Am Nachmittag des 20. Juli fand der Ausmarsch von der ›Pillau‹ statt, das heißt, es entfernten sich ohne Erlaubnis vom Schiff ›Pillau‹, das in der Werft lag, etwa 140 Mann und kehrten erst bei Beendigung der Dienststunden zurück. Urlaubsverweigerung war der Grund dieses Ausmarsches.

Am 1. und 2. August kam es dann auf der Prinzregent Luitpold‹ zu dem ›großen Ausmarsch‹, das heißt zu den Vorgängen, die den Anlaß boten, eine feldkriegsgerichtliche Untersuchung einzuleiten, in deren Verlauf die bisher genannten Vorfälle auf den einzelnen Schiffen mit zur Sprache kamen und schließlich die Todes- und Zuchthausstrafen gefällt wurden.

In der 3. Heizerwache der ›Prinzregent Luitpold‹ herrschte besondere Unzufriedenheit, weil den Heizern des öfteren Freiwache und Kinobesuch durch militärischen Dienst entzogen wurden. Am Morgen des 1. August war das wieder der Fall. Deshalb entfernten sich früh um 9 Uhr 49 Mann heimlich vom Schiff, lagerten bis 11 Uhr am Deich und kamen dann zurück. Von den 49 Ausflüglern wurden 11 mit Arrest bestraft. Über das Herausgreifen einzelner zur Bestrafung entstand lebhafter Unwille auf dem ganzen Schiff; man hatte erwartet, daß alle oder keiner bestraft würden. Als Demonstration gegen die Bestrafung ihrer Kameraden verließen am 2. August früh 7 Uhr etwa 400 Mann der Besatzung das in der Werft liegende Schiff und zogen nach Rüstersiel in eine Wirtschaft, wurden aber nach einigen Stunden ohne Anwendung von Gewalt zurückgeholt.

Vierzehn Tage später, am 16. August mittags, sollte die Mannschaft des Schiffes ›Westfalen‹ zum Kohleneinnehmen antreten. Von der iv. Division traten aber 30 bis 40 Leute nicht an mit der Begründung, sie hätten keine Kohlenzulage zum Essen bekommen. Daraufhin wurde dem Kommandanten der ›Westfalen‹ ein Memorandum folgenden Inhalts auf den Tisch gelegt:

›Auf Grund der letzten Ereignisse an Bord s.m.s. ›Westfalen‹ sind eine Anzahl braver und tüchtiger Kameraden plötzlich in Haft genommen worden, nach unserer Ansicht vollkommen schuldlos. Wir fragen deshalb nachdrücklichst an:

1. Aus welchen Gründen werden diese Leute festgehalten?

2. Wie lange gedenkt man, diese Leute noch festzuhalten?

3. Was wird mit diesen Leuten geschehen, welche übereilt festgenommen und somit unschuldig ihrer Freiheit beraubt wordensind?

Von der genauen Beantwortung dieser Fragen wird es abhängen, welche Gegenmaßnahmen unsererseits getroffen werden müssen, um unsere Kameraden vor derartigen Übergriffen zu schützen. Wir bitten um Antwort innerhalb 24 Stunden in Form einer Aussprache. … Sollte unsere Hoffnung auf Beantwortung unserer Fragen sich nicht bestätigen, machen wir darauf aufmerksam, daß wir mächtig genug sind, unseren Willen zu erzwingen, wenn es sein muß, mit Gewalt …‹«

So hatte man noch nie mit den Kommandeuren Seiner Majestät gesprochen.

Nach diesen Vorgängen werden mit allen Mitteln der Bespitzelung und der Provokation die Organisatoren des Aufstandes festgestellt. Eine große Verhaftungsaktion wird eingeleitet. Die Matrosen werden auf ihre »politische Zuverlässigkeit« überprüft und als Hochverräter behandelt, wenn es sich herausstellt, daß sie Mitglieder oder auch nur Gesinnungsgenossen der linken Sozialdemokratie sind. uspd-Führer lassen die Matrosen, die ihnen vertraut hatten, in diesem kritischen Augenblick im Stich: Sie wollen nichts mit ihnen und mit den Rebellen zu tun gehabt haben.

Die beiden Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch werden zum Tode verurteilt und am 5. September 1917 auf dem Schießplatz Wahn bei Köln standrechtlich erschossen.

Die Todesurteile gegen die Matrosen Weber, Beckers und Sachse verwandelt Admiral Scheer, der Chef der Hochseestreitkräfte, in je 15 Jahre Zuchthaus. Gegen die übrigen angeklagten Matrosen werden Strafen von insgesamt vierhundert Jahren Zuchthaus verhängt.

Chronik 1917–1918

Generalprobe einer Revolution. Der Januarstreik 1918

1917 August-Anfang September: Unter Führung der uspd kommt es im Gebiet von Halle-Merseburg zu großen Streiks. In den Leuna-Werken streiken 12000 Arbeiter.

3. September: Internationaler Jugendtag mit Streiks und Demonstrationen in mehreren Orten Deutschlands. Der Polizei gelingt es, die illegale Organisation der Jugendbewegung aufzudecken; sie nimmt zahlreiche Verhaftungen vor.

7. November: In Rußland siegt die Oktoberrevolution.

Mitte-Ende November: Die Spartakusgruppe ruft zu Friedensdemonstrationen auf. In Mülheim an der Ruhr, Leipzig, Halle und anderen Städten finden Streiks und Straßendemonstrationen statt. In Berlin werden Demonstrationen mit Waffengewalt aufgelöst und Demonstranten verhaftet.

1918 14.–22. Januar: In Österreich-Ungarn bricht eine politische Massenstreikbewegung aus, die sich gegen Eroberungspolitik wendet und Demokratisierung des Wahlrechts fordert.

28. Januar–4. Februar: In Berlin führen etwa 500000 Arbeiter einen politischen Massenstreik durch. Zum Streikprogramm gehören die Forderungen: sofortiger Friedensschluß ohne Annexion; Freilassung der politischen Gefangenen; bessere Nahrungsversorgung; Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts in Preußen; Demokratisierung der Staatseinrichtungen; Bildung von Arbeiterräten. Die Streikbewegung breitet sich auf Hamburg, Kiel, Breslau, Halle, München, Nürnberg, Dortmund, Bochum und andere Industriegebiete aus; es streiken mehr als eine Million Arbeiter. Die sozialdemokratischen Führer Ebert, Scheidemann und Bauer treten in den Aktionsausschuß ein. Der Staatsgewalt, die außerordentliche Kriegsgerichte einsetzt, gelingt es, den Streik niederzuschlagen. 5000 Arbeiter werden zum Militärdienst gezwungen und tausende zu hohen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt.

1918 1.3. Februar: Auf Standsversuch revolutionärer Matrosen der österreichischungarischen Kriegsmarine im Kriegshafen Cattaro. Der Aufstand wird blutig niedergeschlagen.

Generalprobe einer Revolution. Der Januarstreik 1918

Sommer 1917. Zwei politische Richtungen stehen sich im deutschen Volk und im Deutschen Reichstag gegenüber: die Anhänger eines »Verständigungsfriedens« und die Verfechter des »Siegfriedens«. Inspirator und Motor der Siegfriedenspartei ist die Oberste Heeresleitung, deren nahezu unumschränkter Diktator der General Erich Ludendorff ist. Die lenkende Kraft der Partei des Verständigungsfriedens ist die oppositionelle Reichstagsmehrheit, der es allerdings an Entschiedenheit ebenso mangelt wie an einem überragenden Kopf. Herbst 1917. Die Oktoberrevolution der Bolschewiki in Rußland eröffnet für Deutschland völlig neue Perspektiven. Die Oberste Heeresleitung sieht mit dem völligen Zerfall der russischen Armee die Möglichkeit, alle Kräfte im Westen zu konzentrieren, in »Großschlachten« die englischfranzösische Front aufzurollen und damit doch noch den Sieg zu erzwingen. Die Mehrheit des Volkes erhofft sich durch die Friedensverhandlungen mit Rußland den ersten und entscheidenden Akt zur Beendigung des Weltkrieges.

Die deutschen Militärs und Diplomaten denken nicht daran, den Vertretern des bolschewistischen Rußland, denen sie in Brest-Litowsk gegenübersitzen, einen Frieden der Verständigung anzubieten. Sie werden auch nicht durch vertrauliche Berichte wie den folgenden beeindruckt, der dem stellvertretenden Generalstab in Berlin zuging: »Das russische Beispiel der Machterringung durch die Bolschewiki wirkt unter den Massen fanatisierend und könnte diese schließlich zu den größten Unbedachtsamkeiten hinreißen. Wenn die Waffenruhe mit Rußland nicht zum Frieden führt, ist die Enttäuschung unter den Arbeitermassen an der Front so groß, daß Schlimmes zu befürchten ist. Machen Sie sich immerhin auf eine große Arbeitsniederlegung im Januar gefaßt.«

Die Spartakusgruppe – eine Vereinigung entschiedener und kompromißloser Sozialisten – erklärt: »Der allgemeine Friede läßt sich ohne Umsturz der herrschenden Macht in Deutschland nicht erreichen. Nur mit der Fackel der Revolution, nur im offenen Massenkampfe um die politische Macht, um die Volksherrschaft und die Republik in Deutschland läßt sich jetzt das erneute Auflodern des Völkermordens und der Triumph der deutschen Annexionisten im Osten und Westen verhindern. Die deutschen Arbeiter sind jetzt berufen, die Botschaft der Revolution und des Friedens vom Osten nach dem Westen zu tragen. Hier hilft kein Mundspitzen, hier muß gepfiffen werden.«

Aber die zuerst pfeifen, sind die österreichischen Arbeiter. Am 15. Januar beginnt in Wiener Neustadt ein politischer Massenstreik, der sich innerhalb von zwei Tagen über fast alle Teile der Habsburger Monarchie ausbreitet. In Brünn, Budapest, Graz, Prag, Wien und in anderen Städten kommt es zu gewaltigen Demonstrationen für einen Frieden mit Rußland ohne Annexionen, für ein demokratisches Wahlrecht und eine bessere Lebensmittelversorgung. Die Wiener Regierung sieht sich gezwungen, einen durch die Arbeiter gebildeten Arbeiterrat offiziell anzuerkennen und dessen Forderungen zuzustimmen.

Trotz schärfster Militärzensur dringen die Nachrichten von dem politischen Massenstreik in Österreich nach Deutschland; nicht zuletzt dadurch kommt der bereits latente Kampfwille der deutschen Arbeiter schließlich zum Ausbruch.

Mitte Januar fordern die revolutionären Obleute der Berliner Betriebe vom Vorstand der uspd, die Massen zum Streik aufzurufen. Doch so weit gehen die uspd-Führer nicht. In dem Aufruf der Reichstagsfraktion der uspd an die Arbeiter heißt es: »Es ist keine Zeit zu verlieren. Nach allen Schrecken und Leiden droht neues schwerstes Unheil unserem Volke, der gesamten Menschheit. Nur ein Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker, kann uns davor retten. Die Stunde ist gekommen, eure Stimme für einen solchen Frieden zu erheben. Ihr habt jetzt das Wort.«

Das heißt, die Arbeiter sollen selber handeln. Und sie handeln. Sonntag, 27. Januar 1918, in Berlin. Es tagt eine Versammlung der Dreher, die von der Leitung der revolutionären Obleute in den Betrieben einberufen ist. Alle Groß- und Rüstungsbetriebe Berlins haben ihre Vertreter entsandt. Man zählt 1500 Anwesende. Auf Antrag von Richard Müller, dem Branchenleiter der Dreher, wird einstimmig beschlossen, am Montag die Arbeit niederzulegen und je nach Belegschaftsstärke Vertreter nach dem Gewerkschaftshaus zu einer Konferenz zu entsenden. Im Aufruf der Spartakusgruppe heißt es:

Arbeiterinnen! Arbeiter!

Die Kriegsziele der deutschen Regierung liegen nunmehr klar zutage … Bei den Verhandlungen in Brest-Litowsk mußte der deutsche Militarismus endlich die Maske lüften. Raub fremder Länder, Unterjochung fremder Völker, gewaltsame Annexionen und die Herrschaft des deutschen Säbels in der Welt: das sind die Kriegsziele der deutschen Regierung. … Arbeiter! Man will uns einreden, der Separatfriede mit Rußland sei der Anfang zum allgemeinen Frieden … Das Gegenteil ist die Wahrheit. Das ganze Streben und Trachten der Regierung ist darauf gerichtet, durch einen Separatfrieden mit Rußland Rückendeckung im Osten zu bekommen, um das menschliche Kanonenfutter vom Osten nach dem Westen zu kommandieren und alle Kräfte mit doppelter Wucht gegen England, Frankreich und Italien zu werfen … Es ist keine Hoffnung, und es gibt keine Mittel, von dieser Regierung und von den sie stützenden imperialistischen Klassen den Friedensschluß zu erzwingen. Nur der Sturz dieser Regierung, nur die Zerschmetterung der Macht der Bourgeoisie, mit anderen Worten: nur die Volksrevolution und die Volksrepublik in Deutschland würden imstande sein, den allgemeinen Frieden in kürzester Frist herbeizuführen … Die proletarische Revolution in Deutschland bedeutet die Arbeiterrevolution in der ganzen Welt. … Deutsche Proletarier! Wir rufen euch zum ersten Waffengang in diesem Kampfe auf: rüstet zum allgemeinen Massenstreik in den nächsten Tagen!

Setzt alles daran, daß die Arbeitsruhe eine allgemeine, eine vollständige wird, daß vor allem die Produktion der Mordwerkzeuge in der Munitionsindustrie aufhört. Sorgt dafür, daß aller Verkehr, auch der Verkehr der Eisenbahnen und Straßenbahnen, eingestellt werden muß und daß auch in den städtischen und anderen öffentlichen Werken die Arbeit ruht. Vor allem aber sorgt dafür, daß die Kunde von dem Massenstreik auch an die Front, in die Schützengräben dringt und dort einen mächtigen Widerhall findet, daß die Urlauber überall mit den Arbeitern gemeinsame Sache machen, die Streikversammlungen besuchen und an Straßenaktionen teilnehmen. … Auf zum Massenstreik! …

Mann der Arbeit, aufgewacht!

Und erkenne deine Macht!

Alle Räder stehen still,

Wenn dein starker Arm es will.

Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung! Frieden! Freiheit! Brot!

Am 28. Januar 1918 treten etwa 400000 Arbeiter und Arbeiterinnen in den Streik. Sie wählen in Belegschaftsversammlungen Delegierte, die am Nachmittag im Berliner Gewerkschaftshaus zusammentreten und einstimmig als Ziele des Streikes proklamieren:

»1. Schleunige Herbeiführung des Friedens ohne Annexion, ohne Kriegsentschädigung, auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker entsprechend den Ausführungsbestimmungen, die dafür von den russischen Volksbeauftragten in Brest-Litowsk formuliert wurden.

2. Zuziehung von Arbeitervertretern aller Länder zu den Friedensverhandlungen.

3. Ausgiebige Nahrungsversorgung durch Erfassung der Lebensmittelbestände in den Produktionsbetrieben wie in den Handelslagern zwecks gleichmäßiger Zuführung an alle Bevölkerungskreise.

4. Der Belagerungszustand ist sofort aufzuheben. Das Vereinsrechttritt vollständig wieder in Kraft, ebenso das Recht der freien Meinungsäußerung in der Presse und in Versammlungen. Die Schutzgesetze für Arbeiterinnen und Jugendliche sind schleunigst wieder in Kraft zu setzen. Alle Eingriffe der Militärverwaltung in die gewerkschaftliche Tätigkeit sind rückgängig zu machen und neue zu verhindern.

5. Die Militarisierung der Betriebe ist gleichfalls aufzuheben.

6. Alle wegen politischer Handlungen Verurteilte und Verhaftete sind sofort freizulassen.

7. Durchgreifende Demokratisierung der gesamten Staatseinrichtungen in Deutschland, und zwar zunächst die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle Männer und Frauen im Alter von mehr als 20 Jahren für den preußischen Landtag.«

An die Spitze des Streiks tritt ein Aktionsausschuß aus zehn Arbeitern und einer Arbeiterin. Vorsitzender wird Richard Müller. Die erste Versammlung der Berliner Arbeiterräte beschließt, zu dem gewählten Aktionsausschuß drei Vertreter der uspd hinzuzuziehen. Ein sozialdemokratischer Gewerkschaftsangestellter beantragt, drei Mitglieder des Parteivorstandes der spd aufzufordern, in den Aktionsausschuß einzutreten. Die Arbeiterräte lehnen diesen Antrag zweimal ab. Dann greift ihn Richard Müller nochmals auf, und er wird schließlich angenommen. Als Vertreter der uspd erscheinen die Abgeordneten Haase, Ledebour und Dittmann; die spd delegiert ihre Vorstandsmitglieder Ebert, Scheidemann und Braun.

Über ihre Tätigkeit berichteten die SPD-Führer 1925 in einem Prozeß in Magdeburg gegen mehrere Redakteure, die Ebert vorgeworfen hatten, er habe durch die Teilnahme am Januarstreik Landesverrat geübt.

