Das gefundene Boot

Am Ende der Bell Street, der McKay Street, der Mayo Street begann die Flut. Es war der Wawanash River, der in jedem Frühjahr über die Ufer trat. In manchem Frühjahr, sagen wir, in einem von fünf, bedeckte er die Straßen auf dieser Seite der Stadt, überspülte die Felder und bildete einen flachen, kabbeligen See. Das vom Wasser zurückgeworfene Licht machte alles so hell und kalt, wie es in einer Stadt am Ufer der großen Seen ist, und weckte oder erneuerte in den Menschen bestimmte vage Hoffnungen auf eine Katastrophe. Hauptsächlich am späten Nachmittag und am frühen Abend gab es Leute, die hinauspilgerten, um das Wasser zu betrachten und zu erörtern, ob es noch stieg und ob diesmal die Stadt überschwemmt werden könnte. Im Allgemeinen waren sich jene unter fünfzehn und über fünfundsechzig am sichersten, dass dieser Fall eintreten würde.

Eva und Carol fuhren auf ihren Fahrrädern hinaus. Sie verließen die Straße – es war das Ende der Mayo Street, hinter allen Häusern – und radelten geradewegs auf eine Wiese, über einen Drahtzaun hinweg, der vom Gewicht des Schnees im Winter völlig plattgedrückt worden war. Sie rollten noch ein Stück, bis das lange Gras sie aufhielt, dann legten sie ihre Fahrräder hin und gingen ans Wasser.

»Wir müssen uns einen Baumstamm suchen und drauf reiten«, sagte Eva.

»Spinnst du, wir werden uns die Beine abfrieren.«

»Spinnst du, wir werden uns die Beine abfrieren!«, sagte einer der Jungen, die auch am Rand des Wassers waren. Er sprach in beleidigtem, weinerlichem Tonfall, so, wie Jungen Mädchen nachahmten, obwohl Mädchen überhaupt nicht so redeten. Die Jungen – sie waren zu dritt – gingen alle in dieselbe Schulklasse wie Eva und Carol und waren ihnen namentlich bekannt (sie hießen Frank, Bud und Clayton), aber Eva und Carol, die sie von der Straße aus gesehen und erkannt hatten, würdigten sie keines Wortes oder Blickes, verrieten auch mit keinem Zeichen, dass sie ihre Anwesenheit überhaupt bemerkt hatten. Die Jungen schienen dabei zu sein, ein Floß zu bauen, aus Treibholz, das sie aus dem Wasser gefischt hatten.

Eva und Carol zogen Schuhe und Strümpfe aus und wateten hinein. Das Wasser war so kalt, dass ihre Beine schmerzten, als schössen blaue elektrische Funken durch ihre Adern, aber sie gingen weiter, zogen den Rock hoch, von hinten durch die Beine und vorn gebündelt, damit sie ihn halten konnten.

»Sieh mal die Enten da watscheln.«

»Enten mit fetten Ärschen.«

Eva und Carol ließen sich natürlich nicht anmerken, das gehört zu haben. Sie angelten sich einen Baumstamm, kletterten hinauf und nahmen zwei Bretter, die auf dem Wasser trieben, als Paddel. In der Flut schwamm immer alles Mögliche – Äste, Zaunpfähle, Baumstämme, Straßenschilder, altes Bauholz; manchmal Heizkessel, Waschzuber, Töpfe und Pfannen oder sogar ein Autositz oder ein Sessel, als wäre die Flut irgendwo in eine Müllkippe geraten.

Sie paddelten vom Ufer weg auf den kalten See hinaus. Das Wasser war vollkommen klar, sie konnten das braune Gras am Grund sehen. Angenommen, das ist das Meer, dachte Eva. Sie dachte an versunkene Städte und Länder. Atlantis. Angenommen, sie fuhren in einem Wikingerschiff – Wikingerschiffe auf dem Atlantik waren zerbrechlicher und schmaler als dieser Baumstamm auf der Flut –, und sie hatten Meilen von klarem Meerwasser unter sich, dann eine Stadt mit vielen Türmen, unversehrt wie ein Juwel, unerreichbar auf dem Grund des Ozeans.

