Scharfrichter
Helena stinkt,
Ihr Vater, der trinkt.
Was gab es deswegen zu weinen? Ich weiß nicht, ob ich geweint habe, ich kann mich nicht erinnern. Ich wurde gut vertraut mit Bürgersteigen und dem Boden unter Bäumen, neutralen Dingen, zu denen ich hinunterschauen konnte, um keinen Anstoß zu erregen. Ich wunderte mich darüber, wie manche es schafften, sich von nichts niederdrücken zu lassen – nicht davon, dass sie schielten oder einen kleinen Bruder hatten, der schwachsinnig war, oder in einem rußigen Haus neben den Eisenbahngleisen wohnten. Ich war das Gegenteil, dünnhäutig, wie Robina sagte. Ich erwartete Schimpf.
Hau ab, Helena
Hau ab, Helena
Hau ab, Helena
Hau ab, Helena
Sie scharten sich hinter mir zusammen, wenn ich den Schulhügel hinunterging. Liebliche Stimmen hatten sie, gerade am Rande der Aufrichtigkeit, der mörderischen Unschuld. Wenn ich bloß gewusst hätte, was tun, wenn ich bloß gewusst hätte, wie mich umdrehen. Das kann man nicht lernen. Es ist eine Gabe, wie die Fähigkeit, eine Melodie richtig zu singen.
Ich war sonderbar angezogen, das war eines. Ein marineblaues Blouson, das den Uniformen ähnelte, die in Privatschulen getragen wurden. (Wohin meine Mutter mich bestimmt geschickt hätte, wenn sie das Geld gehabt hätte.) Lange weiße Strümpfe, winters und sommers, egal, wie nass und dreckig unsere Straße war. Im Winter waren die Wulste der langen Unterwäsche zu sehen, die ich darunter tragen musste. Oben auf dem Kopf eine große Schleife mit abstehenden, gebügelten Ecken. Meine Haare in Ringellöckchen, hineingedreht mit einem in Wasser getauchten Kamm, kein Stil, an dem irgendjemand anders Gefallen fand. Aber hätte ich irgendetwas tragen können, das richtig gewesen wäre? Einmal bekam ich einen neuen Wintermantel, den ich wunderbar fand. Er hatte einen Kragen aus Eichhörnchenpelz. Rattenfell, Rattenfell, hat ner Ratte das Fell abgezogen und trägt es um den Hals!, riefen sie mir hinterher. Danach mochte ich den Pelz nicht mehr, mochte nicht mehr, wie er sich anfühlte; irgendwie zu weich, zu intim, zu erniedrigend.
Ich sah mich immer nach Verstecken um. In großen Häusern, in öffentlichen Gebäuden hielt ich Ausschau nach kleinen, hohen Fenstern, dunklen Winkeln. Das alte Gebäude der Handelsbank hatte einen Turm, den ich sehr mochte. Ich stellte mir vor, mich dort zu verstecken oder in irgendeinem anderen hochgelegenen kleinen Raum, sicher mitten in der Stadt, außer Acht gelassen, vergessen. Nur dass nachts jemand kam und mir etwas zu essen brachte.
Das mit meinem Vater stimmte. Aber er war meistens fort, zur Kur, in einem Sanatorium, auf Reisen. Vor meiner Geburt war er Abgeordneter im Parlament. 1911, in dem Jahr, in dem Laurier abgelöst wurde, erlitt er eine schwere Niederlage. Erst wesentlich später, als ich etwas von Regierungswechseln erfuhr, entdeckte ich, dass diese Niederlage nur ein Begleitumstand einer nationalen Katastrophe gewesen war (wenn man denn geneigt war, das als eine Katastrophe zu betrachten), aber als Kind glaubte ich immer, dass mein Vater aus persönlichen Gründen schmählich und schimpflich abgelehnt worden war. Meine Mutter verglich das Ereignis mit der Kreuzigung. Er war auf den Balkon vom Queen’s Hotel hinausgetreten, um zu sprechen, seine Niederlage einzugestehen, und war daran gehindert worden, niedergeschrien von Tories, die brennende Besen schwenkten. Ich hatte, als ich das hörte, keine Ahnung, dass Politiker sich manchmal solchen Szenen stellen müssen. Meine Mutter setzte den Beginn seines Niedergangs auf diesen Zeitpunkt fest. Obwohl sie nicht ausführte, welche Gestalt dieser Niedergang nahm. Alkoholiker, das war ein Wort, das in unserem Haus nicht in den Mund genommen wurde; ich glaube, zu jener Zeit wurde es kaum irgendwo in den Mund genommen. Säufer, das war das Wort, das benutzt wurde, jedenfalls in der Stadt.
Meine Mutter mochte nicht mehr in dieser Stadt einkaufen, bis auf Lebensmittel, die sie von Robina telefonisch bestellen ließ. Sie mochte auch nicht mehr mit etwelchen Damen reden, Frauen von Totschlägern und Tories.
Ich werde nie mehr den Fuß auf diese Schwelle setzen.
Das sagte sie seitdem von einer Kirche, einem Geschäft, jemandes Haus.
»Er war zu gut für sie.«
Sie hatte niemanden als Robina, zu dem sie diese Dinge sagen konnte. Doch Robina war dafür in gewisser Hinsicht die Richtige. Sie war jemand mit einer eigenen Liste von Leuten, mit denen man nicht redete, von Läden, die man nicht betrat.