Friedrich Ebert sagte aus: »Ich bin mit der bestimmten Absicht in die Streikleitung eingetreten, den Streik zum schnellsten Abschluß zu bringen und eine Schädigung des Landes zu verhüten … Ich kann auf das bestimmteste erklären, daß die Leitung der Sozialdemokratischen Partei in Fragen der Munitionsarbeiterstreiks in ihrem Innern den Standpunkt gehabt hat, den sie äußerlich vertreten hat, daß sie diese Streiks also verurteilt hat.«

Philipp Scheidemanns Aussage lautete: »Wenn wir nicht in das Streikkomitee hineingegangen wären, dann würde wahrscheinlich das Gericht heute nicht tagen können, und dann wäre der Krieg und alles andere meiner festen Überzeugung nach schon im Januar erledigt gewesen. Die Arbeiter hätten sich nicht, ohne sich zu wehren, niederschießen lassen. Es wäre ein tolles Tohuwabohu eingetreten. Andererseits bestand die Gefahr des totalen Zusammenbruchs und des Eintritts russischer Zustände. Durch unser Wirken wurde der Streik bald beendet und alles in geregelte Bahnen gelenkt.« Am 29. Januar erhöht sich die Zahl der Streikenden auf eine halbe Million.

Das Oberkommando in den Marken verbietet alle Streikversammlungen und die Bildung von Streikkomitees. Mit einem riesigen Polizeieinsatz unter Hinzuziehung von 5000 Unteroffizieren sollen die Streikenden eingeschüchtert werden. Der Oberbefehlshaber in den Marken erläßt zwei Verfügungen, die den Widerstand der Streikenden endgültig brechen sollen.

Erstens:

Verschärfter Belagerungszustand!

Bekanntmachung:

»Auf Grund des Gesetzes über den Belagerungszustand bestimme ich: 1. Für das Gebiet der Städte Berlin, Charlottenburg, Berlin-Schöneberg, Berlin-Wilmersdorf, Neukölln, Berlin-Lichtenberg, Spandau und der Landkreise Teltow und Niederbarnim hebe ich bis auf weiteres den Artikel 7 der preußischen Verfassungsurkunde hiermit auf. 2. Für die genannten Gebiete setze ich hierdurch außerordentliche Kriegsgerichte ein. 3. Die außerordentlichen Kriegsgerichte beginnen ihre Tätigkeit am 2. Februar 1918 … (Artikel 7 der preußischen Verfassung der durch diese Verordnung aufgehoben wird, lautet: Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte und außerordentliche Kommissionen sind unstatthaft.)«

Zweitens:

Bekanntmachung:

»Die Ausstandsbewegung, in der ein Teil der Arbeiter von Groß-Berlin verharrt, beeinträchtigt die Versorgung des Heeres mit Waffen und Munition. Ich habe daher folgende Betriebe:

1. Deutsche Waffen- und Munitions-Fabrik in Marienfelde, Lichtenberg und Wittenau

2. Berliner Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft vorm. L. Schwartzkopff, Berlin

3. A. Borsig in Berlin-Tegel

4. Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft – Fabrik Hennigsdorf

5. Argus Motor-Gesellschaft Berlin-Reinickendorf

6. Flug-Verkehrs-Gesellschaft Johannisthal

7. Daimler-Motoren, Zweigniederlassung Marienfelde unter militärische Leitung gestellt und den Arbeitern dieser Betriebe aufgegeben, die Arbeit spätestens Montag, den 4. Februar 1918, morgens 7 Uhr wieder aufzunehmen. Zuwiderhandelnde setzen sich schwerer Bestrafung nach den Vorschriften des Belagerungszustandes aus; die Wehrpflichtigen unter ihnen werden außerdem militärisch eingezogen werden.«

Unterdessen geht eine Welle des politischen Massenstreiks über ganz Deutschland. In vielen Industriestädten streiken fast alle Rüstungsbetriebe, im Dortmunder Kohlenrevier sämtliche Zechen, in Kiel, Danzig und Bremen die Werften, in Hamburg die Vulkanwerft, in München der Kruppbetrieb, in Jena die Zeiss-Werke, in Kassel die Lokomotivfabrik Henschel. In Nürnberg ist der Ausstand vollständig. In anderen Städten finden Massendemonstrationen statt; zum Teil werden Arbeiterräte gebildet.

Am 31. Januar wird die Lage in Berlin kritisch. Der Oberbefehlshaber in den Marken an die Berliner Bevölkerung: »Nachdem ich nunmehr den verschärften Belagerungszustand eingeführt habe, will ich die Bevölkerung nicht im Zweifel darüber lassen, daß ich jeden Versuch, die Ruhe und Ordnung zu stören, mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln unterdrücken werde. Ich warne daher jeden ordentlichen Bürger, sich irgendwie an öffentlichen Zusammenkünften zu beteiligen. Jedermann gehe ruhig seinen Pflichten nach und halte sich von Aufläufen fern. Bei dem Gebrauch der Waffe läßt sich ein Unterschied zwischen Ruhestörern und Unbeteiligten nicht machen.«

Am 1. und 2. Februar setzen Massenverhaftungen ein. Die ersten Urteile des außerordentlichen Kriegsgerichtes werden bekannt. Die Militärkommandos stellen täglich 500–600 Arbeitern Gestellungsbefehle zu. Wer nicht Folge leistet, wird unter polizeilicher Bewachung in die Kasernen gebracht. Die Einberufungen gehen bald in die Zehntausende. Von der Firma Schwartzkopff werden allein 1400 Arbeiter eingezogen. Ein großer Teil des Berliner Arbeiterrates ist nach drei Tagen verschwunden.

Richard Müller hält die Steigerung des Streiks in Berlin für möglich, nicht aber im Reich. So beschließt der Aktionsausschuß am 3. Februar den Abbruch des Streiks. Nach sechstägigem Masseneinsatz gehen die Berliner Arbeiter und Arbeiterinnen wieder in ihre Betriebe zurück. Auch die Streikbewegung im Reich verlischt.

Lenin erklärte am 23. Juli 1918 über die Bedeutung des Januarstreiks

»… Der Zauber der russischen Revolution fand in der ersten grandiosen Aktion der deutschen Arbeiter während des Krieges seinen Ausdruck, als diese auf die Brester Verhandlungen mit einem kolossalen Streik in Berlin und anderen Industriezentren reagierten. Diese Aktion des Proletariats in einem Land, das durch das Gift des Nationalismus und Chauvinismus in einen Rauschzustand versetzt worden war, ist eine Tatsache von erstrangiger Wichtigkeit …«

Chronik Oktober 1918

Revolution von oben. Herbst 1918

1918 3. Oktober: Die Oberste Heeresleitung (ohl) fordert vom Reichskanzler die sofortige Absendung eines Waffenstillstandsangebotes an die Entente auf der Grundlage der 14 Punkte Wilsons. Prinz Max von Baden, zum Reichskanzler ernannt, richtet an Präsident Wilson das Ersuchen um Vermittlung. Der Reichskanzler bildet eine »parlamentarische« Regierung, in welche die Sozialdemokraten Scheidemann und Bauer als Staatssekretäre eintreten.

16. Oktober: Friedensdemonstration von etwa 6000 Arbeitern in Berlin. Es wird der Sturz der Regierung und die Freilassung Liebknechts gefordert. Die Polizei geht mit Waffengewalt vor.

23. Oktober: Liebknecht wird aus dem Zuchthaus Luckau entlassen.

26. Oktober: Im Reichstag werden Gesetzesvorlagen zum Ausbau der parlamentarischen Monarchie angenommen. Wilhelm ii. unterzeichnet Verfassungsänderungen zur »Parlamentarisierung«, die die Machtbefugnisse des Reichskanzlers und des Reichstages erweitern.

Revolution von oben. Herbst 1918

13. Juli 1918: Der deutsche Reichstag bewilligt – gegen die Stimmender uspd – die 12. Kriegskreditvorlage in Höhe von 15 MilliardenMark. Damit ist die Kriegskreditsumme auf 139 Milliarden Mark angewachsen.

An den Litfaßsäulen verkünden Plakate: »Die beste Sparkasse: Kriegsanleihe!«

15.–17. Juli 1918: Die letzte deutsche Offensive an der Marne und beiderseits Reims bricht nach schweren Verlusten zusammen. Durch die vier großen Offensiven im Westen steht Deutschland am Rande des militärischen Zusammenbruchs.

8. August 1918: Engländer und Franzosen greifen nach Artillerievorbereitung und unter Einsatz riesiger Tankgeschwader die deutsche 2. und 18. Armee an und erzielen einen tiefen Einbruch in die deutschen Stellungen. Ludendorff erklärt: »Der 8. August ist der schwarze Tag des deutschen Heeres in der Geschichte dieses Krieges!« Der Kaiser bekennt nach Ludendorffs Vortrag: »Ich sehe ein, wir müssen die Bilanz ziehen … Der Krieg muß beendet werden … Ich erwarte die Herren also in den nächsten Tagen in Spa.«

14. August 1918: Besprechung im Großen Hauptquartier. Anwesend: der Kaiser, der Kronprinz, der Reichskanzler von Hertling, Hindenburg und Ludendorff, der Staatssekretär des Äußeren von Hintze und drei Hofbeamte. Der Reichskanzler schildert die innere Lage: Stimmung kriegsmüde. Der Staatssekretär von Hintze erklärt, daß die Alliierten mit ihren vergleichsweise unerschöpflichen Reserven an Menschen, Rohstoffen und Fabrikaten mit der Zeit die verbündeten Zentralmächte zerschmettern müßten. Zu den Militärs gewendet fährt er fort: »Der Chef des Generalstabes des Feldheeres hat die kriegerische Situation dahin definiert, daß wir den Kriegswillen unserer Feinde durch kriegerische Handlungen nicht mehr zu brechen hoffen dürfen und daß unsere Kriegführung sich als Ziel setzen muß, durch eine strategische Defensive den Kriegswillen des Feindes mählich zu lähmen. Die politische Leitung beugt sich vor diesem Ausspruch der größten Feldherren, die dieser Krieg hervorgebracht hat, und zieht daraus die Konsequenz, daß wir politisch außerstande sind, den Kriegswillen des Gegners zu brechen, und daß wir daher gezwungen sind, dieser Kriegslage in der Führung unserer Politik hinfort Rechnung zu tragen.«

Kaiser und Kronprinz sprechen von der Stärkung der inneren Ordnung, der Notwendigkeit flammender Reden und daß die Engländer auch hungerten und ihre Industrie durch Rohstoffmangel brachliege.

Am Ende erklärt Generalfeldmarschall von Hindenburg, daß es gelingen werde, auf französischem Boden stehen zu bleiben und dadurch schließlich den Feinden »unseren Willen aufzuzwingen«.

Anfang September 1918: Rückzug der deutschen Armeen in die Siegfriedstellung, womit sämtliche seit März eroberten Gebiete wieder geräumt sind. Die Gesamtverluste an der Westfront betragen inzwischen über 1 Million Mann.

9. September 1918: Kaiser Wilhelm ii. spricht zu den Arbeitern der Krupp-Werke: »Schon lange hat es Mich in diesem Kriege zu Ihnen hingezogen! Aber, wie Sie wissen, haben Mich vielfach militärische und politische Pflichten auf die verschiedensten Schlachtfelder, in die verschiedensten Gegenden des vom Weltkrieg durchtobten Europas gerufen … Gewaltiges ist geleistet worden, vom Direktorium herab bis zum letzten Arbeiter und bis zur letzten Arbeiterin, und das unter steigenden Schwierigkeiten der Ernährung, Schwierigkeiten in der Bekleidung, Verlusten, Trauer und Sorgen aller Art, von denen kein Haus verschont geblieben ist, weder das Fürstenhaus, noch das schlichte Arbeiterhaus … Es soll keiner in diesem Volke glauben, daß ich darüber nicht Bescheid weiß … Ich habe Eure Sorgen im tiefsten Herzen empfunden … Aber wem verdanken wir dies letzten Endes? Wer hat davon schon bei Anfang des Krieges gesprochen, daß die deutsche Frau und das deutsche Kind ausgehungert werden sollten? Wer ist es gewesen, der den furchtbaren Haß in diesen Krieg hineingebracht hat? Das waren die Feinde! … Der Deutsche, der Germane, kennt keinen Haß … Der Haß zeigt sich nur bei den Völkern, die sich unterlegen fühlen … Jetzt kommt es auf die letzten Anstrengungen an; … unsere Feinde … versuchen … es mit der Zersetzung im Innern, um uns mürbe zu machen durch falsche Gerüchte und Flaumacherei … Aber ein jeder, der auf solches Gerücht hört, ein jeder, der unverbürgte Nachrichten in Eisenbahn, Werkstatt oder anderswo weitergibt, versündigt sich am Vaterland; der ist ein Verräter und herber Strafe verfallen, ganz gleich, ob er Graf sei oder Arbeiter … Wir haben ein schönes Wort, das uns die Heilige Schrift zuruft, das heißt: ›Alle Eure Sorge werfet auf ihn, er sorget für uns.‹ Dazu das andere Wort: ›Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird Euch solches alles zufallen.‹ … Wie können wir Gott gefallen und sein Herz erweichen? Dadurch, daß wir unsere Pflicht tun … Jeder von uns bekommt von oben seine Aufgabe zugeteilt, du an deinem Hammer, du an deiner Drehbank und Ich auf meinem Thron …

Wir haben oftmals daheim und im Felde, in der Kirche und unter freiem Himmel ›Ein’ feste Burg ist unser Gott‹ gesungen … Ein Volk, aus dem ein solches Lied entstanden ist, das muß unbezwingbar sein … für Mich und Mein Verhältnis zu meinem Volk sind maßgebend meine Worte vom 4. August 1914: ›Ich kenne keine Parteien, Ich kenne nur noch Deutsche.‹ Es ist jetzt keine Zeit für Parteiungen; wir müssen uns jetzt alle zusammenschließen zu einem Block, und hier ist wohl am ersten das Wort am Platze: Werdet stark wie Stahl, und der deutsche Volksblock, zu Stahl zusammengeschweißt, der soll dem Feinde seine Kraft zeigen. Wer also unter Euch entschlossen ist, dieser meiner Aufforderung nachzukommen, wer das Herz auf dem rechten Fleck hat, wer die Treue halten will, der stehe jetzt auf und verspreche Mir an Stelle der gesamten deutschen Arbeiterschaft: wir wollen kämpfen und durchhalten bis zum Letzten. Dazu helfe uns Gott. Und wer das will, der antworte mit Ja! (Die Versammelten antworten mit lautem ›Ja‹.) Ich danke Euch. Mit diesem Ja gehe Ich jetzt zum Feldmarschall.«

Unruhe treibt den Kaiser umher: Besichtigungen, Orden, Empfänge, Ansprachen …

Inzwischen entwickelt Staatssekretär von Hintze seinen Plan einer »Revolution von oben«. Schon Mitte September hatte Hintze dem damaligen Vizekanzler Friedrich von Payer seine Überlegungen mitgeteilt. Payer berichtet darüber: »Herr von Hintze, der schon seit einer Woche oder zwei mir und, wie er mir mitteilte, auch dem Kanzler gegenüber die Ansicht vertreten hatte, wenn es mit der Verschlechterung unserer politischen und militärischen Lage so weitergehe, könne die Revolution von unten nur noch durch eine solche von oben vermieden werden, erklärte mir nun, nach seiner Meinung sei es angesichts unserer Lage und der Stimmung der Mehrheitsparteien wie des Volkes jetzt höchste Zeit, diesen Plan auszuführen.« Unter der Revolution von oben verstand Hintze, wie Payer weiter schreibt, daß »durch einen einsichtigen Entschluß von oben die Bildung einer auf dem Vertrauen der Volksvertretung beruhenden Regierung ermöglicht werde, mit deren Unterstützung er glaubte, zum Frieden kommen zu können. Diese Regierung mußte nach seiner Auffassung vor allem auch Sozialisten umfassen, wie er sich auch schon vorher bereit erklärt hatte, einen Sozialdemokraten als Unterstaatssekretär in sein Auswärtiges Amt zu nehmen.«

29. September 1918: Schwärzester Tag in der Geschichte des deutschen Heeres im Ersten Weltkrieg. 10 Uhr Vormittag im Hotel Britannique in Spa. Ludendorff erklärt dem Staatssekretär von Hintze, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei und auf schnellstem Wege ein Waffenstillstand geschlossen werden müsse. Hintze entwickelt seinerseits seine Theorie von der »Revolution von oben«. Man einigt sich rasch und fährt zum Kaiser. Der Kaiser stimmt allen Vorschlägen zu und unterzeichnet einen mit dem 30. September datierten Erlaß, der die Ablösung des bisherigen Reichskanzlers und die Parlamentarisierung Deutschlands ankündigt. Das Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung mit dem Datum vom 28. Oktober 1918 lautet:

»Die Reichsverfassung wird wie folgt abgeändert:

1. …

Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags erforderlich.

Friedensverträge sowie diejenigen Verträge mit fremden Staaten, welche sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags.

2. …

Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Der Reichskanzler trägt die Verantwortung für alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt. Der Reichskanzler und seine Stellvertreter sind für ihre Amtsführung dem Bundesrat und dem Reichstag verantwortlich.