»Das ist ein Wikingerschiff«, sagte sie. »Ich bin die Schnitzerei vorne dran.« Sie drückte die Brust vor und reckte den Hals, versuchte eine Kurve zu bilden, sie zog eine Fratze und streckte die Zunge heraus. Dann drehte sie sich um und nahm zum ersten Mal Notiz von den Jungen.

»He, ihr Flaschen!«, rief sie ihnen zu. »Ihr traut euch nicht, so weit rauszukommen, das Wasser ist zehn Fuß tief!«

»Du lügst«, antworteten die uninteressiert und hatten Recht.

Die Mädchen steuerten den Baumstamm um eine Baumreihe, wichen schwimmendem Stacheldraht aus und gelangten in eine kleine Bucht, die durch eine natürliche Senke im Boden entstanden war. Dort, wo jetzt die Bucht war, würde später im Frühling ein Tümpel voller Frösche sein, und zur Mitte des Sommers würde überhaupt kein Wasser mehr zu sehen sein, nur niedriges Gestrüpp aus Schilf und Büschen, grün, was zeigte, dass der Schlamm um ihre Wurzeln immer noch feucht war. Größere Sträucher und Weiden wuchsen am steilen Ufer dieses Tümpels und ragten immer noch teilweise aus dem Wasser. Eva und Carol ließen den Baumstamm hineintreiben. Sie sahen eine Stelle, an der sich etwas verfangen hatte.

Es war ein Boot oder ein Teil davon. Ein altes Ruderboot, dem eine Seite fast ganz fehlte, das Sitzbrett baumelte lose. Es hing zwischen den Zweigen, auf der Seite, falls es eine gehabt hätte, mit dem Bug nach oben.

Der Einfall kam ihnen beiden gleichzeitig, ohne Beratung:

»He, Jungs! He, ihr da!«

»Wir haben ein Boot für euch gefunden!«

»Hört mit eurem blöden Floß auf und kommt her und seht euch das Boot an!«

Als Erstes überraschte sie, dass die Jungen wirklich kamen, sie rannten stolpernd über Land und rutschten den Abhang herunter, um es zu sehen.

»Wo denn?«

»Wo ist es, ich sehe kein Boot.«

Als Zweites überraschte sie, dass die Jungen, als sie endlich sahen, was für ein Boot gemeint war, dieses alte, von der Flut zerschmetterte, von den Zweigen gehaltene Wrack, nicht begriffen, dass sie hereingelegt, für dumm verkauft worden waren. Sie ließen sich kein bisschen Enttäuschung anmerken, sondern schienen sich über die Entdeckung zu freuen, als wäre das Boot in Ordnung und neu. Sie waren schon barfuß, weil sie ins Wasser gewatet waren, um Bauholz herauszufischen, und so wateten sie ohne zu zögern hier hinein, umringten das Boot und kümmerten sich überhaupt nicht mehr, nicht einmal auf abfällige Art, um Eva und Carol, die auf ihrem Baumstamm wippten. Eva und Carol mussten sie ansprechen.

»Wie wollt ihr das denn flottbekommen?«

»Das schwimmt sowieso nicht.«

»Wie kommt ihr auf die Idee, dass es schwimmt?«

»Es wird sinken. Blub-blub-blub, ihr werdet alle ertrinken.«

Die Jungen antworteten nicht, denn sie waren zu beschäftigt damit, um das Boot herumzugehen und vorsichtig daran zu ziehen, um zu sehen, wie sie es mit möglichst geringem Schaden befreien konnten. Frank, der belesenste, beredteste und ungeschickteste der drei, begann von dem Boot als von einer »sie« zu sprechen, eine Afferei, die Eva und Carol mit einer verächtlichen Schnute quittierten.

»Sie hängt an zwei Stellen fest. Ihr müsst aufpassen, ihr kein Loch in den Boden zu reißen. Sie ist schwerer, als ihr denkt.«

Es war Clayton, der hochkletterte und das Boot losmachte, und es war Bud, ein großer, dicker Junge, der es mit dem Rücken hochstemmte, damit es ins Wasser glitt und sie es ans Ufer hieven konnten. All das dauerte einige Zeit. Eva und Carol verließen ihren Baumstamm und wateten aus dem Wasser. Sie gingen über Land zu ihren Schuhen und Strümpfen und Fahrrädern. Sie brauchten nicht zu der Stelle zurückzukommen, aber sie kamen. Sie standen oben auf dem Hügel und lehnten sich auf ihre Fahrräder. Sie fuhren nicht nach Hause, aber sie setzten sich auch nicht hin und schauten offen zu. Sie standen sich mehr oder weniger gegenüber, blickten aber zum Wasser hinunter und zu den Jungen, die sich mit dem Boot abmühten, als hätten sie aus Neugier nur für einen Augenblick angehalten und blieben nun länger als beabsichtigt, um zu sehen, was aus diesem nicht sehr viel versprechenden Unternehmen wurde.