»Hier sind doch alle blöde. Die gehören mit dem Besen rausgefegt.«
Worauf sie jedes Mal von einer Ungerechtigkeit berichtete, die ihren Brüdern Jimmy und Duval widerfahren war, des Diebstahls angeklagt, wo sie doch nur ausprobieren wollten, wie eine Taschenlampe funktioniert.
Wenn ich die Gebäude der Stadt hinter mir gelassen hatte, musste ich noch eine Meile weit auf einer geraden Landstraße laufen. Unser Haus stand an deren Ende, ein großes Backsteinhaus mit Erkerfenstern oben und unten. Sie sahen für mich immer unangenehm aus, wie hervorquellende Insektenaugen. Ich war froh, als sie dieses Haus Jahre später abrissen; unser Land machten sie zum Städtischen Flughafen. An der Straße standen nur noch zwei oder drei andere Häuser. Eines davon war das von Stump Troy.
Stump Troy war ein Schwarzbrenner, der bei einem Unfall in Ryan’s Sägewerk beide Beine verloren hatte. Es hieß, dass die Familie Ryan seine Schwarzbrennerei unterstützte und ihm die Polizei vom Hals hielt, damit er keinen Prozess gegen sie anstrengte. Jedenfalls florierte seine Schwarzbrennerei, ohne dass ihm je irgendjemand Schwierigkeiten bereitete. Er hatte einen Sohn namens Howard, der hin und wieder in die Schule kam – aus welchem Ansporn, ließ sich nicht sagen –, in irgendeine Klasse gesteckt wurde, in der gerade Platz für ihn war, und hinten hingesetzt wurde, mit, wenn irgend möglich, leeren Bänken um ihn herum, damit keine Mutter sich beschweren konnte. Kein Beauftragter gegen Schulschwänzerei, falls es damals so jemanden gab, kann sich je um diesen Fall gekümmert haben. In jener Zeit ging man davon aus, dass Menschen eben so waren, wie sie waren, und nicht gebessert oder geändert werden sollten. Lehrer machten Witze über Howard Troy in seiner Abwesenheit und auch in seiner Gegenwart, und niemand kam je auf den Gedanken, das sei nicht normal oder gar grausam. Ansonsten ließen sie ihn in Ruhe.
Bei einem seiner Schulbesuche war er in meiner Klasse, saß schräg hinter mir, und ich tat ihm einen Gefallen, dabei wusste ich nicht erst hinterher, sondern gleich, dass das ein Fehler war. Wir mussten etwas von der Tafel abschreiben. Howard Troy schrieb nichts ab. Er saß ohne Stift oder Papier da und tat nichts. Er kam ohne Utensilien in die Schule. Bleistifte, Papier, Radiergummis und Buntstifte mitbringen, das hätte ebenso wenig zu ihm gepasst, als wäre ihm plötzlich ein Federkleid gewachsen. Er sah stur geradeaus, vielleicht zur Tafel, um zu lesen oder zu verstehen, was dort geschrieben stand, vielleicht auch ins Leere. Was dachte er? Das brachte mich ins Grübeln. Ich mochte die Vorstellung nicht, dass er immer noch da war, darunter, und hinaussah, durch all die Dinge, die Dummheit und Gemeinheit, die ihm zur Last gelegt und von ihm hingenommen worden waren, und an die so fest geglaubt wurde, dass es inzwischen völlig gleichgültig war, ob sie ihm zu Recht vorgeworfen wurden oder nicht. Ich dachte nicht, dass er wie ich war, so weit ging ich nicht, ich hatte nur Angst vor ihm, und es war ein Angstgefühl, das mir bisher noch nicht in den Sinn gekommen war.
Seine Augen hatten die Farbe von Katzenaugen. Sie waren rund, klar und eng zusammenstehend.
Ich schlug meine Kladde in der Mitte auf, so dass ich eine Doppelseite herauszupfen konnte, ohne etwas zu zerreißen, und reichte sie ihm zusammen mit einem angespitzten Bleistift. Er streckte nicht die Hand aus, um sie zu nehmen. Ich legte beides auf seine Bank. Er sagte weder danke, noch zeigte er irgendeine Regung, aber ich sah später, dass er zumindest den Bleistift auf dem Papier einsetzte – ob um von der Tafel abzuschreiben oder Bilder zu malen oder einfach Drahtrollen aus Os zu kritzeln, weiß ich nicht.
Das war der Fehler, das machte ihn auf mich aufmerksam, ebenso wie der Zufall – in meinen Augen kein Zufall! –, dass wir in derselben Straße wohnten. Mir musste eine Lektion erteilt werden. Mag er gedacht haben. Wegen Anmaßung. Wegen Herablassung. Oder er mag den Schimmer einer ungewöhnlichen, interessanten, überraschenden Schwäche gesehen haben.
Die Schneeberge waren hoch, die Straße verlief dazwischen wie ein Tunnel. Unter dem frischen Schnee lagen Wälle aus altem Schnee, hart und grau. Bänder aus Hundeurin liefen entlang der freigeschaufelten Wege daran herunter. Stump Troys Auffahrt wurde stets vom Schneepflug freigehalten, und für wen wohl, fragte Robina. Sie fragte meistens in einem Tonfall, der die Antwort schon kannte. Ich trug ein Messer mit mir herum, ein aus Robinas Küche gestohlenes Schälmesser. Ich zog meinen Fäustling aus, um es in meiner Tasche zu berühren. Verborgen von den Schneebergen, in der Auffahrt seines Vaters, ein, zwei Mal jede Woche, ich wusste nie, wann, wartete Howard Troy auf mich. Er trat heraus, als wollte er vor mir hergehen, mir den schmalen Weg verstellen.
