich hab keine. Du lauf und zieh’s einfach aus und kein Mensch wird was merken. Zum Glück geht kein Wind.«
Ich rührte mich nicht von der Stelle.
»Na ja, ich habe eine Sicherheitsnadel«, sagte meine Mutter unsicher. »Aber ich kann sie nicht herausnehmen. Der Träger von meinem Unterrock ist heute Morgen beim Anziehen gerissen, und ich habe ihn mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Aber die kann ich nicht rausnehmen.«
Meine Mutter trug ein weiches graues Kleid, mit Blümchen gemustert, die aussahen wie aufgestickt, und einen dazu passenden grauen Unterrock, weil man durch den Kleiderstoff hindurchsehen konnte. Ihr Hut war altrosa, was zu der Farbe einiger der Blümchen passte. Ihre Handschuhe waren fast im selben Altrosa, und ihre Schuhe waren weiß, an den Zehen offen. Sie hatte diese ganze Ausstattung mitgebracht, wahrscheinlich extra zusammengestellt, um sie beim Kirchgang zu tragen. Vielleicht hatte sie sich einen sonnigen Morgen vorgestellt, an dem die Kirchenglocke läutete, geradeso, wie sie jetzt läutete. Sie musste das geplant und sich ausgemalt haben, geradeso, wie ich jetzt manchmal plane und mir ausmale, was ich auf einer Party tragen werde.
»Ich kann sie nicht für dich rausnehmen, sonst guckt mein Unterrock vor.«
»Die Leute gehen schon rein«, sagte Tante Dodie.
»Geh auf die Toilette und zieh ihn aus. Wenn du das nicht willst, geh und setz dich ins Auto.«
Ich machte mich auf den Weg zum Auto. Ich hatte es nicht mehr weit zur Friedhofspforte, da rief meine Mutter meinen Namen. Sie marschierte mir voraus zur Damentoilette, wo sie ohne ein Wort in den Ausschnitt ihres Kleides langte und die Sicherheitsnadel herausholte. Ich kehrte ihr den Rücken zu – sagte nicht danke, denn ich steckte zu tief in meinem eigenen Unglück und war zu überzeugt von meinen eigenen Rechten – und verklammerte das Gummiband meines Schlüpfers. Dann ging meine Mutter vor mir aus der Toilette hinaus und um die Kirche herum. Wir kamen zu spät, alle waren schon drin. Wir mussten warten, während der Chor, mit dem Pfarrer im Gefolge, sich in frommer Gemächlichkeit den Mittelgang hinaufbegab.
Alles Gute, alles Schöne,
Alles Leben groß und klein,
Alle Farben, alle Töne,
Das schuf Gott der Herr allein.
Als der Chor Platz genommen und der Pfarrer sich zur Gemeinde umgedreht hatte, schritt meine Mutter kühn aus, um sich zu Tante Dodie und meiner Schwester in eine der vorderen Kirchenbänke zu setzen. Ich sah, dass der graue Unterrock ein Stück weit heruntergerutscht war und an einer Seite schlampig hervorguckte.
Nach dem Gottesdienst wandte sich meine Mutter um und sprach mit den Leuten. Die wollten meinen Namen wissen und den meiner Schwester, und dann sagten sie: »Die sieht aus wie du.« »Nein, vielleicht sieht diese mehr wie du aus«; oder: »In der hier sehe ich deine Mutter.« Sie fragten, wie alt wir waren und in welche Klasse ich ging und ob meine Schwester schon zur Schule ging. Sie fragten sie, wann sie denn hinginge, und sie sagte: »Ich geh nicht«, was belacht und wiederholt wurde. (Meine Schwester brachte die Leute oft zum Lachen, ohne es zu wollen; sie hatte solch eine entschiedene Art, ihre Missverständnisse kundzutun. In diesem Fall stellte sich heraus, dass sie tatsächlich dachte, sie würde nicht zur Schule gehen, da die Grundschule in der Nähe unseres Hauses abgerissen wurde und niemand ihr gesagt hatte, sie würde mit dem Bus in eine andere fahren.)
Zwei oder drei Leute sagten zu mir: »Rate mal, wer mich unterrichtet hat, als ich in die Schule kam? Deine Mama!«
»Sie hat mir nie viel beigebracht«, sagte ein verschwitzter Mann, dessen Hand, wie ich merkte, sie nicht schütteln mochte, »aber sie war die Schönste, die ich je hatte!«
»Hat mein Unterrock vorgeguckt?«
»Wie sollte er? Du standest ja in der Kirchenbank.«
»Aber als ich den Mittelgang hinuntergegangen bin?«
»Konnte niemand was sehen. Die standen doch immer noch für den Choral.«
»Sie hätten aber was sehen können.«
»Mich überrascht nur eins. Warum ist Allen Durrand nicht rübergekommen und hat guten Tag gesagt?«
»War er da?«
»Hast du ihn nicht gesehen? Drüben in der Bank der Wests, unter dem Fenster, das für ihre Eltern eingesetzt worden ist.«
»Ich habe ihn nicht gesehen. War seine Frau da?«
»Aber die musst du doch gesehen haben! Ganz in Blau mit einem Hut wie ein Wagenrad. Sie kleidet sich sehr elegant. Aber nicht mit dir heute zu vergleichen.«
Tante Dodie selbst trug einen marineblauen Strohhut mit schlaffen Stoffblumen und ein vorne geknöpftes Kleid aus grob gewebter Kunstseide.