6. …

Die Ernennung, Versetzung, Beförderung und Verabschiedung der Offiziere und Militärbeamten eines Kontingents erfolgt unter Gegenzeichnung des Kriegsministers des Kontingents. Die Kriegsminster sind dem Bundesrat und dem Reichstag für die Verwaltung ihres Kontingents verantwortlich.«

Der neue Reichskanzler, Prinz Max von Baden, will nur dann bei der Entente um einen Waffenstillstand ersuchen, wenn es die Oberste Heeresleitung ausdrücklich und schriftlich verlangt. Daraufhin schreibt Hindenburg dem Reichskanzler am 3. Oktober: »Die Oberste Heeresleitung bleibt auf ihrer am Sonntag, dem 29. September ds. Jhs. gestellten Forderung der sofortigen Herausgabe des Friedensangebots an unsere Feinde bestehen. Infolge des Zusammenbruchs der mazedonischen Front, der dadurch notwendig gewordenen Schwächen unserer Westreserven und infolge der Unmöglichkeit, die in den Schlachten der letzten Tagen eingetretenen sehr erheblichen Verluste zu ergänzen, besteht nach menschlichem Ermessen keine Aussicht mehr, dem Feinde den Frieden aufzuzwingen. Der Gegner seinerseits führt ständig neue frische Reserven in die Schlacht. Noch steht das deutsche Heer festgefügt und wehrt siegreich alle Angriffe ab. Die Lage verschärft sich aber täglich und kann die Oberste Heeresleitung zu schwerwiegenden Entschlüssen zwingen. Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, um dem deutschen Volke und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen. Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von tapferen Soldaten das Leben.«

Daraufhin geht noch in der Nacht die deutsche Friedensnote an Wilson, den Präsidenten der Vereinigten Staaten ab.

Am 26. Oktober ist das Bismarcksche Deutschland am Ende: das Wilhelminische Kaiserreich hat kapituliert. Am gleichen Tag erbittet Ludendorff vom Kaiser seinen Abschied und erhält ihn. Er trug die Verantwortung für den Verlauf des Krieges. Die Verantwortung für die Kapitulation trägt der dem Parlament verantwortliche Reichskanzler: so wird die Parlamentarisierung genutzt und gleichzeitig mißbraucht. Fürs erste scheint die »Revolution von oben« gelungen zu sein.

Der Reichskanzler schreibt am 15. Oktober an den regierenden Großfürsten von Baden: »Wir stehen mitten in einer Revolution. Gelingt es mir, diese friedlich zu gestalten, so können wir noch als Staat nach Friedensschluß weiterbestehen. Gelingt das nicht, so kommt die Revolution der Gewalt und der Untergang. Heute noch hoffe ich, den Kaiser und die Dynastie Hohenzollern zu retten … Gottlob, daß ich in den Sozialdemokraten Männer auf meiner Seite habe, auf deren Loyalität wenigstens gegen mich ich mich vollkommen verlassen kann. Mit ihrer Hilfe werde ich hoffentlich imstande sein, den Kaiser zu retten.«

Aufstand der Matrosen in Kiel –

der Beginn der Revolution. 4. November 1918

31. Oktober 1918, nachts: Das iii. Geschwader der Hochseeflotte kehrt nach Kiel zurück. Während des Einlaufens läßt Admiral Kraft erneut revolutionäre Matrosen verhaften.

1. November 1918: Vertrauensmänner der Matrosen versammeln sich im Kieler Gewerkschaftshaus. Gewählte Abordnungen, die auf die Schiffe entsandt werden, fordern von den Kommandanten die Freilassung der Verhafteten. Die Kommandeure lehnen jede Verhandlung ab; die Militärbehörden verbieten den Soldaten das Verlassen ihrer Kasernen. Die Marineinfanterie wird in Alarmbereitschaft versetzt, und bewaffnete Patrouillen ziehen durch die Straßen der Stadt.

2. November 1918: Die Vertrauensmänner versammeln sich auf dem großen Exerzierplatz und beschließen nach einer Ansprache des Oberheizers Artelt, für den nächsten Tag zu einer großen Protestversammlung aufzurufen. Am Nachmittag weigern sich Kompanien der Marineinfanterie, gegen Matrosenversammlungen vorzugehen. In der Nacht verteilen revolutionäre Matrosen Handzettel mit dem Aufruf: »Kameraden, schießt nicht auf eure Brüder! Arbeiter, demonstriert in Massen, laßt die Soldaten nicht im Stich!«

3. November 1918: Hornisten und Alarmpatrouillen durchziehen die Straßen Kiels und fordern die Marineangehörigen auf, zu ihren Truppenteilen zurückzukehren. Niemand folgt diesen Aufrufen; die Matrosen nutzen im Gegenteil den Alarm für ihre eigenen Parolen, und fordern die Soldaten auf, an der Kundgebung teilzunehmen. Der Exerzierplatz auf der Waldwiese ist voll von Menschen. Der Oberheizer Artelt eröffnet die Kundgebung und fordert die Matrosen zum »entschlossenen Handeln« auf. Als ein sozialdemokratischer Gewerkschaftsführer rät, mit den Aktionen noch zu warten, unterbricht ihn die Versammlung und zwingt ihn, abzutreten. Die Werftarbeiter solidarisieren sich mit den Matrosen; es wird beschlossen, in den Straßen Kiels zu demonstrieren. Mehrere Tausend Menschen ziehen durch die Straßen der Stadt, Militärpatrouillen werden entwaffnet, Soldaten aus den Kasernen schließen sich an, Hochrufe auf die deutsche Republik und die Internationale lösen Begeisterungsstürme aus. Und immer wieder die Forderung: »Weg mit dem Kaiser!« An der Ecke Brunswiker- und Karlstraße sperrt plötzlich eine starke Postenkette den Weg. Der Leutnant Steinhäuser fordert die Masse auf, auseinanderzugehen. Als niemand der Aufforderung folgt, kommandiert er: »Feuer!« 9 Tote und 29 Verletzte liegen auf dem Pflaster, unter ihnen Frauen und Kinder. Die Menge zerteilt sich. Da tritt ein bewaffneter Matrose vor und schießt Leutnant Steinhäuser nieder. Die Revolution hat begonnen.

4. November 1918: Noch in der Nacht und in den frühen Morgenstunden wählen Soldaten in den Kasernen und Matrosen auf den Schiffen Soldatenräte und bilden damit »Führungsorgane für den Kampf«. Rote Flaggen steigen auf den Schiffen auf. Kapitän Weniger vom Kreuzer »König« verteidigt mit der Waffe in der Hand seinen Flaggenmast. Er wird erschossen. 260 Matrosen des Linienschiffes »Großer Kurfürst« überwältigen ihre Offiziere, ziehen in Kiel anden Ort der Bluttat vom 3. November und schwören, den Mord zu rächen. Die Matrosen der 1. Torpedodivision halten vor dem Stabsgebäude ihres Kommandeurs eine Versammlung ab, verlangen die sofortige Beendigung des Krieges, die Abdankung der Hohenzollern, die Aufhebung des Belagerungszustandes, die Freilassung allerverhafteten Matrosen und politischen Gefangenen und die Einführung des allgemeinen gleichen und geheimen Wahlrechts, auch für Frauen. Kompanieweise wählen die Matrosen ihre Soldatenräte.

Die »Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung«, ein Organ der spd, schreibt am gleichen Tag: »Die bedauerlichen Vorgänge in Kiel haben uns veranlaßt, sofort einen Vertreter nach Berlin zu entsenden. Genosse Kürbis hat heute früh mit der Regierung verhandelt. Er trifft abends wieder in Kiel ein, und dann wird gehandelt und Wandel geschaffen werden. Genosse Ebert hat keinen Zweifel mehr darüber gelassen, was ja von vornherein feststeht, daß die Partei jede nutzlose Fortführung des Kampfes ablehnt. Sie bittet – angesichts der innerpolitischen Lage und des entschlossenen Willens der Regierung, einzugreifen – dringend, daß die Arbeiter in den Betrieben bleiben.«

Aber die Vertrauensleute der Arbeiter in den Kieler Großbetrieben beschließen, als Zeichen der Solidarität mit den aufständischen Matrosen in den Generalstreik zu treten.

Vizeadmiral Souchon, der mit den ihm noch zur Verfügung stehenden Truppen den Aufstand nicht mehr niederwerfen kann, erklärt sich bereit, eine Abordnung zu empfangen, die von dem Oberheizer Artelt geführt wird. Zwischen ihm und dem Vizeadmiral, dem Gouverneur von Kiel, entspinnt sich folgender Dialog:

Artelt: »Bevor wir in die Verhandlungen eintreten, möchte ich fragen, ob Sie uns als die von den Soldaten gewählten Vertrauensleute anerkennen und auf gleichberechtigter Basis mit uns verhandeln werden.«

Souchon: »Ja.«

Artelt: »So lassen Sie uns zunächst die Fragen klären, die in Ihrem Machtbereich liegen. Ich möchte Sie jedoch warnen, sich keinen falschen Hoffnungen hinzugeben und etwa Landtruppen gegen die revolutionären Matrosen einzusetzen. In diesem Fall hat das iii. Geschwader Anweisung, das Offiziersvillenviertel Düsternbrook unter Feuer zu nehmen.«

Souchon: »Aber meine Herren, können Sie verantworten, daß Frauen und Kinder vernichtet würden?«

Artelt: »Es liegt in Ihrer Macht, ein Blutbad zu verhindern. Wenn Sie es verantworten können, daß Infanteristen auf Matrosen schießen, dann könnten wir auch Gegenmaßnahmen verantworten.« Souchon sieht sich schließlich gezwungen, die Räte anzuerkennen und die Verhafteten des iii. Geschwaders in Freiheit zu setzen. Er verspricht, keine auswärtigen Truppen heranzuholen und bereits anrückende wieder zurückzubeordern. Als am Abend trotzdem auswärtige Einheiten in Kiel einmarschieren, schließen sie sich den Aufständischen an oder werden entwaffnet. Am Abend des 4. November ist Kiel in der Hand von 40000 aufständischen Matrosen und Marinesoldaten.

Chronik November 1918

Die deutsche Revolution. Berlin, 9.–10. November 1918

1918 5. November: Die Kieler Arbeiter beginnen zu streiken.

In Lübeck und Brunsbüttel werden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet; die Offiziere entwaffnet und die politischen Gefangenen befreit.

In München fordert eine von der uspd einberufene Demonstration die Errichtung eines »deutschen Volksstaates« und den sofortigen Friedensschluß.

6. November: In Hamburg, Bremen, Bremerhaven, Wilhelmshaven, Cuxhaven, Flensburg und anderen Küstenstädtenwerden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet.

Die »Revolutionären Obleute« Berlins beschließen den Aufstand für den 11. November. Liebknechts Antrag, die Erhebung auf den 8. November vorzuverlegen, wird abgelehnt.

7. November: Ausbreitung der Revolution nach Schwerin, Hannover, Braunschweig, Oldenburg und anderen norddeutschen Städten sowie Frankfurt am Main und München, wo der bayerische König flieht.

8. November: Ausbreitung der Revolution nach Köln, Essen, Düsseldorf, Magdeburg, Halle, Dresden, Leipzig, Gotha, Koblenz, Darmstadt, Mainz, Nürnberg, Passau, Augsburg und weitere Städte West-, Mittel- und Süddeutschlands. Proklamierung des Freistaates Bayern durch den Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat Münchens. Eine Regierung unter Kurt Eisner (uspd) wird gebildet.

Rosa Luxemburg wird in Breslau aus der Haft befreit. Aufruf des Vollzugsausschusses der Revolutionären Obleute Berlins und der Spartakusgruppe zur Machtergreifung durch die Räte am 9. November.

In einem Sonderzug im Wald von Compiègne werden der deutschen Delegation die Waffenstillstandsbedingungen überreicht und die Annahme ultimativ binnen 72 Stunden gefordert.

9. November: Mit einem Generalstreik und bewaffneten Massendemonstrationen bricht in Berlin die Revolution aus. Mittags 12 Uhr verkündet der Reichskanzler Max von Baden die Abdankung Kaiser Wilhelms ii. und übergibt das Reichskanzleramt an Ebert.

Um 13 Uhr proklamiert Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus die »freie deutsche Republik«.

Gegen 16 Uhr fordert Liebknecht in einer Rede vom Balkon des Schlosses die »sozialistische Republik« als Ziel des revolutionären Kampfes.

Ausbreitung der Revolution nach Erfurt, Eisenach, Plauen, Brandenburg, Görlitz, Breslau, Posen und Königsberg; am folgenden Tag nach Frankfurt an der Oder, Gleiwitz, Oppeln, Beuthen, Danzig – und schließlich über das gesamte Reichsgebiet.

10. November: Die örtlichen Räte proklamieren Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeiter und Demokratisierung der Verwaltung.

Die Vollversammlung der Delegierten der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch fordert den sofortigen Frieden, »rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel« und die »sozialistische Republik«.

Die Delegierten wenden sich gegen Liebknecht und bestätigen die »Revolutionsregierung«, die sich »Rat der Volksbeauftragten« nennt.

Spät nachts verhandelt Ebert über ein Geheimtelefon mit General Groener von der ohl über die Entsendung konterrevolutionärer Truppen nach Berlin. Die ohl unter Führung Hindenburgs befiehlt allen militärischen Führungsstellen, mit Reichskanzler Ebert im Kampf gegen den Bolschewismus zusammenzuarbeiten.

Die deutsche Revolution. Berlin, 9.–10. November 1918

6. November 1918: Die revolutionären Obleute der Berliner Großbetriebe beschließen, mit den Aktionen nicht vor dem 11. November zu beginnen, da die technischen Voraussetzungen für einen bewaffneten Aufstand noch nicht genügend vorbereitet seien. Besprechung zwischen General Groener, dem Ersten Quartiermeister und Nachfolger des Generals Ludendorff, in Begleitung des Obersten Hans von Haeften und den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten David, Ebert, Landsberg, Scheidemann, Südekum sowie den Mitgliedern der Generalkommission der Gewerkschaften Bauer, Legien und Schmidt.

Ebert: »Es ist nicht die Zeit, nach dem Schuldigen für den allgemeinen Zusammenbruch zu suchen. Die allgemeine Stimmung im Volke sieht aber im Kaiser den Schuldigen; ob mit Recht oder mit Unrecht, ist jetzt gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß das Volk den vermeintlichen Schuldigen an dem Unglück von seinem Platz entfernt sehen will. Daher ist die Abdankung des Kaisers, wenn man den Übergang der Massen in das Lager der Revolutionäre und damit die Revolution verhindern will, unumgänglich notwendig. Ich schlage vor, daß der Kaiser noch heute, spätestens morgen, freiwillig seine Abdankung erklärt und einen seiner Söhne, vielleicht den Prinzen Eitel Friedrich oder Prinz Oskar, mit der Regentschaft betraut. Der Kronprinz ist im jetzigen Augenblick unmöglich, da er bei den Massen verhaßt ist.«

Groener: »Von einer Abdankung des Kaisers kann nicht die Rede sein. Im jetzigen Augenblick, wo die Armee noch im letzten schweren Ringen mit dem Feind steht, ist es unmöglich, ihr den Obersten Kriegsherrn und damit den autoritären Halt zu nehmen. Solange wir noch im Kampf mit dem äußeren Feinde stehen, müssen die Interessen der Armee allen anderen vorangestellt werden. Ich lehne es daher auf das entschiedenste ab, in der Abdankungsfrage irgendeinen Schritt zu unternehmen oder wohl gar dem Kaiser derartiges vorzutragen.«

David und Südekum versuchen, General Groener von der Notwendigkeit der Abdankung zu überzeugen. Beide erklären, sie seien keineswegs Gegner der Monarchie an sich, und dieser Schritt würde auch nicht die Abschaffung der Monarchie bedeuten. Große Teile der deutschen Sozialdemokratie würden, ein parlamentarisches System vorausgesetzt, einen Monarchen nicht unbedingt ablehnen.

Scheidemann (der während der Ausführungen Davids und Südekums ans Telefon gerufen worden war): »Die Abdankungsfrage steht jetzt gar nicht mehr zur Diskussion. Die Revolution marschiert. Eben habe ich die Nachricht erhalten, daß zahlreiche Kieler Matrosen in Hamburg und Hannover die staatlichen Machthaber festgenommen und die öffentliche Gewalt an sich gerissen haben. Das bedeutet die Revolution! Meine Herren, jetzt gibt es nichts mehr zu diskutieren, jetzt gilt es zu handeln. Wir alle wissen nicht, ob wir morgen noch auf diesen Stühlen sitzen werden.«

Ebert: »Noch ist nichts entschieden. Was die Frage der Monarchie anbetrifft, so bin ich, wie Genosse Scheidemann, im Gegensatz zu den übrigen Herren zwar überzeugter Republikaner, doch die Frage ›Monarchie oder Republik‹ hat für uns nur theoretische Bedeutung. In der Praxis würden auch wir uns mit der Monarchie mit parlamentarischem System abfinden. Ich rate deshalb Euer Exzellenz dringend, die letzte Gelegenheit zur Rettung der Monarchie zu ergreifen und die schleunige Beauftragung eines der kaiserlichen Prinzen mit der Regentschaft zu veranlassen.«

Südekum beschwört mit Tränen in den Augen General Groener, auf den Ebertschen Vorschlag einzugehen, sonst stünde eine furchtbare Katastrophe bevor, »deren Folgen keiner von uns heute absehen« könne.