Ficken.
Du willst ficken.
Ich ging mit gesenktem Kopf und angehaltenem Atem an ihm vorbei, geradeso wie jemand, der durch eine Wand aus Feuer geht. Es war wichtig, ihn nicht anzuschauen, nicht schneller zu laufen und die Klinge zu spüren. Ich dachte nie, er würde mir hinterherkommen. Wenn er sich nicht sofort bewegte, würde er sich gar nicht bewegen. Die Gefahr lag in der Aura des Wortes.
All das ist jetzt kaum noch zu verstehen. Ich höre Kinder dieses Wort lässig aussprechen, während sie auf Fahrrädern vorbeifahren. Ich höre es aus dem Mund eines Vaters, der sich über den in der Auffahrt vergessenen Rasenmäher ärgert. Es war damals ein Wort, das einem entgegengeschleudert werden konnte, das einem den Boden unter den Füßen wegziehen konnte. Demütigung stand bevor, war vielleicht schon da, wenn man es hörte, es hören und sich eingestehen musste. Scham konnte einen ersticken. Das meine ich wörtlich. Nicht in dem Augenblick, wo es nur darauf ankam, sicher vorbeizukommen, aber später, was für Mengen schmieriger Scham, was für unverdauliche böse Geheimnisse. Die Verletzlichkeit, die selbst zum Schämen ist. Wir sind schamhaft beschaffen.
Ich hätte nie jemandem etwas davon gesagt, nie jemanden um Hilfe gebeten. Ich hätte lieber jede Gefahr auf mich genommen, jede Gewaltsamkeit oder äußerste Demütigung riskiert, als dass ich wiederholt oder zugegeben hätte, was zu mir gesagt worden war. In meinen Augen war das völlig außerhalb aller Hilfe, aller Autorität. Ich glaubte natürlich, dass dies nur zu mir gesagt werden konnte, dass Howard Troy genau wusste, wie er mich bedrohen konnte, dass es ein Zeichen war. Und darum musste es verborgen und ausgelöscht werden, ausgetreten, schnell, schnell, aber ich schaffte nie, alles davon zu erwischen, alles Wissen, alle Erinnerung, unterirdisch lief es weiter und sprudelte an einer anderen Stelle in meinem Kopf hervor.
Robina nahm mich oft mit zu ihr nach Hause. Wir gingen durch den Wald, hinter dem Gelände, wo jetzt der Flughafen ist, eine Meile oder vielleicht anderthalb Meilen weit zu der kleinen Farm mit Steinhaufen mitten auf den Feldern. Wir nahmen auch im Winter diesen Weg, und Robina zeigte mir Spuren, die, so sagte sie, von Wölfen stammten. Sie wusste von einem Fall, wo ein Baby in einen Schlitten gelegt worden war, den ein Hund zog, und der Hund hatte Wölfe im Wald heulen hören und war losgelaufen, um sich ihnen anzuschließen, mit dem Baby immer noch hintendran. Dann, als der Hund dahin kam, wo die Wölfe waren, verwandelte er sich auch in einen Wolf, und alle zusammen zerrten sie das Baby heraus und fraßen es.
Beim Gehen durch den Wald gewann Robina an Autorität oder nahm eine andere Art von Autorität an, als sie in der Küche meiner Mutter hatte, wo sie unter der unzulänglichen und irreführenden Bezeichnung Dienstmädchen waltete. Ihr großer, flacher Körper schien sich zu lockern, hin und her zu schwingen wie eine Tür in ihren Angeln, kontrolliert, aber gefährlich, wenn man in den Weg geriet. Sie war zu der Zeit vielleicht zwanzig Jahre alt, kam mir aber so alt vor wie meine Mutter, so alt wie die mächtigen älteren Lehrer, wie die Damen, die Geschäfte führten. Ihre Haare waren kurz geschnitten, dunkel, glatt über die Stirn gezogen und von einer Haarklammer festgehalten. Sie roch nach Küche und getrocknetem, verschwitztem Stoff. Sie hatte etwas Rußiges, Rauchiges an sich – an ihrer Haut und ihren Haaren und ihren Kleidern und ihrem Eigengeruch. Gegen all das schien nichts einzuwenden zu sein. Wer würde etwas gegen Robina einwenden, wer wäre so tollkühn?
Wir mussten eine Brücke überqueren, die aus nichts weiter als drei Baumstämmen in unregelmäßigen Abständen bestand. Robina schwang die ausgestreckten Arme, um das Gleichgewicht zu halten. Der eine Ärmel, der halb leer war, flatterte wie ein verletzter Flügel über dem Wasser.