»Vielleicht hat er mich nicht erkannt. Oder nicht gesehen.«
»Er muss dich gesehen haben.«
»Ach.«
»Und er hat sich zu so einem gutaussehenden Mann entwickelt. Das zählt, wenn man in die Politik geht. Und die Größe. Man erlebt selten, dass ein kleiner Mann gewählt wird.«
»Was ist mit Mackenzie King?«
»Ich meine, hier in der Gegend. Den hätten wir hier in der Gegend nicht gewählt.«
»Deine Mutter hat einen kleinen Schlaganfall gehabt. Sie sagt, nein, aber ich habe zu viele wie sie gesehen.
Sie hat einen kleinen gehabt, und es kann sein, dass sie noch einen kleinen kriegt und noch einen und noch einen. Dann kann sie eines Tages den großen kriegen. Dann musst du lernen, die Mutter zu sein.
Wie ich. Meine Mutter wurde krank, da war ich erst zehn. Als sie starb, war ich fünfzehn. In diesen fünf Jahren, was hatte ich da mit ihr für eine Zeit! Sie war total angeschwollen; sie hatte die Wassersucht. Einmal sind sie gekommen und haben sie eimerweise aus ihr rausgeholt.«
»Was rausgeholt?«
»Flüssigkeit.
Sie saß in ihrem Sessel, bis sie nicht mehr konnte, sie musste sich ins Bett legen. Sie musste die ganze Zeit über auf der rechten Seite liegen, damit die Flüssigkeit nicht aufs Herz drückte. Was für ein Leben. Sie hat sich wundgelegen, hat elend gelitten. Also hat sie eines Tages zu mir gesagt, Dodie, bitte, dreh mich mal auf die andere Seite, nur für ein Weilchen, nur zur Erleichterung. Sie hat mich angefleht. Ich habe sie gepackt und umgedreht – sie war vielleicht schwer! Ich habe sie auf die Herzseite gedreht, und kaum hatte ich das getan, ist sie gestorben.
Weswegen weinst du denn? Ich wollte dich doch nicht zum Weinen bringen! Na, du bist aber ein großes Baby, wenn du’s nicht ertragen kannst, was über das Leben zu hören.«
Sie lachte mich aus, um mich aufzuheitern. In ihrem hageren braunen Gesicht waren ihre Augen groß und heiß. Sie hatte sich an dem Tag ein Kopftuch umgebunden und sah aus wie eine Zigeunerin, die mich boshaft und freundlich anblitzte, mir drohte, mehr Geheimnisse preiszugeben, als ich ertragen konnte.
»Hattest du einen Schlaganfall?«, fragte ich missmutig.
»Was?«
»Tante Dodie hat gesagt, du hattest einen Schlaganfall.«
»Nein, ich hatte keinen. Das habe ich ihr auch gesagt. Der Arzt sagt, ich hatte keinen. Aber Dodie meint ja, sie weiß alles. Sie meint, sie weiß es besser als der Arzt.«
»Wirst du einen Schlaganfall kriegen?«
»Nein. Ich habe niedrigen Blutdruck. Genau das Gegenteil von den Ursachen für einen Schlaganfall.«
»Du wirst also gar nicht krank werden?«, fragte ich drängend. Ich war sehr erleichtert, dass sie sich gegen Schlaganfälle entschieden hatte und dass ich nicht die Mutter zu sein brauchte, sie nicht in ihrem Bett waschen und abwischen und füttern musste wie Tante Dodie ihre Mutter. Denn für mein Gefühl war sie es, die darüber entschied, die ihre Einwilligung erteilte. Solange sie lebte, durch alle Veränderungen, die ihr widerfuhren, und nachdem ich die medizinischen Erklärungen für all das, was passierte, erhalten hatte, war mein Empfinden insgeheim, dass sie ihre Einwilligung erteilt hatte. Sie hatte es, für mein Gefühl, für ihre eigenen Zwecke getan: um etwas zu demonstrieren; auch um sich für etwas zu rächen. Mehr, als irgendjemand je verstehen konnte.
