15. Mai: Bewaffnete Arbeiter, Studenten und Bürger in Wien erzwingen die Anerkennung ihres Politischen Zentralkomitees und die Berufung eines nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählten Reichtags. Der Kaiser flieht nach Innsbruck, um von dort die Konterrevolution vorzubereiten. Ein von den Demokraten beherrschter Sicherheitsausschuß übernimmt als revolutionäre Nebenregierung einen Teil der öffentlichen Macht in Wien.
18. Mai: Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.
22. Mai: Eröffnung der verfassunggebenden preußischen Versammlung in der Singakademie zu Berlin.
Der Berliner Zeughaussturm. 14. Juni 1848
Am 1. Mai 1848 finden die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung in Preußen statt. Die Klasse des Feudaladels, die bisher in Preußen unumschränkt geherrscht hat, erlebt eine schwere Niederlage. Auf dem Lande werden vielerorts Tagelöhner ins Parlament gewählt; in Hof- und Militärkreisen spricht man abschätzig vom »Tagelöhnerparlament«.
Am 18. Mai wird die Konstituante eröffnet, und der König liest gelangweilt die Thronrede vom Blatte ab, ohne den Helm vom Kopf zu nehmen. Über den Verfassungsentwurf des Ministers Camphausen sind die Liberalen und Demokraten erbittert, weil er ein Oberhaus vorsieht; die Hofkreise hingegen nehmen Anstoß, weil das allgemeine Wahlrecht beibehalten werden soll.
Im April erscheint in Berlin der junge Schriftsteller Stephan Born, ein Freund von Marx und Engels, Mitglied des »Bundes der Kommunisten«. Rasch erwirbt er sich das Vertrauen der Buchdrucker, leitet im April einen Buchdruckerstreik und gründet ein Zentralkomitee der Arbeitervereine. Born organisiert auch den ersten deutschen Arbeiterkongreß in Berlin. In ganz Preußen werden in dieser Zeit Arbeitergesellschaften gegründet: die Fabrikarbeiter trennen sich von den Handwerkern. Zwei Entwicklungen beginnen sich abzuzeichnen: der Sturz des Ministeriums Camphausen und ein neuer Aufstand der Volksmassen. Die Krone und ihre Vertreter sind wachsam; es werden Truppen zusammengezogen, und die Garnison von Berlin wird verstärkt.
Am 7. Juni kehrt der Prinz von Preußen, der »Kartätschenprinz« der Märzrevolution, aus seinem Londoner Exil wieder nach Berlin zurück. So paradox es klingt: er ist als Abgeordneter von Wirsitz ins Parlament gewählt worden. Er erscheint in Generalsuniform und hält sogar eine Rede – sein erster und letzter Auftritt im Parlament. Den Abgeordneten liegt ein Antrag vor: »Die hohe Versammlung wolle in Anerkennung der Revolution zu Protokoll erklären, daß die Kämpfer des 18. und 19. März sich wohl ums Vaterland verdient gemacht haben.« Nach langen Reden kommt man mit 196 zu 177 Stimmen zu dem Ergebnis: Das Verdienst der Kämpfer sei unbestritten, die Versammlung habe aber nicht Urteile abzugeben, sondern die Verfassung zu vereinbaren.
Am Pfingstmontag, dem 12. Juni, treffen sich die Handwerkervereine Berlins und Spandaus mit Frauen und Kindern zu einem »Verbrüderungsfest«, an dem auch bürgerliche Kreise teilnehmen. Trotzdem liegt eine dumpfe und angespannte politische Stimmung über der Stadt. Das Volk beobachtet mit großem Mißtrauen die Transporte von Heeresmaterial, das aus dem Zeughaus geschafft wird, ohne daß die Öffentlichkeit erfährt, welchem Zweck die Waffen dienen sollen und wohin sie gebracht werden. Das Innere des Zeughauses ist durch Militär besetzt, die Bürgerwehr hat wenig zu sagen, und die allgemeine Volksbewaffnung hat kaum begonnen. Sechs demokratische Vereine fordern durch Abordnungen den Ministerpräsidenten auf, die zum Waffentragen berechtigte Bevölkerung nun wenigstens teilweise zu bewaffnen und eine gerechtere Verteilung der für die Bürgerwehr ausgegebenen Waffen zu veranlassen. Aber lediglich die als Elite angesehenen Maschinenbauer erhalten 500 Gewehre. Die Organisationen und Klubs verhalten sich still, während die Masse des Volkes die Bewaffnungsfrage heftig diskutiert und vor dem Zeughaus demonstriert.
Neuen Anlaß zum Mißtrauen bietet eine Bekanntmachung des Hofmarschallamtes, daß vor den Portalen im kleinen Schloßhof Gitter angebracht würden. Die Bevölkerung von Berlin hat den Eindruck, daß das Schloß in eine Festung verwandelt werden soll. Gegen Mittag des 14. Juni drängt eine große Menschenmenge vom Lustgarten aus in den Schloßhof, bemächtigt sich der Gitter, wirft eines in die Spree und schafft die beiden anderen in die Universität. Ein Zug von Arbeitslosen wird bei seinem Anmarsch vom Tiergarten aus am Brandenburger Tor durch Bürgerwehr aufgelöst. Noch kommt es zu keinen Zusammenstößen. Etwas später, gegen 4 Uhr, fordern einige hundert Arbeiter vor dem Kriegsministerium die Zurückziehung des Militärs aus dem Zeughaus. Durch die Bürgerwehr zurückgedrängt, ziehen sie vor das Zeughaus und verstärken die Volksmassen, die sich dort bereits versammelt haben und die allgemeine Bewaffnung fordern. Man wählt eine Delegation, schickt sie zum Kriegsminister und fordert den Abzug des Militärs aus dem Zeughaus. Die Forderung wird abgelehnt.
Plötzlich ertönt aus der Menge heraus die Forderung, sich die verweigerten Waffen selbst zu holen. Die Massen haben keine Führer und keine Organisation. Es fehlt der entscheidende Anstoß. Da fällt, schicksalhaft, ein Schuß. Niemand wird getroffen; aber das Volk glaubt an einen Angriff und dringt mit einem Steinhagel auf die Bürgerwehr ein. Einige Bürger schießen, zwei Arbeiter werden getötet.
Nun gerät die ganze Stadt in Aufruhr. Barrikaden werden gebaut, Waffenläden erbrochen und eine der blutigen Leichen wird unter Racherufen durch die Straßen getragen. Der Kriegsminister läßt den Generalmarsch schlagen, erteilt aber noch keine Befehle an die Truppen. Das Handwerkerkorps besetzt mit Einwilligung des Ministeriums das Erdgeschoß des Zeughauses, während sich die militärische Besatzung in das obere Stockwerk zurückzieht. Fast gleichzeitig bricht die aufgeregte Menge eines der Zeughaustore auf und dringt in das Innere ein. Das Handwerkerkorps ist machtlos. Die Kompagnie des Hauptmanns von Natzmer sieht einen Kampf vor sich, der zu schwerem Blutvergießen führen muß. Der Hauptmann entschließt sich, entgegen der Übung soldatischer Ehre, die Bürger zu schonen und das Zeughaus zu räumen. Kaum sind die Soldaten abmarschiert, werden die Gewehrkisten erbrochen; die Arbeiter bewaffnen sich und ziehen ab. Da es an jeder taktischen Führung fehlt, werden die revoltierenden Massen schließlich von den herbeigeholten Truppen und der Bürgerwehr zerstreut.
Die Redner, die das Stichwort zum Sturm auf das Zeughaus gaben, werden zu mehreren Jahren Festung verurteilt, Hauptmann von Natzmer soll eine zehnjährige Freiheitsstrafe antreten, und der Leutnant Techow, der Natzmer zu seinem Entschluß bestimmte, erhält sogar fünfzehn Jahre Festung; doch ihm gelingt die Flucht in die Emigration.
Chronik Juni-September 1848
Der Frankfurter Aufstand und seine Folgen 18.–26. September 1848
1848 12.–17. Juni: Die Errichtung einer unabhängigen Nationalregierung für Böhmen und Mähren wird von der österreichischen Regierung abgelehnt und der Abzug der österreichischen Truppen verweigert. Darauf bricht in Prag ein Aufstand aus. Nach erbitterten Kämpfen und der Bombardierung der Stadt durch Artillerie errichtet Fürst von Windischgrätz eine Militärdiktatur.
23.–25. Juni: Der Aufstand der Pariser Arbeiter wird nach erbitterten Kämpfen niedergeschlagen. Das bedeutet einen Wendepunkt in der Entwicklung der gesamteuropäischen Revolution. Auch in Deutschland wird die Konterrevolution zum bewaffneten Vorgehen gegen die Volksmassen ermuntert.
28. Juni: Die deutsche Nationalversammlung beschließt die Einsetzung einer provisorischen Reichszentralgewalt mit einem Reichsverweser an der Spitze.
31. Juli: In Schweidnitz/Schlesien läßt der Garnisonskommandant auf die Bürgerwehr schießen: 14 Tote und 32 Verwundete. Die preußische verfassunggebende Versammlung schließt sich der allgemeinen Volksempörung an und fordert den Kriegsminister auf, reaktionäre Offiziere zu entlassen. Die Regierung ignoriert den Beschluß.
17. September: Massenversammlung in Worringen bei Köln mit etwa 10000 Teilnehmern, die sich für die »demokratischsoziale Republik« ausspricht.
18.September: Arbeiter, Bauern und Handwerker Frankfurts und der Umgebung nehmen den Kampf gegen Truppenauf, die den Zugang zur Paulskirche verweigern. Nach heftigen Barrikadenkämpfen werden der Belagerungszustand und das Kriegsrecht über Frankfurt verhängt.
Der Frankfurter Aufstand und seine Folgen
18.–26. September 1848
Die Frage, was sich nach den revolutionären Bewegungen im März des Jahres 1848 in Deutschland geändert hat, untersuchte unter anderen auch Friedrich Engels. Er beantwortete sie folgendermaßen: »Schon Anfang April 1848 war die revolutionäre Flut auf dem ganzen europäischen Kontinent eingedämmt durch das Bündnis, das jene Gesellschaftsklassen, die aus den ersten Siegen Nutzen gezogen, sofort mit den Besiegten eingingen. In Frankreich hatten sich das Kleinbürgertum und die republikanische Fraktion der Bourgeoisie mit der monarchischen Bourgeoisie gegen das Proletariat zusammengetan; in Deutschland und Italien hatte die siegreiche Bourgeoisie eifrig um die Unterstützung des Feudaladels, der staatlichen Bürokratie und der Armee gegen die Masse des Volkes und der Kleinbürger geworben. Gar bald bekamen die vereinigten konservativen und konterrevolutionären Parteien wieder Oberwasser … Aber noch war die Wendung, die die Dinge schließlich nehmen sollten, in keiner Weise entschieden, und jeder Zollbreit Boden, den die revolutionären Parteien in den verschiedenen Ländern verloren, war für sie nur ein Ansporn, ihre Reihen enger zu schließen. Der entscheidende Kampf rückte näher. Er konnte nur in Frankreich ausgefochten werden; denn da England an dem revolutionären Ringen nicht teilnahm und Deutschland zersplittert blieb, war Frankreich dank seiner nationalen Unabhängigkeit, seiner Zivilisation und seiner Zentralisierung das einzige Land, das den Ländern ringsum den Anstoß zu einer gewaltigen Erschütterung geben konnte. Als daher am 23. Juni 1848 das blutige Ringen in Paris begann, als jedes neue Telegramm, jede neue Post vor den Augen Europas immer klarer die Tatsache enthüllte, daß dieser Kampf zwischen der Masse des arbeitenden Volks einerseits und allen übrigen Klassen der Pariser Bevölkerung, unterstützt von der Armee, andrerseits geführt wurde, als der Kampf sich mehrere Tage hinzog mit einer Erbitterung, die in der Geschichte des modernen Bürgerkriegs unerhört ist, jedoch ohne erkennbaren Vorteil für die eine oder die andere Seite – da wurde es jedermann klar, daß dies die große Entscheidungsschlacht war, die, wenn der Aufstand siegte, den ganzen Kontinent mit neuen Revolutionen überfluten, wenn er aber unterlag, zum mindesten vorübergehend zur Wiederaufrichtung des konterrevolutionären Regimes führen mußte. Die Proletarier von Paris wurden geschlagen, dezimiert, zerschmettert … Und sofort erhoben in ganz Europa die neuen und alten Konservativen und Konterrevolutionäre das Haupt mit einer Frechheit, die zeigte, wie gut sie die Bedeutung der Ereignisse verstanden. Überall fiel man über die Presse her, das Vereins- und Versammlungsrecht wurde geschmälert, jeder unbedeutende Vorfall in irgendeiner kleinen Provinzstadt zum Vorwand genommen, das Volk zu entwaffnen, den Belagerungszustand zu verhängen, die Truppen in den neuen Manövern und Kunstgriffen zu drillen, die Cavaignac gelehrt … Von dieser Niederlage der Pariser Arbeiter kann man die ersten entschiedenen Schritte und bestimmten Pläne der alten feudalbürokratischen Partei in Deutschland datieren, sich auch ihres augenblicklichen Verbündeten, der Bourgeoisie, zu entledigen und in Deutschland wieder den Zustand herzustellen, in dem es sich vor den Märzereignissen befand. Die Armee war wieder die entscheidende Macht im Staate, und die Armee war nicht ein Werkzeug in den Händen der Bourgeoisie, sondern eine Macht für sich … Die besiegten Adligen und Bürokraten begannen jetzt zu erkennen, welchen Weg sie einschlagen mußten; die Armee, stärker geeint denn je, mit gehobenem Selbstgefühl infolge des Sieges über kleinere Aufstände und in ausländischen Kriegen – diese Armee brauchte man nur in ständige kleine Konflikte mit dem Volk zu bringen, und sie konnte, war der entscheidende Augenblick erst einmal gekommen, mit einem großen Schlage die Revolutionäre zermalmen und mit den Anmaßungen der bürgerlichen Parlamentarier Schluß machen … Zu Beginn des Herbstes war die Stellung der verschiedenen Parteien zueinander so gereizt und kritisch geworden, daß eine Entscheidungsschlacht nicht mehr zu vermeiden war. Das erste Gefecht in diesem Krieg zwischen den demokratischen und revolutionären Massen und der Armee fand in Frankfurt statt
März 1848. Der dänische König Friedrich vii. läßt für Dänemark, einschließlich Schleswig-Holstein, eine Gesamtverfassung verkünden und versucht, Schleswig Dänemark einzuverleiben. Das ist wider alles Herkommen und auch gegen die Buchstaben altehrwürdiger Verträge. Bürger und Bauern Schleswig-Holsteins, die »auf ewig ungeteilt« zusammenbleiben wollen, erheben sich, setzen eine provisorische Regierung ein, geben sich eine demokratische Verfassung mit dem allgemeinen und direkten Wahlrecht und wenden sich um Hilfe an den »Deutschen Bund«. Und ganz Deutschland antwortet so unmißverständlich, daß der König von Preußen die Forderungen der Herzogtümer als berechtigt anerkennen muß. Damit wird die Frage des Bestandes der Herzogtümer zu einer Frage der Zukunft Deutschlands. Die provisorische Regierung in Kiel beschließt den bewaffneten Widerstand, und Dänemark ist bereit, Schleswig mit Waffengewalt zur Unterwerfung zu zwingen. England und Rußland stehen auf Dänemarks Seite. In Berlin wird die Mobilmachung befohlen. Nun ist Preußen gezwungen, für die Revolution zu kämpfen, die es in seinen eigenen Grenzen blutig niederzuschlagen gedenkt. General Wrangel, »beschränkt, verschlagen und brutal«, führt den Oberbefehl. Preußen führt den Krieg hinhaltend. Im Mai beschwört die russische Kaiserin im Namen ihres Gatten den König von Preußen: »Nur nicht weiter! Um Gottes willen! Was wird sonst geschehen? Den Untergang Dänemarks kann Rußland nicht ruhig mit ansehen, es darf ihn nicht dulden, es kann nicht dulden, daß Dänemark in Deutschland aufgehe! Bedenke das und halte ein!« Und der Zar warnt seinen königlichen Bruder vor der Revolution: »Bedenke, mit welchen Schwierigkeiten Deutschland noch zu kämpfen hat, um in seinem eigenen Innern Ordnung und Sicherheit herzustellen …«
Der preußische König bedenkt es sehr wohl, dazu bedarf es nicht erst der Mahnung Rußlands. Und während am 9. Juni die Nationalversammlung in Frankfurt »die Sache der Herzogtümer als Angelegenheit deutscher Nation« erklärt, befiehlt der preußische König dem General Wrangel, die besetzten Gebiete in Jutland zu räumen, und entsendet gleichzeitig diplomatische Unterhändler nach Malmö, um mit Dänemark in Verhandlungen einzutreten. Friedrich Wilhelm kommt es vor allem darauf an, »einen erprobten und vortrefflichen Teil der Armee disponibel zu machen«; er erklärt: »Man kann nicht wissen, wann man der Truppen hier bedarf.«
Dänemark bricht am 24. Juli die Verhandlungen ab, auf dem Papier geht der Krieg weiter, ohne daß er eigentlich weitergeführt wird. Das Reichsparlament, die Nationalversammlung in Frankfurt, kann und will die »Machenschaften des Königs von Preußen« nicht decken, es will der Revolution in Schleswig-Holstein »treu zur Seite stehen«, um Deutschlands beginnendes Nationalbewußtsein nicht schon in seinen Anfängen zerstören zu lassen.
Aber es gibt in Frankfurt auch eine »Reichsregierung« und einen »Reichsverweser«. Und diese Institutionen paktieren bereits mit dem preußischen König, denn eine drohende Revolution in Deutschland beunruhigt sie ebenso wie den König von Preußen.
Am 26. August werden die Verhandlungen in Malmö wiederaufgenommen, das vom deutschen Volk gewählte Reichsparlament wird übergangen, ein Vertrag wird abgeschlossen, gegen den Willen und ohne Information der Nationalversammlung: der Staatsstreich des Königs ist perfekt.
Ganz Deutschland ist in Erregung. Das Volk scheint bereit, loszubrechen. Anfänglich will die Nationalversammlung die Sistierung des Waffenstillstandes beschließen, aber in der endgültigen Beratung am 16. September wird dann der Waffenstillstand dennoch mit 257 gegen 236 Stimmen sanktioniert.
General Wrangel, inzwischen zum »Oberkommandierenden aller Truppen in den Marken« ernannt, hält auf einer Parade eine Rede an die Offiziere: »Wir sind zu einem wichtigen Moment gekommen, man will die Republik ausrufen und das Königtum vernichten. Der König will die Freiheit, aber Freiheit kann nur mit dem Gehorsam gegen das Gesetz bestehen, diesen Gehorsam müssen wir wiederherstellen …«
Noch am Abend des 16. September treffen sich in Frankfurt die Abgeordneten der Linken zu einer vielstündigen Besprechung über die im Parlament notwendigen Maßnahmen. Abordnungen der Arbeitervereine und Handwerker entsenden in die Beratung Delegationen, die die Linke auffordern, sich sofort als Konvent, als Sonderparlament zu erklären, dem das Vertrauen des ganzen Volkes gehören werde. Die Linke lehnt nicht nur diese Vorschläge ab, sondern warnt die Abordnungen eindringlich vor jeder Art von Gewaltanwendung. Aber weder die Abgeordneten der Linken noch die Mitglieder der Delegationen sind mehr Herr der Lage.
Der »Frankfurter Arbeiterverein« versammelt seine Mitglieder, verteilt Waffen und organisiert Kampfgruppen. Am Nachmittag des 17. September, es ist ein Sonntag, sammeln sich an die 10000 Menschen auf der Pfingstweide, einem Platz im Nordosten der Stadt. Von den fünf anwesenden Abgeordneten halten zwei aufrührerische Reden an das Volk. Am Abend fordert ein Vertreter der Manifestanten auf einer Versammlung aller Fraktionen der Linken: »Mit Gut und Blut wollen wir die Linke schützen, wenn sie aus jener servilen Versammlung austritt und sich selbständig konstituiert. Aber das verlangen wir auch von ihr. Tut sie es nicht, dann freilich wird das Volk die Linke als ebenso ehrlos betrachten wie die Mitglieder der Mehrheit, dann freilich wird die neue Revolution auch über die Linke hinweggehen und diese vernichten wie das Centrum und die Rechte!« Der Abgeordnete Vogt erklärt, daß die drei versammelten Fraktionen der Linken sich bereits im entgegengesetzten Sinne entschieden hätten. Daraufhin sagen sich die Demonstrierenden von der »ehrlosen Linken« los.
Am 18. September früh 9 Uhr beginnt die Parlamentssitzung unter dem Schutz der Bajonette. In dem Augenblick, als die Linke gegen die militärische Demonstration vor der Paulskirche protestiert dröhnt die Nordpforte der Kirche unter Axtschlägen und wuchtigen Stößen: sie war vom Militär nicht geschützt. Aber nun werden die Aufständischen mit Gewalt am Eindringen in das Parlament gehindert. Während das Parlament weitertagt, errichten die Aufständischen an entscheidenden Punkten verschiedener Straßen Barrikaden, ohne daß das Militär sie daran hindere. Offenbar hat man höheren Orts ein Interesse daran, es zu einer blutigen Auseinandersetzung kommen zu lassen. Schließlich werden zwei Barrikaden von den preußischen Truppen, zwei von den österreichischen Soldaten erstürmt.