Ihre wichtigste Geschichte handelte davon, wie sie immer mit ihrer Mutter mitzottelte, die vor Jahren Hausarbeit für Damen in der Stadt tat. In einem der Häuser gab es eine elektrische Wasch- und Wringmaschine, damals eine technische Neuheit. Robina, fünf Jahre alt, stand auf einem Stuhl, um Sachen in die Wringmaschine zu stopfen. (Sogar damals schon, begriff ich, war sie unfähig, von irgendetwas die Finger zu lassen, musste bei allen Vorgängen mitbestimmen.) Die Wringmaschine erwischte ihre Hand, ihren Arm. Dieser Arm endete jetzt zwischen dem Ellbogen und dem Handgelenk. Sie zeigte ihn nie. Sie trug immer ein Kleid oder eine Bluse mit langen Ärmeln. Aber ich hatte den Eindruck, sie tat es nicht aus Scham, sondern um das Geheimnis, die Wichtigkeit zu vergrößern. Manchmal liefen ihr kleine Kinder auf der Straße nach und riefen: »Robina, Robina, zeig uns deinen Arm!« Ihre Rufe waren sehnsüchtig und voller Achtung. Sie ließ sie eine Weile gewähren, bevor sie sie wie Hühner verscheuchte. Sie stand an der Spitze jener von mir erwähnten Menschen, die Behinderungen zu etwas Beneidenswertem, Hohn zu Huldigungen machen konnten. In meiner Vorstellung war dieser Arm immer etwas, das sie sich ausgesucht hatte, ein Zeichen von Bösem und Mächtigem.
Ich sehnte mich danach, ihn zu sehen. Ich stellte mir vor, dass er gerade abgesägt war, wie ein Baumstamm, und dass Knochen, Muskeln und Blutgefäße in ihrer knorpeligen, faserigen, inneren Nacktheit zu sehen waren. Ich wusste, meine Chance, ihn zu sehen zu kriegen, war ebenso gering wie die, je einen Blick auf die abgewandte Seite des Mondes zu werfen.
Andere Geschichten drehten sich um ihre Familie.
»Duval war als kleiner Junge den ganzen Tag oben auf dem Dach und hat ihnen geholfen, es mit Schindeln zu decken. Er hätte gar nicht da oben sein dürfen, weil er eine helle Haut hat, er hat die hellste Haut von allen in unserer Familie. Unsere ganze Familie ist hellhäutig, bis auf mich und Findley, dem Anfang und dem Ende. Niemand hat daran gedacht, wie heiß es für Duval wird, oder hat ihm einen Hut aufgesetzt. Ich hätte natürlich dran gedacht, aber ich war nicht zu Hause. Aber selbst wenn sie ihm einen Hut aufgesetzt hätten, hätte er ihn wahrscheinlich abgenommen, weil er denkt, er ist zu schlau, um einen Hut zu tragen, wenn die Männer keinen aufhaben. Also hat er sich nach dem Abendbrot aufs Sofa gelegt, als wollte er ein Nickerchen machen. Nach einer Weile schlägt er die Augen auf und sagt ganz laut: Weg mit den Federn aus meinem Gesicht! Wir konnten keine Federn sehen. Also haben wir uns gewundert. Dann setzt er sich auf, sieht durch uns hindurch, hat uns nicht mal erkannt. Oma, sagt er, hol mir ein Glas Wasser. Bitte, Oma, sagt er, hol mir ein Glas Wasser. Dabei war Oma gar nicht da, sie war tot. Aber so, wie er redete, konnte man meinen, dass sie direkt neben ihm saß, und dass wir anderen alle gar nicht im Zimmer oder zu sehen waren.«
»Hatte er einen Sonnenstich?«
»Er hatte eine Vision vom Himmel.«
Ihre Stimme klang dumpf und verächtlich.
Von allen Mitgliedern ihrer Familie, von Duval und Jimmy, die gleich nach ihr kamen, bis hinunter zu Findley, dem Fünfjährigen, sprach Robina mit sonderbarer Achtung und Ernsthaftigkeit, um mich wissen zu lassen, dass nichts, was ihnen widerfuhr, keine Bevorzugung oder Erkrankung oder Fehde oder Redensart, auch keines ihrer alltäglichen Abenteuer, leicht genommen werden durfte. Ihre eigene Wichtigkeit leuchtete durch die anderen oder deren Wichtigkeit durch sie. Ich begriff, dass ich im Vergleich dazu nicht viel wog. Trotzdem war ich das Kind des Hauses, in dem Robina arbeitete; das war immerhin etwas. Ich war nicht eifersüchtig.
Wenn wir durch den Wald gingen, kam es vor, dass wir von ferne Nüsse oder Kienäpfel fallen hörten, und Robina sagte dann: »Kann sein, Duval oder Jimmy oder die andern sind draußen und schütteln einen Baum.« Und ich fand das aufregend, die Vorstellung, in ihrer Nähe zu sein, im Revier ihrer Streifzüge und Abenteuer. Ich freute mich ebenso wie Robina auf den Anblick des ungestrichenen, etwas schiefen Hauses, dem kein Baum Schatten spendete und das auf verkrauteten Feldern umhertrieb – im Winter auf dem Schnee –, gerade außerhalb der Reichweite des Waldes, wie ein unglückseliges Boot auf einem Teich. Kinder kamen daraus hervorgestürzt, wenn sie uns sahen, hellhaarig bis auf Findley, barfuß, bis der Boden hart gefroren war. Sie schrien und gaben an und hingen sich an den Pumpenschwengel; sie wirbelten im Hof absichtlich Wolken aus Staub und Hühnerfedern auf.
Sie gingen nicht auf die Schule in der Stadt. Ihre Schule lag in einer anderen Richtung, ein oder zwei Meilen weit durch den Wald. Laut Robina stellten sie stets den größten Teil der Schülerschaft. Ich konnte mir vorstellen, wie sie die Schule mehr oder weniger zu einer Erweiterung ihres Zuhauses machten, die hohlen Hände unter die Pumpe hielten, um zu trinken, und auf dem Dach saßen, um die Aussicht zu genießen.