Groener: »Der Vorschlag ist für mich indiskutabel. Ich bin autorisiert, den Herren zu eröffnen, daß sämtliche kaiserliche Prinzen sich mit ihrem Vater solidarisch erklärt haben und daß, falls ihr Vater gezwungen würde, gegen seinen Willen abzudanken, keiner der kaiserlichen Prinzen bereit ist, die Regentschaft zu übernehmen.«

Ebert: »Unter diesen Umständen erübrigt sich jede weitere Erörterung. Jetzt müssen die Dinge ihren Lauf nehmen. Wir danken Ihnen, Exzellenz, für die Aussprache und werden uns stets gern der Zusammenarbeit mit Ihnen während des Krieges erinnern. Von nun an trennen sich unsere Wege. Wer weiß, ob wir uns je wiedersehen werden.«

Händedruck und Abschied.

von Haeften (zu Groener): »Das bedeutet die Revolution. Diese Führer haben die Massen nicht mehr in der Hand. Wenn sie deren Willen nicht tun, sind sie Generäle ohne Truppen.«

8. November 1918: Ernst Däumig von der uspd, der zu den führenden revolutionären Obleuten und den Organisatoren des Berliner Aufstandes gehört, wird auf der Straße verhaftet. Da er sämtliche Pläne für den Aufstand am 11. November bei sich trägt, fallen sie in die Hände des Oberkommandos in den Marken. Die Mitglieder des Vollzugsausschusses der Obleute der Spartakusgruppe und des Parteivorstandes der uspd entschließen sich, die Arbeiter bereits für den 9. November zum bewaffneten Aufstand aufzurufen. Ein neuer Aufstandsplan wird ausgearbeitet.

Den Kampf soll ein Generalstreik eröffnen. Von den Großbetrieben aus sollen die bewaffneten Demonstranten in elf Marschsäulen zum Stadtinnern ziehen, die wichtigsten öffentlichen Gebäude besetzen und die herrschende Staatsmacht stürzen. Aufgabe der Demonstranten ist es, die Soldaten in den Kasernen als Bundesgenossen zu gewinnen. Kuriere bringen die Beschlüsse in die Betriebe. Im Laufe des Tages und in der Nacht wird ein Flugblatt gedruckt, das die Arbeiter und Soldaten zum Kampf für die sozialistische Republik aufruft.

8. November 1918, 10 Uhr vormittags: Im Wald von Compiègne begibt sich der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger mit drei Begleitern und einem Dolmetscheroffizier in den gegenüberliegenden Sonderzug; sie nehmen hinter den ihnen bezeichneten Plätzen Aufstellung. Kurz darauf erscheint Marschall Foch in Begleitung seines Generalstabschefs Weygand und dreier englischer Marineoffiziere. Die Deutschen übergeben ihre Vollmachten, die geprüft werden. Marschall Foch fragt: »Was führt die Herren hierher? Was wünschen Sie von mir?« Der Abgeordnete Erzberger erwidert, daß er Vorschlägen über Herbeiführung eines Waffenstillstandes zu Wasser, zu Lande, in der Luft und an allen Fronten entgegensehe. Marschall Foch erwidert: »Ich habe keine Vorschläge zu machen.« Er befiehlt seinem Generalstabschef, die Bedingungen des Waffenstillstandes vorzulesen. Es wird eine Bedenkfrist von 72 Stunden gewährt. Foch erklärt: »Verhandlungen über die Bedingungen werden unter keinen Umständen zugelassen. Deutschland kann sie annehmen oder ablehnen, ein Drittes gibt es nicht.« Private Unterhandlungen werden erlaubt. Die deutsche Delegation einigt sich auf folgende Richtlinien: »Die Bedingungen sind undurchführbar; sie machen Deutschland nicht nur wehrlos, sondern liefern es dem Bolschewismus aus; Anarchie und Hungersnot sind die unmittelbaren Begleiterscheinungen der Annahme dieser Waffenstillstandsbedingungen.«

Der Dolmetscheroffizier, Rittmeister von Helldorf, reist mit den Bedingungen nach Berlin. Als Ablaufstunde des Ultimatums ist der 11. November, vormittags 11 Uhr, bezeichnet.

8. November 1918, mittags: Die spd-Führer erhalten Kenntnis von der Vorbereitung des bewaffneten Aufstands. Sie warnen die Arbeiter vor »Unbesonnenheiten«. Alles sei bereits in die Wege geleitet und die Abdankung des Kaisers eine Frage von Stunden. Jede selbständige Aktion könne die Verhandlungen nur stören.

8. November, abends: Der sozialdemokratische Parteivorstand ruft seine Vertrauensmänner aus den Betrieben zu einer Beratung zusammen, um sich über die Situation zu informieren. Einer der Vertrauensmänner erklärt: »Wir können hier beschließen, was wir wollen. Zurückzuhalten sind die Arbeiter nicht mehr.« Trotzdem erhalten die Vertrauensleute den Auftrag, sich in ihre Wohngebiete zu begeben und die Arbeiter von Gewaltmaßnahmen abzuhalten. Die Regierung rüstet sich zum Gegenschlag. Das als besonders zuverlässig geltende 4. Jägerbataillon wird nach Berlin beordert. Spätabends rücken die Soldaten in die Alexanderkaserne ein. Anschließend werden Handgranaten ausgegeben. Ein Gefreiter macht eine disziplinwidrige Bemerkung und wird sofort arretiert. Zuerst bleibt es still. Dann werden Fragen laut: »Gegen wen sollen wir marschieren? Auf wen die Handgranaten werfen?« Sie wollen wissen, »was los ist«. Die Offiziere versprechen Aufklärung am nächsten Tag. Die übermüdeten Soldaten sind zufrieden und legen sich fürs erste schlafen. Der Eisenbahnverkehr wird völlig stillgelegt. Die Vorbereitungen sind getroffen, einen Aufstand in Berlin niederzuschlagen.

8. November 1918, nachmittags: Der Reichskanzler Prinz Max von Baden meldet ins kaiserliche Hauptquartier nach Spa, daß die spd die Abdankung des Kaisers in Form eines Ultimatums gefordert habe und nach dessen Ablauf aus der Regierung ausscheide – was bedeute, daß sie die Führung der Revolution übernehme.

Der Kanzler verbindet mit dieser Nachricht sein Abschiedsgesuch, warnt vor einer Militärdiktatur, die unweigerlich zum Bürgerkrieg führen müsse, und schlägt vor: Neuwahlen, Nationalversammlung, dann erst Abdankung, die jedoch jetzt schon zu versprechen sei, bis dahin Stellvertretung und Rettung des monarchischen Gedankens durch eine »demokratische Lösung«.

Der Kaiser läßt darauf antworten: »Seine Majestät haben es völlig abgelehnt, auf die Vorschläge Euer Großherzoglichen Hoheit in der Thronfrage einzugehen und halten es nach wie vor für ihre Pflicht, auf ihrem Posten zu bleiben.«

Am Abend findet in Spa ein Kriegsrat statt zwischen Generalfeldmarschall Hindenburg, dem Ersten Quartiermeister General Groener und Generaloberst von Plessen, dem Kommandanten des Großen Hauptquartiers. Gegenstand der Beratung: der Befehl des Kaisers, »eine Operation gegen die Heimat einzuleiten«. Hindenburg weiß, daß diese Operation undurchführbar ist, hat aber nicht den Mut, seinem Kaiser ins Gesicht zu sagen, daß er »nie den Befehl erteilen wird, Deutsche auf Deutsche schießen zu lassen«. Er läßt den Kanzler im Stich.

Es ist Abend. Der Reichskanzler beschwört den Kaiser 20 Minuten am Telefon: »Die Abdankung ist nötig geworden, um den Bürgerkrieg zu vermeiden, um also die Mission des Friedenskaisers bis zum Schlusse durchzuführen. Gelingt dies, so wird Euer Majestät Name in der Geschichte gesegnet werden. Erfolgt nichts, so wird die Forderung im Reichstag gestellt und bewilligt werden. Die Truppe ist nicht mehr sicher, Köln ist in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, auf dem Braunschweiger Schloß Euer Majestät Tochter weht die rote Fahne, München ist Republik, in Schwerin tagt ein Soldatenrat. Ich sehe zwei Möglichkeiten: Abdankung, Thronverzicht des Kronprinzen und Regentschaft für den Enkel, oder Abdankung, Ernennung eines Stellvertreters, Nationalversammlung: das fordert der Ausschuß des Reichstages, scheint mir auch das Bessere, weil es noch alle Chancen für die Monarchie bietet. Was geschieht, müßte sofort geschehen, nach dem ersten Blutvergießen verlöre es die Wirkung. Mit Hilfe der Sozialisten wäre die Lage auf diese Art noch zu retten, sonst kommt die Republik. Freiwillig muß das Opfer sein, um Euer Majestät Namen in der Geschichte zu erhalten.«

Der Kaiser antwortet: »Unsinn! Die Truppe steht zu mir! Morgen marschieren wir gegen die Heimat!«

9. November 1918, 7 Uhr morgens: Im Vorwärtsgebäude tagen die Betriebsvertrauensleute der spd und warten auf die Abdankung des Kaisers oder auf die Nachricht, daß die Arbeiter zu Aktionen übergegangen sind. Plötzlich stehen Schwerbewaffnete im Zimmer, eine Abordnung der Naumburger Jäger, die wissen wollen, was gespielt wird. Der spd-Abgeordnete Otto Wels entschließt sich, in die Alexanderkaserne mitzukommen und zu den Soldaten zu sprechen. Er wird stumm empfangen. Am Ende bringen sie ein Hoch aus auf den »freien Volksstaat« und erklären sich bereit, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Die Offiziere schweigen. Keiner von ihnen schießt. Die 2. Gardedivision, bestehend aus den königlich preußischen Leibregimentern, hat den Offizieren den Gehorsam aufgekündigt und sich gegen deren ausdrücklichen Befehl in Bewegung gesetzt, um nach Hause zu marschieren.

9. November 1918, 10 Uhr vormittags: In den Berliner Betrieben sind die Arbeiter zur Frühschicht angetreten. Sie diskutieren über Flugblätter der Revolutionären Obleute und des Spartakusbundes, die zum Massenstreik und zu Demonstrationen aufrufen.

Sechs Forderungen stehen auf der Tagesordnung:

1. Befreiung aller zivilen und militärischen Gefangenen.

2. Aufhebung aller Einzelstaaten und Beseitigung aller Dynastien.

3. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten in allen Fabriken und Truppenteilen.

4. Sofortige Aufnahme der Beziehungen zu den übrigen deutschen Arbeiter- und Soldatenräten.

5. Übernahme der Regierung durch die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte.

6. Sofortige Verbindung mit dem internationalen Proletariat, insbesondere mit der russischen Arbeiterrepublik.

In einzelnen Betrieben werden Waffen und Munition verteilt. In anderen Betrieben werden Transparente angefertigt mit den Parolen: »Nieder mit dem Krieg!“

»Nieder mit der Monarchie!“

»Wir wollen Frieden und Brot!« Die Schwarzkopff-Arbeiter gehen als erste auf die Straße. Es bildet sich ein Demonstrationszug, der etwa 4000 Menschen umfaßt. Später schließen sich die Arbeiter der aeg Brunnenstraße und der aeg Ackerstraße an. Wie es der Aufstandsplan vorsieht, ziehen die Demonstranten in langen Kolonnen nach dem Stadtinnern. Unter den Demonstranten befinden sich auch viele Frauen. Überall wehen rote Fahnen. Die Kasernen sind das erste Ziel: es gilt, die Soldaten für die Sache der Revolution zu gewinnen. Die Züge aus Moabit und Charlottenburg halten vor der Kaserne am Lehrter Bahnhof. Das Tor ist verschlossen. Die Massen rufen: »Brüder, schießt nicht auf uns! Macht Schluß mit dem Krieg! Weg mit Kaiser Wilhelm!« Die bewaffneten Arbeiter gehen in Feuerstellung, aber die Unterhändler haben Erfolg; die Soldaten verlassen die Kaserne, reihen sich in die Demonstration ein, um am Zug zur »Maikäferkaserne« teilzunehmen.

Kaiserhauptquartier 10 Uhr morgens: Der Reichskanzler läßt durch den Vortragenden Rat Wahnschaffe über das Telefon laufend die neuesten Berichte durchgeben: das Alexander-Regiment hat kapituliert; die Jüterboger Artillerie ist zu den Arbeitern übergegangen; die Naumburger Jäger haben sich dem Berliner Arbeiter- und Soldatenrat unterstellt.

Zur gleichen Stunde versammeln sich im Garten der Kaiservilla Seine Majestät, Feldmarschall von Hindenburg, General Groener, der Kommandant des Großen Hauptquartiers von Plessen, der rasch herbeizitierte Chef des Generalstabes einer Heeresgruppe Graf von der Schulenburg und zwei Offiziere mit unbewegten Gesichtern. Einziger Punkt der Tagesordnung: »Vortrag über die vom Kaiser befohlene Operation gegen die Heimat.«

Hindenburg bittet S. M. ihn vom Vortrag zu entbinden, da es ihm »namenlos schwerfällt, seinem Obersten Kriegsherrn von einem Entschluß abraten zu müssen, den er dem Herzen nach freudig begrüßt, dessen Ausführung er aber nach reiflicher Überlegung als unmöglich bezeichnen muß«. General Groener spricht mit rauheren Worten das gleiche aus. Von Plessen und von der Schulenburg plädieren dafür, auf die Rebellen zu schießen. »Dem Heer soll gesagt werden, daß ihm seine Schwesterwaffe, die Marine, mit jüdischen Kriegsgewinnlern und Drückebergern in den Rücken gefallen sei und die Verpflegung sperre.«

Der Kaiser, der anfänglich gleicher Auffassung ist, entscheidet schließlich, daß der Gedanke, die Heimat durch eine Operation des Feldheeres wiederzuerobern, aufzugeben sei. Er wolle dem Vaterland den Bürgerkrieg ersparen. Dagegen spricht er die Absicht aus, nach geschlossenem Waffenstillstand in friedlicher Weise an der Spitze des Heeres in die Heimat zurückzukehren.

Da erhebt sich General Groener und erklärt kalt: »Das Heer wird unter seinen Führern und Kommandierenden Generälen in Ruhe und Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nicht unter dem Befehl Eurer Majestät, denn es steht nicht mehr hinter Eurer Majestät.«

Der Kaiser, erregt: »Exzellenz, diese Erklärung verlange ich von Ihnen schriftlich! Schwarz auf weiß will ich die Meldung aller Kommandierender Generale haben, daß das Heer nicht mehr hinter seinem Obersten Kriegsherrn steht! Hat es mir nicht den Fahneneid geschworen?!«

Groener: »Der ist in solcher Lage eine Fiktion.«

Am Telefon häufen sich die Anrufe aus der Reichskanzlei, in denen S. M. der Kaiser aufgefordert wird, seine Abdankung auszusprechen. Die Sitzung wird unterbrochen.

Gegen 12 Uhr steht der Demonstrationszug, an dessen Spitze die Schwartzkopff-Arbeiter marschieren, vor der »Maikäferkaserne« in der Chausseestraße. Soldaten jubeln den Demonstranten zu. Sie rufen, man solle sie herauslassen, sie seien eingesperrt und würden von Offizieren und der Wachmannschaft aus Weißensee gehindert, die Kaserne zu verlassen. Die bewaffneten Soldaten des Demonstrationszuges brechen die Tore auf. Einer der ersten, der hineinstürmt, ist Erich Habersaath, ein Führer der Berliner Arbeiterjugend, 26 Jahre, Arbeiter bei Schwartzkopff. Vor einer der letzten Türen fallen Schüsse; ein Offizier hat sie abgegeben. Hinter Habersaath fallen zwei Arbeiter der aeg. Schließlich werden die Offiziere überwältigt. Ein Teil der »Maikäfer« schließt sich den Demonstranten an, ein anderer Teil bleibt mit den Verwundeten in der Kaserne, der Rest marschiert ab – Richtung Heimat.

In Spa gruppieren sich die Herren wieder um den Kaiser. Der Gouverneur von Berlin meldet telefonisch: »Alle Truppen sind zu den Aufständischen übergelaufen. Ich habe keinen Mann mehr in der Hand.« S. M. ist durch diese Meldung beeindruckt und scheint entschlossen, seine Person zum Opfer zu bringen, um den Bürgerkrieg zu vermeiden. Aber Graf von der Schulenburg rät, S. M. solle als Kaiser abdanken, nicht aber als König von Preußen. Da der Feldmarschall Hindenburg und der eben eingetroffene Kronprinz diese unausführbare Idee ausgezeichnet finden, klammert sich der Kaiser an sie wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.

Der Reichskanzler aus Berlin am Telefon: »Ich muß meine Entlassung nehmen, die Monarchie ist nicht mehr zu retten, wenn die Abdankung nicht im Augenblick eintrifft.«

Der Kaiser befiehlt Herrn von Hintze, von seiner halben Abdankung Kenntnis zu geben.

Schulenburg erklärt, man solle genau formulieren, ehe der Kaiser unterschreibe.

Zehn Minuten später meldet sich die Wilhelmstraße wieder: »Es handelt sich um Minuten!‹«

Schulenburg: »Eine so wichtige Entschließung kann nicht in wenigen Minuten gefaßt werden. Seine Majestät hat den Entschluß gefaßt, er wird im Augenblick schriftlich formuliert und in einer halben Stunde in den Händen der Reichsregierung sein.«

Gleichzeitig melden Kuriere und Telefone dem Reichskanzler, daß riesige Marschkolonnen der Arbeiter und Soldaten aus den Fabrikvierteln in das Zentrum der Stadt vorstoßen. Es ist absehbar, wann die Massen vor dem Reichskanzlerpalais stehen werden.