Gegen neun Uhr oder als es fast dunkel war – dunkel für die Menschen in den Häusern, aber draußen noch nicht ganz – kehrten alle in die Stadt zurück, gingen in einer Art Prozession die Mayo Street entlang. Frank, Bud und Clayton trugen das Boot mit dem Kiel nach oben, Eva und Carol liefen hinterher und schoben ihre Fahrräder. Die Köpfe der Jungen verschwanden fast im Dunkel des umgekehrten Bootes mit seinem Geruch nach nassem Holz und kaltem morastigem Wasser. Die Mädchen konnten nach vorn schauen und die Straßenlaternen mit ihren Blechreflektoren sehen, eine Lichterkette die Mayo Street hinauf bis hoch zum Wasserturm. Sie bogen in die Burns Street zu Claytons Haus, denn das war das nächstgelegene ihrer Häuser. Auch dies war für Eva und Carol nicht der Heimweg, aber sie gingen weiter mit. Die Jungen waren vielleicht zu sehr davon in Anspruch genommen, das Boot zu tragen, um ihnen zu sagen, sie sollten abhauen. Ein paar kleinere Kinder waren noch draußen und spielten auf dem Bürgersteig Hopse, obwohl sie kaum noch etwas sehen konnten. Zu dieser Jahreszeit war der schneefreie Bürgersteig immer noch etwas Neues und Erfreuliches. Diese Kinder gaben den Weg frei und sahen das Boot mit widerwilligem Respekt passieren; sie riefen ihm Fragen nach, wollten wissen, wo es herkam und was mit ihm passieren sollte. Niemand antwortete ihnen. Eva und Carol wie auch die Jungen weigerten sich, ihnen zu antworten oder sie auch nur anzusehen.

Die fünf gelangten auf Claytons Hof. Die Jungen verlagerten die Last, als wollten sie das Boot abladen.

»Besser, ihr bringt es nach hinten, wo keiner es sehen kann«, sagte Carol. Das war das Erste, was einer von ihnen gesagt hatte, seit sie in der Stadt waren.

Die Jungen sagten nichts, gingen aber weiter, folgten einem Sandweg zwischen Claytons Haus und einem schiefen Bretterzaun. Sie luden das Boot im Hinterhof ab.

»Das Boot ist gestohlen, wisst ihr«, sagte Eva hauptsächlich wegen der Wirkung. »Es muss jemandem gehört haben. Ihr habt es gestohlen.«

»Dann wart ihr es, die’s gestohlen haben«, sagte Bud außer Puste. »Ihr habt’s zuerst gesehen.«

»Ihr habt’s genommen.«

»Dann waren wir’s alle. Wenn einer von uns dran ist, dann sind wir alle dran.«

»Wirst du irgendwem was von ihnen sagen?«, fragte Carol, als sie mit Eva nach Hause fuhr, auf den Straßen, die jetzt zwischen den Laternen dunkel waren und vom Winter voller Schlaglöcher.

»Liegt bei dir. Ich sag nichts, wenn du nichts sagst.«

»Und ich sag nichts, wenn du nichts sagst.«

Sie fuhren schweigend weiter, gaben etwas auf, waren aber nicht unzufrieden.

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Der Bretterzaun auf Claytons Hinterhof hatte in Abständen Pfähle, die ihn stützten oder es versuchten, und auf diesen Pfählen verbrachten Eva und Carol mehrere Abende, saßen darauf in feschen, aber reichlich unbequemen Stellungen. Sonst lehnten sie sich einfach an den Zaun, während die Jungen an dem Boot arbeiteten. An den ersten beiden Abenden versuchten Kinder aus der Nachbarschaft, die das Hämmern anlockte, auf den Hof zu gelangen, um zu sehen, was da los war, aber Eva und Carol verstellten ihnen den Weg.