Das bedeutete, wenn ich zu ihnen kam, war ich frei, jemand Fremdes und Neues. Bei ihnen war ich nicht die, die ich war. Ich trug meinen Mantel; sie baten, den Pelz anfassen zu dürfen. Daraufhin spielte ich mich auf. Es war wie Zauberei, es war berauschend. Hört mal zu, sagte ich zu ihnen. Ich erzählte ihnen Rätsel. Ich brachte ihnen die Regeln von Spielen bei, die ich vom Zuschauen kannte. Blindekuh. Räuber und Prinzessin. Plumpsack. Sie, die so wagemutig und streitsüchtig, aber immer noch voller Angst vor der Stadt waren, zerlumpt, aber nicht neidisch, erkoren mich zu ihrer Anführerin. Ich nahm an. Es kam mir ganz natürlich vor. Verstecken. Katz und Maus. Sie hatten eine Schaukel aus Stricken und einem Autoreifen. Sie kletterten auf alles hinauf, und ich tat es ihnen gleich, wenn ich mit ihnen zusammen war. Wir legten ein Brett über einen offenen Brunnen und spazierten darauf herum. Ich war unweigerlich glücklich, oder zumindest denke ich das jetzt. Ich hatte nur ein einziges Problem, und das war das Essen. Robina, die in der Küche meiner Mutter so komplizierte Nachspeisen, solch feuchte schwarze Schokoladentorte, solch unvergleichliches Gebäck, so samtiges Kartoffelpüree zauberte, stand hier nicht an, jedem eine Scheibe Brot mit einem fettigen Stück Schinkenspeck darauf zu geben, und der fast kalt, kaum gebraten. Die anderen kauten alles hastig, schluckten es hinunter und wollten mehr; sie hatten immer Hunger. Ich hätte mein Brot gerne jemandem gegeben, aber die Etikette verlangte von ihnen, es abzulehnen.
Jimmy und Duval waren große Jungen, groß wie Männer, aber immer noch verspielt und unberechenbar. Es konnte vorkommen, dass sie uns jagten und fingen und an den Armen herumschleuderten, bis wir waagerecht durch die Luft flogen. Sie sagten dabei kein Wort und schauten die ganze Zeit über sehr streng drein. Oder sie kamen und stellten sich zu beiden Seiten neben mich und sagten: »Kannst du dich erinnern, ist das die, die nicht kitzlig ist?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, ob das die ist.«
»Ich glaube, ja. Ich glaube, das ist sie.«
Sie nickten bedeutsam, nachdenklich. Dann brauchten sie nur eine Bewegung zu machen, als wollten sie über mich herfallen, damit ich in Schreie ängstlichen Vergnügens ausbrach. Ich schrie nicht nur, weil ich gekitzelt wurde oder gekitzelt werden sollte. Ich freute mich darüber, dass ich anerkannt wurde. Diese Neckerei war für mich eine Anerkennung und eine Begnadigung; ich hatte vor Duval und Jimmy trotz ihrer Größe nie Angst. Ich nahm es nie übel, wenn ich an ihrer Ernsthaftigkeit merkte, dass sie sich über mich lustig machten. In meinen Augen waren sie mächtig, gutmütig und geheimnisvoll, ganz wie Clowns. Sie konnten sogar Kunststücke, wie Clowns sie vollführen. Sie gaben manchmal stumme, erstaunliche Vorstellungen im Staub des Hofes, schlugen Rad und machten Bockspringen. Robina sagte, sie wären gut genug, um zum Zirkus zu gehen, aber sie wollten nicht von zu Hause weg, sie liebten ihr Zuhause. Sie gingen auch nicht zur Schule. Sie waren seit dem Tag nicht mehr hingegangen, an dem der Lehrer Jimmy verprügelte, weil er den Tafelschwamm aus dem Fenster geworfen hatte, worauf Jimmy und Duval zusammen – so Robina – den Lehrer verprügelten. Das war Jahre her.
»Wessen Freundin ist sie?«, fragten sie. Meine. Meine. Und sie kämpften im Spiel um mich, jeder riss mich dem anderen weg und schloss mich fest in die Arme. Ich liebte ihren Geruch nach Scheunen und Motoren und Buckingham’s Feinschnitt.
Sie hatten Feinde, die sich nicht so leicht loswerden ließen wie der Lehrer. Geschäftsinhaber, die Beschuldigungen gegen sie erhoben hatten, zum Beispiel. Oder Stump Troy. Ich wusste, dass er ein Feind von Jimmy und Duval – und deshalb natürlich auch von Robina – war, lange bevor sein Sohn Howard mein Feind wurde. Aber bis dahin hatte ich das nicht weiter beachtet.
Robina sagte, Stump Troy hatte Jimmy und Duval die Polizei auf den Hals gehetzt, weil sie angeblich aus einem der Autos, die an einem Samstagabend vor seinem Haus parkten, Benzin abgezapft hätten. Es stimmte schon, dass sie sich Benzin nahmen – wohl für das alte Auto, das meistens vor der Scheune abgestellt war und nicht fuhr –, aber aus dem Auto eines Mannes, der sie nie für eine Arbeit, die sie für ihn getan hatten, bezahlt hatte, und es war ihre einzige Möglichkeit, sich schadlos zu halten. Sogar schon davor hatte Stump Troy Lügen über sie verbreitet, sagte Robina, und er war derjenige, der eine ganze Bande aus Dungannon dafür bezahlte, Jimmy und Duval vor dem Paramount-Tanzpalast aufzulauern und zusammenzuschlagen – sogar Jimmy und Duval konnten nicht mehr als drei Mann pro Nase erledigen.