Da entschließt sich Prinz Max von Baden in seiner Eigenschaft als Reichskanzler, den Rücktritt des Kaisers als vollendeten Entschluß bekanntzugeben.

Er formuliert:

»Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen. Der Reichskanzler bleibt noch so lange im Amte, bis die mit der Abdankung des Kaisers, dem Thronverzicht des Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen und der Einsetzung der Regentschaft verbundenen Fragen geregelt sind. Er beabsichtigt, dem Regenten die Ernennung des Abgeordneten Ebert zum Reichskanzler und die Vorlage eines Gesetzentwurfs wegen der sofortigen Ausschreibung allgemeiner Wahlen für eine verfassunggebende deutsche Nationalversammlung vorzuschlagen, der es obliegen würde, die künftige Staatsform des deutschen Volkes, einschließlich der Volksteile, die ihren Eintritt in die Reichsgrenzen wünschen sollten, endgültig festzustellen.« Um die Mittagsstunde wird die W.T.B.-Depesche in den Straßen Berlins bekannt. Fast gleichzeitig wird dem Reichskanzler eine Abordnung der Sozialdemokratischen Partei unter Führung ihres Vorsitzenden Friedrich Ebert gemeldet.

Ebert erklärt: »Damit Ruhe und Ordnung gewahrt werden, haben unsere Parteigenossen uns beauftragt, dem Herrn Reichskanzler zu erklären, daß wir es zur Vermeidung von Blutvergießen für unbedingt erforderlich halten, daß die Regierungsgewalt an Männer übergeht, die das volle Vertrauen des Volkes besitzen. Wir halten es deshalb für nötig, daß das Amt des Reichskanzlers und das des Oberkommandierenden in den Marken durch Vertrauensmänner unserer Partei besetzt wird.

Wir haben in dieser Sache sowohl unsere Partei als auch die Partei der Unabhängigen Sozialdemokraten geschlossen hinter uns. Auch die Truppen sind für uns gewonnen. Ob die Unabhängigen in die neue Regierung eintreten wollen, darüber sind sie sich noch nicht einig; falls sie sich dazu entschließen, müssen wir wünschen und verlangen, daß sie aufgenommen werden. Wir haben auch nichts gegen die Aufnahme von Vertretern der bürgerlichen Richtung; nur müßten wir die ausgesprochene Mehrheit in der Regierung behalten. Darüber wäre noch zu verhandeln.«

Der Reichskanzler fragt Ebert, ob die Parteiführer den Willen und die Macht hätten, zu verhindern, daß die Bewegung in die Bahn der Gewalttätigkeit hinübergleite, und ob sie gewährleisten könnten, daß die Ruhe ungestört bliebe, wenn nicht geschossen würde.

Philipp Scheidemann, der noch bis vor wenigen Minuten kaiserlicher Staatssekretär war, antwortet:

»Sämtliche Garnisonen und Regimenter von Groß-Berlin sind zu uns übergegangen. Wir kommen soeben aus dem Reichstag, wo Abgesandte aus allen Regimentern uns davon vergewissert haben; auch von den Lübbener Jägern, die man als besonders zuverlässig herangezogen hat.«

Daraufhin erklärt der Reichskanzler: »Ich habe dem Kaiser bereits vorgeschlagen, daß im Reichstag ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, der die Wahlen zu einer verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung ausschreibt. Diese Versammlung würde dann entscheiden, wie Deutschland künftig regiert werden soll.«

Ebert: »Mit dem Gedanken dieser Nationalversammlung könnten wir uns einverstanden erklären.«

Staatssekretär Haußmann: »Wenn diese Versammlung sofort einberufen werden sollte, inmitten der revolutionären Bewegung, so würde sie den heftigsten Wahlkampf entfesseln und kein richtiges Bild geben.«

Ebert: »Darüber muß man nachdenken.«

Der Reichskanzler zieht sich mit seinen Staatssekretären zur Verständigung zurück. Wenig später werden Ebert und die übrigen Mitglieder der Abordnung dazugebeten.

Prinz Max von Baden: »Herr Ebert, sind Sie bereit, den Posten des Reichskanzlers anzunehmen?«

Ebert: »Das ist ein schweres Amt. Aber ich werde es übernehmen.«

Staatssekretär Solf: »Sind Sie bereit, die Regierung innerhalb der Verfassung zu führen?«

Ebert: »Ja.«

Solf: »Auch innerhalb der monarchischen Verfassung?«

Ebert: »Gestern hätte ich diese Frage unbedingt bejaht, heute muß ich mich erst mit meinen Freunden beraten.«

Prinz Max von Baden: »Nun müssen wir die Regentschaftsfrage lösen.«

Ebert: »Dazu ist es zu spät.«

Friedrich Ebert übernimmt das Reichskanzleramt mit einer Proklamation, die sofort gedruckt und in den Straßen Berlins verteilt wird: »Der bisherige Reichskanzler Prinz Max von Baden hat mir unter Zustimmung der sämtlichen Staatssekretäre die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers übertragen. Ich bin im Begriff, die neue Regierung im Einvernehmen mit den Parteien zu bilden und werde über das Ergebnis der Öffentlichkeit in Kürze berichten. Die neue Regierung wird eine Volksregierung sein. Ihr Bestreben wird sein müssen, dem deutschen Volke den Frieden schnellstens zu bringen und die Freiheit, die es errungen hat, zu befestigen!

Mitbürger! Ich bitte Euch dringend: Verlaßt die Straßen. Sorgt für Ruhe und Ordnung!«

Aber die Arbeiter denken gar nicht daran, die Straßen zu verlassen. Ebert, Scheidemann und einige ihrer Genossen gehen unterdessen in den Speisesaal des Reichstages zum Essen. Es gibt nur eine wäßrige Kartoffelsuppe. Zwischen Wilhelmstraße und Reichstagsgebäude marschieren Tausende und Abertausende. Plötzlich stürmen Arbeiter und Soldaten in den Speisesaal und geradewegs auf den Tisch Scheidemanns zu. Wild schreien sie durcheinander: »Scheidemann, kommen Sie gleich mit! Philipp, du mußt herauskommen und reden!« Scheidemann wehrt ab, aber dann geht er doch mit. Man eilt zum Lesesaal; von einem der Fenster aus will er zu den Massen sprechen – bevor Liebknecht ihm zuvorkommen und eine deutsche Räterepublik ausrufen kann. Ohne sich länger zu besinnen, spricht Scheidemann:

»Arbeiter und Soldaten!

Furchtbar waren die vier Kriegsjahre. Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Kriegs, Not und Elend, werden noch viele Jahre lang auf uns lasten. Die Niederlage, die wir unter allen Umständen verhüten wollten, ist uns nicht erspart geblieben, weil unsere Verständigungsvorschläge sabotiert wurden, wir selbst wurden verhöhnt und verleumdet.

Die Feinde des werktätigen Volkes, die wirklichen inneren Feinde, die Deutschlands Zusammenbruch verschuldet haben, sind still und unsichtbar geworden. Das waren die Daheimkrieger, die ihre Eroberungsforderungen bis zum gestrigen Tage ebenso aufrechterhielten, wie sie den verbissenen Kampf gegen jede Reform der Verfassung und besonders des schändlichen preußischen Wahlsystems geführt haben. Diese Volksfeinde sind hoffentlich für immer erledigt. Der Kaiser hat abgedankt. Er und seine Freunde sind verschwunden. Über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt! Der Prinz Max von Baden hat sein Reichskanzleramt dem Abgeordneten Ebert übergeben. Unser Freund wird eine Arbeiterregierung bilden, der alle sozialistischen Parteien angehören werden. Die neue Regierung darf nicht gestört werden in ihrer Arbeit für den Frieden, in der Sorge um Brot und Arbeit.

Arbeiter und Soldaten! Seid Euch der geschichtlichen Bedeutung bewußt. Unerhörtes ist geschehen. Große, unübersehbare Arbeit steht uns bevor.

Alles für das Volk, alles durch das Volk! Nichts darf geschehen, was der Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht.

Seid einig, treu und pflichtbewußt!

Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!«

Die Massen jubeln.

Scheidemann tritt wieder zu seiner Gruppe. Ebert ist vor Zorn dunkelrot im Gesicht. Er schreit Scheidemann an: »Du hast kein Recht, die Republik auszurufen! Was aus Deutschland wird, ob Republik oder was sonst, das entscheidet eine Konstituante!«

Und der neue Reichskanzler beschwört die »deutschen Bürger« in einem Aufruf: »Ich bitte Euch alle dringend: Verlaßt die Straßen! Sorgt für Ruhe und Ordnung!«

Aber die Arbeiter und Soldaten bleiben weiter in Bewegung. Gegen 13 Uhr stürmen sie das Gefängnis Moabit und befreien die dort inhaftierten Gefangenen, unter ihnen den Organisator der Spartakusgruppe, Leo Jogiches.

Auch das Militärgefängnis in der Lehrter Straße muß geöffnet werden. Und das Strafgefängnis in Tegel wird gestürmt: 200 Militärgefangene werden befreit.

Zur gleichen Zeit bilden die SPD-Führer einen eigenen »Arbeiter- und Soldatenrat von Berlin«. Ihm gehören neben Otto Braun, Eugen Ernst, Friedrich Ebert und Otto Wels zwölf sozialdemokratische Vertrauensleute aus den Betrieben an. Keiner von ihnen hat an den Massendemonstrationen teilgenommen. In einer Sonderausgabe des »Vorwärts« proklamiert dieser Rat den Generalstreik, der bereits seit den Morgenstunden praktisch verwirklicht worden ist. Ebert und seine Genossen versuchen auf diese Weise, die revolutionäre Bewegung, die ihnen entglitten ist. in den Griff zu bekommen.

Aber die Massen folgen den Parolen der Revolutionären Obleute. Gegen mittag 13 Uhr bewegt sich ein Zug von einigen Tausend Mann, hauptsächlich Soldaten in voller Bewaffnung, dessen erste Reihe mit Handgranaten ausgerüstet ist, von der Dirksenstraße und vom Alexanderplatz aus zum Polizeipräsidium und besetzt die Zugänge zu dem Gebäude mit Maschinengewehren. Gegen die Fenster werden einige Schüsse abgegeben. Vier Vertreter der Demonstranten, unter ihnen ein Funktionär der uspd, der Arbeiter Ernst Eichhorn, begeben sich in das Gebäude und verlangen vom Polizeipräsidenten von Oppen, daß die gesamte Schutzmannschaft die Waffen niederlege. Eichhorn berichtet über die weiteren Vorgänge:

»Die wachsenden Volksmassen auf den Straßen, ihre begreifliche Erregung hatten der Polizei nicht nur den letzten Rest von Mut, sondern auch die Besinnung genommen. Das böse Gewissen, die Erinnerung an die früheren Attacken gegen die Berliner Arbeiter muß bei ihr eine wilde Furcht vor Vergeltung erzeugt haben, denn Schutzleute und Offiziere rissen sich, so schnell das nur gehen wollte, die Säbel und Revolver vom Leib, warfen sie auf einen rasch anwachsenden Haufen; die Polizei ist nicht eigentlich entwaffnet worden, sie hat sich selbst entwaffnet. Die Polizei ist auch nicht vertrieben worden, aus eigenem Antrieb entfernte sie sich, so rasch das bei den das Gebäude umdrängenden Massen nur gehen wollte, aus dem Präsidium. Im großen und ganzen blieb die Polizei von den Volksmassen unbehelligt, diese strömten nur durch die Tore über den Hof und nahmen die Polizeiwaffen bis zum letzten Gurt und zur letzten Revolvertasche an sich.«

Auch hier werden die politischen Gefangenen – es sind 650 – in Freiheit gesetzt. Der Arbeiter Ernst Eichhorn übernimmt die Funktion des Polizeipräsidenten von Berlin.

In den ersten Nachmittagsstunden erscheinen Abgesandte der Arbeiter- und Soldatenräte in den Räumen des Wolffschen Telegraphen-Büros und nehmen es in Beschlag. Die Eingänge werden kontrolliert, nur Personen mit Ausweisen erhalten Zutritt. Ab 15 Uhr steht der Nachrichtendienst dieses Büros unter der Vorzensur des Arbeiter- und Soldatenrates.

Vertreter der Spartakusgruppe unter Führung Hermann Dunckers besetzen im Laufe des Nachmittags die Gebäude des kriegsbegeisterten, chauvinistischen »Berliner Lokalanzeigers«. Den im Sitzungssaal anwesenden Redakteuren erklärt Duncker: »Meine Herren, das Blatt hat sich gewendet. Ihr Blatt muß sich auch wenden! Sie verstehen, daß eine siegreiche Revolution eine konterrevolutionäre Presse nicht dulden kann.« In der Redaktion des »Berliner Lokalanzeigers« geben Hermann Duncker und Ernst Meyer noch am selben Abend die erste Nummer der Zeitung »Die rote Fahne« heraus.

Der Arbeiter- und Soldatenrat besetzt die Räume des Reichsmarineamtes und des Waffen- und Munitionsbeschaffungsamtes. Vor dem Hause und in den Büros werden Posten mit aufgepflanzten Bajonetten aufgestellt. Es wird erklärt, daß diese Maßnahme zum Schutz des Waffen- und Munitionsamtes getroffen sei.

Weiter werden besetzt: das Oberkommando und das Haupttelegraphenamt.

Friedrich Ebert bietet der uspd an, in die Regierung einzutreten und drei Ministerkandidaten zu benennen. »Auch Liebknecht?« fragt ein uspd-Mann. Ebert antwortet: »Wenn Sie wollen, auch Karl Liebknecht. Er soll uns angenehm sein.« Den ganzen Nachmittag beraten die Fraktionen der spd und der uspd im Reichstag. Liebknecht: »Alle Exekutive, alle Legislative, alle richterliche Gewalt bei den Arbeiter- und Soldatenräten!«

Hunderttausende strömen unterdessen durch die Stadt.

Gegen 17 Uhr drängen revolutionäre Arbeiter, darunter Frauen, an ihrer Spitze Karl Liebknecht, auf das Schloß zu. Von einem kleinen Kraftwagen aus verkündet Liebknecht unter allgemeinem Jubel: »Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Der Friede ist in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland.«

Wenig später dringt eine große Menschenmenge in das Schloß, dessen militärische Besatzung sich ebenso wie die dort untergebrachte starke Schutzmannschaft kampflos ergibt.

Plötzlich öffnet sich das Fenster des Balkons, aus dem Kaiser Wilhelm ii. beim Ausbruch des Krieges seine denkwürdige Ansprache hielt. Eine rote Decke wird darüber gehängt, und Liebknecht erscheint auf dem Balkon, um ein zweitesmal zu sprechen. Am Schluß seiner Rede fordert er die Massen auf, die Hand zum Schwur auf die freie sozialistische Republik Deutschland zu erheben. Am Mast für die Kaiserstandarte steigt die rote Fahne empor. Um die sechste Abendstunde ist Unter den Linden plötzlich Maschinengewehrfeuer zu vernehmen. Das Schloß ist im weiten Umkreis von Soldaten abgesperrt, die die andrängenden Massen zurückhalten. Von allen Seiten bewegen sich Autos mit Bewaffneten zum Schloß. Ein Teil der Soldaten versucht, sich Einlaß in den Marstall zu erzwingen, wo sich Offiziere verbarrikadiert haben. Die Soldaten verlangen von der Wache, daß die Türe zu einem bestimmten Zimmer geöffnet wird. Da die Wache sich weigert, werden zwei Handgranaten gegen die Türe geworfen. Das ist der Beginn eines Kampfes, der bis in die späteren Abendstunden andauert. Es gibt Tote und Schwerverletzte. Gegen Abend werden Kanonen aufgefahren.

Am Abend des 9. November verbreitet der Vorstand der spd über das Wolffsche Telegraphenbüro folgende Verlautbarung: »Die Sozialdemokratische Partei hat der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei angeboten, eine gemeinsame Regierung unter beiderseitiger voller Gleichberechtigung zu bilden. Sie hat sich dabei von dem Bestreben leiten lassen, in diesen ernsten Tagen über jeden Gegensatz hinwegzusehen, damit die große deutsche Freiheitsbewegung rasch und glücklich unter Vermeidung aller Gewalttätigkeit und Ausschreitungen zum Ziele geführt werden kann. Von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, die ihrerseits Haase, Liebknecht und Barth als Mitglieder der gemeinsamen Regierung vorschlägt, sind eine Reihe von Bedingungen gestellt worden, die aus dem nachfolgenden Antwortschreiben der Sozialdemokratischen Partei zu entnehmen sind.

Berlin, 9. November, 8 Uhr abends

»An den Vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei.

Von dem aufrichtigen Wunsch geleitet, zu einer Einigung zu gelangen, müssen wir Ihnen unsere grundsätzliche Stellung zu Ihren Forderungen klarlegen. Sie fordern:

1. Deutschland soll eine sozialistische Republik sein.

Antwort: Diese Forderung ist das Ziel unserer eigenen Politik. Indessen hat darüber das Volk und die konstituierende Versammlung zu entscheiden.

2. In dieser Republik soll die gesamte Exekutive, Legislative und die Jurisdiktionelle Macht ausschließlich in den Händen von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten sein.

Antwort: Ist mit diesem Verlangen die Diktatur eines Teiles einer Klasse gemeint, hinter dem nicht die Volksmehrheit steht, so müssen wir die Forderung ablehnen, weil sie unseren demokratischen Grundsätzen widerspricht.