»Wer hat gesagt, ihr dürft hier rein?«

»Wir dürfen eben hier auf den Hof.«

Diese Abende wurden länger, die Luft milder. Auf den Bürgersteigen fing das Seilspringen an. Weiter unten an der Straße stand eine Reihe von Zuckerahornbäumen, die angezapft worden waren. Kinder tranken den Saft so schnell, wie er in die Eimer tropfen konnte. Der alte Mann und die alte Frau, denen die Bäume gehörten und die hofften, daraus Sirup zu gewinnen, kamen aus dem Haus gerannt und machten Geräusche, als versuchten sie, Krähen zu verscheuchen. Schließlich trat wie jeden Frühling der alte Mann auf die Veranda und feuerte mit seiner Schrotflinte in die Luft, und dann hörten die Diebstähle auf.

Keiner von denen, die am Boot arbeiteten, gab sich damit ab, Saft zu stehlen, obwohl alle es im letzten Jahr getan hatten.

Das Holz für die Reparatur des Bootes wurde hier und da aufgesammelt, entlang der Wege zwischen den Hinterhöfen. Zu dieser Jahreszeit lag vieles herum – alte Bretter und Äste, durchweichte Wollhandschuhe, Löffel, die mit dem Spülwasser ausgeschüttet worden waren, Deckel von Puddingschüsseln, die zum Abkühlen in den Schnee gestellt worden waren, all der Krempel, der verloren gehen und den Winter überstehen kann. Die Werkzeuge kamen aus Claytons Keller – sie stammten wahrscheinlich aus der Zeit, als sein Vater noch lebte –, und obwohl sie niemanden hatten, der sie beriet, schienen die Jungen mehr oder weniger dahinterzusteigen, wie Boote gebaut oder repariert werden. Frank war derjenige, der mit schematischen Darstellungen in Büchern und Exemplaren der Zeitschrift Popular Mechanics ankam. Clayton betrachtete diese Abbildungen, ließ sich von Frank die Anweisungen dazu vorlesen und beschloss dann, auf seine eigene Art vorzugehen. Bud konnte am besten sägen. Eva und Carol beobachteten alles vom Zaun aus, übten Kritik und dachten sich Namen aus. Die Namen für das Boot, die ihnen einfielen, waren: Seerose, Seepferdchen, Flutkönigin und Caro-Eve, nach ihnen, weil sie es gefunden hatten. Die Jungen sagten nicht, welcher dieser Namen, falls überhaupt einer, ihnen gefiel.

Das Boot musste geteert werden. Clayton machte einen Topf mit Teer auf dem Küchenherd heiß, kam damit heraus, setzte sich rittlings auf das umgedrehte Boot und strich es langsam in seiner gründlichen Art an. Die anderen Jungen sägten ein Brett für einen neuen Sitz zurecht. Während Clayton arbeitete, kühlte der Teer ab und verdickte sich, so dass er den Pinsel nicht mehr bewegen konnte. Er wandte sich an Eva, hielt ihr den Topf hin und sagte: »Du kannst mal reingehen und den auf dem Herd heiß machen.«

Eva nahm den Topf und ging die hinteren Stufen hoch. Die Küche kam ihr stockfinster vor nach dem Licht draußen, aber sie musste hell genug sein, um etwas zu sehen, denn Claytons Mutter stand am Bügelbrett und bügelte. Sie tat das, um den Lebensunterhalt zu verdienen, nahm Wäsche zum Waschen und Bügeln an.

»Darf ich den Topf auf den Herd stellen?«, fragte Eva, die dazu erzogen worden war, zu Eltern höflich zu sein, sogar, wenn es Waschfrauen waren, und der aus irgendeinem Grunde viel daran lag, auf Claytons Mutter einen guten Eindruck zu machen.

»Dann musst du das Feuer schüren«, sagte Claytons Mutter, als bezweifelte sie, dass Eva wusste, wie man das macht. Aber Eva konnte jetzt etwas sehen, sie hob die Herdplatte mit dem Heber, nahm den Feuerhaken und schürte die Glut zu Flammen. Sie rührte den Teer um, als er weich wurde. Sie fühlte sich bevorzugt. In diesem Augenblick und noch danach. Vor dem Einschlafen kam ihr ein Bild von Clayton in den Sinn; sie sah ihn rittlings auf dem Boot sitzen und den Teer verstreichen, konzentriert und sorgfältig, ganz davon in Anspruch genommen. Sie dachte daran, wie er sie angesprochen hatte aus seiner Abgeschiedenheit, in einem so normalen, friedlichen, selbstverständlichen Tonfall.