Auf beiden Seiten fallen Opfer. Aber immer noch sind die Hauptbarrikaden nicht genommen. Der bedeutendste Führer der Linken, Robert Blum, warnt die Kämpfenden und fordert sie auf, von weiterem Blutvergießen abzulassen. Aber Dutzende von Flintenläufen der Aufständischen richten sich gegen den Abgeordneten; er wird von seinen Freunden zurückgerissen. Während der Barrikadenkampf im vollen Gange ist, reitet der Abgeordnete Fürst Lichnowsky den heranrückenden Truppen entgegen. Er ist dem Volk als »Arroganter Reaktionär« unter allen Abgeordneten der verhaßteste. Nun wird er von den Massen erkannt, verfolgt und auf furchtbare Weise erschlagen. Inzwischen donnern die Kanonen des Militärs gegen die Barrikaden; nach kurzer Zeit werden sie eingenommen. Die Nachrichten vom Ausbruch einer neuen Revolution in Frankfurt verbreitet sich mit Windeseile durch ganz Deutschland. Der Revolutionär Struve, der von der Schweiz aus durch einige Monate Baden mit revolutionären Flugschriften überschwemmt und Agitatoren geschickt hat, fällt zwei Tage später in Baden ein und ruft die Deutsche Republik aus.
48 Stunden danach sind die Freischaren zerstreut, und Struve ist gefangen. An diesem 26. September brechen Unruhen in Köln aus, obwohl die Festung mit starken Truppenkontigenten belegt ist. Nach heftigen Zusammenstößen werden die Aufständischen niedergeschlagen, und über die Stadt wird der Belagerungszustand verhängt.
Trotz dieser Niederlagen der Revolutionäre ist eine Wendung in der Entwicklung der deutschen Revolution eingetreten: die Führung ist vom Parlament wieder auf die Massen übergegangen. Das nächste große Gefecht muß das Schicksal der Revolution entscheiden.
Chronik September-November 1848
Der Wiener Oktoberaufstand. 1848
1848 21.–25. September: In Lörrach proklamiert der Demokrat Struve erneut die Republik in Baden und löst damit den zweiten Aufstand aus. Nach anfänglichen Erfolgen werden die Freischaren zurückgeschlagen und der Aufstand unterdrückt.
25. September: Unruhen und Barrikaden in Köln. Die preußische Regierung verhängt den Belagerungszustand.
6.–7. Oktober: In Wien verhindern Arbeiter, Studenten und Teile der Bürgerwehr den Abmarsch österreichischer Truppen in das aufständische Ungarn. Die Truppen gehen zu den Aufständischen über, die die Regierung verjagen und die politische Macht in Wien übernehmen.
16. Oktober: In Berlin brechen unter der Arbeiterschaft Unruhen aus, die zu Barrikadenbauten führen. Die Bürgerwehr schlägt die Erhebung nieder. Die Beerdigung der erschossenen Arbeiter wird zur Demonstration für eine demokratische Republik.
30.–31. Oktober: Wien wird eingeschlossen und belagert. Nach harten Kämpfen gelingt es den Truppen, die Innenstadt zu nehmen. Die Konterrevolution geht mit Standgerichten gegen die Aufständischen vor und unterdrückt die demokratische Bewegung.
9. November: Robert Blum, Abgeordneter der Nationalversammlung in Frankfurt, wird von einem österreichischen Standgericht wegen seiner Teilnahme am Wiener Aufstand zum Tode verurteilt und erschossen.
Beginn des Staatsstreichs in Preußen: der König läßt die von ihm beschlossene Vertagung und Verlegung der preußischen verfassunggebenden Versammlung nach der Provinzstadt Brandenburg verkünden. Während die konservativen Abgeordneten das Parlament verlassen, faßt die Mehrheit den Beschluß, sich der Anordnung zu widersetzen und in Permanenz weiter zu tagen. Berliner Arbeiter erklären sich bereit, das Parlament mit der Waffe zu verteidigen.
Der Wiener Oktoberaufstand. 1848
Nach dem Siege der Revolution vom 12. März in Wien und damit in Österreich beginnen erst die eigentlichen Verfassungs- und Klassenkämpfe. Hochadel und Börse, die Hauptstützen des einstigen Metternichschen Systems, sind keineswegs entmachtet. Und die Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit ängstigt sich so vor der »Anarchie«, daß sie bereit ist, sich mit Tod und Teufel zu verbünden. So versuchen die Kräfte von Gestern den Gegenangriff: ein reaktionäres Pressegesetz, eine aristokratische Verfassung und ein Wahlgesetz, das auf der alten Einteilung in Stände beruht. Der sich als konstitutionell bezeichnende Staat versucht am 14. Mai auch einen direkten Angriff auf die revolutionären Organisationen: Auflösung des Zentralkomitees der Delegierten der Nationalgarde und der akademischen Legion, obwohl oder weil es ausdrücklich zu dem Zweck gebildet war, die Regierung zu überwachen und im Notfall bewaffnete Massen gegen sie aufzurufen. Am 15. Mai erhebt sich das Volk von Wien und zwingt die Regierung, das Komitee anzuerkennen, die Verfassung und das Wahlgesetz zu widerrufen und einen auf Grund des allgemeinen Wahlrechts bestimmten verfassunggebenden Reichstag mit der Ausarbeitung eines neuen Staatsgrundgesetzes zu betrauen. Am 26. Mai erfolgt ein neuer Angriff auf die akademische Legion; man erreicht eine ministerielle Verfügung zu ihrer Auflösung. Die Ausführung wird aber nicht der Nationalgarde übertragen, sondern dem regulären Militär. So kommt es zu einem Bündnis zwischen Nationalgarde und Legion – und auf diese Weise wird der Plan vereitelt.
Der Kaiser hat Wien verlassen. In Innsbruck versucht der Hof, den revolutionsfeindlichen Kräften eine Führung zu geben. Die einzelnen Truppenteile und die zuverlässigen Leute des Verwaltungsapparates werden so eng wie möglich an die Monarchie gebunden. Sie konspirieren nach Kräften für die Gegenrevolution.
Als im Juli die verfassunggebende Versammlung zu Wien zusammentritt, begrüßt ein nicht geringer Teil des Bürgertums jubelnd den zurückkehrenden Kaiser und mit ihm das Ende der revolutionären Ära. Während der verfassunggebende Reichstag die Gesetze über die Befreiung der Bauernschaft von den Fesseln des Feudalismus berät – wir folgen hier in großen Zügen der Darstellung von Friedrich Engels –, bringt der Hof ein Meisterstück zustande: der Kaiser nimmt am 19. August eine Truppenschau über die Nationalgarde ab; die kaiserliche Familie, der Hofstaat, die Generalität überbieten einander mit Schmeicheleien an die Adresse der bewaffneten Bürger, die der Stolz berauscht, sich derart öffentlich als eine der ausschlaggebenden Mächte des Staates anerkannt zu sehen. Unmittelbar darauf erscheint ein Erlaß, der den Arbeitslosen die bisher gewährte staatliche Unterstützung entzieht. Arbeiter veranstalten eine Demonstration, aber die Bürger von der Nationalgarde erklären sich für den ministeriellen Erlaß. Schließlich werden sie gegen die »Anarchisten« kommandiert und richten am 23. August ein Blutbad unter den Arbeitern an. Damit ist die Geschlossenheit der revolutionären Kräfte zerschlagen, und die Konterrevolutionäre sehen den Tag kommen, in dem sie zu ihrem letzten großen Schlag ausholen können.
Am 5. Oktober ist die kaiserliche Partei bereit, den oppositionellen ungarischen Reichstag durch einen Staatsstreich aufzulösen und die Truppen nach Ungarn einmarschieren zu lassen. Der Hof flüchtet in diesem Augenblick nach Olmütz in Böhmen, wo eine starke Armee unter dem Fürsten Windischgrätz seine Sicherheit garantiert. Das Volk, die akademische Legion und die Wiener Nationalgarde erheben sich am 6. Oktober und widersetzen sich dem Ausmarsch der Truppen. Einige Grenadiere gehen zu ihnen über. Zwischen den bewaffneten Revolutionären und den Truppen entspinnt sich ein kurzer Kampf, bei dem der Kriegsminister Latour erschlagen wird. Am Abend hat das Volk gesiegt. Inzwischen bekommt Windischgrätz Zuzug aus Böhmen, Mähren, der Steiermark, Oberösterreich und Italien. Regiment nach Regiment marschiert in Richtung Wien. Gegen Ende Oktober sind über 60000 Mann zusammengezogen; sie beginnen, Wien einzuschließen.
Die Kräfte, die zur Verteidigung Wiens verfügbar sind, sind gänzlich unzureichend. Von der Nationalgarde kann nur ein Teil auf die Schanzen gebracht werden. Im letzten Moment hat man eine proletarische Garde gebildet; aber der Versuch, auf diese Weise den zahlreichsten und tatkräftigsten Teil der Bevölkerung heranzuziehen, kommt viel zu spät; die Arbeiter sind mit dem Gebrauch der Waffen und mit den Gesetzen der Disziplin zu wenig vertraut, um erfolgreich Widerstand leisten zu können. So bleibt die akademische Legion – 3–4000 Mann stark, eingeübt, bis zu einem gewissen Grade diszipliniert, tapfer und voll Enthusiasmus – vom militärischen Standpunkt aus die einzige Streitmacht, die mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden kann. Doch was bedeuten diese revolutionären Streitkräfte gegenüber der an Zahl weit überlegenen regulären Armee unter Windischgrätz! Und was haben die Aufständischen, abgesehen von ein paar alten, abgenutzten, schlecht bedienten Kanonen, der zahlreichen, vorzüglichen Artillerie entgegenzusetzen, von der Windischgrätz rücksichtslos Gebrauch macht?
Je näher die Gefahr, desto größer wird die Verwirrung in Wien.
Der Reichstag kann sich nicht dazu aufraffen, die ungarische Armee zu Hilfe zu rufen, die nur wenige Meilen unterhalb der Hauptstadt lagert. Nur in einem Punkte sind sich alle einig: daß das Eigentum respektiert werden muß. Zur Ausarbeitung eines Verteidigungsplans geschieht wenig. General Bem, von Geburt Slawe, der einzige, der Wien retten könnte, gibt die Sache auf, erdrückt durch das Mißtrauen, das ihm alle entgegenbringen. Der Offizier Messenhauser, der die aufständischen Streitkräfte befehligt, ein Romanschriftsteller, ist seiner Aufgabe nicht gewachsen. Unter solchen Bedingungen beginnt der Kampf. In Anbetracht ihrer gänzlich unzureichenden Verteidigungsmittel und ihrer Ungeübtheit leisten die Wiener Revolutionäre einen nachgerade heroischen Widerstand. In den langen breiten Straßen, die die Hauptverkehrsadern der Vorstädte bilden, wird eine Barrikade nach der anderen von der kaiserlichen Artillerie weggefegt; am Abend des zweiten Kampftages fällt die Häuserreihe am Befestigungsrand der Altstadt in die Hände der Kroaten. Ein ungeordneter Entlastungsangriff der ungarischen Armee führt zu einer völligen Niederlage.
Als während eines Waffenstillstandes zu Verhandlungszwecken einige Abteilungen kapitulieren, andere unschlüssig sind und die Verwirrung vermehren und die Reste der akademischen Legion neue Verschanzungen anlegen, dringen die Kaiserlichen ein und nehmen in dem allgemeinen Durcheinander die Altstadt. Die unmittelbaren Folgen dieses Sieges sind standrechtliche Erschießungen und unglaubliche Grausamkeiten.
Wiens Bundesgenosse wäre das deutsche Volk. Aber das ist überall in den gleichen Kampf verwickelt wie die Wiener. Frankfurt, Baden, Köln sind eben besiegt und entwaffnet worden. In Berlin kann es jeden Tag zu offenen Kämpfen zwischen Volk und Heer kommen. Als der Aufstand in Wien ausbrach, gab es in der deutschen Nationalversammlung zahlreiche Interpellationen, Debatten, Anträge und Gegenanträge, die zu nichts führten. Die »Zentralgewalt« sollte einschreiten. Endlich entschloß man sich, zwei Kommissare zu entsenden. Aber statt nach Wien zu gehen, lassen sie sich von Windischgrätz anschnauzen und von dem Minister Stadion lächerlich machen. Ihre Telegramme und Berichte sind eine Schande für die Frankfurter Nationalversammlung und ihre Regierung. Nun entsendet die Linke zwei Kommissare nach Wien, um dort die Autorität der Nationalversammlung zur Geltung zu bringen. Es sind die Herren Fröbel und Robert Blum. Die Lage wird bedrohlich für sie; Blum aber vertritt die Meinung, daß hier die Entscheidungsschlacht der deutschen Revolution geliefert werde, und setzt ohne Zögern sein Leben für die Sache ein.
In den Straßen der Stadt tobt noch ein furchtbarer Barrikadenkampf. Die Bürger verlassen schließlich ihre Stellungen und bedrängen die Behörden, nachzugeben. Die Arbeiter kämpfen – neun Stunden lang – unter schweren Verlusten weiter. Aber sie werden von den Bürgern preisgegeben. »Der schmachvollste Verrat, den jemals die Weltgeschichte gesehen hat«, schreibt Robert Blum in einem seiner letzten Briefe.
Am Mittag des 1. November wird die schwarzrotgoldene Fahne vom Stephansdom niedergeholt. Am 9. November wird Robert Blum trotz seiner Immunität als Abgeordneter der Nationalversammlung und wider alle Gesetze standrechtlich erschossen. Die Insassen ganzer Häuserblocks, Personen jeden Alters und Geschlechts, werden hingemetzelt. Mit dem Blutrausch der siegreichen Soldaten verbindet sich nun Raubsucht der Plünderer: eine Terrorwelle läuft durch die unglückliche Stadt.
Der Ministerpräsident läßt das Gebäude des Wiener Reichstages schließen und steckt den Schlüssel mit den Worten in die Tasche: »Es gibt keinen Reichstag mehr.«
Chronik November-Dezember 1848
Der Staatsstreich des Königs von Preußen
5. Dezember 1848
1848 10. November: General Wrangel zieht mit seinen Truppen in Berlin ein. Die Mehrheit der demokratischen Linken entscheidet, daß kein bewaffneter Widerstand geleistet werden soll. Die verfassunggebende Versammlung wird aufgelöst, die Bürgerwehr entwaffnet und über Berlin der Belagerungszustand verhängt.
18. November: Der Rheinische Kreisausschuß der Demokraten unter Führung von Karl Marx ruft zur allgemeinen Steuerverweigerung, zur Organisierung des bewaffneten Landsturms und zur Bildung von Sicherheitsausschüssen auf.
23.–24. November: In Erfurt kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit dem Militär.
5. Dezember: Der preußische König vollendet seinen Staatsstreich durch Auflösung der preußischen verfassunggebenden Versammlung und der »Oktroyierung« einer Verfassung. Der König behält ein absolutes Vetorecht; die Exekutive liegt allein in seiner Hand.
Der Staatsstreich des Königs von Preußen
5. Dezember 1848
Während sich im Sommer des Jahres 1848 die Höflinge mit ihrem König im Schloß Sanssouci darüber unterhalten, wie man die Revolution rückgängig machen und die alten Verhältnisse wiederherstellen könnte, versuchen die Abgeordneten der preußischen Nationalversammlung eine neue Verfassung zu schaffen, die den demokratischen Grundsätzen und den Erfolgen der Revolution entspricht. Aber während man hier wie dort mehr oder weniger theoretisiert und in die Zukunft blickt, fordert die Gegenwart ihr hartes Recht: die Wirtschaftskrise und die daraus entspringende Arbeitslosigkeit treiben die Proletarier immer wieder auf die Straße, und es kommt zu einer Kette von Arbeiterunruhen, die an manchen Tagen für die Herrschenden bedrohliche Formen annehmen. So entschließt sich die Hofpartei, die durch die Märzunruhen aus Berlin abgezogenen Truppen und das Militär, das durch die Beendigung des Krieges um Schleswig-Holstein frei geworden ist, auf Berlin marschieren zu lassen. Hauptquartier der preußischen Armee unter Führung des Generals Wrangel wird Charlottenburg.
Dort versammeln sich 13000 Mann mit 60 Geschützen. Ein konzentrierter Gürtel von 80000 Soldaten legt sich um Berlin; 100 Geschütze gehen in Stellung. Man ist zum Angriff auf die Arbeiterviertel und zum Bombardement bereit. Alles geschieht mit Einverständnis des Königs, der dem Volk ganz anderes versprochen hat. Aber das Elend der Arbeiter wird nicht beendet, und die daraus resultierenden Revolten werden brutal niedergeschlagen. So werden am 31. Juli in Schweidnitz in Schlesien 22 Arbeiter durch die unter dem Befehl des Grafen Brandenburg stehenden Truppen getötet. Der Abgeordnete Stein aus Breslau, Oberlehrer an einer Höheren Bürgerschule, weist darauf hin, daß die Schuld an diesem Blutvergießen allein jene Offiziere treffe, die der neuen Ordnung der Dinge mit Gewalt ein Ende machen wollten, und er bringt folgenden Antrag ein: »Der Herr Kriegsminister möge in einem Erlaß an die Armee sich dahin aussprechen, daß die Offiziere allen reaktionären Bestrebungen fernbleiben, nicht nur Konflikte jeglicher Art mit dem Zivil vermeiden, sondern auch durch Annäherung an die Bürger und Vereinigung mit denselben zeigen, daß sie mit Aufrichtigkeit und Hingebung an der Verwirklichung eines konstitutionellen Rechtszustandes mitarbeiten wollen.« Der Antrag erhält noch einen Zusatz: »… und es denjenigen Offizieren, mit deren politischen Überzeugungen dies nicht vereinbar ist, zur Ehrenpflicht zu machen, aus der Armee auszutreten.«
Das Staatsministerium erklärt darauf in einem Beschluß: »Allgemeine Erlasse wie dieser sind nach unserer pflichtmäßigen Überzeugung nicht entsprechend dem Geiste und Wesen einer Armee. Sie sind geeignet, an Stelle des vertrauensvollen Gehorsams, womit der Offizier und Soldat – jeder auf seinem Standpunkte – den Befehl seines Oberen auszuführen hat, den Geist des Mißtrauens zu setzen, welcher Disziplin und Ordnung und den ganzen Wert der Armee mit der Zeit untergraben würde. Wir glauben daher, daß ein solcher Erlaß an die Armee von verderblichen Folgen sein werde und halten es für notwendig, daß dem Kriegsminister die Wahl der Mittel, um den von der Nationalversammlung erstrebten Zweck zu erreichen, überlassen bleibe.«
Damit ist einer Demokratisierung der Armee jede Möglichkeit genommen. Was vorher Empfehlung war, wird nun Gesetz, das mit 219 gegen 143 Stimmen angenommen wird. Die Bürgerwehr wendet sich mit einer Adresse an die Nationalversammlung: »Die Bürgerwehr Berlins sieht in dem durch die Mehrheit ausgesprochenen Willen der Nationalversammlung den Willen des preußischen Volkes und wird demgemäß Beschlüsse der Nationalversammlung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten wissen.« Doch Gesetz und Zustimmung bleiben leere Deklamationen, denn die Armee ist fest in den Händen des reaktionären Offizierskorps. Der König billigt den Rücktritt des Ministeriums, um an seine Stelle eine »Regierung des Widerstandes« zu setzen, die unter der Leitung des Generals von Pfuel steht. Pfuel, der ein Jugendfreund des Dichters Heinrich von Kleist war, enttäuscht seinen König. In seiner Eigenschaft als Kriegsminister erläßt er ein Rundschreiben an die Truppenbefehlshaber, welches dem Steinschen Antrag völlig Genüge leistet.
Aber dieser Minister hat wenig zu sagen. Der König ernennt Wrangel zum Oberbefehlshaber über sämtliche Truppen, und dieser spricht in einem Tagesbefehl vom 17. September klar aus, wie er seine Berufung auffaßt:
»Meine Aufgabe ist, die öffentliche Ruhe in diesen Landen, da wo gestört wird, wiederherzustellen, wenn die Kräfte der guten Bürger hierzu nicht ausreichen. Die Aufgabe ist schwer, aber sie wird ausgeführt werden. Ich gebe mich der bestimmten Hoffnung hin, daß ich keine Veranlassung haben werde, mit der militärischen Macht ein zuschreiten, denn mein Vertrauen zu den Bürgern, daß sie ebenfalls das Gute wollen, steht fest. Es sind jedoch im Lande auch Elemente vorhanden, die zur Ungesetzlichkeit verführen wollen. Den guten Elementen will ich eine kräftige Stütze sein, um ihnen die Erhaltung der öffentlichen Ordnung zu erleichtern, ohne die keine gesetzliche Freiheit möglich ist.«
In einem vertraulichen Schreiben äußert er sich: »Die hiesigen politischen Zustände sind trostlos; man gibt sich ganz dem Zufall hin und ist in vollständige Ratlosigkeit versunken. Jeder fühlt, daß etwas Energisches geschehen müsse, aber es geschieht nichts, um diesen beklagenswerten Zuständen entgegenzutreten, um den Staat und das Königtum zu retten; es sind tausend Ratgeber da, aber es kommt zu keinem kräftigen Auftreten. So eilen wir rettungslos der Anarchie und Republik entgegen.«
Nach einer Parade im Berliner Lustgarten hält er eine von den Besitzbürgern bejubelte Ansprache: »Ich werde diese Truppen Euch, wenn auch nicht sogleich, doch bald hierher führen; sie sollen sicher kommen. Aber nicht gegen Euch Berliner! Sondern zu Eurem Schutze, der wahren Freiheit, die der König gegeben, und zur Aufrechterhaltung des Gesetzes. Gefällt Euch das, Berliner? (Zurufe: Ja! Ja!) Das freut mich! Für Euch, mit Euch werden wir auftreten und handeln! Wie traurig finde ich Berlin wieder: In den Straßen wächst Gras, die Häuser sind verödet, die Läden voll Ware ohne Käufer, der fleißige Bürger ohne Arbeit, ohne Verdienst, der Handwerker verarmt. Das muß anders werden; ich bringe Euch das Gute mit der Ordnung, die Anarchie muß aufhören. Ich verspreche es Euch, und ein Wrangel hat noch nie sein Wort gebrochen.«
In Breslau und Köln folgen die Truppenkommandeure dem Beispiel ihres Oberbefehlshabers. Das stärkt den Mut des Berliner Hofes, der immer mehr Druck auf die Regierung ausübt, so daß sie am 17. Oktober ein neues Gesetz erläßt, demzufolge die Bürgerwehr zum Werkzeug der Polizei »zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« degradiert und ihr der Charakter einer selbständigen politischen Körperschaft genommen wird; sie wird der Gemeindeverwaltung und bei Bedarf der Regierung direkt unterstellt, und sie hat dem König Treue zu geloben.