3. Ausschluß aller bürgerlichen Mitglieder aus der Regierung.

Antwort: Diese Forderung müssen wir ablehnen, weil ihre Erfüllung die Volksernährung erheblich gefährden, wenn nicht unmöglich machen würde.

4. Die Beteiligung der Unabhängigen gilt nur für drei Tage als ein Provisorium, um eine für den Abschluß des Waffenstillstandes fähige Regierung zu schaffen.

Antwort: Wir halten ein Zusammenwirken der sozialistischen Richtungen mindestens bis zum Zusammentritt der konstituierenden Versammlungen für erforderlich.

5. Die Ressortminister gelten nur als technische Gehilfen des eigentlichen und entscheidenden Kabinetts.

Antwort: Dieser Forderung stimmen wir zu.

6. Gleichberechtigung der beiden Leiter des Kabinetts.

Antwort: Wir sind für die Gleichberechtigung aller Kabinettsmitglieder, indessen hat die konstituierende Versammlung darüber zu entscheiden. Es ist von der Einsicht der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zu erhoffen, daß sie mit der Sozialdemokratischen Partei noch zu einer Verständigung gelangt.

Der Vorstand der

Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.«

Nach dieser Veröffentlichung lehnt Karl Liebknecht die Beteiligung an einer SPD-Regierung ab. Die Mehrheit der uspd-Führer nimmt jedoch die Vorschläge der spd an, wobei sie allerdings betont, daß die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte liegen müsse. Am Ende einigen sich beide Parteien auf eine provisorische Regierung, den »Rat der Volksbeauftragten«, der aus drei Vertretern der spd (Ebert, Landsberg, Scheidemann) und drei Vertretern der uspd (Barth, Dittmann, Haase) bestehen soll. Die Massen sind noch nicht zur Ruhe gekommen. Sie besetzen inzwischen die übrigen Regierungsgebäude.

Am späten Abend versammeln sich die Revolutionären Obleute im Plenarsaal des Reichstages. Er wird mit roten Tüchern ausgeschlagen. Als Vorsitzender fungiert Emil Barth. Er begrüßt den »siegreichen Aufstand der Berliner Garnison, die sich auf die Seite des Volkes gestellt und den fast unblutigen Sieg der Revolution herbeigeführt hat«.

Es wird beschlossen, folgenden Aufruf zu erlassen:

»Arbeiter! Soldaten! Genossen! Brüder!

Der große, sehnsüchtig erwartete Tag ist erschienen. Seit dem 9. November hat das deutsche Volk die Macht in den Händen. Seit dem 9. November ist Deutschland Republik, und zwar sozialistische Republik der Arbeiter und Soldaten. Unsere Herzen sind voller Stolz. Aber wir haben keine Zeit, uns unserer Freude hinzugeben. Nun gilt es, die organisatorische Grundlage für das neue Gemeinwesen herzustellen. Ungeheure Aufgaben erwarten uns. Vor allem die, eine Regierung zu bilden, die unseren Idealen entspricht und den gewaltigen Problemen gewachsen ist. Grundlage dieser Regierung ist, daß die gesamte gesetzgebende, ausführende, verwaltende und richterliche Gewalt ausschließlich in Händen der Vertreter der Arbeiter und Soldaten ruht. Diese Vertreter zu bestellen, ist Eure erste praktische Aufgabe.

Deshalb Soldaten, Brüder, tretet am Sonntag, 10. November, spätestens 10 Uhr, in den Kasernen und Lazaretten zusammen und wählt Eure Vertreter. Auf jedes Bataillon fällt 1 Delegierter, ebenso auf jede kleinere selbständige Formation und jedes Lazarett.

Arbeiter! Arbeiterinnen! Brüder! Schwestern! Tretet auch Ihr am Sonntag, 10. November, um 10 Uhr in Euren Betrieben zusammen. Auf je 1000 Beschäftigte, Männer oder Frauen, fällt 1 Delegierter. Kleinere Betriebe schließen sich zusammen. Am Sonntag um 5 Uhr treten die so Gewählten im Zirkus Busch zusammen. Arbeiter! Soldaten! Sorgt für die Ausführung dieser Anordnungen. Bewahrt Ruhe und Ordnung!

Berlin, 9. November 1918

Der provisorische

Arbeiter- und Soldatenrat«

Friedrich Ebert, besorgt, daß die »bolschewistische« Revolution doch noch siegen könnte, entschließt sich in dieser nächtlichen Stunde für die Parole: Versöhnung, Einigkeit, kein Bruderkampf. Der Kaiser scheint schon vergessen. Er sitzt in seinem Hofzug bei der Tafel. Um 10 Uhr abends erklärt sich S. M. bereit, am nächsten Morgen um 5 Uhr den Hofzug in Richtung holländische Grenze zu besteigen.

Während sich der Exkaiser schlafen legt, arbeiten die Funktionäre der Revolutionären Obleute und der spd. Die einen mobilisieren die Arbeiter und Soldaten für den »entscheidenden Kampf«, und die anderen versuchen, den Mobilisierten begreiflich zu machen, daß Einigkeit, Ruhe und Ordnung die »sicherste Garantie einer siegreichen Revolution« seien.

Die Morgenausgabe des »Vorwärts« vom Sonntag, 10. November 1918, bringt einen Leitartikel mit der Überschrift »Kein Bruderkampf!« Es heißt darin, daß der Sieg des deutschen Volkes und insbesondere des Berliner Proletariats ohne Beispiel in der ganzen Geschichte dastehe. Aber es müsse jetzt für die Zukunft gesorgt werden. Die Aufgabe sei nur zu lösen, wenn die Arbeiterklasse einig und geschlossen bleibe. »Ohne das geht es nicht! Wenn Gruppe gegen Gruppe, Sekte gegen Sekte arbeitet, dann entsteht das russische Chaos, der allgemeine Niedergang, das Elend statt des Glückes … Schon gestern ist von einzelnen kleinen Gruppen, oft unter unbekannter und unverantwortlicher Führung, der Versuch gemacht worden, eigene Wege zu gehen und die Arbeit des Arbeiter- und Soldatenrates zu durchkreuzen. Das ist die schwerste Versündigung an der Arbeiterschaft, die überhaupt denkbar ist. Das Werk, das von der großen Masse der Arbeiterschaft getragen wird, darf nicht durch kleine Minderheiten zerstört werden. Alle solche Versuche müssen an dem gesunden Sinn und der entschlossenen Ablehnung der Arbeiterschaft scheitern, oder die Arbeiterschaft selber wird scheitern. Der gestrige Sieg des Volkes über das alte System ist nur mit geringem Blutvergießen bezahlt worden. Soll nun der Welt nach solchem herrlichen Triumph das Schauspiel einer Selbstzerfleischung der Arbeiterschaft in sinnlosem Bruderkampf geboten werden?

Das darf nimmer geschehen! Der gestrige Tag hat in der Arbeiterschaft das Gefühl für die Notwendigkeit innerer Einheit hoch emporlodern lassen! Aus fast allen Städten, aus ganzen Ländern, aus ganzen Bundesstaaten hören wir, daß die alte Partei und Unabhängige sich am Tage der Revolution wieder zusammengefunden und zu der alten geschlossenen Partei geeint haben. In Bayern ist diese Einigung für den ganzen Staat vollzogen. Dort gibt es keine Parteispaltung mehr! Soll Berlin dahinter zurückstehen?

Die Einigung muß auch hier durchgeführt werden … Es geht um Wohl und Zukunft der ganzen Arbeiterklasse. Und wenn auch noch soviel Verbitterung sich eingefressen hat, wenn auch der eine Teil dem anderen manches aus der Vergangenheit vorwirft, ein Tag wie der gestrige ist groß und überwältigend genug, um all das vergessen zu machen.

Das Versöhnungswerk darf nicht an einigen Verbitterten scheitern, deren Charakter nicht stark genug ist, um alten Groll überwinden und vergessen zu können. Liegt doch solcher Groll den Massen selber vollkommen fern, ist doch auch gestern zwischen Arbeiter und Arbeiter die Einigkeit fast instinktiv hergestellt worden. Kein Führer darf das hemmen. Gibt es unter ihnen solche, mit denen die Einigung nicht gemacht werden kann, dann muß sie gemacht werden ohne sie! An keiner Personenfrage darf ein Werk von so ungeheurer Bedeutung scheitern.

Die alte Sozialdemokratische Partei erstrebt die Einigung mit aller Kraft auch unter eigenen Opfern. Sie weiß sich in diesem Bestreben eins mit dem gesunden Instinkt der Arbeiterschaft, deren große Masse es nie begreifen würde, wenn man gestern Schulter an Schulter auf der Barrikade gestanden hat, daß man sich morgen auf der Barrikade gegenüberstehen sollte. Die Sozialdemokratische Partei verfolgt in ihrem Streben dabei keinerlei eigennützige Ziele, sie ist nur ganz durchdrungen von dem Gedanken, daß das Werk der Rettung aus dem Abgrund, in den uns der überwundene Imperialismus gestürzt hat, nur von einer einmütigen und geschlossenen Arbeiterschaft ausgeführt werden kann.

Die Bruderhand liegt offen – schlagt ein!«

Richard Müller, führender Kopf der Revolutionären Obleute, meint dazu: »Der ›Vorwärts‹ war an diesem Tage die Zeitung, die sich jeder Arbeiter zu verschaffen suchte. Ihm stand die vom Spartakusbund neu herausgegebene ›Rote Fahne‹ gegenüber, deren Erscheinen den meisten Arbeitern noch unbekannt war und die an diesem Tage auch nur in einer kleinen Auflage erscheinen konnte.

Was der ›Vorwärts‹ schrieb, wirkte ungemein stark auf die Arbeiter; selbst auf die, die noch am gestrigen Tage seine erbittertsten Feinde waren. Die ganze Kriegspolitik mit ihren Wirkungen auf die Lage der Arbeiter, der Burgfrieden mit der Bourgeoisie, alles, was die Arbeiter bis aufs Blut gereizt hatte, war vergessen … Bis zum gestrigen Tage war jeder Artikel, jede Notiz des ›Vorwärts‹ mit Mißtrauen aufgenommen worden, jetzt wurden sie als ehrlicher, aufrichtiger Willensausdruck hingenommen.«

Die Straßen der Berliner Innenstadt, gestern Schauplatz der revolutionären Erhebung des Volkes, sind an diesem Sonntag morgen leer. Die Arbeiter sind fast vollzählig in ihren Betrieben versammelt, um die Arbeiterräte zu wählen, die für 17 Uhr in den Zirkus Busch zusammengerufen sind, um die Regierung der siegreichen Revolution zu bestimmen. Aber die Revolutionsstimmung ist in eine Sieges- und Festtagsstimmung umgeschlagen. »Kein Bruderkampf!« Die Parole der spd wird zum Willen der Massen. Viele spd-Funktionäre, die an der bewaffneten Demonstration nicht teilnahmen, werden heute zu Arbeiterräten gewählt, um die Demonstranten von gestern zu vertreten. Ein großer Teil der neugewählten Arbeiterräte besteht aus Anhängern Friedrich Eberts.

Die »Rote Fahne« erklärt in einem Aufruf:

»An die Arbeiter und Soldaten von Berlin:

Sichert die von Euch errungene Macht!

Mißtrauen ist die erste demokratische Tugend!

Die rote Fahne weht über Berlin! Würdig habt Ihr Euch an die Seite der Städte gestellt, in denen schon das Proletariat und die Soldaten die Macht übernommen haben. Wie aber die Welt auf Euch geschaut hat, ob Ihr Eure Aufgabe lösen werdet, so sieht die Welt jetzt auf Euch, wie Ihr sie lösen werdet. Ihr müßt in der Durchführung eines sozialistischrevolutionären Programms ganze Arbeit machen. Mit der Abdankung von ein paar Hohenzollern ist es nicht getan. Noch viel weniger ist es getan damit, daß ein paar Regierungssozialisten mehr an die Spitze treten. Sie haben vier Jahre lang die Bourgeoisie unterstützt, sie können nicht anders, als dies weiter tun. Mißtrauet denen, die von Reichskanzler- und Ministerstellen herunter glauben, Eure Geschicke lenken zu dürfen. Nicht Neubesetzung der Posten von oben herunter, sondern Neuorganisierung der Gewalt von unten herauf! Sorget, daß die Macht, die Ihr jetzt errungen habt, nicht Euren Händen entgleitet und daß Ihr sie gebraucht für Euer Ziel. Denn Euer Ziel ist die sofortige Herbeiführung eines proletarischsozialistischen Friedens, der sich gegen den Imperialismus aller Länder wendet, und die Umwandlung der Gesellschaft in eine sozialistische. Zur Erlangung dieses Zieles ist es vor allem notwendig, daß das Berliner Proletariat in Bluse und in Feldgrau erklärt, folgende Forderungen mit aller Entschlossenheit und unbezähmbarem Kampfwillen zu verfolgen:

1. Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere sowie der Soldaten, die nicht auf dem Boden der neuen Ordnung stehen; Bewaffnung des Volkes; alle Soldaten und Proletarier, die bewaffnet sind, behalten ihre Waffen.

2. Übernahme sämtlicher militärischer und ziviler Behörden und Kommandostellen durch Vertrauensmänner des Arbeiter- und Soldatenrates.

3. Übergabe aller Waffen- und Munitionsbestände sowie aller Rüstungsbetriebe an den Arbeiter- und Soldatenrat.

4. Kontrolle über alle Verkehrsmittel durch den Arbeiter- und Soldatenrat.

5. Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit; Ersetzung des militärischen Kadavergehorsams durch freiwillige Disziplin der Soldaten unter Kontrolle des Arbeiter- und Soldatenrates.

6. Beseitigung des Reichstages und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung; Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bis zur Errichtung eines Reichs-Arbeiter- und Soldatenrates.

7. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten in ganz Deutschland, in deren Hand ausschließlich Gesetzgebung und Verwaltung liegen. Zur Wahl der Arbeiter- und Soldatenräte schreitet das gesamte erwachsene werktätige Volk in Stadt und Land und ohne Unterschied.

8. Abschaffung aller Dynastien und Einzelstaaten; unsere Parole lautet: einheitliche sozialistische Republik Deutschland.

9. Sofortige Aufnahme der Verbindung mit allen in Deutschland bestehenden Arbeiter- und Soldatenräten und den sozialistischen Bruderparteien des Auslandes.

10. Sofortige Rückberufung der russischen Botschaft nach Berlin. Arbeiter und Soldaten! Eine jahrtausendealte Knechtschaft geht zu Ende; aus den unsäglichen Leiden eines Krieges steigt die neue Freiheit empor. Vier lange Jahre haben die Scheidemänner, die Regierungssozialisten, Euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben Euch gesagt, man müsse ›das Vaterland‹ verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte. Jetzt, da der deutsche Imperialismus zusammenbricht, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu retten ist, und suchen die revolutionäre Energie der Massen zu ersticken. Es darf kein ›Scheidemann‹ mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung eintreten, solange ein Regierungssozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die Euch vier Jahrelang verraten haben.

Nieder mit dem Kapitalismus und seinen Agenten!

Es lebe die Revolution! Es lebe die Internationale!«

In den Kasernen haben die Revolutionären Obleute wenig Einfluß. Hier führt die spd und ihr Sprecher Otto Wels. Er instruiert die Soldatenräte, für eine paritätisch aus Vertretern der spd und der uspd zusammengesetzte Regierung einzutreten.

In der Reichskanzlei findet eine Regierungssitzung statt, bei der die Annahme oder die Ablehnung der Waffenstillstandsbedingungen auf der Tagesordnung steht. Eigentlich bedarf es keiner Debatte. Hindenburg und Ludendorff hatten bereits am 29. September erklärt, daß Deutschland nicht mehr weiterkämpfen könne. Die Oberste Heeresleitung schlug vor, man solle versuchen, Erleichterungen zu erreichen; gelänge das nicht, sei der Waffenstillstand trotzdem abzuschließen. Da die Entente jede Diskussion über die Bedingungen ablehnte, bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als ihren Unterhändler Erzberger zur Unterzeichnung zu ermächtigen. Zur gleichen Zeit findet eine Sitzung statt, in der die Revolutionären Obleute ihre Taktik festlegen, denn sie wissen bereits, daß die Wahlen zu den Arbeiter- und Soldatenräten nicht zu ihren Gunsten ausgegangen sind. Richard Müller: »Eine Regierung ohne die Rechtssozialisten ist nicht zu erreichen. Das muß man als Tatsache hinnehmen. Die Rechtssozialisten werden alles versuchen, um zur Nationalversammlung und damit zur bürgerlichdemokratischen Republik zu kommen. Wenn ihnen das gelingt, ist die Revolution verloren.« In fieberhaften Debatten wird plötzlich ein Gedanke geboren, der den Obleuten als die Rettung erscheint. Sie beschließen, eine Art Gegenregierung zu bilden, die man als »Aktionsausschuß der Arbeiter- und Soldatenräte« zur Abstimmung vorschlagen will. Man will über die Aufgaben dieses Aktionsausschusses nicht debattieren, sondern die Gegner erst später, eben in der Aktion, mit dem regierungsgleichen Organ bekannt machen.