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Am vierundzwanzigsten Mai, einem schulfreien Tag mitten in der Woche, wurde das Boot aus der Stadt hinausgetragen, was jetzt ein weiter Weg war, von der Straße hinunter über die Wiesen und Zäune, die ausgebessert worden waren, bis dahin, wo der Fluss in seinen normalen Ufern strömte. Eva und Carol, ebenso wie die Jungen, wechselten sich beim Tragen ab. Es wurde an einer von Kühen platt getrampelten Stelle zwischen frisch ergrünten Weidenbüschen zu Wasser gelassen. Die Jungen kletterten als Erste hinein. Sie johlten triumphierend, als das Boot tatsächlich schwamm, als es erstaunlicherweise auf der Strömung dahinglitt. Das Boot war außen schwarz und innen grün angestrichen, mit gelben Sitzen und außen einem gelben Streifen ringsherum. Es stand nun doch kein Name darauf. Die Jungen konnten sich nicht vorstellen, dass es einen Namen brauchte, um sich von allen anderen Booten auf der Welt zu unterscheiden.

Eva und Carol rannten am Ufer entlang, beladen mit Taschen voll mit Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade, sauren Gurken, Bananen, Schokoladenkuchen, Kartoffelchips, Grahamkeksen mit Maissirup dazwischen und fünf Flaschen Limo, die im Flusswasser gekühlt werden sollten. Die Flaschen schlugen gegen ihre Beine. Sie schrien, weil sie auch an die Reihe kommen wollten.

»Wenn sie uns nicht ranlassen, sind sie Schweine«, sagte Carol, und sie schrien zusammen: »Wir haben’s gefunden! Wir haben’s gefunden!«

Die Jungen antworteten nicht, aber nach einer Weile brachten sie das Boot an Land, und Carol und Eva stürzten keuchend die Uferböschung hinunter.

»Leckt es?«

»Nein, noch nicht.«

»Wir haben eine Schöpfdose vergessen«, jammerte Carol, stieg aber trotzdem mit Eva ein, und Frank stieß sie ab, mit dem Ruf: »Ab geht’s in ein feuchtes Grab!«

Und das Sonderbare daran, in einem Boot zu sein, war, dass es nicht auf dem Wasser wippte wie ein Baumstamm, sondern sich ins Wasser schmiegte, so dass man sich darin fühlte, als sei man nicht auf etwas im Wasser, sondern im Wasser selbst. Bald fuhren alle im Boot in gemischter Reihenfolge, zwei Jungen und ein Mädchen, zwei Mädchen und ein Junge, ein Mädchen und ein Junge, bis alles so durcheinander war, dass sich nicht mehr feststellen ließ, wer als Nächster an die Reihe kam, und es ohnehin allen egal war. Sie fuhren flussabwärts – die, die nicht im Boot saßen, rannten am Ufer entlang, um Schritt zu halten. Sie kamen unter zwei Brücken durch, eine aus Eisen, eine aus Beton. Einmal sahen sie einen großen Karpfen, der sich einfach ausruhte, er schien ihnen in dem von einer Brücke verdunkelten Wasser zuzulächeln. Sie wussten nicht, wie weit sie auf dem Fluss gelangt waren, aber die Gegend hatte sich verändert – das Wasser war flacher, das Land platter geworden. Am anderen Ende einer nicht eingezäunten Wiese sahen sie ein Gebäude, das wie ein verlassenes Haus aussah. Sie zogen das Boot aufs Ufer, banden es fest und machten sich auf den Weg über die Wiese.

»Das ist der alte Bahnhof«, sagte Frank. »Das ist Pedder Station.« Die anderen hatten diesen Namen schon einmal gehört, aber er war derjenige, der Bescheid wusste, denn sein Vater war der Bahnhofsvorsteher in der Stadt. Er sagte, das war ein Bahnhof an einer Nebenstrecke, die aufgelassen worden war, und hier hatte ein Sägewerk gestanden, aber vor langer Zeit.