Es ist klar, daß dieser Schlag gegen die Revolution gerichtet ist. Bei einer großen Protestdemonstration trägt ein Esel das »verdammte Gesetz«. Auf dem Platz vor der Kammer wird es verbrannt. Die Bürgerwehr schaut, das Gewehr im Arm, mit offensichtlicher Befriedigung dem Schauspiel zu.
In der Nationalversammlung wird eine Reihe von Gesetzen angenommen oder doch beraten; sie alle beschränken die Privilegien der Grundbesitzer und des Adels. Durch das Jagdgesetz erhalten die Bauern das Recht, Waffen zu tragen; das Gesetz über die Todesstrafe nimmt dem König die Macht, über Leben und Tod seiner Untertanen zu entscheiden; das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit gewährt jedem Bürger das Recht, frei über seine Wohnung ru verfügen, und sichert ihn gegen willkürliche Eingriffe der Behörden und des Militärs; die Agrargesetze sollen den Privilegien der Großgrundbesitzer endgültig ein Ende bereiten. Und in der Einleitung der Verfassung werden in dem Satz »Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden …«, die Worte »von Gottes Gnaden« gestrichen – mit 217 gegen 184 Stimmen.
Die Hofkamarilla in Sanssouci läßt indessen von einem der fanatischsten Paladine des Königs erklären: »… Wozu seine Kräfte darauf verwenden, um diese Dinge zu kämpfen! … Ist es nicht richtiger, sie auf die Hauptsache zu verwenden, auf die Erhaltung der königlichen Macht, selbst wenn man dadurch die Despotie vorbereitet, auf die Erhaltung des Eigentums und auf die Abwehr des Kommunismus … Man muß Ordnung machen und auf Ordnung halten, das ist die Hauptsache!« Ein Jurist des Königs faßt zum Geburtstag Seiner Majestät eine Adresse ab, die sich wie eine Bußpredigt an das Volk wendet. Aber der Ministerpräsident von Pfuel weigert sich, den Erlaß gegenzuzeichnen, in dem auch wieder die Formel »von Gottes Gnaden« verwendet wird: der König beharrt darauf, daß er von Gottes Gnaden und nicht von Volkes Gnaden König sei, und befiehlt den ungeänderten Abdruck. Langsam läßt der König die Maske fallen. Er erklärt: »Noch haben wir keine Verfassung … Ich habe durch meine Worte eine Gasse in den Wall revolutionärer und gottloser Theorien getrieben … Meine lieben Herren und treuen Freunde, da ist hinfort Ihr Platz in der Gasse, auf der Bresche, die Ihr König vor Ihnen hergemacht, nicht im Rücken Ihrer Ämter … Ihr König, meine Herren, geht voran. Er weicht, wahrhaftig nicht. Verlassen Sie ihn, so bleibt er auf der Bresche.«
Mitte Oktober kommt es wieder zu Straßenkämpfen in Berlin; die Bürgerwehr wird gezwungen, mit der Waffe in der Hand gegen die Aufständischen vorzugehen. Über den Köpfen der Arbeiter und auf den Barrikaden wehen rote Fahnen. Man ruft: »Es lebe die Republik!« Elf Arbeiter werden getötet. Der Abgeordnete Beerends stellt am 18. Oktober einen Antrag, in dem er fordert: »Die sofortige Bestrafung der schuldigen Bürgerwehrmänner und Kompanien, die ehrenvolle Bestattung der Toten durch die Arbeiter auf öffentliche Kosten, die Pensionierung der Hinterbliebenen und die Herstellung der Verwundeten, gleichfalls auf öffentliche Kosten, und endlich die Auszahlung zweier Tagelöhne an alle an dem Aufstand beteiligten Arbeiter und Befreiung aller Gefangenen.« Als der König in einer Kabinettsorder der Bürgerwehr seinen Dank für ihre tapfere Haltung ausspricht, schämt sich diese so sehr der von ihr erzwungenen Taten, daß sie die königliche Order zurückweist.
Die Arbeiter wissen nicht, was hinter den königlichen Fassaden geschieht; aber sie haben Grund genug, beunruhigt zu sein. Sie sammeln sich um das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, wo die Abgeordneten tagen. Mitglieder der Rechten und Regierungskommissare werden beleidigt und tätlich angegriffen; man nennt sie »nicht Vertreter, sondern Verräter des Volkes«.
Am 31. Oktober stellt der Abgeordnete Waldeck den Antrag, »das Staatsministerium aufzufordern, zum Schutze der in Wien gefährdeten Volksfreiheit alle dem Staate zu Gebote stehenden Mittel und Kräfte schleunigst aufzubieten, »also mit anderen Worten, das ganze preußische Heer sofort in Österreich einrücken und auf Wien marschieren zu lassen«. Während der Verhandlung wird der Sitzungssaal von Volksmassen belagert. Ein Offizier der Bürgerwehr erläßt den Befehl, kein Mitglied der Rechten vor Beendigung der Sitzung aus dem Hause heraus zu lassen. Nur mit Lebensgefahr können die Abgeordneten der Rechten und die Minister durch Nebenpforten das Haus verlassen.
Am Abend des 31. Oktober fordert der König den Minister von Pfuel auf, wegen der Exesse dieses Tages General von Wrangel mit den Truppen in Berlin einrücken zu lassen. Pfuel legt sein Amt nieder. Als Graf Brandenburg sich bereiterklärt, die Ministerpräsidentschaft zu übernehmen, ist es nicht leicht, geeignete und ihm genehme Kollegen zu gewinnen. In einer Liste, welche dem König vorgelegt wird, findet sich auch Bismarcks Name. Der König schreibt an den Rand: »Nur zu gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet.« Graf Brandenburg selbst sagt zu Bismarck in Potsdam: »Ich habe die Sache übernommen, habe aber kaum die Zeitungen gelesen, bin mit staatsrechtlichen Fragen unbekannt und kann nichts weiter tun, als meinen Kopf zu Markte tragen. Ich brauche einen Mann, dem ich traue und der mir sagt, was ich tun kann. Ich gehe in die Sache wie ein Kind ins Dunkel, und weiß niemanden als Otto Manteuffel (Direktor im Ministerium des Innern), der die Vorbildung und zugleich mein persönliches Vertrauen besitzt, der aber noch Bedenken hat. Fahren Sie nach Berlin hinüber und bewegen Sie Manteuffel.« Bismarck redet von 9 Uhr bis Mitternacht auf Manteuffel ein und gewinnt ihn für die Regierung. Am 7. November morgens kommt der zum Kriegsminister ernannte General von Strotha zu Bismarck, weil ihn Brandenburg an ihn verwiesen hat, um sich die Situation klarmachen zu lassen. Bismarck tut das nach Möglichkeit und fragt: »Sind Sie bereit?« Strotha antwortet mit der Gegenfrage: »Welcher Anzug ist vorgeschrieben?« – »Zivil«, antwortet Bismarck. »Das habe ich nicht«, sagt Strotha. Bismarck läßt ihm durch einen Lohndiener noch vor der festgesetzen Stunde einen Anzug aus einer Kleiderhandlung beschaffen und rettet damit die Regierungsbildung.
Für die Sicherheit der Minister werden mannigfache Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Zunächst werden im Schauspielhaus außer einer starken Polizeitruppe 30 der besten Schützen des Gardejägerbataillons so untergebracht, daß sie auf ein bestimmtes Signal im Saal und auf den Galerien erscheinen können, wenn die Minister tätlich bedroht werden.
Entsprechende Vorkehrungen werden an den Fenstern des Schauspielhauses und in verschiedenen Gebäuden am Gendarmenmarkt getroffen, in der Absicht, den Rückzug der Minister aus dem Schauspielhause gegen etwaige feindliche Angriffe zu decken. Man nimmt an, daß auch größere dort versammelte Massen sich zerstreuen werden, sobald aus verschiedenen Richtungen Schüsse fallen.
Als Graf Brandenburg in der Versammlung von seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten Mitteilung macht, ist die Bestürzung groß. Die Linke will, daß die Versammlung sich in Permanenz erkläre und mit einem Aufruf an das Volk wende. Die Mehrheit entscheidet sich für eine Deputation zum König, um gegen das Ministerium Brandenburg zu protestieren und die Einsetzung eines volkstümlichen Kabinetts zu erbitten. Lange müssen die Abgeordneten antichambrieren, bis sie beim König vorgelassen werden, der sich schließlich die Rede des Vorsitzenden von Unruh anhört. Dann macht er Miene, sich ohne Antwort zu entfernen. Der Abgeordnete Jacoby, ein alter Vorkämpfer der Demokratie, richtet an den König die Frage, ob er nichts über die Lage des Landes hören wolle. Der König antwortet brüsk: »Nein.« Er ist bereits an der offenen Tür, als ihm Jacoby erregt nachruft: »Das ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen!«
Am 9. November erscheinen die neuen Minister zum ersten Male vor der Nationalversammlung, aber nur um der Verlesung zweier königlicher Kabinettsorders beizuwohnen. Die erste teilt mit, daß die Nationalversammlung ihre Verhandlungen abzubrechen und am 27. November wieder in der Stadt Brandenburg zusammenzutreten habe. Die zweite verhängt – unter Auflösung der Bürgerwehr – den Belagerungszustand über Berlin.
Minister Brandenburg will sprechen. Der Präsident: »Sie haben nicht das Wort!« Brandenburg: »Ich bitte darum!« Der Präsident erteilt ihm das Wort, und der Graf erklärt die Versammlung für geschlossen und ihre Beschlüsse fortan für illegal. Die Minister schicken sich an, den Saal zu verlassen. Von der Linken ruft man: »Verhaften! Verräter!« Die Abgeordneten drängen mit geballten Fäusten gegen die Tribüne. Aber die Minister können sich noch entfernen. Obwohl auch einige Abgeordnete der Rechten den Saal verlassen, bleibt das Haus beschlußfähig. Es bestreitet der Krone das Recht zu dem geschehenen Willkürakt und entschließt sich zu einer neuen Sitzung am Nachmittag.
In der Nacht zum 10. November melden sich Delegationen der Arbeitervereine und bieten der Nationalversammlung ihren Schutz an. 3000 Bauarbeiter bitten den Kommandanten der Bürgerwehr, sie zu bewaffnen, was dieser ablehnt. Ein Arbeiterdelegierter erklärt im Namen von 30 Berliner Betrieben: »Sie bieten Euch ihren Arm und ihr Herzblut gegen jeden Feind an, der Hochverrat üben wollte an Euch und an den Freiheiten des Volkes!« Aber die Nationalversammlung ist nicht willens, gewaltsamen Widerstand zu leisten. Während am Morgen des 10. November die Abgeordneten den »passiven Widerstand« beschließen, setzen sich die Truppen unter General Wrangel nach Berlin in Marsch. Um 2 Uhr mittags trifft die Spitze am Gendarmenmarkt ein. Bürgerwehr bewacht das Schauspielhaus; aus den Nebenstraßen drängt Volk heran. Man hört Pferdegetrappel und dann und wann Kommandos, sonst herrscht bedrohliche Stille. Wrangel reitet auf den Kommandeur der Bürgerwehr zu und fragt, warum sie hier stehe. Der Kommandant antwortet: »Um die Versammlung zu schützen.“
»Das will ich mit meinen Truppen auch. Sie sind gewohnt zu biwakieren; ich werde so lange hier stehen bleiben, bis die Versammlung auseinandergeht, und wenn es acht Tage dauern sollte.« Der General steigt von seinem Pferde, setzt sich auf einen Stuhl, der ihm aus einem Hause gebracht wird, und wartet. Bald erscheint der Kommandeur der Bürgerwehr vor ihm und erklärt: »Die Bürgerwehr ist entschlossen, die Freiheit des Volkes und die Würde der Nationalversammlung zu schützen und wird nur der Gewalt weichen.« Wrangel zieht seine Uhr und sagt: »Sagen Sie Ihrer Bürgerwehr, die Gewalt wäre nun da. Ich werde nun mit den Truppen für die Ordnung einstehen. Die Nationalversammlung wird binnen fünfzehn Minuten den Sitzungssaal verlassen, und dann wird auch die Bürgerwehr abziehen.«
Die Versammlung rafft sich noch zu einem Protest auf, und dann wird die Sitzung geschlossen. Der Staatsstreich ist vollzogen.
Die Linke versucht, sich noch weiter zu versammeln, und beschließt am 15. November Steuerverweigerung gegen die Regierung. In diese letzte Sitzung dringt ein Major mit vier Offizieren und einem Zug Soldaten ein und fordert die Abgeordneten auf, den Saal zu räumen, widrigenfalls er Gewalt anwenden müsse. Der Vorsitzende von Unruh schließt die Sitzung, und die Abgeordneten verlassen den Saal.
An den Wänden der Berliner Häuser klebt eine Verfügung des Generals von Wrangel, in der er »in Verfolg des erklärten Belagerungszustandes« alle politischen Rechte der Bürger für null und nichtig erklärt. Und der König gibt aus eigener Machtvollkommenheit dem Volk eine Verfassung.
Chronik Dezember 1848-Mai 1849
Der Maiaufstand in Dresden. 3.–9. Mai 1849
Aufstandsversuch in Rheinpreußen. 9.–10. Mai 1849
1848 21. Dezember: Die durch die deutsche Nationalversammlung verabschiedeten Grundrechte der Reichsverfassung werden zum Reichsgesetz erhoben: Gleichheit vor dem Gesetz, Abschaffung der Standesprivilegien, Unverletzlichkeit des Eigentums und der Person, Einführung eines deutschen Reichsbürgerrechtes und der Freizügigkeit, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Gleichberechtigung nationaler Minderheiten, Einführung der obligatorischen Zivilehe u. a.
1849 28.–29. Januar: Der Kongreß südwestdeutscher Arbeitervereine beschließt die Gründung eines Allgemeinen deutschen Arbeiterbundes.
4. März: Der österreichische Reichstag wird aufgelöst und eine Verfassung für die Habsburger Monarchie oktroyiert. Diese Verfassung wird jedoch nicht wirksam, da die Regierung keine Wahlen ausschreibt.
27.–28. März: Die deutsche Nationalversammlung verabschiedet die Reichsverfassung und ein Wahlgesetz und wählt mit 290 Stimmen, bei 248 Enthaltungen, den preußischen König zum deutschen Kaiser.
3. April: König Friedrich Wilhelm iv. von Preußen lehnt gegenüber einer Deputation der Nationalversammlung die Annahme der deutschen Kaiserwürde mit der Begründung ab, daß diese Versammlung weder eine Krone vergeben noch eine Verfassung einführen könne.
2.–4. April: Der Kongreß der bayerischen Arbeitervereine in Nürnberg beschließt ihre Zusammenfassung zu einer bayerischen »Arbeiterverbrüderung«, die Gründung von Arbeiterwerkstätten und -fortbildungsschulen. Ferner werden allgemeine Volksbewaffnung, allgemeines Wahlrecht und progressive Einkommenssteuer verlangt.
1849 14. April: Der ungarische Reichstag beschließt als Reaktion auf die Oktroyierung der österreichischen Verfassung die Absetzung der Dynastie Habsburg und die Proklamierung der ungarischen Republik. Kossuth wird Präsident.
21. April: Die Zweite preußische Kammer wird nach ihrer Zustimmung zur Reichsverfassung vom 28. März aufgelöst Das gleiche Schicksal erleiden die Kammern in den Königreichen Hannover und Sachsen.
2. Mai: In der bayerischen Rheinpfalz wird von den demokratischen Vereinen eine Volksversammlung einberufen, die einen Landesverteidigungsausschuß einsetzt, der die Durchführung der Reichsverfassung durch das Volk leiten soll. Rheinpfälzische Demokraten bewaffnen sich, und große Teile der bayerischen Armee gehen zu ihnen über.
3.–9. Mai: Arbeiter, Handwerker, Studenten und Intellektuelle in Dresden erheben sich und errichten Barrikaden. Während der sächsische König flieht, bildet sich in Dresden eine revolutionäre Regierung. Preußische Truppen greifen in die Kämpfe ein. Sie können die Innenstadt nicht erobern. Da aber weitere Unterstützung für die Aufständischen ausbleibt, müssen diese sich zurückziehen, um der Vernichtung zu entgehen. Der Aufstand wird durch preußische und sächsische Truppen endgültig niedergeworfen.
4. Mai: Die Nationalversammlung ruft das deutsche Volk auf, der Reichsverfassung zur Anerkennung zu verhelfen, und schreibt Reichstagswahlen zum 15. Juli aus.
7. Mai-Mitte Mai: Das Elberfelder Landwehrkomitee fordert die rheinischen Städte zum bewaffneten Widerstand gegen die preußische Regierung auf. Die Vertreter aller Gemeinden verlangen die Anerkennung der Reichsverfassung, die Entlassung der reaktionären Regierung und die Zurücknahme der Einberufung der Landwehr.
In Barrikadenkämpfen schlagen die Arbeiter in Elberfeld und Düsseldorf die preußischen Truppen zurück. Der Aufstand greift auf viele rheinische Städte über. Die preußische Regierung verhängt den Belagerungszustand über das gesamte Rheinland und geht gegen die Aufständischen vor, die zum Teil in die Pfalz und nach Baden fliehen, um sich der dortigen Bewegung anzuschließen.
Der Maiaufstand in Dresden. 3.–9. Mai 1849
März 1849. Das sächsische Volk drängt Kammer, Regierung und König zur Verkündung der Grundrechte, wie sie die Reichsverfassung festgelegt hat. Drei Minister des Königs sind für ihre Anerkennung, zwei, von Beust und von Rabenhorst, sind dagegen. Dem scwankenden König überbringt in diesem Augenblick ein Adjutant des Königs von Preußen die Aufforderung, die Anerkennung der Reichsverfassung zu verweigern, und sichert ihm für den Fall, daß infolge der Weigerung Unruhen entstehen sollten, militärische Hilfe.
In dieser Situation verlangt die äußerste Linke unter Führung des Advokaten Tzschirner in der Kammer die Anerkennung der Reichsverfassung und droht für den Fall der Nichtannahme, die neuen Steuern – ohne die der Staatshaushalt zusammenbräche – nicht zu genehmigen. Dieser Steuerverweigerungsbeschluß veranlaßt den König, dem Drängen der Rechten nachzugeben und das Parlament am 30. April aufzulösen. Petitionen, die die Reichsversammlung verlangen, gehen von Vereinen, Verbänden und namhaften Persönlichkeiten an den König und das Ministerium. Aber alle Bemühungen ies demokratisch gesinnten Volkes sind vergebens. Der Minister von Beust antwortet mit hochmütigem Spott, und der König entschuldigt sich mit seinem Wort, das er dem König von Preußen gegeben habe.
Die Aufregung in der sächsischen Hauptstadt wächst; der geringste Anlaß kann jetzt die Explosion herbeiführen. Und dieser Anlaß läßt nicht lange auf sich warten: Am 2. Mai beschließen die Dresdener Kommunalgarden, am 3. Mai einen feierlichen Aufmarsch zu Ehren der Reichsverfassung zu veranstalten. Er ist für 1 Uhr angesetzt. Da bis zu dieser Stunde kein Verbot ergangen ist, sammelt sich die Bürgergarde, als die Glocken läuten und Generalmarsch geschlagen wird. Inzwischen liest die Bevölkerung einen Maueranschlag, der die Stadtverordneten für 4 Uhr zur Wahl eines Landes-Verteidigungsausschusses zusammenruft, da »nach einer preußischen Note die Besetzung des Landes durch preußische Truppen bevorsteht«. Diese Plakate steigern die Erregung weiter. Als dann noch der Kommandant der Kommunalgarden mitteilt, daß das Oberkommando den Aufmarsch verboten und angeordnet habe, die Bataillone zu verabschieden, erhebt sich überall der Schrei: »Verrat!« Und die Massen wälzen sich zum Schloß und zum Zeughausplatz.
Um 3 Uhr nachmittags wird das schwache Gattertor am Zeughausplatz mit einem Leiterwagen als Rammbock aufgesprengt. Das Volk flutet sofort in den Hof. Die Torwache schießt nicht, trotz eines Befehls, sondern weicht zurück. Doch der Oberstleutnant von Polenz läßt dreimal Trommelwirbel schlagen und dann durch ein 12-Mann-Peloton Feuer geben. 4 Tote bleiben auf dem Platz. Das unbewaffnete Volk hebt sie auf und eröffnet einen Steinhagel auf die Besatzung. Gleichzeitig schießen die Turner; ein Leutnant fällt, und die Besatzung zieht sich zurück. Das erbitterte Volk sammelt sich nun vor den Haupttoren des Zeughauses, und plötzlich wird mit dem Leiterwagen, der schon einmal als Sturmbock gedient hat, das mittlere Haupttor eingestoßen. In dem Augenblick, da die Flügel des Tores auseinanderspringen, kracht ein Kartätschenschuß in die nachdringende Menge, und 20 Tote und Verwundete bleiben liegen. Daraufhin wagt das Volk keinen zweiten Angriff. Der Sturm auf das Zeughaus ist abgeschlagen, die Massenbewaffnung damit verhindert. Ein Sicherheitsausschuß wird gebildet; er arbeitet die ganze Nacht hindurch an der Organisierung des Aufstandes. Tzschirner ist »die Seele des Widerstandes«. Er ernennt die Befehlshaber der einzelnen bewaffneten Kolonnen und Barrikadenmannschaften; er stellt Gutscheine für Lebensmittel, Waffen und Kleidungsstücke sowie Passierscheine aus.