Heute denke ich, vielleicht waren sie Rivalen oder zerstrittene Komplizen in der Schwarzbrennerei. Meine Mutter war strikt gegen Alkohol, was unter ihren Umständen verständlich war, und Robina schien im Hause meiner Mutter diese Ansicht zu teilen. Sie sagte, ihre ganze Familie hätte dem Alkohol abgeschworen, die Großmutter hatte es verlangt. Das mag eine Übertreibung gewesen sein. Was nun auch die Wahrheit war, Stump Troy hatte Jimmy und Duval in Schwierigkeiten gebracht und hatte es in der Hand, ihnen noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten, und sie hassten ihn.
»Ah, sie hassen ihn! Wenn sie in einer dunklen Nacht draußen wären und der alte Stump auf der Straße unterwegs wäre, würde es ihm bald leidtun, je von ihnen gehört zu haben!«
»Wie soll er auf die Straße rauskommen?«
»Stimmt. Sein Glück, dass er’s nicht kann.«
»Jimmy und Duval sind gutmütig«, sagte Robina. »Sie sind keine bösen Jungs. Aber sie vergessen es nicht, wenn ihnen jemand übel mitgespielt hat. Dann rücken sie dem auf den Pelz.«
Bestrafungen. Ich stellte mir vor, wie ich über Howard Troys Augen lief. Spikes in seine Augen trieb. Die Spikes waren an den Sohlen meiner Schuhe, sie waren lang und scharf. Seine Augäpfel traten aus den Höhlen, ungeschützt, groß wie umgekehrte Schüsseln, und ich lief darüber, stach sie blutig, trat sie platt, mit ruhigem Schritt. Mir träumte nicht von irgendetwas Sauberem und Zauberischem, nicht vom richtigen Wort, in meinem Kopf gesprochen, das ihn augenblicklich zusammenschrumpfen ließ. Ich hätte ihm gern den Kopf abgerissen, die Glieder vom Körper getrennt, das Fleisch breiig und tropfend wie eine Wassermelone; ihn mit Äxten, Sägen, Messern und Hämmern traktiert. Wenn ich ihn mit dem Messer überraschen konnte, das keinen Schlitz in ihn machte, sondern ein rundes Loch, wie man es in einen Zuckerahorn für den Sirup schneidet, würde ich es tief hineinstoßen, und dann würde der Eiter, das ganze Gift herausspritzen, alles würde auslaufen.
Das Feuer füllte das Haus, wie Blut ein Furunkel füllt. Es schien jede Minute zu platzen, aber die Haut hielt noch. Die Haut, das waren das Dach und die Wände von Stump Troys Haus. So dünn konnte Holz aussehen.
»Das Dach geht als Nächstes hoch!«, sagten die Leute, und: »Zum Glück weht kein Wind!«
Ich verstand nicht, warum das ein Glück war oder was jetzt ein Glück sein konnte. Das Haus, das ich nie recht anzuschauen gewagt hatte, erwies sich als so schlicht wie ein Haus auf einer Kinderzeichnung – in der Mitte eine Tür und auf jeder Seite ein schmales Fenster, darüber ein Erkerfenster. Beide unteren Fenster waren eingeschlagen worden, von Howard Troy, der versucht hatte, hineinzugelangen. Männer hatten ihn zurückgehalten. Jetzt saß er auf dem Boden vor dem brennenden Haus. Er war geschwächt, allem Anschein nach machtlos, genau wie in der Schule.
Die städtische Feuerwehr war gekommen, aber als die Feuerwehrmänner eintrafen, gab es für sie nichts mehr zu tun als die Windstille zu loben. Sie nahmen die Leitern vom Wagen, stellten sie aber nirgendwo an. Sie schafften es nach einiger Zeit, dem letzten Hydranten – das war natürlich außerhalb der Stadtgrenzen – Wasser abzuzapfen, und sie bespritzten verfallende Nebengebäude, den Zaun und das Klosett. Sie ließen den Wasserstrahl auch über die Flammen streichen, aber das war nur wie lächerliche Angeberei. »Ihr könntet genauso gut zurücktreten und alle drauf spucken!«, schrie Robina, die fürchterlich aufgeregt war. Sie zitterte und knisterte, war selbst wie ein brennender Balken. Sie stand an der Pforte, wo ein großer, verwilderter Forsythienstrauch erblüht war, sehr früh, kaum dass der Schnee verschwunden war. Sie achtete darauf, dass ich an ihrer Seite blieb. Meine Mutter, die uns hergefahren hatte, saß im Auto ein Stückchen die Straße hoch. Sie schaute vermutlich auch zu, mochte sich aber nicht unter die Gaffer mischen.
Ich hatte als Erste das Feuer von meinem Fenster im ersten Stock gesehen, hatte etwas Schönes gesehen, ein Aufglühen in einem Winkel der nächtlichen Landschaft, anders als der Schein der städtischen Lichter, ein warmer, sich ausbreitender Teich. Es war das Haus, das dieses Licht ausstrahlte, durch seine Risse und Fenster.