Im Bahnhof war es dunkel und kühl. Alle Fenster waren zerbrochen. Glas lag in Scherben und in größeren Stücken auf dem Boden. Sie gingen umher auf der Suche nach den großen Scherben und zertraten sie, es war wie die Eisschicht auf Pfützen eintreten. Einige Aufbauten waren noch da, man konnte sehen, wo der Fahrkartenschalter gewesen war. Eine umgekippte Bank lag da. Jemand war hier gewesen, es sah aus, als ob andauernd welche herkamen, obwohl es so weit fort von allem war. Bierflaschen und Limoflaschen lagen herum, auch leere Zigarettenschachteln, Kaugummi- und Bonbonpapier, die Verpackung von einem Laib Brot. Die Wände waren bedeckt mit verblassten und frischen Bleistift- und Kreidekritzeleien und Messerritzungen.

ICH LIEBE RONNIE COLES

ICH WILL FICKEN

KILROY WAR HIER

RONNIE COLES IST EIN ARSCHLOCH

WAS MACHST DU HIER?

WARTE AUF EINEN ZUG

DAWNA    MARY-LOU    BARBARA    JOANNE

Es war aufregend, in diesem großen, dunklen, leeren Gebäude zu sein, mit dem Lärm des zerbrechenden Glases und ihren Stimmen, die vom Dach zurückgeworfen wurden. Sie hoben die alten leeren Bierflaschen an den Mund. Das erinnerte sie daran, dass sie Hunger und Durst hatten, also räumten sie eine Stelle in der Mitte frei, setzten sich hin und aßen. Sie tranken die Limo so lauwarm, wie sie war. Sie aßen alles auf, was da war, und leckten dann die Reste von Erdnussbutter und Marmelade von dem Papier ab, in das die Sandwiches eingewickelt gewesen waren.

Sie spielten Wahrheit oder Wagemut.

»Wagst du, an die Wand zu schreiben, ich bin ein blödes Arschloch, und dann deinen Namen darunter?«

»Sag die Wahrheit – was ist die schlimmste Lüge, die du je erzählt hast?«

»Hast du je ins Bett gemacht?«

»Hast du je geträumt, dass du völlig nackt über die Straße gehst?«

»Wagst du, rauszugehen und auf das Eisenbahnsignal zu pinkeln?«

Es war Frank, der das tun musste. Sie konnten ihn nicht sehen, nicht mal seinen Rücken, aber sie wussten, dass er es machte, sie hörten das zischende Geräusch seiner Pisse. Sie saßen alle ganz still, verdutzt, unfähig, sich die nächste Mutprobe auszudenken.

»Wagt ihr es«, sagte Frank vom Eingang her, »wagt ihr es alle?«

»Was?«

»Eure Sachen auszuziehen.«

Eva und Carol kreischten.

»Jeder, der das nicht machen will, muss … ja, muss auf Händen und Knien auf dem Boden herumkriechen.«

Alle schwiegen, bis Eva beinahe selbstgefällig fragte: »Was zuerst?«

»Schuhe und Strümpfe.«

»Dann müssen wir rausgehen, hier liegen zu viele Scherben rum.«

Sie zogen sich im Eingang Schuhe und Strümpfe aus, geblendet vom plötzlichen Sonnenlicht. Die Wiese vor ihnen war hell wie Wasser. Sie rannten dorthin, wo früher die Gleise verlaufen waren.

»Nicht so schnell, nicht so schnell«, rief Carol. »Da sind Disteln!«

»Oben! Alle ziehen aus, was sie oben anhaben!«

»Mach ich nicht! Machen wir nicht, was, Eva?«

Aber Eva wirbelte in der Sonne auf dem ehemaligen Gleisbett herum. »Wer’s nicht tut, hat keinen Mut! Wahrheit oder Wagemut!«

Sie knöpfte ihre Bluse auf, während sie herumwirbelte, als wüsste sie nicht, was ihre Hand tat, und schleuderte sie fort.