Vor allem aber wird in dieser Nacht der Bau von 108 Barrikaden betrieben; er steht unter der Leitung des Hofbaumeisters Gottfried Semper. Sie sind so fest gefügt, daß sie später auch schwerem Geschützfeuer standhalten.
Die Vorbereitungen zum Kampf bleiben im Schloß natürlich nicht verborgen. Um 4 Uhr flüchtet der König mit seiner Gattin und in Begleitung der Minister, unter dem Schutz dichten Nebels, in die Festung Königstein. Als die Minister Beust und Rabenhorst abends wieder in die Hauptstadt zurückkehren, erfahren sie, daß den ganzen Tag über gekämpft worden ist. Die Altstadt ist in den Händen der Revolutionäre. Am Kreuzturm kämpft auch der königlich sächsische Hofkapellmeister Richard Wagner. Die berühmteste dramatische Sängerin der Zeit, Wilhelmine Schröder-Devrient, feuert im Kugelregen die Aufständischen an.
Die Flucht des Köngis veranlaßt die Aufständischen, eine provisorische Regierung für Sachsen einzusetzen. Der Sicherheitsausschuß ist damit aufgelöst, die Regierung wird auf die Reichsverfassung vereidigt. Inzwischen überschreiten preußische Interventionstruppen die Grenze und greifen in die Kämpfe in Dresden ein. Der Motor des Widerstandes heißt jetzt Bakunin: er nimmt an allen Beratungen der provisorischen Regierung teil und erläßt selbständig Befehle. Die Reichsverfassung tritt in den Hintergrund; das rote Banner der sozialistischen Republik wird aufgezogen.
Die preußischen Truppen versuchen, Barrikade um Barrikade zu nehmen. In der Morgenfrühe des 6. Mai geht das Opernhaus in Flammen auf. Man hat mit diesem Brand den russischen Anarchisten Bakunin belastet. In seinem »Katechismus der Revolution« steht: »Der Revolutionär verachtet die öffentliche Meinung. Er verachtet und haßt die gegenwärtige gesellschaftliche Moral in all ihren Antrieben und allen ihren Kundgebungen. Für ihn ist alles sittlich, was den Triumph der Revolution begünstigt, alles unsittlich und verbrecherisch, was ihn hemmt.«
Am Abend des 7. Mai ist der Aufstand gebrochen. Am 8. Mai finden nur noch vereinzelte Feuergefechte statt. Am Morgen des 9. Mai, früh 3 Uhr, verläßt die provisorische Regierung Dresden. Aus den Häusern und von den Barrikaden wehen weiße Fahnen. Tzschirner findet einen Fluchtweg in die Schweiz.
Die Regierungstruppen haben den Befehl, jeden, der mit der Waffe in der Hand angetroffen wird, niederzuschießen. Der Direktor des Zuchthauses Waldheim, wo man die Aufständischen »sammelt«, empfängt die Revolutionäre immer wieder mit dem Ruf: »So, du verfluchter Schweinehund, bist du jetzt auch hier; na, dir wollen wir’s gründlich besorgen.« Furchtbar haust die Soldateska. Einzelne Mitglieder der provisorischen Regierung müssen bis 1854 im Zuchthaus sitzen. Bakunin entkommt nach Chemnitz, wird dann aber dort verhaftet. Man liefert ihn den Österreichern aus. Die übergeben ihn der Polizei des Zaren. Und der sperrt ihn für viele Jahre in die Schlüsselburg; später wandert er in die Verbannung nach Sibirien, von wo er nach dem Westen entkommt, um sich in neue Revolutionen zu stürzen.
Minister von Beust wütet gegen alle, die ihn einmal bekämpft haben. Unter den nichtigsten Vorwänden läßt er alle Demokraten, deren er habhaft wird, zu Gefängnis verurteilen. Ihre berufliche Existenz wird vernichtet.
Aufstandsversuch in Rheinpreußen. 9.–10. Mai 1849
Friedrich Engels, der Fabrikantensohn aus Elberfeld, schien geradezu prädestiniert, die wirtschaftliche Entwicklung Rheinpreußens vom Ausgang des 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts darzustellen und die Voraussetzungen für eine revolutionäre Entwicklung zu analysieren. Im 1. Kapitel seiner Artikelserie über »Die deutsche Reichsverfassungskampagne« heißt es:
»Rheinpreußen hat seit 1815 als eine der fortgeschrittensten Provinzen Deutschlands gegolten, und mit Recht. Es vereinigt zwei Vorzüge, die sich in keinem anderen Teile Deutschlands vereinigt finden.
Rheinpreußen teilt mit Luxemburg, Rheinhessen und der Pfalz den Vorteil, seit 1795 die Französische Revolution und die gesellschaftliche, administrative und legislative Konsolidierung ihrer Resultate unter Napoleon mitgemacht zu haben. Als die revolutionäre Partei in Paris erlag, trugen die Armeen die Revolution über die Grenzen. Vor diesen kaum befreiten Bauernsöhnen zerstoben nicht nur die Armeen des Heiligen Römischen Reichs, sondern auch die Feudalherrschaft des Adels und der Pfaffen. Seit zwei Generationen kennt das linke Rheinufer keinen Feudalismus mehr; der Adelige ist seiner Privilegien beraubt, der Grundbesitz ist aus seinen Händen und denen der Kirche in die Hände der Bauern übergegangen; der Boden ist parzelliert, der Bauer ist freier Grundbesitzer wie in Frankreich. In den Städten verschwanden die Zünfte und die patriarchalische Patrizierherrschaft zehn Jahre früher als irgendwo in Deutschland vor der freien Konkurrenz, und der Code Napoleon sanktionierte schließlich den ganzen veränderten Zustand in der Zusammenfassung der gesamten revolutionären Institutionen.
Rheinpreußen besitzt aber zweitens – und darin liegt sein Hauptvorzug vor den übrigen Ländern des linken Rheinufers – die ausgebildetste und mannigfachste Industrie von ganz Deutschland. In den drei Regierungsbezirken Aachen, Köln und Düsseldorf sind fast alle Industriezweige vertreten: Baumwollen-, Wollen- und Seidenindustrie aller Art nebst den dabei abhängigen Branchen der Bleicherei, Druckerei und Färberei, der Eisengießerei und Maschinenfabrikation, ferner Bergbau, Waffenschmieden und sonstige Metallindustrie finden sich hier auf dem Raum weniger Quadratmeiler konzentriert und beschäftigen eine Bevölkerung von in Deutschland unerhörter Dichtigkeit. An die Rheinprovinz schließt sich unmittelbar, sie mit einem Teile der Rohstoffe versorgend und industriell zu ihr gehörend, der märkische Eisen- und Kohlendistrikt an. Die beste Wasserstraße Deutschlands, die Nähe des Meeres, der mineralische Reichtum der Gegend begünstigen die Industrie, die außerdem zahlreiche Eisenbahnen erzeugt hat und ihr Eisenbahnnetz noch täglich vervollständigt. Mit der Industrie in Wechselwirkung steht ein für Deutschland sehr ausgedehnter Ausfuhr- und Einfuhrhandel nach allen Weltteilen, ein bedeutender direkter Verkehr mit allen großer Stapelplätzen des Weltmarkts und eine verhältnismäßige Spekulation in Rohprodukten und Eisenbahnaktien. Kurz, die industrielle und komerzielle Entwicklungsstufe der Rheinprovinz ist, wenn auch auf dem Weltmarkt ziemlich unbedeutend, doch für Deutschland einzig.
Die Folge dieser – ebenfalls unter der revolutionären französischen Herrschaft aufgeblühten – Industrie und des mit ihr zusammenhängenden Handels in Rheinpreußen ist die Erzeugung einer mächtigen industriellen und kommerziellen großen Bourgeoisie und, im Gegensatz zu ihr, eines zahlreichen industriellen Proletariats, zweier Klassen, die im übrigen Deutschland nur sehr stellenweise und embryonisch existieren, die aber die besondere politische Entwicklung der Rheinprovinz fast ausschließlich beherrschen.«
Unter dem Eindruck der bereits ausgebrochenen oder unmittelbar vor dem Ausbruch stehenden revolutionären Kämpfe in Dresden, in der Pfalz, in Baden, Württemberg, Franken, in ganz Süddeutschland und nicht zuletzt in Berlin, beruft der Kölner Gemeinderat einen Kongreß von Deputierten, den die Regierung prompt verbietet. Man setzt sich über das Verbot hinweg und hält den Kongreß trotzdem ab. Die Deputierten protestieren vor allem gegen die Einberufung der Landwehr, fordern die Zurücknahme der Verordnung und drohen im Weigerungsfalle mit dem Abfall der Rheinprovinzen von Preußen. Das signifikante Dokument dieses Widerstandes der Deputierten der rheinischen Gemeinderäte lautet:
»Da
die preußische Regierung die Zweite Kammer, nachdem dieselbe sich
für die unbedingte Annahme der deutschen Verfassung vom 28. März
dieses Jahres ausgesprochen hatte, aufgelöst und dadurch das Volk
seiner Vertretung und Stimme in dem gegenwärtigen entscheidenden
Augenblicke beraubt hat, sind die unterzeichneten Verordneten der
Städte und Gemeinden der Rheinprovinz zusammengetreten, um zu
beraten, was dem Vaterlande not tue. Die Versammlung hat unter dem
Vorsitze der Stadtverordneten Zell von Trier und Werner von Koblenz
und in Assistenz der Protokollführer, der Stadtverordneten Boecker
von Köln und
Bloem II
von Düsseldorf, beschlossen, wie
folgt:
1. Sie erklärt, daß sie die Verfassung des deutschen Reiches, wiesolche am 28. März dieses Jahres von der Reichsversammlung verkündet worden, als endgültiges Gesetz anerkennt und bei dem von der preußischen Regierung erhobenen Konflikte auf der Seite derdeutschen Reichsversammlung steht.
2. Die Versammlung fordert das gesamte Volk der Rheinlande und namentlich alle waffenfähigen Männer auf, durch Kollektiverklärungen in kleineren und größeren Kreisen seine Verpflichtung und seinen unverbrüchlichen Willen, an der deutschen Reichsverfassung festzuhalten und den Anordnungen der Reichsverfassung Folge zu leisten, auszusprechen.
3. Die Versammlung fordert die deutsche Reichsversammlung auf, nunmehr schleunigst kräftigere Anstrengungen zu treffen, um dem Widerstande des Volkes in den einzelnen deutschen Staaten und namentlich auch in der Rheinprovinz jene Einheit und Stärke zu geben, die allein imstande ist, die wohlorganisierte Gegenrevolution zuschanden zu machen.
4. Sie fordert die Reichsgewalt auf, die Reichstruppen baldmöglichst auf die Verfassung zu beeidigen und eine Zusammenziehung derselben anzuordnen.
5. Die Unterzeichneten verpflichten sich, der Reichsverfassung durch alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel in dem Bereiche ihrer Gemeinden Geltung zu verschaffen.
6. Die Versammlung erachtet die Entlassung des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel und die Einberufung der Kammer ohne Abänderung des bestehenden Wahlmodus für unbedingt notwendig.
7. Sie erblickt insbesondere in der jüngst erfolgten teilweisen Einberufung der Landwehr eine unnötige, den inneren Frieden in hohem Grade gefährdende Maßregel und erwartet deren sofortige Zurücknahme.
8. Die Unterzeichneten sprechen schließlich ihre Überzeugung dahin aus, daß bei Nichtbeachtung des Inhaltes dieser Erklärung dem Vaterlande die größten Gefahren drohen, durch die selbst der Bestand Preußens in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung gefährdet werden kann.
Beschlossen am 8. Mai 1849 zu Köln.«
Die Regierung in Berlin befiehlt ohne Rücksicht auf die gefaßten Beschlüsse die Einberufung der Landwehr. Die Bataillone treten zwar zusammen, wehren sich aber konsequent gegen die Einkleidung.
Die Industriebezirke Elberfeld, Iserlohn und Solingen sind die Zentren des Widerstandes. Die preußische Regierung setzt gegen Elberfeld ein Bataillon Infanterie, eine Schwadron Ulanen und zwei Geschütze in Marsch. Die Verwirrung in der Stadt ist groß, als die Truppen einmarschieren. Da wird im Volk plötzlich danach gerufen die 69 Solinger Arbeiter, die sich seit einem Jahr wegen Demolierung einer Stahlgußfabrik in Haft befinden, zu befreien. Die Gefängnistüren werden aufgebrochen. Der letzte der Befreiten fäll: unter einer Salve des anrückenden Militärs. Das Volk baut Barrikaden. In Kürze sind die Zugänge zur Innenstadt verschanzt. Artillerie rückt vor. Die Barrikadenkämpfer kündigen an, sie würden nur auf die Offiziere schießen. Kurze Zeit später fällt der kommandierende Hauptmann: Herzschuß. Die Truppen ziehen sich bis Düsseldorf zurück. Aber schon sind neue Truppen im Vormarsch. Am Abend beginnt der Kampf von neuem. Die Barrikadenkämpfer müssen schließlich vor der Übermacht weichen. Aber die Kämpfe in Elberfeld sind das Fanal zum Aufstand in großen Teilen des bergischmärkischen Industriereviers. Die Aufständischen hoffen auf eine Ausbreitung der Revolution über ganz Deutschland. Aber das Militär konzentriert sich auf die Niederwerfung des Aufstandes in den Industriestädten und entzieht damit den Auf standsbewegungen in der Provinz die Basis. Friedrich Engels, der am n.Mai 1849 nach Elberfeld kommt, um dort den Aufstand neu zu organisieren, wird schließlich gezwungen, die Stadt zu verlassen. Viele revolutionäre Arbeiter wandern in die Gefängnisse. Und die preußische Armee in Stärke von 20.000 Mann, unterstützt von Kavallerie und Artillerie, rückt feldmarschmäßig in das Ruhrgebiet ein. Der König von Preußen erläßt einen Aufruf:
An Mein Volk!
Unter dem Vorwande der deutschen Sache haben die Feinde des Vaterlandes zuerst in dem benachbarten Sachsen, dann in einzelnen Gegenden von Süddeutschland die Fahne der Empörung aufgepflanzt. Zu Meinem tiefsten Schmerze haben auch in einigen Theilen unseres Landes Verblendete sich hinreißen lassen, dieser Fahne zu folgen und unter derselben, im offenen Aufruhr gegen die rechtmäßige Obrigkeit, göttliche und menschliche Ordnung umzustürzen. In so ernster und gefahrvoller Zeit drängt es Mich, ein offenes Wort zu Meinem Volke zu reden.
Ich habe auf das Anerbieten einer Krone seitens der deutschen National-Versammlung eine zustimmende Antwort nicht ertheilen können, weil die Versammlung nicht das Recht hatte, die Krone, welche sie Mir bot, ohne Zustimmung der deutschen Regierungen zu vergeben, weil sie Mir unter der Bedingung der Annahme einer Verfassung angetragen ward, welche mit den Rechten und der Sicherheit der deutschen Staaten nicht vereinbar war.
Ich habe fruchtlos alle Mittel versucht und erschöpft, zu einer Verständigung mit der deutschen National-Versammlung zu gelangen. Ich habe mich vergebens bemüht, sie auf den Standpunkt ihres Mandats und des Rechtes zurückzuführen, welches nicht in der eigenmächtigen und unwiderruflichen Feststellung, sondern in der Vereinbarung einer deutschen Verfassung bestand, und selbst nach Vereitelung Meiner Bestrebungen habe Ich in der Hoffnung einer endlichen friedlichen Lösung nicht mit der Versammlung gebrochen. Nachdem dieselbe aber durch Beschlüsse, gegen welche treffliche Männer fruchtlos ankämpften, ihrerseits den Boden des Rechtes, des Gesetzes und der Pflicht gänzlich verlassen, nachdem sie uns um deshalb, weil wir dem bedrängten Nachbar die erbetene Hülfe siegreich geleistet, des Friedensbruchs angeklagt, nachdem sie gegen uns und die Regierungen, welche sich mit Mir den verderblichen Bestimmungen der Verfassung nicht fügen wollten, zum offenen Widerstände aufgerufen, hat die Versammlung jetzt mit Preußen gebrochen. Sie ist in ihrer Mehrheit nicht mehr jene Vereinigung von Männern, auf welche Deutschland mit Stolz und Vertrauen blickte. Eine große Zahl ist, als die Bahn des Verderbens betreten wurde, freiwillig ausgeschieden, und durch Meine Verordnung vom gestrigen Tage habe ich alle preußischen Abgeordneten, welche der Versammlung noch angehörten, zurückgerufen. Gleiches wird von anderen deutschen Regierungen geschehen. In der Versammlung herrscht jetzt eine Partei, die im Bunde steht mit den Menschen des Schreckens, welche die Einheit Deutschlands zum Vorwande nehmen, in Wahrheit aber den Kampf der Gottlosigkeit, des Eidbruches und der Raubsucht gegen die Throne entzünden, um mit ihnen den Schutz des Rechtes, der Freiheit und des Eigentums umzustürzen. Die Gräuel, welche in Dresden, Breslau und Elberfeld unter dem erheuchelten Rufe nach Deutschlands Einheit begangen worden, liefern die traurigen Beweise. Neue Gräuel sind geschehen und werden noch vorbereitet. Während durch solchen Frevel die Hoffnung zerstört ward, durch die Frankfurter Versammlung die Einheit Deutschlands erreicht zu sehen, habe Ich in Königlicher Treue und Beharrlichkeit daran nicht verzweifelt. Meine Regierung hat mit den Bevollmächtigten der größeren deutschen Staaten, welche sich Mir angeschlossen, das in Frankfurt begonnene Werk der deutschen Verfassung wieder aufgenommen.
Diese Verfassung soll und wird in kürzester Frist der Nation gewähren, was sie mit Recht verlangt und erwartet: ihre Einheit, dargestellt durch eine einheitliche Exekutiv-Gewalt, die nach außen den Namen und die Interessen Deutschlands würdig und kräftig vertritt, und ihre Freiheit, gesichert durch eine Volksvertretung mit legislativer Befugnis. Die von der National-Versammlung entworfene Reichsverfassung ist hierbei zu Grunde gelegt und sind nur diejenigen Punkte derselben verändert worden, welche aus den Kämpfen und Zugeständnissen der Parteien hervorgegangen, dem wahren Wohle des Vaterlandes entschieden nachteilig sind. Einem Reichstage aus allen Staaten, die sich dem Bundesstaate anschließen, wird diese Verfassung zur Prüfung und Zustimmung vorgelegt werden. Deutschland vertraue hierin dem Patriotismus und dem Rechtsgefühle der preußischen Regierung; sein Vertrauen wird nicht getäuscht werden.
Das ist Mein Weg. Nur der Wahnsinn oder die Lüge kann solchen Tatsachen gegenüber die Behauptung wagen, daß Ich die Sache der deutschen Einheit aufgegeben, daß Ich Meiner früheren Überzeugung und Meinen Zusicherungen untreu geworden.
Preußen ist dazu berufen, in so schwerer Zeit Deutschland gegen innere und äußere Feinde zu schirmen, und es muß und wird diese Pflicht erfüllen. Deshalb rufe ich schon jetzt Mein Volk in die Waffen. Es gilt, Ordnung und Gesetz herzustellen im eigenen Lande und in den übrigen deutschen Ländern, wo unsere Hülfe verlangt wird; es gilt, Deutschlands Einheit zu gründen, seine Freiheit zu schützen vor der Schreckensherrschaft einer Partei, welche Gesittung, Ehre und Treue ihren Leidenschaften opfern will, einer Partei, welcher es gelungen ist, ein Netz der Bethörung und des Irrwahns über einen Teil des Volkes zu werfen.
Die Gefahr ist groß, aber vor dem gesunden Sinn Meines Volkes wird das Werk der Lüge nicht bestehen; dem Rufe des Königs wird die alte preußische Treue, wird der alte Ruhm der preußischen Waffen entsprechen.
Steht Mein Volk zu Mir, wie Ich zu ihm in Treu und Vertrauen einträchtig, so wird uns Gottes Segen und damit ein herrlicher Sieg nicht fehlen.
Charlottenburg, den 15. Mai 1849
Friedrich Wilhelm
Drei Viertel der Rheinprovinz sind in Belagerungszustand versetzt, Hunderte von Männern ins Gefängnis geworfen. Am Vorabend des Geburtstags Friedrich Wilhelms iv. werden drei Prümer Zeughausstürmer standrechtlich erschossen.
Der Aufstand in Rheinpreußen ist niedergeschlagen.
Chronik Mai-August 1849
Die deutsche Reichsverfassungskampagne. 1849
Der pfälzischbadische Aufstand
und das Ende der Nationalversammlung. 1849
1849 10. Mai: Das Reichsministerium in Frankfurt tritt zurück und kapituliert damit vor der Aufgabe, die Reichsverfassung durchzuführen.
11. Mai: Die badischen Soldaten, die sich in der Festung Rastatt erheben, leiten die Volkserhebung in Baden ein. In Offenburg wird die allgemeine Volksbewaffnung und die Durchsetzung der Reichsverfassung mit Waffengewalt beschlossen. Während der Großherzog flieht, gehen fast alle badischen Truppen zu den Aufständischen über.
14. Mai: Die preußische Regierung beruft die Abgeordneten aus der Nationalversammlung ab und erklärt die weitere Tagung der Nationalversammlung für ungesetzlich.
17. Mai: Der pfälzische Landesverteidigungsausschuß setzt eine revolutionäre Regierung ein, die aber die Aufstellung von Truppen nur zögernd betreibt. August Willich stellt ein Freikorps aus rheinischen Arbeitern auf.