Sie antwortete mir nicht, sondern ging voraus. Wir liefen von Tante Dodies Haus zu dem von Onkel James, auf einem Fußpfad über die buckelige Viehweide, kürzer als der Weg entlang der Straße.
»Wird dein Arm aufhören zu zittern?«, fragte ich nach, hartnäckig und rücksichtslos.
Ich verlangte von ihr auf der Stelle, dass sie sich umdrehte und mir versprach, was ich brauchte.
Aber sie tat es nicht. Zum ersten Mal verweigerte sie sich mir völlig. Sie ging weiter, als hätte sie nicht gehört, ihre vertraute Gestalt vor mir verwandelte sich in etwas Fremdes, Gleichgültiges. Sie entzog sich, sie verdunkelte sich vor meinen Augen, obwohl sie nichts weiter tat als auf dem Pfad weiterzugehen, den sie und Tante Dodie ins Gras getreten hatten, als sie junge Mädchen waren und hin und her liefen, um einander zu besuchen; er war immer noch da.
Eines Abends saßen meine Mutter und Tante Dodie auf der Veranda und sagten Gedichte auf. Wie das anfing, weiß ich nicht mehr; wahrscheinlich fiel einer von ihnen ein Zitat ein, und die andere ergänzte es. Onkel James lehnte rauchend am Geländer. Weil wir zu Besuch da waren, hatte er sich gestattet, vorbeizukommen.
»Wie stirbt ein Mann in Würde«, rief Tante Dodie fröhlich.
»Als gegen Übermacht,
Zu Ehren seiner Väter
Und seiner Götter Acht?«
»Den ganzen Tag lang grollte der Donner dieser Schlacht«, deklamierte meine Mutter,
»Und hallte von den Bergen am winterlichen Meer.«
»Wir trugen seinen Leichnam auf die Zinnen,
Kein Trommelschlag, kein Klagelied erscholl …«
»Ich gehe nun den langen Weg
Zum Inseltal von Avalon,
Das weder Schnee noch Regen kennt …«
Die Stimme meiner Mutter hatte ein peinliches Zittern angenommen, so dass ich froh war, als Tante Dodie sie unterbrach.
»Meine Güte, war das nicht alles traurig, was die so in die alten Lesebücher gepackt haben?«
»Ich hab nichts davon behalten«, sagte Onkel James. »Außer …«, und er deklamierte, ohne ins Stottern zu geraten:
»Vor rauchig fernen Bergen
Steht scharlachrot der Wald,
Aus dem zu dieser Herbstzeit
Der Ruf des Hähers schallt.«
»Dein Glück«, sagte Tante Dodie, und sie und meine Mutter fielen mit ein, so dass sie alle zusammen deklamierten und dabei über sich lachten:
»Der Nebel deckt die Marschen
Bis an des Wassers Rand,
Am Himmel ziehen Vögel
Zu südlicherem Land.«
»Obwohl, wenn man drüber nachdenkt, klingt sogar das eigentlich traurig«, sagte Tante Dodie.
Wenn ich hieraus eine richtige Geschichte hätte machen wollen, dann hätte ich sie, glaube ich, damit beendet, dass meine Mutter nicht antwortete und vor mir über die Wiese ging. Das hätte genügt. Vermutlich habe ich nicht da aufgehört, weil ich mehr herausfinden, mich an mehr erinnern wollte. Ich wollte so viel zurückholen, wie ich nur konnte. Jetzt betrachte ich, was ich getan habe, und es ist wie eine Reihe von Schnappschüssen, wie die braun getönten Schnappschüsse mit den gezackten Kanten, die mit dem alten Fotoapparat meiner Eltern aufgenommen wurden. Auf diesen Schnappschüssen sind Tante Dodie und Onkel James und sogar Tante Lena, sogar ihre Kinder, deutlich zu erkennen. (Sie alle inzwischen tot, bis auf die Kinder, aus denen anständige, friedfertige Lohnempfänger geworden sind, ohne einen Kriminellen oder auch, soweit ich weiß, einen Neurotiker darunter.) Das Problem, das einzige Problem ist meine Mutter. Und sie ist natürlich diejenige, die ich zu erreichen versuche; nur dazu ist diese ganze Reise unternommen worden. Mit welchem Ziel? Um sie zu kennzeichnen, zu beschreiben, zu beleuchten, zu feiern, um sie loszuwerden; und es hat nicht funktioniert, sie türmt sich zu nah vor mir auf, wie sie es immer tat. Sie ist schwer wie immer, sie drückt alles nieder, und doch bleibt sie undeutlich, schmilzt an den Rändern und verschwimmt. Was bedeutet, sie hat so unerbittlich wie immer an mir festgehalten und sich geweigert, loszulassen, und ich kann immer so weitermachen, alle Fertigkeiten, die ich habe, alle Tricks, die ich kenne, aufbieten, und es wird sich nie etwas ändern.