Carol zog ihre auch aus. »Das mach ich nur, weil du’s gemacht hast!«

»Unten!«

Diesmal sagte niemand ein Wort, alle beugten sich vor und zogen sich aus. Eva, als Erste nackt, rannte über die Wiese, und dann rannten alle los, alle fünf rannten sie durch das kniehohe warme Gras auf den Fluss zu. Ohne Angst davor, erwischt zu werden, machten sogar mit Sprüngen und Schreien auf sich aufmerksam, als wäre irgendjemand da, der sie hören oder sehen könnte. Sie fühlten sich, als würden sie gleich von einer Klippe springen und fliegen. Sie fühlten, dass ihnen etwas widerfuhr, das anders war als alles, was ihnen bislang widerfahren war, und es hatte etwas mit dem Boot zu tun, mit dem Wasser, dem Sonnenlicht, dem dunklen, kaputten Bahnhof und mit ihnen allen. Sie dachten voneinander jetzt kaum noch als Namen oder Personen, sondern als hallende Schreie, Lichtspiegelungen, alle wagemutig und weiß und laut und schamlos, schnell wie Pfeile. Sie rannten ohne innezuhalten ins kalte Wasser, und als es ihnen fast über die Beine reichte, ließen sie sich hineinfallen und schwammen. Was sie zum Schweigen brachte. Stille und Staunen kamen über sie. Tauchend, schwebend, jeder für sich, glitten sie durchs Wasser, geschmeidig wie Nerze.

Eva richtete sich mit tropfenden Haaren auf, Wasser lief ihr übers Gesicht. Es reichte ihr bis zur Taille. Sie stand auf glatten Steinen, die Füße breit auseinander, mit der Strömung zwischen den Beinen. Ungefähr einen Meter weit fort richtete Clayton sich ebenfalls auf, beide blinzelten sich das Wasser aus den Augen, schauten einander an. Eva wandte sich nicht ab, versuchte auch nicht, sich zu verstecken; sie zitterte von dem kalten Wasser, aber auch vor Stolz, Scham, Waghalsigkeit und Übermut.

Clayton schüttelte heftig den Kopf, als wollte er etwas daraus vertreiben, dann bückte er sich und nahm einen Mundvoll Flusswasser. Er richtete sich mit vollen Backen auf, formte mit den Lippen ein kleines Loch und schoss mit dem Wasser auf sie, als käme es aus einem Schlauch, traf sie genau, erst auf eine Brust, dann auf die andere. Wasser aus seinem Mund lief ihr über den Körper. Er johlte, als er es sah, ein lautes, selbstbewusstes Geräusch, das niemand von ihm erwartet hätte. Die anderen schauten von ihren Stellen im Wasser auf und kamen näher, um zu erfahren, was los war.

Eva ging in die Knie und glitt ins Wasser, tauchte völlig unter. Sie schwamm, und als sie flussabwärts den Kopf aus dem Wasser hob, sah sie Carol hinter sich herkommen, die Jungen waren schon am Ufer, rannten ins Gras, zeigten ihre mageren Rücken, ihre weißen, flachen Hinterteile. Sie lachten und riefen sich Dinge zu, aber Eva konnte nichts hören wegen des Wassers in ihren Ohren.

»Was hat er gemacht?«, fragte Carol.

»Nichts.«

Sie krochen an Land. »Lass uns im Gebüsch bleiben, bis sie weg sind«, sagte Eva. »Ich hasse sie sowieso. Und wie. Du nicht auch?«

»Klar«, sagte Carol, und sie warteten, nicht sehr lange, bis sie die Jungen immer noch laut und aufgeregt zu der Stelle ein bisschen flussaufwärts hinunterlaufen sahen, wo sie das Boot gelassen hatten. Sie hörten sie hineinspringen und losrudern.

»Die haben es auf dem Rückweg jetzt richtig schwer«, sagte Eva, schlang die Arme um sich und zitterte heftig. »Aber was soll’s? Es war sowieso nie unser Boot.«

»Was, wenn sie uns verpetzen?«, fragte Carol.

»Wir werden sagen, es ist alles gelogen.«

Eva hatte nicht an diesen Ausweg gedacht, bis sie ihn aussprach, aber sowie sie das tat, fühlte sie sich beinahe wieder unbeschwert. Er war so leicht, so spöttisch, dass beide kichern mussten, sie schlugen sich auf die Schenkel, und als sie aus dem Wasser tapsten, entwickelten sie einen dieser Lachkrämpfe, bei denen, sobald die eine Zeichen von Erschöpfung zeigte, die andere ächzte und wieder anfing, so dass sie hilflose – und bald wirklich hilflose – Grimassen zogen, sich krümmten und umklammerten, als litten sie schlimmste Schmerzen.