19–20. Mai: Karl Marx wird aus Preußen ausgewiesen. Er begibt sich mit Engels nach Frankfurt am Main; sie bemühen sich, die demokratischen Abgeordneten der Nationalversammlung zu bestimmen, sich an die Spitze der Erhebung in Südwestdeutschland zu stellen. Anschließend gehen sie nach Baden, um die Führer der dortigen revolutionären Bewegung davon zu überzeugen, daß sie ihre Armee nach. Frankfurt senden müßten, um der Erhebung einen gesamtdeutschen Charakter zu verleihen. Sie haben jedoch keinen Erfolg.
21. Mai: Der österreichische Kaiser und der Zar von Rußland schließen ein Bündnis zur gemeinsamen Niederwerfung der ungarischen Revolution.
27. Mai: In Reutlingen fordert eine Volksversammlung den Anschluß Württembergs an die Erhebungen in Baden und in der Pfalz. Die württembergische Ständeversammlung lehnt die Forderung ab.
30. Mai: Die Frankfurter Nationalversammlung beschließt ihre Verlegung nach Stuttgart, um der militärischen Bedrohung durch preußische Truppen zu entgehen.
Die preußische Regierung oktroyiert der 1. preußischen Kammer das Dreiklassenwahlrecht. Die Wähler werden nach ihrem Steueraufkommen in drei Klassen eingeteilt, wovon jede die gleiche Anzahl von Abgeordneten wählt. Dadurch werden die Rechte der breiten Volksmassen und ihr politischer Einfluß entscheidend geschwächt.
6. Juni: Ein Rumpfparlament aus 104 Abgeordneten der Linken konstituiert sich in Stuttgart.
12. Juni: Preußische Truppen marschieren unter dem Oberbefehl des Kronprinzen Wilhelm in die Rheinpfalz ein.
16.–18. Juni: Die pfälzischen Revolutionstruppen ziehen sich vor der militärischen Übermacht des preußischen Interventionsheeres nach Baden zurück.
18. Juni: Das Rumpfparlament in Stuttgart wird durch württembergische Truppen aufgelöst.
20.–29. Juni: Die revolutionären Truppen in Baden wehren durch erfolgreiche Gegenangriffe die von der preußischen Armee geplante Einkreisung ab und beziehen eine neue Stellung an der Murg. Hier werden sie von 40000 Mann der preußischen Truppen angegriffen, während ihnen württembergische Truppen in den Rücken fallen. Der größte Teil weicht auf die Schweizer Grenze zurück. 500–600 Mann werden in Rastatt von preußischen Truppen eingeschlossen.
23. Juli: Die Reste der Revolutionstruppen müssen kapitulieren. Preußische Standgerichte verurteilen 28 Revolutionäre zum Tode. Hunderte von Aufständischen werden zu langen Kerkerstrafen verurteilt. Der über Baden verhängte Belagerungszustand bleibt bis September 1852 in Kraft.
13. August: Die ungarischen Revolutionäre müssen vor der militärischen Übermacht der vereinigten österreichisch-russischen Truppen kapitulieren.
24. August: Der revolutionäre Demokrat von Trützschler wird wegen Teilnahme an der badischen Reichsverfassungskampagne standrechtlich erschossen. Weitere Erschießungendurch preußisches Militär folgen.
Ende August: Karl Marx, aus Paris ausgewiesen, erneuert in London mit anderen Bundesmitgliedern die Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten.
Die deutsche Reichsverfassungskampagne. 1849
28. März 1849. In der Paulskirche in Frankfurt verkündet Präsident Simson mit bewegter Stimme, daß König Friedrich Wilhelm iv. von Preußen mit 290 Stimmen bei 248 Enthaltungen zum deutschen Kaiser gewählt worden ist. In Frankfurt läuten die Glocken, und die Geschütze schießen Salut. Der Präsident schließt die Zeremonie mit dem Wunsch: »Möge der Genius Deutschlands walten über diese Stunde!«
Am gleichen Tage unterzeichnen der Präsident, sein Stellvertreter und die Schriftführer der Nationalversammlung die Urkunde der Reichsverfassung einer konstitutionellen Monarchie, Ausdruck des vom liberalen Bürgertum angestrebten Bündnisses mit der Monarchie.
Die Hauptzüge der Verfassung: die Person des Kaisers ist unverletzlich, er kann nicht zur Verantwortung gezogen werden, er ernennt die Minister und die kommandierenden Generale, er besitzt allein das Recht, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen. Im vierten Abschnitt über »Die Grundrechte des deutschen Volkes« werden die Forderungen der Revolutionsjahre 1848 anerkannt und garantiert: »… Aufgehoben sind die Unterschiede der Stände, alle Standesvorrechte und Privilegien; der Adel als Stand ist aufgehoben, alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich, alle Titel, sofern sie nicht mit einem Amte verbunden sind, sind aufgehoben und dürfen nie wieder eingeführt werden, die öffentlichen Ämter sind für alle Befähigten gleich zugänglich, die Wehrpflicht ist für alle gleich, und eine Stellvertretung darf nicht stattfinden.« § 138 verkündet, daß die »Freiheit der Person unverletzlich« ist. § 140 erklärt die Wohnung für unverletzlich. § 142 gewährleistet das Briefgeheimnis. § 143 verkündet die Aufhebung der Zensur und das Recht der freien Meinungsäußerung in Wort, Schrift, Druck und bildlicher Darstellung. Jedem Deutschen wird die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert: § 152: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Die Schulaufsicht durch die Geistlichkeit wird auf den Religionsunterricht beschränkt. § 161 gewährt das uneingeschränkte Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. § 164 erklärt das Eigentum für unverletzlich. In den Paragraphen 166–173 wird die feudale Gesellschaftsordnung praktisch aufgehoben. Noch am gleichen Tag wählt die Nationalversammlung die Deputation, die dem König von Preußen seine Wahl zum deutschen Kaiser übermitteln soll. Mit viel Pracht und großer Feierlichkeit empfängt der König in Berlin zur festgesetzten Stunde die Kaiserdeputation aus Frankfurt. Im Rittersaal steht er unter dem Thronhimmel in Uniform, den Helm im Arm, umgeben von Prinzen, Ministern und den Mitgliedern seines militärischen und persönlichen Hofstaates. Präsident Simson überreicht Seiner Majestät mit bewegten Worten eine Ausfertigung der Reichsverfassung und des Protokolls über die Kaiserwahl. Aber der König ist bereits fest entschlossen, sich keinesfalls »das Hundehalsband der Revolution überstreifen« zu lassen.
»Ich würde«, erklärt er, »dem Sinne des deutschen Volkes nicht entsprechen, Ich würde Deutschlands Einheit nicht aufrichten, wollte Ich mit Verletzung heiligster Rechte und Meiner früheren ausdrücklichen und feierlichen Versicherungen ohne das freie Einverständnis der gekrönten Häupter, der Fürsten und der freien Städte Deutschlands, eine Entschließung fassen, welche für sie und für die von ihnen regierten deutschen Stämme die entscheidensten Folgen haben muß. An den Regierungen der einzelnen deutschen Staaten wird es daher jetzt sein, in gemeinsamer Beratung zu prüfen, ob die Verfassung dem Einzelnen wie dem Ganzen frommt, ob die Mir zugedachten Rechte Mich in den Stand setzen würden, mit starker Hand, wie es ein solcher Beruf von mir fordert, die Geschicke des großen deutschen Vaterlandes zu leiten und die Hoffnung seiner Völker zu erfüllen … Bedarf es des preußischen Schildes und Schwertes gegen äußere oder innere Feinde, so werde Ich auch ohne Ruf nicht fehlen!« Das bedeutet: Kampfansage an die Revolution.
Karl Vogt, Sprecher der Linken der Nationalversammlung, erklärt: »Meine Partei betrachtet die Reichsverfassung nur als die erste Sprosse auf der Leiter, die man hinaufzuklimmen hat bis zur republikanischen Spitze. Mit bloß konstitutionellen Mitteln wird nichts erreicht; die Versammlung muß zur Revolution greifen.«
Einen Monat später, am 26. April, wird die preußische Kammer aufgelöst, weil sie die Annahme der Reichsverfassung beschlossen hat. Gleichzeitig wird der Nationalversammlung mitgeteilt, daß die Preußische Regierung die Reichsverfassung ablehne. Und am selben Tage lädt Berlin die deutschen Regierungen zu Besprechungen über eine Verfassungsreform ein und schlägt vor, Maßregeln zu treffen, damit sich die verbündeten Regierungen Hilfe leisten können, falls es durch Festhalten der Versammlung an ihren Beschlüssen in manchen Ländern zu gefährlichen Krisen käme.
Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben die so entstandene politische Lage folgendermaßen:
»Der unvermeidliche Konflikt zwischen der Frankfurter Nationalversammlung und den Regierungen der deutschen Staaten brach in den ersten Maitagen 1849 endlich in offene Feindseligkeit aus. Die österreichischen Abgeordneten, von ihrer Regierung abberufen, hatten die Versammlung bereits verlassen und waren nach Hause gefahren … Die konservativen Mitglieder, die merkten, welche Wendung die Dinge zu nehmen drohten, zogen sich in ihrer überwiegenden Mehrheit schon zurück, noch ehe sie von ihren betreffenden Regierungen dazu aufgefordert wurden … (Es) genügte somit die bloße Tatsache, daß die Mitglieder der Rechten von ihren Posten desertierten, um die frühere Minderheit in die Mehrheit der Versammlung zu verwandeln … Die neue Mehrheit erklärte, trotz aller Hindernisse müsse die Reichsverfassung durchgeführt werden, und zwar sofort; am 15. Juli solle das Volk die Abgeordneten zum neuen Reichstag wählen, und dieser solle darauf am 15. August in Frankfurt zusammentreten.
Da war nun aber eine offene Kriegserklärung an jene Regierungen, die die Reichsverfassung nicht anerkannt hatten, darunter Preußen, Österreich und Bayern, die mehr als drei Viertel der Bevölkerung Deutschland umfaßten; eine Kriegserklärung, die von ihnen eiligst angenommen wurde. Auch Preußen und Bayern riefen jetzt die Abgeordneten ab … und beschleunigten ihre militärischen Vorbereitungen gegen die Nationalversammlung. Auf der anderen Seite nahmen die außerparlamentarischen Demonstrationen der demokratischen Parteien zugunsten der Reichsverfassung der Nationalversammlung einen immer stürmischeren und gewaltsameren Charakter an … So standen sich Volk und Regierung überall kampfbereit gegenüber; die Mine war geladen, und ein Funke genügte, sie zur Explosion zu bringen. Die Auflösung der Kammer in Sachsen, die Einberufung der Landwehr in Preußen, der offene Widerstand der Regierungen gegen die Reichsverfassung waren solche Funken; sie fielen, und im Nu stand das ganze Land in Flammen. In Dresden bemächtigte sich das Volk am 4. Mai siegreich der Stadt und verjagte den König, während sämtliche umliegenden Bezirke den Aufständischen Verstärkungen sandten. In der Rheinprovinz und in Westfalen weigerte sich die Landwehr, auszumarschieren, besetzte die Zeughäuser und bewaffnete sich zum Schutz der Reichsverfassung. In der Pfalz bemächtigte sich das Volk der bayerischen Regierungsämter und der öffentlichen Gelder und setzte einen Verteidigungsausschuß ein, der die Provinz unter den Schutz der Nationalversammlung stellte. In Württemberg zwang das Volk den König, die Reichsverfassung anzuerkennen; und in Baden zwang die Armee im Verein mit dem Volk den Großherzog zur Flucht und errichtete eine Provinzialregierung. In anderen Teilen Deutschlands wartete das Volk nur auf das entscheidende Zeichen der Nationalversammlung, um zu den Waffen zu eilen und sich ihr zur Verfügung zu stellen …
Nun ist der Aufstand eine Kunst, genau wie der Krieg oder irgendeine andere Kunst, und gewissen praktischen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigung zum Verderben der Partei führt, die sich ihrer schuldig macht. Diese Regeln, logische Schlußfolgerungen aus der Natur der Parteien und der Umstände, mit denen man es in einem solchen Falle zu tun hat, sind so klar und einfach, daß die kurze Erfahrung von 1848 die Deutschen ziemlich bekannt mit ihnen gemacht hat.
Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht fest entschlossen ist, alle Konsequenzen des Spiels auf sich zu nehmen. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Wert sich jeden Tag ändern kann; die Kräfte des Gegners haben alle Vorteile der Organisation, der Disziplin und der hergebrachten Autorität auf ihrer Seite; kann man ihnen nicht mit starker Überlegenheit entgegentreten, so ist man geschlagen und vernichtet. Zweitens, hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handle man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jedes bewaffneten Aufstands; er ist verloren, noch bevor er sich mit dem Feinde gemessen hat. Überrasche deinen Gegner, solange seine Kräfte zerstreut sind, sorge täglich für neue, wenn auch noch so kleine Erfolge; erhalte dir das moralische Übergewicht, das der Anfangserfolg der Erhebung dir verschafft hat; ziehe so die schwankenden Elemente auf deine Seite, die immer dem stärksten Antrieb folgen und sich immer auf die sichere Seite schlagen; zwinge deine Feinde zum Rückzug, noch ehe sie ihre Kräfte gegen dich sammeln können; um mit den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik, zu sprechen: de l’audace, de l’audace, encore de l’audace!
Was hatte also die Frankfurter Nationalversammlung zu tun, um dem sicheren Verderben zu entgehen, das ihr drohte? Vor allem mußte sie die Situation klar erfassen und sich überzeugen, daß sie keine andere Wahl mehr hatte, als sich entweder bedingungslos den Regierungen zu unterwerfen oder sich rückhaltslos und ohne Zaudern auf die Seite des bewaffneten Aufstands zu stellen. Zweitens mußte sie sich öffentlich zu all den Erhebungen bekennen, die bereits ausgebrochen, das Volk überall zum Schutz der Volksvertretung zu den Waffen rufen und alle Fürsten, Minister und jedermann, der es wagte, sich den Beauftragten des souveränen Volkes zu widersetzen, für vogelfrei erklären. Drittens mußte sie sofort den deutschen Reichsverweser absetzen, eine starke, aktive, rücksichtslose Exekutivgewalt schaffen, aufständische Truppen zu ihrem unmittelbaren Schutz nach Frankfurt rufen und damit zugleich einen gesetzlichen Vorwand für das Umsichgreifen des Aufstands liefern, alle zu ihrer Verfügung stehenden Kräfte zu einer geschlossenen Einheit zusammenfassen, kurz, rasch und ohne Zögern jedes zu Gebote stehende Mittel benützen, um die eigene Stellung zu stärken und die des Gegners zu schwächen. Von alledem taten die tugendhaften Demokraten in der Frankfurter Versammlung das gerade Gegenteil …«
Die Wirklichkeit sieht wesentlich nüchterner und tragischer zugleich aus. Die wachsende Hoffnungslosigkeit des gesetzlichen Kampfes für die Reichsverfassung verdrängt die aufrechten Demokraten von der Spitze des Reichsministeriums. Viele sehen, daß sie »keine positive Politik mehr machen können« und erklären aus diesem Grunde den Austritt aus der Nationalversammlung. Die Mittelparteien haben die Paulskirche verlassen und die Linke muß in Frankfurt den Zugriff der preußischen Regierung befürchten. So entschließt man sich mit 71 gegen 64 Stimmen, das Parlament von Frankfurt nach Stuttgart zu verlegen.
Dort erlassen die Mitglieder der »deutschen Reichsregentschaft« einen Aufruf an das deutsche Volk, der mit den Worten schließt: »Deutsche! In verhängnisvollem Augenblicke wenden wir uns an Euch. Noch ist es Zeit, durch unsere eigne Kraft des Vaterlandes Größe, Einheit und Freiheit zu retten, ihm Achtung zu verschaffen nach Außen und Frieden im Innern! Noch ist es Zeit, unter den Bürgschaften der deutschen Reichsverfassung eine auf Freiheit gegründete Ordnung der Dinge wiederherzustellen.
Ruhe und Frieden, die unerläßliche Bedingung des Erblühens von Handel und Gewerbe, werden nicht eher zurückkehren, bis der unvermeidliche Kampf zwischen dem Absolutismus und der Freiheit zu Gunsten der Freiheit beendet ist. Steht alle zu uns mit Eurer vollen Willens- und Tatkraft! Der gerechten Sache ist der Sieg gewiß.« Diesen Worten folgen indessen keine klaren Anweisungen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die Freiheit zu erkämpfen sei und die Reichsverfassung in die Wirklichkeit umgesetzt werden könne. Am 7. Juni wurde jener Aufruf erlassen; am 17. Juni teilt die württembergische Regierung dem Parlament mit, daß man »das Tagen der Versammlung und das Schalten der Reichsregentschaft nicht länger dulden« könne.
Am 18. Juni führt Ludwig Uhland die rund hundert Abgeordneten, die geblieben sind, durch die Stuttgarter Kasernenstraße zum Sitzungssaal. Sie halten sich eng umfaßt, als Kavallerie versucht, sie auseinanderzusprengen. Ein Zivilkommissar verbietet ihnen das Betreten des Saales. Kommandorufe ertönen, Trommeln werden gerührt, die Soldaten schlagen mit flacher Klinge auf die Volksvertreter ein, und ein General betrachtet durch die Lorgnette die Vorgänge.
Der deutsche Aufstand des Jahres 1849 hat den Namen »Reichsverfassungskampagne« erhalten, weil er unter der Parole »Für die Reichsverfassung« geführt wurde.
Der pfälzischbadische Aufstand
und das Ende der Nationalversammlung 1849
Die bayerische Regierung lehnt am 27. April 1849 die Anerkennung der Frankfurter Verfassung ab, verspricht zwar die im März 1848 gewährten oder in Aussicht gestellten freiheitlichen Zugeständnisse, setzt aber hinzu, daß man die Grundbedingung jener Freiheiten, die gesetzliche Ordnung, mit allen der Regierung zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und einem maßlosen Streben nach praktisch unausführbaren Neuerungen kräftig entgegentreten werde. Die Mehrheit der Kammer erklärt, daß sie die von der Nationalversammlung beschlossene und verkündete Reichsverfassung anerkenne, sich alle gesetzlichen Mittel zu ihrer Durchführung vorbehalte und sich als erstes mit einer Adresse an den König wenden wolle. Der Versuch der Regierung, durch Ausschluß der pfälzischen Abgeordneten eine ihr genehmere Mehrheit in der Kammer zu bilden, verschärft den Konflikt. Mit den Pfälzern verlassen alle Abgeordneten der Linken den Sitzungssaal und erklären, daß sie erst wieder teilnehmen würden, wenn die pfälzischen Abgeordneten zugelassen seien.
Der geschäftsführende Ausschuß der pfälzischen Volksvereine lädt für den 27. April bedeutende Persönlichkeiten des Landes zu einer vorbereitenden Versammlung in Neustadt ein und für den 2. Mai alle Bürger der Pfalz zu einer großen Volksversammlung, um gegen die Münchner Regierung Front zu machen: die in der Nationalversammlung endgültig beschlossene Verfassung sei auch für Bayern bindend; das Verhalten der Regierung gegenüber dieser Verfassung sei Hochverrat; der bayerischen Regierung müsse deshalb der Gehorsam verweigert werden und für die Zeit, in der das Vaterland in Gefahr sei, möge man einen »Landesverteidigungsausschuß« mit zehn Mitgliedern wählen. Die Volksversammlung stimmt am folgenden Tag allen Beschlüssen der vorbereitenden Versammlung zu. Der neugewählte Landesverteidigungsausschuß verlangt von allen Beamten der Pfalz den Eid auf die Reichsverfassung, bei Strafe der Dienstentlassung. Am 5. Mai ruft der Ausschuß zur allgemeinen Bewaffnung auf und knüpft Verbindungen mit den revolutionären Parteien in Rheinpreußen, Rheinhessen, Baden und sogar mit der demokratischen Zentrale in Paris. Die Garnisonen gehen ebenso wie die auf Weisung der Münchener Regierung aus Frankfurt beorderten bayerischen Heeresabteilungen zum größten Teil zu den Revolutionären über. Am 17. Mai bilden die Vertrauensmänner der pfälzischen Kreise in Kaiserslautern eine provisorische Regierung. Eine ihrer ersten Maßnahmen ist der Beschluß, das pfälzische Heer durch Aushebung auf 30000 Mann zu bringen und in Brigaden einzuteilen.
Schließlich befindet sich die ganze Pfalz im Aufstand, mit Ausnahme der beiden Festungen Landau und Germersheim. Den revolutionären Führern strömt eine begeisterte, aber militärisch ungeschulte Masse zu, deren Wunsch nach Waffen und Munition man nicht befriedigen kann.
Am 17. Mai schließt die Regierung der Rheinpfalz mit der gleichgesinnten Regierung in Baden ein Abkommen, durch das die Pfälzer Erhebung sich mit der badischen vereint. Doch dieser Beschluß hat keine praktische Auswirkung.
Der Aufstand in Baden beginnt mit einer Meuterei der Truppen der Bundesfestung Rastatt. Am 11. Mai kommt es zum offenen Aufstand; die Soldaten versagen ihren Vorgesetzten jeglichen Gehorsam. Auch die aus Karlsruhe herbeigeführten Dragoner und Kanoniere wenden sich gegen ihre Befehlshaber. Die gesamte Festung Rastatt ist nun in der Hand der Empörer. In fast allen badischen Garnisonen spielen sich die gleichen Vorgänge ab. In Bruchsal werden die politischen Gefangenen befreit.
Ähnlich wie in der Pfalz werden auch in Baden am 12. und 13. Mai Kongresse der Abgeordneten und Volkskongresse abgehalten. Es werden weitgehende politische Entschlüsse gefaßt, und schließlich wird die demokratische Republik proklamiert. Am 14. Mai wird ein Landesausschuß eingesetzt und zum Präsidenten der Advokat Lorenz Brentano gewählt. Der Großherzog flieht außer Landes, und die Staatskassen fallen in die Hände der Aufständischen.