Robinas Problem, dachte ich, war, dass sie nichts gegen das Feuer unternehmen konnte. Sie konnte die Feuerwehrmänner nicht umherscheuchen. Sie versuchte es, aber die gingen nur weiter mürrisch ihrer Arbeit nach, keiner von ihnen hatte es eilig. Sie konnte die Informationen korrigieren, die die Leute austauschten; das war wenigstens etwas.
»Zum Glück ist keiner da drin«, sagte ein Neuankömmling.
Und Robina sagte streng: »Wissen Sie denn nicht, was das für ein Haus ist?«
Offenbar gab es Ahnungslose.
»Wissen Sie denn nicht, wer in diesem Haus wohnt? Stump Troy.«
Das Verständnis war ungenügend, also fuhr sie fort.
»Na Stump Troy, der keine Beine hat! Der wird da nicht rausgelaufen sein, oder? Der ist immer noch da drin.«
»Mein Gott«, sagte ein Mann ehrfürchtig. »Mein Gott, der wird ja geröstet!«
Das Geräusch des Feuers war erstaunlich. Es war wie ein schrilles Schrappen, wie Bretter oder ein Rasenmäher, die über Zement gezerrt werden. Ich hätte nie gedacht, dass ein Feuer sich so anhören würde. Ein raues, lebhaftes Tosen, das, was die Leute Krach nennen. In diesem Krach, schrie da Stump Troy, rief er um Hilfe? Falls er es tat, war das Feuer zu laut für ihn, niemand konnte ihn hören.
Es war noch vor Mitternacht, also waren die meisten noch nicht zu Bett gegangen oder bereit gewesen, wieder aufzustehen. Die Straße war jetzt von Autos verstopft. Etliche Leute saßen einfach in ihrem Auto und sahen zu, aber viele waren auch draußen, gingen den Feuerwehrleuten hinterher oder standen am Zaun mit angeleuchtetem Gesicht. Sogar Kinder rannten nicht herum, das Feuer beanspruchte zu viel von ihrer Aufmerksamkeit. Ich sah Robinas jüngere Brüder und Schwestern, wenigstens einige von ihnen. Sie mussten das Feuer von ihrem Hof aus gesehen haben – zu der Zeit musste der Feuerschein schon am Himmel stehen – und den ganzen Weg hierher gelaufen sein, nachts durch den dunklen Wald. Robina sah sie auch und rief ihnen etwas zu.
»Florence! Carter! Findley! Haltet euch da raus!«
Sie hielten sich ohnehin im Hintergrund, waren nicht so nahe dran wie wir.
Sie fragte nicht, wo Jimmy und Duval waren, die solch ein Spektakel bestimmt nicht gern versäumt hätten. Ich stellte die Frage für sie, so laut ich konnte.
»Florence! Wo sind Jimmy und Duval?«
Robina holte mit ihrem vollständigen Arm aus und schlug mich ins Gesicht, auf den Mund, der härteste Schlag, der mir je versetzt worden war oder werden würde. Er kam so plötzlich, dass ich dachte, er hätte etwas mit dem Feuer zu tun (denn viele sagten schon lange: »Passt bloß auf, das ganze Ding geht gleich hoch, Bretter werden rumfliegen!«), oder Robinas Arm wäre herausgeschossen, um zu verhindern, dass mich etwas anderes traf. Im selben Augenblick, so schien es, flog das Dach in die Luft, und die Leute hasteten zurück. Flammen schossen in den Himmel. Fast im selben Augenblick erscholl aus einem anderen Teil des Hofes ein Schrei, allerdings verstand ich erst später, weshalb der Schrei ausgestoßen wurde. In meiner Verwirrung dachte ich sogar, dass er etwas mit Robinas Maulschelle zu tun hatte. In Wirklichkeit galt er Howard Troy, der von dem Platz, an dem er gesessen hatte, in den brennenden, zusammenbrechenden Hauseingang gestürzt war, viel zu spät, um jemanden zu retten, falls das seine Absicht war, zu spät, um selbst gerettet zu werden.
Später gab es mehrere Erklärungen dafür. Eine war, dass er eigentlich in die andere Richtung rennen wollte, vom Feuer weg, aber in seinem momentanen Wahnsinn stattdessen geradewegs hineinrannte. Eine andere war, dass er seinen Vater schreien hörte und immer noch dachte, er könnte ihn herausholen. Oder meinte, ihn schreien zu hören. Dabei war Stump Troy zu dem Zeitpunkt bestimmt nicht mehr in der Lage, zu schreien. Diese Erklärung hätte aus Howard Troy einen Helden gemacht und war nicht populär, obwohl es überraschenderweise einige wenige gab, die ihr anhingen, darunter meine Mutter.
Eine andere Erklärung war, dass Howard Troy das Feuer selbst gelegt hatte, vielleicht nach einem Streit mit seinem Vater, vielleicht aus keinem besonderen Grund, allein, um zu zeigen, was er tun konnte, all die Zeit über hatte eigentlich tun wollen, während ihm die Leute zu Recht misstrauten. Es gab Rückhalt für diese Meinung, in Form eines leeren Benzinkanisters. Diejenigen, die glaubten, dass das Feuer gelegt worden war, behaupteten manchmal, dass Stump es selbst getan oder in Auftrag gegeben haben könnte, um die Versicherung zu betrügen. Er hatte vorgehabt, nicht im Haus zu sein, oder sich darauf verlassen, dass Howard ihn herausholen würde, und der hatte ihn durch Feigheit oder Saumseligkeit im Stich gelassen. Dann war Howard aus Gewissensbissen oder Angst vor der Polizei ins Feuer gerannt.