Um 17 Uhr beginnt im Zirkus Busch die Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte. Den Vorsitz führt Emil Barth, einer der Revolutionären Obleute, der zugleich Volksbeauftragter in der neuen Regierung ist. In den unteren Rängen sitzen etwa tausend Soldaten, die sich bereits für die Mehrheitssozialisten bzw. für eine bürgerliche Republik entschieden haben. In den aufsteigenden Rängen sitzen etwa 1000 bis 2000 Arbeiter und Arbeiterinnen, die in ihrer Mehrheit den Sozialdemokraten oder dem rechten Flügel der uspd zuneigen. In der Manege sitzen an improvisierten Holztischen die Führer der Sozialistischen Parteien von Ebert bis Liebknecht. Barth erteilt als erstem Redner Friedrich Ebert das Wort. Die Mitteilung Eberts, daß zwischen den beiden sozialdemokratischen Parteien eine Einigung über die Bildung einer Regierung zustande gekommen ist auf der Grundlage, daß je drei Vertreter der Mehrheitsozialisten und der Unabhängigen in die neue Regierung eintreten, ruft brausenden Beifall hervor. Zwischenrufe von seiten der Spartakusgruppe werden von den Versammelten sehr energisch zurückgewiesen. Während Hugo Haase die Feststellungen Eberts mit matten Worten bestätigt, wendet sich Karl Liebknecht scharf gegen Ebert: »Ich muß Wasser in den Wein Eurer Begeisterung schütten. Die Gegenrevolution ist bereits auf dem Marsche, sie ist bereits in Aktion! Sie ist bereits hier unter uns!« Liebknecht erklärt, daß die Revolution nicht nur von »den Militaristen und Monopolherren, sondern auch von jenen bedroht werde, die heute mit der Revolution gehen, sie jedoch vorgestern noch bekämpft haben.« Er ruft auf, »sorgfältig die Männer auszuwählen, die man in die Regierung schickt und an die Spitze der Räte stellt.« Die Ausführungen Liebknechts werden besonders von den Soldaten mit steigendem Lärm aufgenommen, und schließlich geht die Rede in den Sprechchören »Einigkeit, Einigkeit!« unter.

Nun soll der Aktionsausschuß gewählt werden. Barth hält eine allzu lange Rede; als er dann die Vorschlagsliste zur Wahl des Vollzugsrates vorliest, auf der nur Unabhängige und Spartakusleute stehen – unter anderen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – dringen Soldaten mit erhobenen Gewehren und Säbeln gegen das Präsidium vor und schreien: »Einigkeit! Parität! Parität!« Barth will sein Amt niederlegen und droht, sich eher eine Kugel durch den Kopf zu schießen als mit den Regierungssozialisten zusammenzuarbeiten. Er hat offenbar ganz vergessen, daß er sich schon bereit erklärt hat, mit in die Regierung einzutreten. Richard Müller und Karl Liebknecht versuchen, gegen die paritätische Besetzung des Vollzugsrates zu sprechen, aber beide werden niedergeschrien. Soldaten stürzen in die Manege; der Tumult ist so groß, daß die Versammlung unterbrochen werden muß. Karl Liebknecht und die übrigen Spartakusanhänger erklären, sie müßten feststellen, daß nicht mehr verhandelt werden kann, und verlassen das Zirkusgebäude. In der Manege diskutieren die Vertreter der spd. Inzwischen verlangen die Soldaten nicht nur eine Parität zwischen spd und uspd, sondern auch zwischen Arbeitern und Soldaten. Endlich kann die Versammlung wieder eröffnet werden. Am Ende werden in den Vollzugsrat sieben Unabhängige Sozialdemokraten, sieben Regierungssozialisten und vierzehn Soldatenvertreter gewählt. Ergebnis: die Mehrheit des Vollzugsrates besteht aus Gegnern der Revolutionären Obleute. Nun schlägt der Vorsitzende der Versammlung vor, das politische Kabinett zu bestätigen, und nennt hierbei die Namen der Kabinettsmitglieder, Ebert, Scheidemann, Landsberg, Haase, Dittmann und Barth. Die Erklärung wird von der Versammlung mit brausendem Jubel aufgenommen. Die Bestätigung erfolgte, wie der Vorsitzende feststellt, mit ungeheurer Mehrheit gegen vereinzelte Stimmen. Auf Antrag eines Mitglieds der Revolutionären Obleute wird unter stürmischer Zustimmung der Versammlung ein »Aufruf an das Volk« beschlossen.

»… Das alte Deutschland ist nicht mehr. Das deutsche Volk hat erkannt, daß es jahrelang in Lug und Trug gehüllt war … Die Revolution hat von Kiel ihren Siegesmarsch angetreten und hat sich siegreich durchgesetzt.

Die Dynastien haben ihre Existenz verwirkt. Die Träger der Krone sind ihrer Macht entkleidet.

Deutschland ist Republik geworden, eine Sozialistische Republik. … Die Träger der politischen Macht sind jetzt Arbeiter- und Soldatenräte … Die Aufgabe der provisorischen Regierung, die von dem Arbeiter- und Soldatenrat Berlin bestätigt ist, wird in erster Linie sein, den Waffenstillstand abzuschließen und dem blutigen Gemetzel ein Ende zu machen … Die rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel ist nach der sozialen Struktur Deutschlands und dem Reifegrad seiner wirtschaftlichen und politischen Organisation ohne starke Erschütterung durchführbar. Sie ist notwendig, um auf den blutgetränkten Trümmern eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen, um die wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen, den Untergang der Kultur zu verhüten … Der Arbeiter- und Soldatenrat ist sich dessen bewußt, daß die revolutionäre Macht Verbrechen und Fehler des alten Regimes und der besitzenden Klassen nicht mit einem Schlage gutmachen, daß sie den Massen nicht sofort eine glänzende Lage verschaffen kann. Aber diese revolutionäre Macht ist die einzige, die noch retten kann, was zu retten ist. Die sozialistische Republik ist einzig imstande, die Kräfte des internationalen Sozialismus zur Herbeiführung eines demokratischen Dauerfriedens in der ganzen Welt auszulösen. Es lebe die deutsche sozialistische Republik!«

Danach wird die Internationale gesungen, die Arbeiter- und Soldatenräte begeben sich nach Hause, während sich das politische Kabinett in der Reichskanzlei als »Rat der Volksbeauftragten« konstituiert. Schließlich bleibt Ebert allein an seinem Schreibtisch zurück. Da klingelt das Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldet sich General Groener, aus dem bis heute früh noch kaiserlichen Hauptquartier in Spa. Das Gespräch ist nicht aufgezeichnet worden, Zeugen waren nicht anwesend. In Groeners Lebenserinnerungen heißt es: »Am Abend des 10. November rief ich die Reichskanzlei an und teilte Ebert mit, daß das Heer sich seiner Regierung zur Verfügung stelle, daß dafür der Feldmarschall und das Offizierskorps von der Regierung Unterstützung erwarteten bei der Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin im Heer. Das Offizierskorps verlange von der Regierung die Bekämpfung des Bolschewismus und sei dafür zum Einsatz bereit. Ebert ging auf meinen Bündnisvorschlag ein. Von da ab besprachen wir uns täglich abends auf einer geheimen Leitung zwischen der Reichskanzlei und der Heeresleitung über die notwendigen Maßnahmen. Das Bündnis hat sich bewährt.«

Chronik November-Dezember 1918

Putschversuch in Berlin, 6. Dezember 1918

1918 11. November: Im Wald von Compiègne wird der Waffenstillstand unterzeichnet.

Bildung einer preußischen Regierung aus Mitgliedern der spd und uspd.

18. November: Um alle lokalen Versuche zur Enteignungvon Fabriken und Werken abzufangen, bildet die Regierungeine »Sozialisierungs-Kommission«, die ein halbes Jahr später wieder aufgelöst wird.

19. November: Die Volksbeauftragten verbieten Streiks in lebenswichtigen Betrieben.

20.–21. November: In Berlin finden Massendemonstrationen des Spartakusbundes, der ehemaligen Spartakusgruppe, für die »Rätemacht« und die »Weiterführung der Revolution« statt.

21. November: Mit den Streiks von 30000 Bergarbeitern in Oberschlesien beginnt eine neue Streikwelle. Neben wirtschaftlichen Forderungen werden auch Forderungen nach Weiterführung der Revolution gestellt.

23. November: Der Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte verzichtet zu Gunsten des Rates der Volksbeauftragten auf die Exekutivgewalt.

30. November: Die Volksbeauftragten legen die Wahlen zur Nationalversammlung auf den 16. Februar 1919 fest. Dieser Termin wird später auf den 19. Januar vorverlegt.

6. Dezember: Mit dem Einmarsch der Gardekavallerie-Schützendivision in Berlin beginnt der Versuch eines konterrevolutionären Putsches.

Konterrevolutionäre Unteroffiziere und Soldaten schießen auf eine Demonstration; 14 Arbeiter werden getötet.

Die Putschisten verhaften vorübergehend den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte, während eine Soldaten- und Studentendemonstration Ebert die Präsidentschaft anträgt. Ähnliche Putschversuche werden bis zum 13. Dezember in Essen, Braunschweig, Hamburg, Chemnitz und Würzburg durchgeführt.

Putschversuch in Berlin, 6. Dezember 1918

Anfang Dezember 1918. Geheime Gespräche zwischen dem Volksbeauftragten Ebert und dem General Groener. Beide sind daran interessiert, die Macht der Arbeiter- und Soldatenräte zu brechen, Berlin von den »Spartakisten« zu säubern und den Zustand wiederherzustellen, den sie generell als »Ruhe und Ordnung« bezeichnen. Zu diesem Zweck wird geplant, zehn aus dem Felde zurückkehrende Divisionen mit scharfer Munition in Berlin einrücken zu lassen. Für die Aktion wird ein generalstabsmäßiger Plan ausgearbeitet, der nicht nur die Truppenteile, ihre Stärke, ihre Aufmarschzeiten und Bestimmungsorte festhält, sondern auch folgende Maßnahmen vorsieht:

»1. Wer ohne Waffenschein noch Waffen in Besitz hat, wird erschossen.

2. Wer Kriegsmaterial einschließlich Kraftwagen behält, wird standrechtlich abgeurteilt.

3. Deserteure und Matrosen haben sich innerhalb von zehn Tagen beim nächsten Ersatztruppenteil oder Bezirkskommando zu melden.

4. Wer sich unberechtigt eine Beamteneigenschaft zulegt, wird erschossen.

5. Alle unsicheren Stadtteile werden durchsucht.

6. Über Arbeitslose und Notstandsarbeiten erfolgen gesonderte Bestimmungen.

7. Die Autorität der Offiziere gilt wieder in vollem Umfang. (Abzeichen, Grußpflicht, Orden, Waffentragen, Abzeichen für Feldheer.)

8. Die Behörden und Truppen übernehmen die ihnen gesetzlich zustehenden Befugnisse. Alle Ersatztruppen werden sofort aufgelöst.« Für den 16. Dezember ist der erste Reichsrätekongreß in Berlin angekündigt. Der von Groener mit Ebert abgesprochene Plan soll zwischen dem 10. und 15. Dezember ausgeführt werden. Man will vor dem Zusammentritt der Räte »reinen Tisch machen«.

Der Putschplan scheint klar. Aber einige Truppenteile der Berliner Garnison schlagen zu früh los. Oder sollte das dazu dienen, die Berufung der zehn Divisionen nach Berlin zu rechtfertigen? Es ist nie völlig klar geworden.

6. Dezember. Um 17 Uhr marschieren unter Führung von Offizieren Truppenteile des Garde-Grenadierregiments »Kaiser Franz« demonstrativ durch die Straßen und besetzen das preußische Abgeordnetenhaus, in dem der Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates eben eine Sitzung abhält. Ein Teil der Mannschaften, mit einem Unteroffizier an der Spitze, dringt in die Sitzung ein und erklärt den Vollzugsrat für verhaftet, angeblich auf Befehl der Regierung Ebert-Haase. Die Putschisten erklären weiter, sie seien gekommen, um den Vollzugsrat zu beseitigen und Ebert als Präsidenten der Republik auszurufen.

Gleichzeitig wird von einem anderen Teil der Truppen die Redaktion der »Roten Fahne« besetzt. Die Redaktionsräume werden durchsucht, Treppen, Hof und Hauseingang abgesperrt, die Maschinen angehalten. Man fahndet nach Liebknecht und der »Gruppe der Spartakusleute«. Auch hier beruft man sich auf einen Befehl der Regierung Ebert-Haase.

Zur selben Zeit wird auf demonstrierende, unbewaffnete Soldaten, die aus einer Versammlung in den Germaniasälen die Chausseestraße hinunterziehen – die Demonstration war dem Polizeipräsidenten am Tage vorher mitgeteilt worden – mit Maschinengewehren geschossen. 14 Tote bleiben liegen, darunter eine Frau, die Verwundeten sind zahlreich.

Während dies alles geschieht, erscheinen bewaffnete Regimenter vor dem Reichskanzlerpalais, ein Soldat tritt an die Spitze, Ebert erscheint auf dem Balkon und wird unter den Hurrarufen der Soldaten zum Präsidenten ausgerufen. Auf die kategorische Frage der Putschisten, ob er die Präsidentschaft annehme, antwortet Ebert hinhaltend: Er müsse vorher erst mit seinen Freunden sprechen. Die Soldaten ziehen ab. Das einzige, was von dem spukhaften Putschversuch übrigbleibt, sind die vierzehn Toten.

Chronik Dezember 1918-Februar 1919

Das Ende der Revolution.

Die Januarkämpfe in Berlin. 1919

1918 7.–8. Dezember: In einer ersten bewaffneten Massendemonstration protestieren in Berlin Arbeiter gegen den Putschversuch.

10. Dezember: Gardetruppen des Generals Lequis rücken mit scharfer Munition in Berlin ein, um die Revolution in der Reichshauptstadt niederzuschlagen. Die Truppen entziehen sich jedoch in ihrer Mehrheit dem Befehl ihrer Offiziere.

13. Dezember: Die ohl erläßt an alle Generalkommandos eine Anweisung über die Aufstellung von sogenannten Freiwilligen Korps.

14. Dezember: Für »unbefugten Waffenbesitz« werden Gefängnisstrafen bis zu 5 Jahren verhängt.

16.–21. Dezember: Reichsrätekongreß in Berlin: Tagung der Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. Die Mehrheit stimmt dem sozialdemokratischen Antrag zu, »bis zur anderweitigen Regelung durch die Nationalversammlung die gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten zu übertragen«.

21. Dezember: Massendemonstrationen der Berliner Arbeiter anläßlich der Beisetzung der Opfer des 6. Dezember.

23. Dezember: Gegenrevolutionäre Truppen versuchen, die revolutionäre Volksmarinedivision, die im Berliner Schloß und Marstall stationiert ist, zu entwaffnen.

24. Dezember: Das Vorgehen gegen die Volksmarinedivision weitet sich aus: im Einverständnis mit den Volksbeauftragten greifen die von Artillerie unterstützten Reste der Gardetruppen des Generals Lequis Schloß und Marstall an, wobei 11 Matrosen getötet werden. Arbeiter kommen den revolutionären Matrosen zu Hilfe und schlagen die Putschisten zurück.

29. Dezember: Die Reichskonferenz des Spartakusbundes in Berlin beschließt die Trennung von der uspd und Gründungder kpd.

30. Dezember–1. Januar (1919): Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) in Berlin, die sich zur Diktatur des Proletariats bekennt.

1919 Anfang Januar: Die Streikwelle dauert an und beginnt, auch Landarbeiter und Angehörige anderer Schichten zu erfassen.

3. Januar: Überfall gegenrevolutionärer Truppen auf Arbeiterin Königshütte, wobei es 20 Tote gibt.

4. Januar: Der Berliner Polizeipräsident Eichhorn, der zum linken Flügel der uspd gehört, wird durch die preußischeRegierung seines Amtes enthoben.

5. Januar: Reichsbürgerrat in Berlin als Dachorganisation von über 100 lokalen Bürgerräten gegründet, die sich für die Bildung von konterrevolutionären Bürgerwehren einsetzen. Die kpd, die uspd und die Revolutionären Obleute rufen zu einer Protestdemonstration gegen die Absetzung Eichhorns auf. Hunderttausende folgen dem Aufruf. Arbeiter besetzen die großen Berliner Zeitungsverlage und bilden einen dreiunddreißigköpfigen Revolutionsausschuß, der zum bewaffneten Kampf gegen die sozialdemokratische Regierung aufruft.

6. Januar: Die Mehrheit der Berliner Arbeiterschaft tritt in den politischen Generalstreik. Mit der Besetzung der Reichsdruckerei, des Haupttelegrafenamtes und einiger anderer öffentlicher Gebäude beginnen die Januarkämpfe. Die Regierung ernennt den Sozialdemokraten Noske zum Oberbefehlshaber der Regierungstruppen in den Marken.

8. Januar: Die Regierungstruppen unter Noske beginnen den Angriff auf Berlin und erstürmen den Anhalter Bahnhof.

8. Januar–21.Februar: Streikbewegung für die Sozialisierung der Bergwerke im Ruhrgebiet, die rund 180000 Arbeiter erfaßt. General von Watter wird mit der militärischen Niederschlagung beauftragt. Bewaffnete Arbeiter kämpfen gegen Regierungstruppen. Am 21. Februar muß der Streik abgebrochen werden.

9. Januar: Die Regierungstruppen greifen die von Berliner Arbeitern besetzten Gebäude an. Es beginnen schwere Straßenkämpfe.

10. Januar: Die Regierungstruppen erstürmen Spandau. In Bremen proklamieren Arbeiter die »Räterepublik«.

Nach blutigen Zusammenstößen ist die Stadt Düsseldorf in den Händen des Revolutionären Arbeiterrates. Bei Straßenkämpfen in Dresden werden 15 Arbeiter getötet.