Die Leitung der militärischen Operationen wird dem Polen Mieroslawski übertragen, einem der fähigsten strategischen Köpfe im Lager der Revolution. Brentano hält vom Balkon des Rathauses eine sehr gemäßigte Rede, in der er zum Ausdruck bringt, daß er »auf Einladung des Gemeinderates die Zügel der Regierung ergriffen habe«.
Brentano will weniger eine Revolution als einen Regierungswechsel. Er versucht deshalb auch, die revolutionäre Bewegung in Baden von den anderen revolutionären Entwicklungen in Deutschland zu isolieren, obwohl der Revolution in Baden die Truppen, die Kassen, die Eisenbahnen und alle staatlichen Einrichtungen zur Verfügung stehen.
Wie die Revolution in Baden sich hätte entwickeln können, stellt Friedrich Engels auf folgende Weise dar:
»Der Aufstand in Baden kam unter den günstigsten Umständen zustande, in denen eine Insurrektion sich nur befinden kann. Das ganze Volk war einig in dem Haß gegen eine wortbrüchige, achselträgerische und in ihren politischen Verfolgungen grausame Regierung. Die reaktionären Klassen, Adel, Bürokratie und Bourgeoisie waren wenig zahlreich. Eine große Bourgeoisie besteht überhaupt in Baden nur embryonisch. Mit Ausnahme dieser wenigen Adeligen, Beamten und Bourgeois, mit Ausnahme der Karlsruher und Baden-Badener vom Hof und von reichen Fremden lebenden Krämer, mit Ausnahme einiger Heidelberger Professoren und eines halben Dutzends Bauerndörfer um Karlsruhe war das ganze Land ungeteilt für die Bewegung. Die Armee, die in anderen Aufständen erst besiegt werden mußte, die Armee, von ihren adligen Offizieren mehr als irgendwo anders schikaniert, seit einem Jahre von der demokratischen Partei bearbeitet, seit kurzem durch Einführung einer Art allgemeiner Wehrpflicht noch mehr mit rebellischen Elementen versetzt, die Armee stellte sich hier an die Spitze der Bewegung und trieb sie sogar weiter, als die bürgerlichen Leiter der Offenburger Versammlung wollten. Die Armee gerade war es, die in Rastatt und Karlsruhe die »Bewegung« in eine Insurrektion verwandelte.
Die insurrektionelle Regierung fand also bei ihrem Amtsantritt eine fertige Armee, reichlich versehene Arsenale, eine vollständig organisierte Staatsmaschine, einen gefüllten Staatsschatz und eine so gut wie einstimmige Bevölkerung vor. Sie fand ferner auf dem linken Rheinufer, in der Pfalz, eine bereits fertige Insurrektion vor, die ihr die linke Flanke deckte; in Rheinpreußen eine Insurrektion, die zwar stark bedroht, aber noch nicht besiegt war; in Württemberg, in Franken, in beiden Hessen und Nassau eine allgemeine Aufregung selbst unter der Armee, die nur eines Funkens bedurfte, um den badischen Aufstand in ganz Süd- und Mitteldeutschland zu wiederholen und wenigstens 50000 bis 60000 Mann reguläre Truppen der Empörung zu Gebot zu stellen.
Was unter diesen Umständen zu tun war, ist so einfach und handgreiflich, daß jetzt, nach der Unterdrückung des Aufstandes, jedermann es weiß, jedermann es gleich von Anfang an gesagt haben will. Es handelte sich darum, sofort und ohne einen Augenblick zu zaudern, den Aufstand weiterzutragen nach Hessen, Darmstadt, Frankfurt, Nassau und Württemberg. Es handelte sich darum, sofort von den disponiblen regulären Truppen 8000 bis 10000 Mann zusammenzuraffen – mit der Eisenbahn konnte das in zwei Tagen geschehen – und sie nach Frankfurt zu werfen – ›zum Schutz der Nationalversammlung‹. Die erschrockene hessische Regierung war durch die Schlag auf Schlag einander folgenden Fortschritte des Aufstandes wie festgebannt; ihre Truppen waren notorisch günstig gestimmt für die Badenser; sie, sowenig wie der Frankfurter Senat, konnten den mindesten Widerstand leisten. Die in Frankfurt stationierten kurhessischen, württembergischen und Darmstädter Truppen waren für die Bewegung; die dortigen Preußen – meist Rheinländer – schwankten; die Österreicher waren wenig zahlreich. Die Ankunft der Badenser, man mochte nun versuchen, sie zu verhindern oder nicht, mußte die Insurrektion bis ins Herz beider Hessen und Nassaus tragen, den Rückzug der Preußen und Österreicher nach Mainz erzwingen und die zitternde deutsche Nationalversammlung unter den terrorisierenden Einfluß einer insurgierten Bevölkerung und einer insurgierten Armee stellen. Brach dann der Aufstand an der Mosel, in der Eifel, in Württemberg und Franken nicht sofort los, so waren Mittel genug vorhanden, ihn auch in diese Provinzen zu tragen. Man mußte ferner die Macht der Insurrektion zentralisieren, ihr die nötigen Geldmittel zur Verfügung stellen und durch sofortige Abschaffung aller Feudallasten die große ackerbautreibende Mehrzahl der Bevölkerung an der Insurrektion interessieren. Herstellung einer gemeinsamen Zentralmacht für Krieg und Finanzen mit der Vollmacht, Papiergeld auszugeben, zunächst für Baden und die Pfalz, Aufhebung aller Feudallasten in Baden und jedem von der Insurreaktionsarmee besetzten Bezirk hätten vorderhand hingereicht, um den Aufstand einen ganz anders energischen Charakter zu geben.
Alles das mußte jedoch im ersten Augenblick geschehen, um mit der Schnelligkeit durchgeführt zu werden, die allein den Erfolg sichern konnte. Acht Tage nach Einsetzung des Landesausschusses war es schon zu spät. Die rheinische Insurrektion war unterdrückt, Württemberg und Hessen rührten sich nicht, die anfangs günstig gestimmten Truppenteile wurden unsicher, sie folgten schließlich wieder ganz ihren reaktionären Offizieren. Der Aufstand hatte seinen allgemeindeutschen Charakter verloren, er war ein rein badischer oder badischpfälzischer Lokalaufstand geworden.«
Großherzog Leopold erläßt am 2. Juni von Frankfurt aus eine Proklamation, in der er alle Handlungen des »Landesausschusses für nichtig und wirkungslos« erklärt; mit Ausnahme der »Anstifter und Rädelsführer« sagt er allen »Teilnehmern am Hochverrat« völlige Amnestie zu. Am 4. Juni sucht der Großherzog um preußische Hilfe nach, die ihm auch zugesichert wird. Am 12. Juni trifft Prinz Wilhelm von Preußen, der »Kartätschenprinz«, als Oberbefehlshaber aller gegen Baden und die Pfalz anrückenden preußischen Truppen ein. Ihre Stärke beträgt insgesamt 52.000 Mann. Auch die bayerische Regierung ergreift am 10. Juni rigorose Maßnahmen: sie löst die Kammer der Abgeordneten auf und entsendet ein Armeekorps nach der Pfalz. Ein anderes Armeekorps hat die Regierung bereits zur Niederschlagung eines etwaigen Aufruhrs in Franken oder Schwaben zwischen Nürnberg und Bamberg stationiert.
Die Revolutionsarmee Badens zögert mit dem Angriff. Aber der Prinz von Preußen marschiert bereits am 12. Juni in Mainz ein und befiehlt den weiteren Vormarsch. Es finden heftige Gefechte statt, der Vormarsch der Preußen wird teilweise aufgehalten, bei Waghäusel leistet die Revolutionsarmee unter Mieroslawski heldenhaften Widerstand, aber an der Murg werden die badischen Truppen zurückgedrängt, Karlsruhe fällt am 25. Juni, und die Reste der Armee schlagen sich nach Rastatt durch, von wo die Revolution in Baden ihren Ausgang fand.
Inzwischen ist auch das Schicksal der Frankfurter Nationalversammlung besiegelt. Zwischen dem 14. und dem 23. Mai rufen die preußische, die sächsische und andere Regierungen ihre Deputierten aus Frankfurt ab. Am 21. Mai erklärt der Rest der erbkaiserlichen Partei – neunzig Abgeordnete – seinen Austritt aus der Nationalversammlung. Am 30. Mai beschließt das Restparlament, seine Sitzungen nach Stuttgart zu verlegen. Am 6. Juni tagt die Linke – 104 Abgeordnete – zum erstenmal in der württembergischen Hauptstadt und errichtet eine »Reichsregentschaft«. Aber am 18. Juni wird sie durch Militär am Zusammentritt gehindert. Damit ist die einst so glanzvoll begonnene »Wiedergeburt Deutschlands im Zeichen der Demokratie« schmählich beendet.
Die Belagerten in der Festung Rastatt halten sich 23 Tage lang. Am Nachmittag des 23. Juni ziehen 5600 Mann in die Gefangenschaft, werfen die Gewehre zusammen, schnallen den Degen ab.
Die Entwaffneten müssen in die Kasematten marschieren, die Türen werden verriegelt, 24 Stunden gibt man den Eingesperrten weder Wasser noch Brot. Die Kriegsgerichte beginnen sofort ihre Tätigkeit; nach kurzer Frist werden 19 Männer erschossen. Ihre Namen: Tiedemann, Böning, Heilig, Bauer, Bernigau, von Biedenfeld, Counis, Gerhard, Güntard, Jacobi, Jäger, Janssen, Kilmarx, Kohlenbecker, Lenzinger, Miewski, Schade, Schrader, Zenthofer. 21 Gefangene werden zum Tode verurteilt und dann zu hohen Zuchthausstrafen begnadigt.
In Frankfurt wird der junge Max Dortu zum Tode verurteilt. Er hatte am 18. März auf den Barrikaden in Berlin gekämpft und jetzt die Volkswehr in Freiburg kommandiert. Seine letzten Worte: »Ich sterbe voller Freude und Mut, weil ich für die Befreiung des Volkes gekämpft habe; schießt gut, Brüder!«
In Mannheim wird am 14. August der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung und Zivilkommissar von Mannheim, August Trützschler, wegen Hochverrats erschossen.
In Freiburg wird der 28jährige hochbegabte Friedrich Neff erschossen, und am 17. August tötet man Karl Höfer in Mannheim »wegen Widerstandes gegen die bewaffnete Macht«.
Noch viele müssen sterben, und viele Hunderte werden für lange Zeit in die Kerker geworfen. Aufrecht sterben die zum Tode Verurteilten: keiner bittet um Gnade, und niemand erkennt das Recht des Siegers an. Tausende gehen in die Emigration. Der große Aufstand des deutschen Volkes endet mit einer Niederlage. Es wird 70 Jahre dauern, bis sich das Volk wieder erhebt und versucht, Demokratie und Freiheit zu erkämpfen.
Chronik 1850–1866
Bismarcks Revolution von oben. 1866
1850 11. März: Preußen erläßt ein Versammlungs- und Vereinsgesetz, das alle politischen Vereine unter strengste polizeiliche Kontrolle stellt. In Verfolgung dieses Gesetzes werden fast alle Arbeitervereine aufgelöst.
3. Juni: Durch einen Staatsstreich in Sachsen werden die alten Stände reaktiviert; die Verfassung von 1831 wird wieder in Kraft gesetzt.
4. Juli: Verbot aller Arbeitervereine im Königreich Sachsen.
7. November: Durch einen Staatsstreich stellt der König von Württemberg die vormärzlichen Verfassungszustände wieder her.
1851 Ende März: Auf Initiative des Berliner Polizeipräsidenten wird zur wirksameren Überwachung der Arbeitervereine und der demokratischen Bewegung ein gesamtdeutscher Polizeiverein gegründet.
1852 4. Oktober–12. November: Die preußische Justiz verurteilt auf Grund gefälschten Anklagematerials 7 Arbeiterführer zu je 3 bis 6 Jahren Gefängnis.
1953 29. März: Nach der Aufdeckung einer von der preußischen Geheimpolizei provozierten Verschwörung gegen die Staatsordnung werden in Berlin zahlreiche bürgerliche Demokraten verhaftet und abgeurteilt.
1854 13. Juli: Der Bundestag erläßt ein Vereinsgesetz, das alle deutschen Regierungen verpflichtet, Arbeitervereine, die politische Ziele verfolgen, binnen 2 Monaten aufzulösen.
1857 April: Eine durch Preissteigerungen ausgelöste Streikwelle ergreift ganz Deutschland. 1857 finden etwa 70 Streiks statt gegenüber etwa 40 Streiks in den Jahren 1850 bis 1856.
1858 7. Oktober: Prinz Wilhelm von Preußen übernimmt für seinen geisteskranken Bruder König Friedrich Wilhelm iv. die Regentschaft.
1859 11. Juni: Karl Marx’ Werk »Zur Kritik der politischen Ökonomie« erscheint in Berlin. Es analysiert das Wesen der Ware und untersucht Ursprung und Funktion des Geldes.
1862 16. Januar: Der König von Preußen unterzeichnet einen geheimen militärischen Operationsplan für den Fall eines Staatsstreiches.
Juli-August: Ferdinand Lassalle besucht in London Marx, der jedoch Lassalles idealistische Anschauungen und sein reformistisches Programm ablehnt.
23. September: Das preußische Abgeordnetenhaus streicht mit großer Mehrheit aus dem Entwurf des Staatshaushaltsplanes alle Ausgaben für die Heeresreorganisation. Das konservative Herrenhaus stellt sich hinter die Regierungsvorlage. Damit ist der Verfassungskonflikt eingetreten: eine Machtprobezwischen Regierung und Parlament und zwischen Junkern und liberalem Bürgertum.
24. September: Bismarck wird zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt; am 8. Oktober übernimmt er auch das Außenministerium.
30. September: Vor der Budgetkommission spricht Bismarck seine Entschlossenheit aus, gegen die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses und ohne Budget zu regieren: »Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht … nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.«
4. Oktober: Beginn des »Kölner Kommunistenprozesses«, der über einen Monat dauert und in dem trotz offenkundiger Beweise der Unschuld der Angeklagten 14 Jahre Festungshaft ausgesprochen werden. Karl Marx war unermüdlich tätig, die Lügen der Polizei aufzudecken.
2. November: Leipziger Arbeitervertreter erklären auf einer Berliner Versammlung ihre Entschlossenheit, die bürgerlichliberale Opposition im Kampf gegen die preußische Reaktion »energisch zu unterstützen«. Das Leipziger Komitee wird mit der Vorbereitung eines Arbeiterkongresses beauftragt.
Mitte November: Aufruf des Leipziger Zentralkomitees, durch Bildung von Lokalkomitees, Einberufung von Arbeiterversammlungen und Einrichtung von Kassen den für das Frühjahr 1863 geplanten Arbeiterkongreß vorzubereiten.
10. Dezember: In einem Erlaß des preußischen Innenministeriums wird von den Staatsbeamten gefordert, die politischen Positionen der Krone zu unterstützen. Auf Grund dieses Erlasses werden bis 1866 etwa 1000 verfassungstreue Beamte und Richter gemaßregelt.
1863 Februar-März: Das Leipziger Zentralkomitee fordert Lassalle auf, seine Ansichten über die Arbeiterbewegung öffentlich auszusprechen. Lassalle verlangt eine selbständige Arbeiterorganisation und politische Betätigung der Arbeiter.
1863 12.–13, Mai: Ferdinand Lassalle beginnt mit Bismarck geheime Gespräche über die Oktroyierung eines allgemeinen Wahlrechts, da er glaubt, den Verfassungskonilikt in Preußen dafür ausnutzen zu können.
23. Mai: Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Leipzig. Lassalle wird auf 5 Jahre zum Präsidenten gewählt.
1864 28. September: Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation, später die 1. Internationale genannt. Sie soll »die Voraussetzungen für die Bildung von Arbeiterparteien in den einzelnen Ländern schaffen«. Marx wird ihr führender Kopf.
1865 27. März–6. Juni: Streik der Leipziger Buchdrucker, der von Arbeitern aus über 100 Orten Deutschlands unterstützt wird.
16. April: Beginn des Streiks der Tuchmacher in Burg bei Magdeburg. Gegen 247 Streikende wird Anklage erhoben.
1865 finden in Deutschland etwa 150 Streiks statt, mit der Forderung nach Lohnerhöhung und Koalitionsfreiheit.
1866 Mitte April: Beginn von Massenversammlungen mit Antikriegsdemonstrationen. Die revolutionäre Krise in Deutschland erreicht ihren Höhepunkt, bleibt jedoch zersplittert, da eine festorganisierte demokratische Partei fehlt.
28. April: Eine hauptsächlich von Arbeitern besuchte Volksversammlung in Dresden fordert Volkbewaffnung, allgemeines Wahlrecht und Einführung der Reichsverfassung von 1849.
8. Mai: Auf einer Massenversammlung mit 5000 Teilnehmern in Leipzig fordert August Bebel ein konstituierendes Parlament, Volkswehr und Volkserhebung gegen Preußen bei Ausbruch eines Bürgerkrieges.
5. Juni: Bismarck erteilt den preußischen Truppen den Befehl, in das von Österreich verwaltete Holstein einzumarschieren.
21. Juni: Kriegserklärung Preußens an Österreich.
16. August: Preußen annektiert Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt.
Bismarcks Revolution von oben.
1866
Nach der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866, in der die preußischen Armeen über das Heer Österreichs den Sieg davontrugen, wurden bereits wenige Wochen später, am 26. Juli, im Vorfrieden von Nikolsburg die Friedensbedingungen festgelegt, die am 23. August in Prag bestätigt wurden: der Deutsche Bundestag wurde für aufgelöst erklärt; an einem neuen Bund der deutschen Staaten sollte sich Österreich nicht mehr beteiligen. Österreich mußte ferner die Annexion folgender Gebiete durch Preußen anerkennen: Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und die Freie Stadt Frankfurt. Außerdem hatte sich Preußen das Recht zur Gründung des Norddeutschen Bundes vorbehalten. Damit vergrößerte Preußen mit einem Federstrich seine Bevölkerungszahl auf 20 Millionen! Mit den süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden schloß Preußen im Laufe des August, nachdem es zuerst noch Kriegskontributionen von ihnen kassiert hatte, Schutz- und Trutzbündnisse ab, die in einem Kriegsfalle die Unterstellung der süddeutschen Truppen unter den preußischen Oberbefehl vorsahen.
Auf diese Weise hatte Preußen den großdeutschen Traum des Revolutionsjahres 1848/49 von der Einheit eines deutschen Reiches nach seinen machtpolitischen Wünschen korrigiert und nach seinem Zuschnitt Wirklichkeit werden lassen. Die Völker mußten dafür ihr Blut anstatt auf den Barrikaden auf den Schlachtfeldern der Mächte opfern.
Bismarck verlor keine Zeit, nach den Friedens- und Bündnisverträgen mit der eigenen Bourgeoisie Frieden zu schließen und den fünfjährigen Verfassungskonflikt, der sich an dem durch den König verweigerten Budgetrecht des Parlamentes entzündet hatte, aus der Welt zu schaffen. In der sogenannten Indemnitätsvorlage suchte die Regierung beim Parlament um nachträgliche Genehmigung der während der budgetlosen Zeit des Verfassungskonfliktes gemachten Ausgaben nach. Bemerkenswert ist der Hochmut, mit dem Bismarck vor dem Preußischen Hause der Abgeordneten am 1. September 1866 den Antrag vertritt: »… Wir wünschen den Frieden, weil unserer Meinung nach das Vaterland ihn im gegenwärtigen Augenblicke in höherem Grade bedarf als früher; wir wünschen ihn und suchen ihn namentlich deshalb, weil wir glauben, ihn im gegenwärtigen Moment zu finden; wir hätten ihn früher gesucht, wenn wir früher hätten hoffen können, ihn zu finden; wir glauben ihn zu finden, weil Sie erkannt haben werden, daß die königliche Regierung den Aufgaben, welche auch Sie in ihrer Mehrzahl erstreben, nicht so fern steht, wie Sie vielleicht vor Jahren gedacht haben, nicht so fern steht, wie das Schweigen der Regierung über manches, was verschwiegen werden mußte, Sie zu glauben berechtigen konnte … Wenn man oft gesagt hat: ›Was das Schwert gewonnen hat, hat die Feder verdorben‹, so habe ich das volle Vertrauen, daß wir nicht hören werden: ›Was Schwert und Feder gewonnen haben, ist von dieser Tribüne vernichtet worden!‹«
Während Bismarck in strahlend weißer Galauniform, flankiert vom Kriegsminister Roon und dem Generalstabschef Moltke, dem Parlament das entsprechende Gesetz vorlegt, zieht die siegreiche preußische Armee in Berlin ein.
Das Parlament, noch betäubt von Artilleriesalut, Glockenläuten und Militärmusik, stimmte mit Mehrheit dem Annexionsgesetz und dem Indemnitätsgesetz zu. Selbst gute Demokraten vergessen ihre demokratischen Rechte, die sie vier Jahre standhaft verteidigt haben, und die Legitimisten werfen ihr legitimistisches Staatsidol von 1848 über Bord.
Aber das ist erst der Beginn der Bismarckschen Revolution von oben. In einem zweiten Akt schiebt er den altersschwachen Bundestag beiseite, der für die Durchsetzung der preußischen Hegemonialwünsche und die Vorstellungen der Bourgeoisie über eine zukünftige Wirtschaftsentwicklung unbrauchbar geworden ist.
Bismarck knetet aus den Ländern nördlich des Mains den »Norddeutschen Bund«; er umfaßt außer den Ländern, die jetzt Preußen bilden, das nördliche Großherzogtum Hessen, die freien Hansestädte und das Königreich Sachsen.