In jenen Augenblicken jedoch gab es keine Erklärungen. Die Leute konnten nichts weiter tun, als eiligst anderen Leuten alles zu erzählen, die vielleicht nichts gesehen hatten. Ich war nicht überrascht. Das Feuer selbst und der Schlag in mein Gesicht hatten mich gegen weitere Überraschungen abgeschirmt. Ich hielt die Hände an den Mund, aber wundersamerweise hatten sich meine Zähne nicht gelockert; das einzige Blut kam aus einer kleinen Wunde innen an der Lippe von der Spitze eines Zahns.
Robina schien das Feuer plötzlich sattzuhaben. Sie zog mich vom Tor weg die Straße entlang. Das Auto meiner Mutter war nicht zu sehen.
»Sie ist schon vor uns nach Hause gefahren«, sagte Robina. »Ich nehm’s ihr nicht übel. Diese Idioten können von mir aus die ganze Nacht da stehen, wenn sie wollen. Ich weiß, worauf die warten. Die wollen sehen, wie sie die Leiche heraustragen. Die Leichen«, verbesserte sie sich. »Da können die lange warten.«
Ich antwortete nicht, schaute mich auch kein einziges Mal zum Feuer um. Ich ging voran. Robina stieß mich einmal an, damit ich nicht in den Straßengraben stolperte. Als sie mich berührte, schrak ich zusammen.
»Du läufst wie eine Schlafwandlerin. Ich hab dich nur gepackt, damit du nicht kopfüber in den Straßengraben fällst.«
Als wir an den Autos vorbei waren und es genug Platz gab, holte Robina mich ein, um neben mir zu gehen. Ich hatte das Gefühl, wenn sie rings um mich hätte sein können, gleichzeitig vor mir und hinter mir und auf beiden Seiten, dann hätte sie es getan. Sie wollte mich umschließen, in mich hineinspähen, bis sie fand, was sie suchte, und es umänderte. Unterdessen sagte sie: »Wenn du dir wegen so einer Sache Gedanken machst, dann wirst du es in dieser Welt sehr schwer haben.«
Ich versuchte in keiner Weise, Robina zu bestrafen oder zu ärgern. Ich hatte wirklich vor, ihr zu antworten. Eine Zeitlang glaubte ich, dass ich geantwortet hatte, geradeso, wie man sich im Halbschlaf sagt, dass man etwas tun muss – ein Fenster schließen, das Licht ausmachen –, und sich dann im Schlaf selbst überzeugt, dass man es tatsächlich getan hat. Und nach einem solchen Schlaf kann man nie ganz sicher sein, was wirklich passiert ist, was wirklich gesagt worden ist, und was man geträumt hat. Ich wusste hinterher nie, ob Robina wirklich von Zeit zu Zeit etwas zu mir gesagt hatte, wie ich es mir einbildete, mit einer untypisch weichen und besorgten Stimme, die etwas androhte oder versprach, Angst machte und beruhigte.
Oder ob sie je gesagt hatte: »Hör zu. Ich zeig dir meinen Arm.«
Falls sie es tat, gab ich ihr auch darauf keine Antwort.
Als ich auf die Highschool ging oder vom College übers Wochenende zu Hause war, sah ich Robina manchmal über die Hauptstraße laufen, mit ihrem schlenkernden Ärmel, dem weit ausholenden gesunden Arm und ihren langen Schritten, die immer bergab zu führen schienen. Sie arbeitete schon seit langer Zeit nicht mehr für uns. Als mein Vater auf Dauer nach Hause kam, mit einer Pflegerin, die in der Küche das Regiment übernahm, war kein Platz mehr für sie da und auch kein Geld. Ihr Anblick erinnerte mich unweigerlich an meine Kindheit, die so lange her zu sein schien und erfüllt von panischer Angst und Schande. Denn ich hatte mich verändert, meine Situation hatte sich verändert, ich glaubte, dass ich mit etwas Glück und klugem Verhalten eines Tages den Anschein erwecken konnte, so zu sein wie alle anderen. Und das ist mir in der Tat gelungen.
Robina sah inzwischen für mich merkwürdig aus; bizarr, verbohrt, nicht sehr sauber. Trotzdem hätte ich mit ihr geredet, ich war dazu bereit. Aber sie wandte jedes Mal den Kopf ab und sagte kein Wort, zeigte mir, dass ich eine von jenen Personen geworden war, die sie beleidigt hatten.
Robina mag inzwischen tot sein. Gut möglich, dass Jimmy und Duval auch tot sind, obwohl das schwer vorstellbar ist. Ich habe immer noch ein paar Jahre bis zum Ruhestand vor mir. Ich bin Witwe, arbeite im öffentlichen Dienst und wohne im achtzehnten Stock eines Mietshauses. Es macht mir nichts aus, allein zu sein. Abends lese ich, schaue fern. Nein, nicht immer. Manchmal sitze ich im Dunkeln, trinke Whisky mit Wasser und denke nutzlos und hilflos, fast gemütlich über Dinge wie diese nach, die ich vergessen hatte oder an die zu denken ich lange Zeit nicht ertragen konnte.
Wenn alle tot sind, die sich daran erinnern können, dann, nehme ich an, wird mit dem Feuer Schluss sein, geradeso, als wäre niemand je durch diese Tür gerannt.