11. Januar: In Berlin ermorden Regierungstruppen 7 Parlamentäre der »Vorwärts-Besatzung« und erobern das Zeitungsgebäude.

12. Januar: Das Berliner Polizeipräsidium und die Zeitungsredaktionen werden von den Regierungstruppen erstürmt und besetzt.

14. Januar: Als letzter Berliner Stadtteil wird Moabit von den Regierungstruppen eingenommen.

15. Januar: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg werden von konterrevolutionären Soldaten verhaftet und ermordet.

Mitte Januar-Anfang Februar: Erfolgloser Streik von 30000 oberschlesischen Bergarbeitern für die Bewilligung einer einmaligen Zuwendung von 800 Reichsmark und für die Sozialisierung.

Das Ende der Revolution.

Die Januarkämpfe in Berlin. 1919

Am 1. Januar 1919 schreibt Hauptmann Pabst, der 1. Generalstabsoffizier der Gardekavallerieschützendivision, an Friedrich Ebert: »Solange Spartakus sich der Förderung des Polizeipräsidenten Eichhorn und ähnlicher Leute erfreut, wird es unmöglich sein, Ruhe zu schaffen … Wir fordern Entfernung aller Unruhestifter aus verantwortlichen Stellen. Findet die Regierung wiederum nicht den Mut zur Tat, so ist sie verantwortlich für alle Folgen.«

Am 2. Januar klagt das Reichsbankdirektorium: »Die Gefahr bolschewistischer Anarchie bedroht das gesamte Wirtschaftsleben.« Am 3. Januar erhebt Geheimrat Doyé heftige Vorwürfe gegen den Polizeipräsidenten von Berlin, Eichhorn, und fordert ihn auf, sein Amt niederzulegen. Nur bis zum Mittag des 4. Januar soll er die Möglichkeit haben, sich gegen die Vorwürfe schriftlich zu verteidigen. Aber noch vor Ablauf dieser Frist erhält Eichhorn ein Schreiben des preußischen Innenministers, des Sozialdemokraten Paul Hirsch, in dem er Eichhorn in zwei Sätzen mitteilt, daß er entlassen sei.

Im Generalstabsgebäude in Berlin findet eine Besprechung der Freikorpsführer statt, an der auch der Sozialdemokrat Gustav Noske teilnimmt. Die Offiziere fordern in der Besprechung die Verhängung des Belagerungszustandes über Berlin.

Emil Eichhorn, Mitglied der uspd, war das Amt des Polizeipräsidenten am 9. November 1918 von den Revolutionären Obleuten übertragen worden. Der Vollzugsrat hatte ihn in seinem Amt bestätigt. Er zeichnete sich durch organisatorisches Geschick und umsichtige Amtsführung aus; mit großem Spürsinn hatte er bisher fast alle gegenrevolutionären Unternehmungen aufgedeckt. Jetzt versucht man, ihn zum Kriminellen zu stempeln. Der »Vorwärts« schreibt: »Jeder Tag, den Eichhorn in seinem Amte bleibt, bedeutet eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit.«

Die »Rote Fahne« hingegen schreibt vom »Anschlag der gegenrevolutionären Ebert-Regierung gegen den Polizeipräsidenten Eichhorn« und erklärt: »Es ist eine Lebensfrage der Revolution, den Schlag zu parieren.«

Die Absetzung Eichhorns ruft unter den Revolutionären heftige Empörung hervor.

Am 4. Januar treffen sich im Polizeipräsidium der Vorstand der Berliner uspd, die Revolutionären Obleute und zwei Vertreter der eben gegründeten kpd, Liebknecht und Pieck, zu einer Besprechung mit Eichhorn. Man beschließt einen Aufruf zu einer friedlichen Demonstration für die »Zurücknahme der Absetzung Eichhorns« für die »Entwaffnung der Konterrevolution und die Bewaffnung der Arbeiter«.

Aufgerufen ist für Sonntag, 5. Januar, vierzehn Uhr, Siegesallee. Bereits am Vormittag strömen Hunderttausende von Arbeitern und Soldaten in riesigen Marschkolonnen aus den Vorstädten ins Zentrum. In den Germania-Festsälen ruft Emil Eichhorn unter großem Beifall: »Ich habe mein Amt von der Revolution empfangen, und ich werde es nur der Revolution zurückgeben!«

Um 14 Uhr bildet sich in der Siegesallee ein gewaltiger Demonstrationszug, der sich, durch das Brandenburger Tor, über den Schloßplatz zum Polizeipräsidium bewegt. Die Demonstration zeigt sich nicht mehr unbedingt friedlich: an der Spitze marschieren bewaffnete Gruppen des Roten Soldatenbundes und der Großbetriebe; Lastautos mit Maschinengewehren begleiten die Demonstranten. Karl Liebknecht, Georg Ledebour und andere Politiker sprechen zu den Massen, die stürmisch nach Waffen verlangen.

In den folgenden Nachmittagsstunden entwickelt sich die Demonstration rasch zur bewaffneten Aktion. Hauptziel ist das Zeitungsviertel. Alle Gebäude der großen Zeitungsverlage – Scherl, Ullstein, Mosse, der »Vorwärts« – werden besetzt, die Maschinen stillgelegt und die Redakteure nach Hause geschickt. Weitere bewaffnete Truppen besetzen die großen Bahnhöfe.

In der Nacht reißen die Demonstrationen nicht ab. Die Massen suchen nach strategischen Zielen, die es zu besetzen gilt, aber sie sind ohne Führung und handeln ohne jeden Plan.

Die Führer versammeln sich um diese Zeit im Berliner Polizeipräsidium: siebzig Revolutionäre Obleute, zehn Vorstandsmitglieder der Berliner uspd, zwei Soldaten- und ein Matrosen-Vertreter, Liebknecht und Pieck als Vertreter der kpd, dazu Eichhorn. Sie alle stehen völlig unter dem Eindruck der Massendemonstration und der Massenaktionen. Der einzige Unsicherheitsfaktor scheint das Militär zu sein. Als der Vertreter der Volksmarinedivision erklärt, daß die Berliner Truppen in ihrer Mehrheit hinter den Revolutionären Obleuten stünden und bereit seien, gegen die Regierung zu kämpfen, hört man das gerne und glaubt es. Es wird beschlossen, für den 6. Januar die Berliner Arbeiter und Soldaten aufzurufen: zum Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann und zur Eroberung der »Macht des revolutionären Proletariats«. Zur Leitung des Kampfes bildet sich ein Revolutionsausschuß aus 33 Mitgliedern. Vorsitzende: Georg Ledebour, Karl Liebknecht und Paul Scholze. In der Nacht noch ergeht folgender Aufruf: »Arbeiter! Soldaten! Genossen! Mit überwältigender Wucht habt ihr am Sonntag euren Willen kundgetan, daß der letzte bösartige Anschlag der blutbefleckten Ebert-Regierung zuschanden gemacht werde. Um Größeres handelt es sich nun. Es muß allen gegenrevolutionären Machenschaften ein Riegel vorgeschoben werden! Deshalb heraus aus den Betrieben! Erscheint in Massen heute 11 Uhr vormittags in der Siegesallee. Es gilt die Revolution zu befestigen und durchzuführen. Auf zum Kampf für den Sozialismus! Auf zum Kampf für die Macht des revolutionären Proletariats! Nieder mit der Regierung Ebert-Scheidemann!«

Weitere Anweisungen erteilt der Revolutionsausschuß nicht; er spricht auch nicht von konkreten, näherliegenden Zielen.

Am Morgen des 6. Januar setzt der Generalstreik der Berliner Arbeiter ein. Schon in den frühen Vormittagsstunden finden in vielen Stadtteilen Kundgebungen statt. Und am Vormittag beginnt eine der größten Demonstrationen, die Berlin je erlebt hat: über eine halbe Million Menschen ziehen mit roten Fahnen durch das Zentrum. Überall werden Waffen gefordert. Auf Initiative von Revolutionären Obleuten werden aus den staatlichen Depots und Werkstätten in Spandau und Wittenau Waffen nach Berlin gebracht; etwa 3000 Arbeiter erhalten Gewehre.

Doch der Revolutionsausschuß, der pausenlos im Marstall tagt, bringt es nicht fertig, die kampfbereiten Massen zu organisieren und zu führen. Als Vertreter von Soldatenräten sich bereit erklären, sich bei ihrer Truppe für den Revolutionsausschuß einzusetzen, wenn ihnen versichert werde, daß die Regierung nicht mehr existiere, tippt Wilhelm Pieck schnell auf einer Schreibmaschine: »Kameraden! Arbeiter! Die Regierung Ebert-Scheidemann hat sich unmöglich gemacht. Sie ist von dem unterzeichneten Revolutionsausschuß der Vertretung der revolutionären sozialistischen Arbeiter und Soldaten (Unabhängige sozialdemokratische Partei und Kommunistische Partei) für abgesetzt erklärt. Der unterzeichnete Revolutions-Ausschuß hat die Regierungsgeschäfte vorläufig übernommen. Kameraden! Arbeiter! Schließt Euch den Maßnahmen des Revolutionsausschusses an. Berlin den 6. Jan. 1919 Der Revolutionsausschuß.« Unterzeichnet ist diese Erklärung von Ledebour, Liebknecht und Paul Scholze. Durchschläge werden bald darauf in mehreren Kasernen verlesen.

Aber die Versuche, Soldaten und Matrosen für die »neue Regierung« zu gewinnen, scheitern ebenso wie der Versuch, die Berliner Stadtkommandantur und das preußische Kriegsministerium zu besetzen.

Währenddessen beraten die Volksbeauftragten in der Reichskanzlei mit dem Zentralrat und dem neuen preußischen Kriegsminister, Oberst Reinhardt. Ebert erinnert sich an die Freikorps, die rings um Berlin von konterrevolutionären Offizieren aufgestellt werden. Noske wird zum Oberbefehlshaber der »Regierungstreuen Truppen in und bei Berlin« ernannt. Er übernimmt den Oberbefehl mit den Worten: »Meinetwegen! Einer muß der Bluthund werden. Ich scheue die Verantwortung nicht!« Dann begibt er sich in den Westberliner Vorort Dahlem und schlägt in einem einstigen Töchterpensionat sein Hauptquartier auf, dessen Aufgabe es zunächst ist, die neuen Freikorps auf den Einmarsch in Berlin vorzubereiten. Aber Ebert erkennt die Gefahr, daß bei weiterem Warten die Front der Aufständischen verstärkt wird, und versucht deshalb mit Truppenteilen, die in Berlin stehen, »die Spartakisten niederzuwerfen«.

Der 8. Januar ist auf beiden Seiten ein Tag des gespannten Abwartens. Für den 9. Januar bereiten die Revolutionären Obleute, der Zentralvorstand der Berliner uspd und die Zentrale der kpd einen neuen Generalstreik vor. Es heißt in dem Aufruf: »Es geht aufs Ganze … um die ganze Zukunft der Arbeiterschaft, ums Ganze der Sozialen Revolution! … Es muß gekämpft werden bis aufs Letzte! … Bewaffnet Euch! Gebraucht die Waffen gegen Eure Todfeinde!«

Wieder folgen Tausende diesen Aufrufen, versammeln sich an den angegebenen Plätzen, aber wieder erhalten sie keine Anweisungen zum Handeln, wiederum bleibt es bei allgemeinen Redensarten. Müde des planlosen Umherirrens greifen mehr und mehr Arbeiter die Losung auf: »Schluß mit dem Brudermord – Einigung der Arbeiter ohne die Führer!« Ein Teil der Demonstranten wendet sich unter der mitgeführten Parole »Kein Blutvergießen, sondern Verbrüderung!« zum Zentralrat, um mit ihm zu verhandeln.

Auch das preußische Kabinett tagt. Der Kriegsminister berichtet über das Fortschreiten der Maßnahmen Noskes.

Die Führer der uspd nehmen die Verhandlung mit der Regierung wieder auf. Enttäuscht von der schwankenden Politik ihrer Führer geben viele Arbeiter und Soldaten den Kampf gegen die Regierung auf.

Unterdessen versteht die Konterrevolution die Zeit zu nutzen. Die ersten entscheidenden Schläge werden gegen die Arbeiter der großen Waffenwerke in Spandau geführt. Das Rathaus wird sturmreif geschossen, 63 Revolutionäre darin verhaftet und ihre Führer sofort erschossen.

Der Oberbefehlshaber Noske erläßt folgenden Aufruf:

»Arbeiter!

Die Reichsregierung hat mir die Führung der republikanischen Soldaten übertragen. Ein Arbeiter steht also an der Spitze der Macht der sozialistischen Republik.

Ihr kennt mich und meine Vergangenheit in der Partei. Ich bürge Euch dafür, daß kein unnützes Blut vergossen wird.

Ich will säubern, nicht vernichten.

Ich will euch mit dem jungen republikanischen Heer die Freiheit und den Frieden bringen.

Die Einigkeit der Arbeiterklasse muß gegen Spartakus stehen, wenn Demokratie und Sozialismus nicht untergehen sollen.«

Das »junge republikanische Heer« besteht weitgehend aus dem reaktionärsten Teil der kaiserlichen Armee. Statt »Freiheit und Frieden«, bringt dieses Heer vor allem Erschießungen und zum Teil bestialische Mißhandlungen.

Am Mittag des 11. Januar ziehen Noske und Oberst Detjen an der Spitze von 3000 Mann in Berlin ein. Sie marschieren demonstrativ durch viele Straßen des Zentrums zur Reichskanzlei. Vom Balkon aus hält Noske eine Begrüßungsrede an die »bewaffnete Macht der Sozialistischen Republik«.

Die letzten Kämpfe finden am 12. Januar um das Polizeipräsidium statt. Der Kommandant des Präsidiums wird mit vier seiner Mitkämpfer bei den Übergabeverhandlungen gefangengenommen und sofort erschossen. Mit Artillerie wird das Gebäude sturmreif geschossen und dann durch Stoßtrupps, die in den U-Bahnschächten ungesehen vordringen können, erobert. Die Überlebenden der Besatzung werden gefangengenommen, viele werden mißhandelt und viele ermordet.

Die ganze Stadt Berlin wird nun planmäßig von den Freikorps besetzt.

Die Gardekavallerieschützendivision führt Plakate mit sich, auf denen steht: »Berliner! Die Division verspricht euch, nicht eher die Hauptstadt zu verlassen, als bis die Ordnung endgültig wiederhergestellt ist.«

Als nächsten Akt ihrer Ordnungspolitik führt die Division unter Leitung von Hauptmann Papst die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg durch.

Die Revolution in Berlin ist beendet.

Chronik Januar-Mai 1919

Die Räterepublik in München. April 1919

1919 19. Januar: Wahlen zur Nationalversammlung. Die kpd boykottiert die Wahlen, spd und uspd erhalten zusammen 45,5 Prozent der gültigen Stimmen.

25. Januar: Anläßlich der Beisetzung von Liebknecht und 31 bei den Januarkämpfen Gefallenen kommt es in Berlin zu Massendemonstrationen.

27.–28. Januar: Kämpfe revolutionärer Arbeiter und Matrosen in Wilhelmshaven gegen das Freikorps Ehrhardt.

4. Februar: Die von der Regierung eingesetzte Division Gerstenberg erobert nach schweren Kämpfen die Stadt Bremen. Damit findet die Bremer Räterepublik ihr Ende.

Der vom 1. Rätekongreß gewählte Zentralrat überträgt sein Kontrollrecht über die Regierung an die Nationalversammlung.

5.–6. Februar: In Wismar schlagen revolutionäre Arbeiter und Soldaten einen Offiziersputsch nieder.

6. Februar: Die Nationalversammlung tritt im militärisch besetzten und nach außen abgeschirmten Weimar zusammen und wählt Ebert für 4 Jahre zum Reichspräsidenten.

8. Februar: Niederschlagung einer Arbeitslosendemonstration in Berlin durch Regierungstruppen. 12 Tote.

11. Februar: Belagerungszustand in Hamburg.

12. Februar: Blutige Zusammenstöße in Breslau. 17 Tote.

13. Februar: Ebert ernennt eine Regierung unter dem Sozialdemokraten Scheidemann, die sich aus Vertretern der sozialdemokratischen und bürgerlichen Parteien zusammensetzt.

15. Februar: Demonstrierende Arbeiter, Arbeitslose und Soldaten in Nürnberg protestieren gegen die Bildung »Weißer Garden«. Bei der Erstürmung des Generalkommandos gibt es zwei Tote.

17.–22. Februar: Nach einem Angriff des Freikorps Lichtschlag auf Hervest-Dorsten, der 38 Tote fordert, treten die Arbeiter des Ruhrgebietes in den Generalstreik. Es kommt zu schweren Kämpfen: allein in Hamborn gibt es weit über 100 Tote.

21. Februar: Der bayerische Ministerpräsident Eisner wird von dem Grafen von Arco-Valley ermordet. Generalstreik in München.

24. Februar–10.März: Generalstreik in Mitteldeutschland – für die Verteidigung und Erweiterung der in der Novemberrevolution errungenen Rechte, für das Mitbestimmungsrecht in den Betrieben, für die Beibehaltung der Betriebsräte und gegen Noske. Es kommt zu blutigen Zusammenstößen der Streikenden mit den Truppen des Generals Maercker.