Bismarck läßt durch seinen Intimus Lothar Bücher eine Verfassung zurechtschneidern, wozu dieser die Verfassung der Nationalversammlung von 1849 und die der Vereinigten Staaten von Amerika als Material benutzt. Mit dem durch die neue Verfassung geschaffenen Gebilde kommt Bismarck den sozialökonomischen Wünschen der Bourgeoisie entgegen, die sich nicht mit dem Proletariat verbünden will, um jene historisch fällige demokratische Revolution durchzuführen, die ihr die politische Priorität gegenüber dem grundbesitzenden Adel und der Übermacht des Militärs garantieren würde. Die deutsche Bourgeoisie läßt sich ihre politische Verantwortung abkaufen und verrät damit die bürgerlichdemokratische Revolution an den Diktator Bismarck. Das Proletariat bleibt in diesem Gefüge heimatlos, geschichtlich dazu bestimmt, eines Tages die Herrschaft Bismarcks zu stürzen und die demokratische Revolution allein durchzuführen.
Chronik 1867–1917
Aufstandsversuch der Matrosen. Juli/August 1917
1867 14. September: Karl Marx veröffentlicht in Hamburg den ersten Band seines Hauptwerkes »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«.
1868 Februar-Herbst: Wachsende Streikbewegung der Arbeiter um höhere Löhne und Arbeitszeitverkürzung. Zentren der Streikbewegung sind Berlin, Wuppertal, das Königreich Hannover, Essen und Südwestdeutschland.
27. Oktober: Die Sozialisten August Bebel und Wilhelm Liebknecht rufen auf einer Arbeiterversammlung in Leipzig zur Gründung einheitlicher Gewerkschaftsorganisationen auf. Vier Wochen später werden acht Berufsgewerkschaften gegründet, die sich ein Jahr später zu gesamtnationalen Organisationen zusammenschließen.
1869 April-Mai: Streik von 1800 Zimmerleuten in Berlin. Streikkämpfe in anderen Städten schließen sich an.
29. Mai: Der Norddeutsche Reichstag nimmt die Gewerbeordnung an, die den Arbeitern das Koalitions- und Streikrecht einräumt.
Juli: Großer Berliner Maurerstreik, dem zahlreiche Streiks in der Metallindustrie folgen. Die Streikbewegung erreicht einen neuen Höhepunkt mit etwa 130 Streiks im Jahre 1869.
7.–9. August: Unter Führung von August Bebel wird die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Eisenach gegründet. Das Programm tritt ein für die Abschaffung aller Klassenherrschaft und fordert die »politische Befreiung als Voraussetzung der ökonomischen Befreiung« der Arbeiter und den Kampf für die Republik.
1870 1. Dezember–24. Januar: Bergarbeiterstreik in Waldenburg in Schlesien, der mit etwa 8000 Streikenden der bisher größte deutsche Streik ist. Er muß jedoch ohne Erfolg abgebrochen werden.
19. Juli: Französische Kriegserklärung an den »Norddeutschen Bund«. In Deutschland entsteht eine nationale Bewegung. August Bebel und Wilhelm Liebknecht enthalten sich als einzige Abgeordnete im Norddeutschen Reichstag bei der Abstimmung über die Kriegskredite der Stimme.
4. September: Das bonapartistische Kaiserreich wird durch einen Volksaufstand in Paris gestürzt und die Republik ausgerufen.
9. September: Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei tritt für einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich ein. In diesem Zusammenhang wird der Braunschweiger Parteiausschuß verhaftet; die Gefangenen werden in Ketten auf die Festung Lötzen gebracht.
1871 Begünstigt durch die Aufhebung des Konzessionszwanges für Aktiengesellschaften und die Kriegskontributionen entstehen in Deutschland innerhalb eines Jahres 207 neue Aktiengesellschaften mit einem Kapital von 757 Millionen Mark Es werden außerdem 17 bedeutende Handels- und Discontobanken mit einem Gesamtkapital von 108 Millionen Mark gegründet.
18. Januar: Im Schloß zu Versailles wird König Wilhelm i. von Preußen zum Deutschen Kaiser proklamiert.
10. Mai: Mit der Unterzeichnung des Frankfurter Friedensvertrages wird der deutschfranzösische Krieg beendet und damit eine neue Periode der internationalen Beziehungen und der europäischen Politik eingeleitet.
25. Mai: August Bebel legt im Reichstag ein Bekenntnis zur Pariser Kommune ab und erklärt, der Kampfruf der Pariser Arbeiter »Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggang« werde zur Parole des gesamten europäischen Proletariats werden.
16. Juli–27. August: Erfolgreicher Streik von weit über 4000 Berliner Maurern um Lohnerhöhung und Zehnstundentag.
29. Oktober-Mitte November: Etwa 8000 Chemnitzer Metallarbeiter streiken für Zehnstundentag und Lohnerhöhung unter Führung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Trotz einer Teilniederlage wächst der Einfluß der Partei und der Gewerkschaften.
1872 11.–27. März: Die Führer der Sozialdemokratie August Bebel und Wilhelm Liebknecht werden wegen ihres Verhaltens im deutschfranzösischen Krieg und ihres Eintretens für die Pariser Kommune als Hochverräter zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt.
17. Juni–28. Juli: 20000 Ruhrbergarbeiter streiken erfolglos für Lohnerhöhung und Achtstundenschicht.
26.–28. Juli: Aus Aktionen gegen das Wohnungselend in Berlin – ein Zehntel aller Wohnungen befindet sich in Kellern – entwickeln sich Straßenschlachten mit der Polizei. Aus ähnlichen Aktionen entstehen 1871 der »Butterkrawall« in Nürnberg, Braunschweig und Wolfenbüttel und 1872 in Halberstadt und 1872/73 die »Bierkrawalle« in Würzburg, Frankfurt am Main und Mannheim.
2.–7. September: Auf dem Kongreß der 1. Internationale in Den Haag werden die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und die Notwendigkeit der Schaffung selbständiger politischer Arbeiterparteien als programmatische Leitsätze anerkannt.
1873 1. Februar: Auf den Streik von 400 Leipziger Buchdruckern antworten die Unternehmer ganz Deutschlands mit Aussperrung, erleiden aber eine völlige Niederlage. Der Abschluß des ersten deutschen Reichstarifvertrages wird erzwungen.
1.–9. Mai: Unter Führung Bismarcks beschließt der preußische Landtag die sogenannten »Maigesetze«, die gegen den Einfluß der katholischen Kirche und gegen die Politik der katholischen Zentrumspartei gerichtet sind. Die Bischöfe erkennen diese Gesetze nicht an. Im sogenannten »Kulturkampf«, der sich bis zum Jahre 1886 hinzieht, geht die Regierung Bismarck mit diktatorischen und brutalen Maßnahmen gegen Priester und Gläubige vor.
1874 25. Juni: Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein wird durch das Berliner Stadtgericht verboten. Das endgültige Verbot für Preußen erfolgt am 16. März 1875.
1875 14.–15. Februar: Auf einer Vorkonferenz zwischen Vertretern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Allgemeinen Deutschen Arbeitervereinigung in Gotha werden die Entwürfe für Programm und Statut einer Einheitspartei ausgearbeitet.
1. April: Der Arbeiterführer August Bebel wird nach einunddreißigmonatiger Festungs- und Gefängnishaft entlassen.
22.–27. Mai: Der Vereinigungskongreß der sdap und des adav in Gotha beschließt die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Der Kampf der Arbeiterorganisationen untereinander ist damit zunächst überwunden.
1876 Ende März: Staatliche Maßnahmen gegen die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands häufen sich und führen zum Verbot von zentralen und lokalen Vereinen, von Versammlungen und Zeitungen und zu Verhaftungen von Redakteuren.
1877 10. Januar: Die Sozialistische Arbeiterpartei erreicht im Reichstag 12 Sitze. Danach beginnt eine Kampagne in der Presse aller übrigen Parteien, die ein Ausnahmegesetz fordert.
1878 Februar: Die deutschen Gewerkschaften verfügen über 36 Verbände mit etwa 50.000 Mitgliedern in etwa 1300 Ortsvereinen.
2. Juni: Das Attentat des geisteskranken und keiner Parteiangehörigen Nobiling auf Kaiser Wilhelm i. gibt Bismarck die Möglichkeit, die Regierung und alle bürgerlichen Parteien zu einer zügellosen Hetze gegen die Sozialdemokratie zu veranlassen und den Reichstag aufzulösen.
30. Juli: Trotz der Pogromhetze erreichen die Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen, den sogenannten »Attentatswahlen«, 9 Sitze.
September-Oktober: Der Reichstag beschließt das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« (Sozialistengesetz). Parteiorganisationen und Gewerkschaften werden verboten, desgleichen Zeitungen und Druckschriften sowie Versammlungen und andere öffentliche Veranstaltungen mit sozialdemokratischer Tendenz; die Teilnahme wird mit Geld- oder Gefängnisstrafen oder meist Ausweisungen geahndet. Die Polizeivollmachten werden wesentlich erweitert.
28. November: Über Berlin, Charlottenburg, Potsdam, Teltow, Niederbarnim und Osthavelland wird der »Kleine Belagerungszustand« verhängt. 67 führende Sozialdemokraten werden aus Berlin ausgewiesen.
1879 28. September: Die erste Nummer der Zeitung »Sozialdemokrat« erscheint in Zürich. Wöchentlich werden bis zu 11.000 Exemplare illegal in Deutschland verbreitet.
1880 28. Oktober: Der »Kleine Belagerungszustand« wird über Hamburg verhängt. 75 aktive Sozialdemokraten werden ausgewiesen.
1881 27. Juni: Auch über Leipzig und Umgebung wird der »Kleine Belagerungszustand« verhängt. Bebel, W. Liebknecht und andere Sozialdemokraten werden aus Leipzig ausgewiesen.
27. Oktober: Trotz dreijähriger Verfolgung erringt die Sozialistische Arbeiterpartei bei den Reichstagswahlen wieder 12 Sitze.
1883 14. März: Tod von Karl Marx.
1883 29. MäRz–2. April: Die deutsche Sozialdemokratie hält ihren Parteikongreß in Kopenhagen ab.
7. Juli: In Stuttgart beginnen Aussperrung und Streik der Tischler, der nach Wochen Erfolg hat.
Oktober: Das provozierende Auftreten preußischer Offiziere in Oldenburg löst antimilitaristische Demonstrationen aus, die durch Einsatz von Truppen niedergeschlagen werden.
1884 28. Oktober: Die deutschen Sozialdemokraten erringen bei den Reichstagswahlen eine Verdoppelung ihrer bisherigen Sitze und ziehen mit 24 Abgeordneten in den Reichstag ein.
1885 Juni-August: Erfolgreicher Streik der 12000 Berliner Maurer um 50 Pfennig Stundenlohn und die Neunundfünfzigstundenwoche.
1888 28. April–31. Juli: In Hamburg streiken etwa 1400 Tischler, sie wollen Lohnerhöhung und neuneinhalbstündigen Arbeitstag.
1889 1. Januar-April (1890): Es finden über 1000 Streiks mit insgesamt 194000 Streikenden statt.
3. Mai–6. Juni: Der Streik der Bergarbeiter mit 150000 Streikenden ist der größte im 19. Jahrhundert. Die Bergarbeiter fordern unter anderem Achtstundenschicht, fünfzehnprozentige Lohnerhöhung und Verbesserung der Arbeitszeitbedingungen. Auf Forderung der Unternehmer werden im Ruhrgebiet acht Kavallerie-Eskadrone gegen die Streikenden eingesetzt. Vertreter der Streikleitung tragen Kaiser Wilhelm ii. ihre Forderungen vor und erreichen von den Unternehmern Zugeständnisse. Der Bergarbeiterstreik verschärft die Krisis des Bismarckschen Systems und trägt zu seinem Sturz bei.
14.–21. Juli: Gründung der 11. Internationale auf dem Internationalen Arbeiterkongreß in Paris. Der Kongreß vereinigt sozialistische Partei- und Gewerkschaftsdelegierte aus über 20 Ländern. Als Ziele werden u.a. genannt: Bildung und Stärkung politischer und gewerkschaftlicher Massenorganisationen und der Kampf um demokratische Rechte.
1890 25. Januar: Mit 169 gegen 98 Stimmen wird die Verlängerung des Sozialistengesetzes vom Reichstag abgelehnt.
20. Februar: Aus den Reichstagswahlen geht die deutsche Sozialdemokratie mit 1427000 Wählern als größte Partei in Deutschland hervor.
20. März: Sturz Bismarcks.
1. Mai: Erste Maikundgebung, an der sich in Deutschland, trotz noch gültigem Sozialistengesetz, etwa 100.000 Arbeiter beteiligen.
1. Mai-Spätsommer: Durch Aussperrung von etwa 20000 Arbeitern, die am 1. Mai in Hamburg die Arbeit niederlegten, kommt es zu den sogenannten »Maikämpfen«.
30. September: Das Sozialistengesetz tritt außer Kraft. Große Kundgebungen.
12.–18. Oktober: Der erste Parteitag der deutschen Sozialdemokratie nach dem Fall des Sozialistengesetzes in Halle. Vorbereitungen für ein neues Parteiprogramm. Die Partei erhält den Namen »Sozialdemokratische Partei Deutschlands«.
24. November–13. März (1891): Aussperrung und Streik von über 3000 Hamburger Tabakarbeitern.
1891 5. Juni: In acht großen Berliner Protestversammlungen und in über 400 Arbeiterversammlungen im Reichsgebiet unter dem Motto »Gegen Getreidezölle – für billiges Brot« wird eine große Protestkampagne gegen die Lebensmittelverteuerung eingeleitet.
14.–20. Oktober: Der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Erfurt nimmt ein neues Parteiprogramm an. In einer Resolution von Bebel heißt es, »daß die Eroberung der politischen Macht das erste Hauptziel ist, nach der jede klassenbewußte Proletarierbewegung streben muß«.
8. November–14. Januar (1892): Erfolgloser Streik von etwa 10000 Buchdruckern um Neunstundentag und Lohnerhöhung.
23. November: Kaiser Wilhelm ii. erklärt bei einer Rekrutenvereidigung in Potsdam: »Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, daß Ich Euch befehle, Eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen …, aber auch dann müßt Ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen.«
1892 Auf dem 1. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands in Halberstadt vertreten 208 Delegierte 303519 Gewerkschaftsmitglieder.
1893 15. Juni: Die Reichstagswahlen bringen der Sozialdemokratischen Partei mit 1786000 Stimmen erneut die meisten Wähler.
1894 6. September: Kaiser Wilhelm ii. kündigt in einer Rede »gegen die Parteien des Umsturzes« eine innenpolitische Kursänderung an.
6. Dezember: Dem Reichstag wird die »Umsturzvorlage« zugestellt. »Aufreizung zum Klassenhaß« und »Angriffe gegen Religion, Ruhe, Familie und Eigentum« sollen zu strafbaren Delikten erklärt werden. Die Vorlage wird in zweiter Lesung abgelehnt.
1895 14.–17. August: In einem Prozeß in Essen werden Führer des Bergarbeiterverbandes zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt, wobei Meineide als Beweismittel dienen.
29. November: Nach Haussuchungen erfolgt auf Veranlassung des preußischen Innenministers das Verbot des sozialdemokratischen Parteivorstandes, der Berliner Preß- und Lokalkommission und anderer Organisationen.
1896 5. Februar: Am erfolgreichen Konfektionsarbeiterstreik in Berlin und anderen Orten beteiligen sich zum erstenmal in großem Umfang Arbeiterinnen.
21. November–6. Februar (1897): Gegen den Streik von 18000 Hamburger Hafenarbeitern und Seeleuten wird mit Verhaftungen, drakonischen Urteilen, schließlich mit Verhängung des »Kleinen Belagerungszustandes« vorgegangen. Doch erst am 6. Februar wird der Streik abgebrochen.
1898–1900 In dieser Zeit finden 2813 Arbeitskämpfe mit 276652 Beteiligten statt.
1899 20. Juni: Im Reichstag wird ein Gesetzentwurf »zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse« eingebracht, nach dem auf Streik Zuchthausstrafen stehen, was faktisch eine Aufhebung des Koalitionsrechtes bedeutet.
20. November: Diese Vorlage, auch »Zuchthausvorlage« genannt, wird gegen die Stimmen der Rechtsparteien abgelehnt.
1900 Ende Juni–24. September: Der Streik der Hamburger Werftarbeiter um Lohnerhöhung und Anerkennung ihrer Gewerkschaftsorganisation endet mit einem Teilerfolg.
1903 7. August–17. Januar (1904): In Crimmitschau streiken 9000 Textilindustriearbeiter. Der Staat verhängt den »Kleinen Belagerungszustand«. Der Deutsche Textilarbeiterverband bricht schließlich den Streik ab. Die Arbeitgeberverbände schließen sich zu zwei Dachverbänden zusammen.
1904 12. Januar: Beginn des Aufstandes der Hereros in Südwestafrika gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Als einzige Partei fordert die Sozialdemokratie die Beendigung des Kolonialkrieges und verweigert alle Mittel. Der Aufstand endet mit der fast vollständigen Vernichtung des Hererovolkes. Vom Hottentottenvolk überlebt nur etwa die Hälfte.
1905: Es finden 2323 Arbeitskämpfe mit 507964 Beteiligten statt. Die Zahl der Kampftage beträgt 7362802. Die Zahl der Beteiligten ist höher als in den Jahren von 1900 bis 1904. Der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands gehören 64 Zentralverbände mit 1344803 Mitgliedern an. Die christlichen Gewerkschaften zählen 265032 und der Verband der deutschen Gewerkvereine 117077 Mitglieder.
7. Januar–19. Februar: Streik von 215000 Ruhrbergarbeitern für bessere Arbeitsbedingungen. Solidaritätsstreiks in Schlesien, im Rheinland und in Belgien.
19. September-Mitte Oktober: Zwei kleine Streiks bei den Firmen aeg und Siemens &. Halske um Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung weiten sich zu einem großen aus, an dem sich 40000 Arbeiter beteiligen. Die Regierung setzt als Streikbrecher Eisenbahner und Feuerwehr und schließlich Militär ein.
1906 17. Januar: Seit November 1905 Proteste gegen die geplante Wahlrechtsverschlechterung durch den Hamburger Senat. Am Tage der Beratung dieses Wahlgesetzentwurfs legen rund 100000 Arbeiter die Arbeit nieder: es ist der erste politische Massenstreik in Deutschland.
Ende März–27. Mai: Ein Streik im sächsischthüringischen Braunkohlenrevier endet mit einem Teilerfolg: neunstündige Arbeitszeit und Lohnerhöhung.
März–Juni: Metallarbeiterstreik in Breslau. Es kommt zu-Zusammenstößen mit der Polizei. 38 Arbeiter werden vor Gericht gestellt und zu Freiheitsstrafen verurteilt.
November: Als die preußische Regierung auch für das Unterrichtsfach Religion die polnische Sprache verbietet, schweigen die Kinder oder antworten demonstrativ in ihrer Muttersprache. Der Schulstreik erfaßt bis zu 100000 Schüler in den von Preußen beherrschten Gebieten mit polnischer Bevölkerung. Es kommt zu Kundgebungen und Demonstrationen. Die Regierung wendet gegen Kinder und Eltern harte Repressalien an und verhängt zeitweise den Belagerungszustand.
1907 18.–24. August: Der Kongreß der 11. Internationale in Stuttgart beschließt eine Resolution, die die Arbeiter aller Länder dazu verpflichten soll, gegen Militarismus und Kriegsgefahr zu kämpfen. »Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen.«
9.–12. Oktober: Im Hochverratsprozeß vor dem Reichsgericht in Leipzig wird Karl Liebknecht wegen seiner Schrift »Militarismus und Antimilitarismus« zu eineinhalb Jahren Festung verurteilt.
1909 4. Oktober–13. November: Die Maßregelung von Bergarbeitern führt zum Mansfelder Streik, gegen den die Regierung Polizei und Militär einsetzt.
1910 Februar–April: In Berlin und vielen anderen Orten Deutschlands werden Kundgebungen für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen abgehalten, wobei es vielfach zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei kommt.
14.–15. März: Rosa Luxemburg propagiert die Steigerung der Wahlrechtsbewegung zum politischen Massenstreik und fordert das Frauenwahlrecht.
15. April–Ende Juni: Der Streik von 200000 Bauarbeitern in ganz Deutschland erzwingt Koalitionsrecht und Lohnerhöhung.
19. September–18. Oktober: Das Vorgehen der Polizei gegen streikende Kohlenarbeiter in Berlin-Moabit führt zu Demonstrationen und Straßenschlachten, an denen bis zu 30000 Arbeiter teilnehmen. Zwei Arbeiter werden getötet, mehrere hundert verletzt.
Ende Oktober: In Berlin-Wedding kommt es bei einem Proteststreik von Fleischergesellen zu Demonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei.
1912 12. Januar: Bei den Reichstagswahlen erzielt die deutsche Sozialdemokratie nicht nur die meisten Wählerstimmen, sondern mit 110 Abgeordneten auch die größte Fraktionsstärke.
11.–19. März: 250000 Ruhrbergarbeiter streiken für Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhung und Verbesserung der Arbeitsverhältnisse. Mehrere tausend Polizisten und starke Militäreinheiten gehen gegen die Streikenden vor: vier Arbeiter werden getötet und Hunderte verletzt. Viele werden zu Freiheitsstrafen verurteilt.
1913 Ende April-Mitte Mai: Erfolgloser Streik von 70000 oberschlesischen Bergarbeitern für Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung.
14. Juli-Mitte August: 40000 Werftarbeiter in Hamburg, Bremen und anderen Orten streiken für Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung. Die Gewerkschaften versagen dem Kampf als »wildem Streik« die Unterstützung und erzwingen die Wiederaufnahme der Arbeit.
28. November: Die Bürger von Zabern im Elsaß, die in Kundgebungen gegen die »Beleidigung elsässischer Soldaten« protestieren, werden auf Befehl des Kommandeurs eines preußischen Regiments von der Straße getrieben, wahllos verhaftet und zum Teil mißhandelt. Die Stadt wird militärisch besetzt. Diese Übergriffe rufen eine große Protestwelle in Deutschland und im Ausland hervor. Ein Kriegsgericht spricht die verantwortlichen Offiziere frei.
1914 9. Januar–16. Juli: Erfolgreicher Streik von 4600 Arbeitern einer Lokomotiv- und Waggonfabrik in Breslau für Lohnerhaltung und Koalitionsrecht.
11. Mai: Bei den Beratungen des Heeresetats im Reichstag spricht Karl Liebknecht von »Kriegsvorbereitungen der Imperialisten« und der internationalen Verflechtung der Rüstungsmonopole.
26.–30. Juli: Nach einem Aufruf des sozialdemokratischen Parteivorstandes finden in fast 60 Städten Deutschlands große Antikriegskundgebungen statt. Es beteiligen sich daran 500000 Menschen.
1. August: Mobilmachung in Frankreich und in Deutschland. Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Rußland. Der deutsche Kaiser proklamiert den »Burgfrieden«: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.« Die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaftsführung willigen in diesen Burgfrieden ein. Alle Streiks seien abzubrechen oder zu unterlassen.
3. August: Deutsche Kriegserklärung an Frankreich.
1915 7. Februar: Karl Liebknecht wird als Armierungssoldat eingezogen und erhält nur für Parlamentssitzungen Urlaub. Außerparlamentarische Betätigung wird ihm verboten.
18. Februar: Rosa Luxemburg muß eine bereits vor dem Kriege verhängte Gefängnishaft vorzeitig antreten.
18. März: Friedenskundgebung von etwa 200 Frauen vor dem Reichstag in Berlin.
9. Juni: Ein von Liebknecht entworfener »offener Brief« an den sozialdemokratischen Parteivorstand fordert diesen auf, entschlossen den Burgfrieden aufzugeben und den »sozialistischen Kampf für den Frieden« zu eröffnen. Das Protestschreiben wird von etwa 1000 Funktionären unterzeichnet und in mehr als 100000 Exemplaren als Flugblatt verteilt. Das Oberkommando in den Marken verfügt die Beschlagnahme und bedroht die Verbreiter mit Gefängnisstrafen.
1915 5.–8. September: Internationale sozialistische Konferenz in Zimmerwald: Vorbereitung einer neuen Internationale.
Mitte November–16. Dezember: In Berlin finden mehrfach Demonstrationen für den Frieden und gegen Lebensmittelwucher statt.
1916 12. Januar: Liebknecht wird aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen.
Februar-März: In vielen Städten und Orten kommt es zu Kundgebungen gegen die steigende Lebensmittelnot.
1. Mai: Von der »Spartakusgruppe« durch Flugblätter und mündliche Agitation organisiert, finden in Berlin, Dresden, Pirna, Stuttgart, Magdeburg, Braunschweig, Kiel, Bremen, Duisburg, Jena und anderen Orten die bisher größten Demonstrationen gegen den Krieg statt.
Mitte Mai: Demonstrationen und Kundgebungen in Leipzig, Braunschweig und Koblenz gegen Hunger, Lebensmittelwucher und Krieg. In Leipzig wird verschärfter Belagerungszustand verhängt.
18. Juni: Lebensmittelunruhen in München.
28. Juni: Vom Berliner Kommandanturgericht wird Liebknecht zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.
27.–30. Juni: Als Protest gegen die Verurteilung Liebknechts kommt es in Berlin, Braunschweig, Bremen und in anderen Städten zu den ersten politischen Streiks während des Krieges. In Berlin streiken 55000 Rüstungsarbeiter für einen Tag.
10. Juli: Nach fünf Monaten Freiheit wird Rosa Luxemburgerneut verhaftet und bis zum 8. November 1918 in »Schutzhaft« gehalten.
August: In allen Teilen Deutschlands finden wegen Verschlechterung der Lebenslage Unruhen, Demonstrationen und Streiks statt. Das Kriegsministerium erläßt »Leitsätze für das Vorgehen der Militärbefehlshaber beim Ausbruch größerer Streiks in der Rüstungsindustrie«.
Winter (1916–1917): In allen Teilen Deutschlands zeigt sich eine wachsende Antikriegsstimmung; es gibt neue Demonstrationen, Streiks und Lebensmittelunruhen.
1917 Ende Februar: Bergarbeiterstreiks in Dortmund und Recklinghausen.
12. März: In Petersburg wird der Zar gestürzt; Rußland wird bürgerliche Republik. An der Ostfront verbrüdern sich russische und deutsche Soldaten.
6.–8. April: In Gotha wird die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (uspd) gegründet. Ihre Mitglieder verurteilen »die Unterstützung des Krieges durch die Führer der Sozialdemokratie«. Von April bis Oktober treten der neuen Partei 170000 Mitglieder bei.
7. April: Erlaß Kaiser Wilhelm ii. die sogenannte Osterbotschaft, in dem für die Zeit nach dem Krieg eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts und Verfassungsänderungen angekündigt werden.
16.–23. April: Große politische Massenstreikbewegung der Rüstungsarbeiter, die in vielen Städten Deutschlands gleichzeitig beginnt. Man hört zum erstenmal die Forderung nach Bildung von Arbeiterräten.
27. April: Der Chef des Kriegsamtes, Generalleutnant Groener, erläßt einen Aufruf, in dem es heißt: »Ein Hundsfott wer streikt, solange unsere Heere vor dem Feinde stehen!«
Juni/Juli: Neue Lebensmittelunruhen, Streiks und Straßendemonstrationen. Am 7. Juli streiken in Köln 12000 Arbeiter. Gestreikt wird auch im Rüstungsgebiet Düsseldorf, Elberfeld, Duisburg und Essen.
Juli/August: Auf mehreren Schiffen der deutschen Kriegsflotte kommt es im Juli zu Hungerstreiks und Gehorsamsverweigerungen. Am 5. September 1917 werden die Matrosen Köbis und Reichpietsch standrechtlich erschossen; Todesurteile gegen drei weitere Matrosen werden in Zuchthausstrafen zu je 15 Jahren umgewandelt. 50 weitere Aufständische erhalten Zuchthausstrafen.
Aufstandsversuch der Matrosen. Juli/August 1917
Sommer 1917. Protest- und Streikbewegungen in ganz Deutschland. Die Forderungen: mehr Lohn, größere Lebensmittelrationen und vor allem Beendigung des Krieges.
In einem Bericht des vii. Armeekorps vom 10. Juli 1917 lesen Kommandeure und Regierungsvertreter, »daß der internationale Radikalismus, angeregt durch die Erfolge der russischen Revolution, eine allgemeine Umwälzung in Europa durch die Erhebung der Arbeiter plant und zielbewußt verfolgt«.
Tatsache ist: der Unwille des Volkes über die Fortführung des Krieges, der entnervende Hunger und die Rechtlosigkeit der Arbeiter, sanktioniert durch die »Burgfriedenspolitik«, ballt sich langsam, aber stetig zu einer wachsenden Kraft zusammen. Sie rüttelt an den Grundfesten des kaiserlichen Regimes.
spd- wie uspd-Führer müssen weiter nach links rücken, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, ihre Gefolgschaft zu verlieren. Der spd-Abgeordnete Scheidemann malt im Reichstag das drohende Gespenst der Revolution an die Wand – wenn die Regierung nicht auf alle Annexionen verzichte.
Am 9. Juli 1917 tagt der Kronrat. In Anwesenheit des Kaisers wird beraten, was man unternehmen könne, um den Druck der Massen zu mildern oder abzufangen und den Krieg fortzusetzen.
Erster Schachzug: Am 11. Juli verkündet der Kaiser aus dem Großen Hauptquartier: »… bestimme Ich hiedurch …, daß der dem Landtage der Monarchie zur Beschlußfassung vorzulegende Gesetzentwurf wegen Abänderung des Wahlrechtes zum (preußischen) Abgeordnetenhaus auf der Grundlage des gleichen Wahlrechts aufzustellen ist …«
Zweiter Schachzug: Entlassung des Reichskanzlers Bethmann Hollweg. Dem Kaiser ist er nicht mehr genehm, den Junkern seit je zuwider, den Alldeutschen zu »schlaff« und dem Reichstag ein Hindernis auf dem Wege der Demokratisierung. Aber der entscheidende Mann ist General Ludendorff. Er schreibt am 12. Juli: »An des Kaisers und Königs Majestät! … Euer Majestät wissen, daß es für mich als verantwortliches Mitglied der Obersten Heeresleitung unmöglich ist, zu dem Herrn Reichskanzler das Vertrauen zu haben, das als Grundlage für eine nützliche Zusammenarbeit zwischen dem Reichskanzler und der Obersten Heeresleitung zur glücklichen Beendigung des Krieges unerläßlich ist, nachdem der Krieg nicht mehr auf rein kriegerischem Gebiete ausgefochten werden kann …«
Und der Generalfeldmarschall von Hindenburg richtet ein Schreiben unter dem gleichen Datum »An des Kaisers und Königs Majestät! Der Kriegsminister teilt mir mit, daß der Reichstag eine Erklärung über ein Friedensangebot beabsichtige, das als Verzichtfrieden aufgefaßt werden könnte. Ich hege gegen eine solche Erklärung die allerschwersten Bedenken … Euer Majestät darf ich in Rücksicht auf das Heer alleruntertänigst bitten, der Reichsleitung aufzugeben, daß sie eine solche Erklärung verhindere …«
Dritter Schachzug: Am 20. Juli stimmen die Mehrheitsparteien im Reichstag einer Resolution zu, die in ihrem ersten Absatz besagt: »Wie am 4. August 1914 gilt für das deutsche Volk an der Schwelle des vierten Kriegsjahres das Wort der Thronrede: Uns treibt nicht Eroberungssucht. Zur Verteidigung seiner Freiheit und Selbständigkeit und für die Verteidigung seines territorialen Besitzstandes ergriff Deutschland die Waffen. Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Verständigung und dauernden Versöhnung der Völker. Mit einem solchen Frieden sind erzwungene Gebietsabtretungen, politische und wirtschaftliche und finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar …« Am Horizont zieht die Fata Morgana der »Stockholmer Friedenskonferenz« auf, die Zusammenkunft sozialistischer Parteien Europas, von der viele glauben, sie könne, ein Allheilmittel, den Völkern die eigene Anstrengung zum Frieden ersparen.
Der Sozialdemokrat Scheidemann indessen erklärt, worauf es ankäme, sei »die Stellungnahme des Kaisers, angesichts der großen Macht, die er nun einmal hat«.
Doch dem Kaiser fällt nicht mehr ein, als einen Dr. Michaelis, den er gar nicht kennt, zum Reichskanzler zu ernennen, nur weil er ihm von der Obersten Heeresleitung vorgeschlagen wird.
Der Krieg geht weiter. Weiter verbluten die Soldaten. Und weiter hungern ihre Familien.
In den »Spartakusbriefen« Nr. 6 vom August 1917 steht: »Preußen-Deutschland hat vor kurzem eine Krise durchgemacht. Ein großes Rauschen im bürgerlichen und regierungssozialistischen Blätterwald, ein geheimnisvolles Munkeln in parlamentarischen Kreisen, ein geschäftiges Hin- und Herlaufen der Reichstagsabgeordneten verkündete der erstaunten Welt, daß gewaltige Dinge am Werke seien: ein parlamentarisches System für das Deutsche Reich, allgemeines gleiches Wahlrecht für Preußen, eine offene Absage an alle annektionistischen Absichten, eine gründliche Erneuerung des Regierungspersonals vom Reichskanzler bis zum Laufburschen im preußischen Polizeiministerium herab – alles dies und noch einiges Schöne mehr …
In der Wandelhalle des Reichstags war es, wo der unerhörteste Umsturz der Weltgeschichte eingefädelt ward, und das Zaubermittel, das ihn zur Durchführung bringen sollte, war ein Rütlischwur von vier Parteien des Reichstages: Zentrum, Fortschrittlern, Nationalliberalen und Regierungssozialisten.
Das alte Wort der offiziellen deutschen Sozialdemokratie schien leibhaftig in Erfüllung zu gehen: was die barbarischen Russen mit einer Revolution, mit Schüssen, Gepolter, Demolierungen, Blutvergießen und ähnlichen rückständigen Mitteln erreichen, das erreicht man in Deutschland auf parlamentarischem Wege …
Der ›Umsturz‹ endete schon nach einer Woche wie eine schlechte Farce, in der die Schauspieler schon nach dem ersten Akt aufhören, sich selbst ernst zu nehmen … Die preußische Reaktion brauchte wie immer nur aufzutrumpfen, fest im Gefühl ihrer Überlegenheit, und der ganze ›Umsturz‹ ist auf einmal unter den Händen zerronnen … Was ist eigentlich geschehen – so muß vor allem gefragt werden –, daß dieser ganze Sturm im Glase Wasser ausgebrochen war? … Daß der Krieg keine Erfüllung der Weltmachtspläne des deutschen Imperialismus bringen wird, dies ist jetzt sowohl den militärischen Machthabern wie dem gesamten Bürgertum, ausgenommen ein paar alldeutsche Schreier, vollkommen klar. Die wachsenden Schwierigkeiten der Ernährung sowie die Beschaffung des Kanonenfutters und der Munition lassen die Sehnsucht nach dem Frieden auch in den herrschenden Klassen Deutschlands immer dringender werden. Daher die Friedfertigkeit und die Friedensangebote von deutscher Seite, die wohl in ihrem Kern bitterster Ernst und wie der Notschrei eines Wolfs sind, der in der eigenen Schlinge gefangen ist … Diesem Hexensabbat steht als einziger Friedensfaktor die russische Revolution gegenüber, die mit Blitzeshelle den Weg aus dem Labyrinth der Gegensätze gezeigt hat: nur der Sturz der Regierungen und der Reaktion kann dem Frieden die Bahn brechen. Nur ein radikaler Umschwung in dem sozialen Kräfteverhältnis im Innern der kriegführenden Staaten vermag den imperialistischen St. Veitstanz zum Stehen zu bringen …«
Doch vom Sturz einer deutschen Regierung ist keine Rede. Das harte militärische Regime verhindert noch jede Auflehnung in der deutschen Armee. Und in der Marine, wo sie sich zum ersten Male zeigt, vermag man sie im Keime zu ersticken.
Angeregt durch einen Beschluß des »Haushaltsausschusses des Reichstags« vom Sommer 1917 zur Errichtung von »Mannschafts-Menagekommissionen« setzen sich die Matrosen Köbis, Reichpietsch, Sachse und Weber auch für deren tatsächliche Installierung auf den Schiffen der deutschen Hochseeflotte ein, erreichen die Legalisierung durch die Flottenführung und setzen sogar die freie Wahl ihrer Mitglieder durch.
Der Vizeadmiral von Trotha erklärt später vor dem »Untersuchungsausschuß des deutschen Reichstags« über die Funktion dieser »Menagekommissionen«: »…Das eingehende Bild, das der Abgeordnete Dittmann neulich von dem Wirken und der Entwicklung der Menagekommission gegeben hat, hat doch ganz klar hingestellt, daß hier aus einer solchen für Menagezwecke eingerichteten Kommission vorwärtstreibend und -drängend sich eine neben dem militärischen Apparat immer stärker sich entwickelnde Organisation aufbaute, die, wie ja der Abgeordnete Dittmann ausgeführt hat, von den Verpflegungsfragen hinüberging zur Behandlung von Fragen, die mit Verpflegung nicht das geringste zu tun haben … Nach meinen Notizen hat der Abgeordnete Dittmann gesagt, daß, nachdem die Menagefragen besprochen waren, man ganz selbstverständlich bei den damaligen Verhältnissen auf Themen kam wie die Revolution in Rußland, die Internationale Friedenskonferenz, das Ringen der spd und uspd um die Seelen. Wenn es nun dazu kommt, daß solche Kommissionen sich in Räumen zusammenfinden, die wegen der Ordnung an Bord nicht betreten werden dürfen, die ohne jede Kontrolle sind, wenn solche Kommissionen sich in Hinterstuben von Lokalen an Land zusammenfinden, so ist das ein Zustand, der mit einer einheitlich geführten Kriegsmacht unverträglich ist … Es ist verderblich und der Ruin jeder militärischen Leistungsfähigkeit, wenn die Fragen, die die Seelen des Volkes erschüttern, wenn die Kämpfe der Parteien in die Truppe hineingetragen werden …«
Über Ursachen und Ablauf der Matrosenunruhen im Sommer 1917 berichtete der Reichstagsabgeordnete Dittmann (uspd) vor dem »Untersuchungsausschuß des deutschen Reichstags über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs«:
»Der Kriegswinter 1916/17, der sogenannte ›Kohlrübenwinter‹, war eine Zeit schlimmster Not und größten Hungers in der Heimat. Auch in der Armee und in der Marine war zu jener Zeit die Verpflegung immer schlechter geworden. Der Unterschied zwischen der Beköstigung der Mannschaften und derjenigen der Offiziere wirkte in der Marine viel aufreizender als beim Landheer, weil Mann und Offiziere an Bord dauernd eng beieinander lebten. Auf den Schiffen bestand eine besondere Mannschaftsküche und eine besondere Offiziersküche. In den Klagen, die damals aus Mannschaftskreisen erhoben wurden, kehrte die Behauptung immer wieder, daß Lebensmittel, die für die Mannschaftsküche bestimmt waren, besonders Eier, Butter und Schmalz, in die Offiziersmessen wanderten, wo trotz der allgemeinen Not noch immer gut gegessen und getrunken wurde. Das Mannschaftsessen dagegen sei meist ein undefinierbares Labskaus oder schlechtes Dörrgemüse ohne Fleisch und Fett. Der Oberheizer Sachse, einer der zum Tode Verurteilten und zu fünfzehnjähriger Zuchthaushaft Begnadigten, erklärte mir später, daß die Verpflegung im Zuchthaus in Rendsburg noch 1918 besser gewesen sei als 1917 die Mannschaftsverpflegung an Bord des Flottenflaggschiffes »Friedrich der Große«. Besonders aufreizend wirkten die Verpflegungsmißstände auf die Heizer, denen die Sonderzulagen an Fett oder Wurst, die ihnen für den schweren Dienst an den Feuern zustanden, oft gekürzt oder ganz entzogen wurden, und zwar nach ihrer Meinung zu Gunsten der Offiziere.
Es herrschte deshalb über diese Zustände, die nach der Überzeugung der Mannschaften nicht nur durch den allgemeinen Mangel an Lebensmitteln im Lande, für den sie durchaus Verständnis hatten, sondern wesentlich durch das allem kameradschaftlichen Geist hohnsprechende Verhalten der Offiziere verschuldet waren, eine mehr und mehr sich steigernde Unzufriedenheit und Erbitterung gegen die Offiziere an Bord der Schiffe.
Als weitere Quelle der Unzufriedenheit wurde angegeben die Art, in der die unterernährten Mannschaften in stundenlangem Exerzierdienst gedrillt würden, während es sich vielfach um Leute handelte, die bei Kriegsausbruch bereits drei oder gar vier Jahre dienten und nun schon im sechsten oder siebten Jahr an Bord waren, bei denen also kurzer Exerzierdienst zur Aufrechterhaltung der militärischen Bereitschaftsnotwendigkeit durchaus genügt hätte. Dazu seien eine oft rohe Behandlung der Mannschaften durch Schimpfen und Tätlichkeiten gekommen. Zechgelage und schlechtes Beispiel der Offiziere in moralischer Hinsicht hätten die Erbitterung gesteigert, ebenso nach Ansicht der Mannschaften ungerechte und willkürliche Handhabung der Urlaubserteilung, über die sehr viel geklagt wurde.
Die Erbitterung gegen die Offiziere wurde noch verschärft durch deren Versuche, auf die Mannschaften im Sinne eines alldeutschen Siegfriedens einzuwirken, während die Mannschaften den Krieg als Verteidigungskrieg auffaßten. Derartige Klagen wurden 1917 vielfach an die Abgeordneten fast aller Parteien herangetragen, teils von den Matrosen und Heizern selbst, teils von ihren Verwandten und Freunden, sowohl mündlich wie schriftlich. Ein Matrose sagte mir damals, an Bord seien zwei Welten eng beieinander, eine Welt der Herren und eine Welt der Sklaven.
Die Mißstimmung und Unzufriedenheit der Mannschaften kam zum ersten Mal zu einem äußerlich sichtbaren Ausdruck durch den sogenannten Hungerstreik auf der ›Prinzregent Luitpold‹, der am 6. Juni 1917 ausbrach. Das Mittagessen, wieder das berüchtigte Dörrgemüse wurde von den Backschaften nicht abgeholt, es wurde bis zum Abend aufgehoben und dann weggeschüttet, ohne daß den Mannschaften etwas anderes dafür verabfolgt worden wäre. Die Leute haben sich beschwerdeführend an den Ersten Offizier, Korvettenkapitän Herzbruch, gewendet, der ihnen aber kein Entgegenkommen zeigte, sondern sie nur, wie es in den Akten heißt, ›auf das Unrichtige und Unpatriotische ihres Verhaltens aufmerksam machte‹. Dieser Vorfall ist den Marine- und Gerichtsbehörden erst bei den Ermittlungen über spätere Vorfälle zur Kenntnis gekommen: ebenso war es bei den anderen Fällen, über die ich zunächst berichte. In Wilhelmshaven und auch im Binnenlande waren bald allerlei Gerüchte über diesen Hungerstreik im Umlauf, bei denen mit der Entfernung meist auch die Bedeutung des Geschehenen wuchs.
Ein ebenfalls erst später weiteren amtlichen Kreisen zur Kenntnis gekommener Vorfall ereignete sich am 4. oder 5. Juli auf dem Flaggschiff ›Friedrich der Große‹. Bei einer Nachtschießübung, die bis 1 Uhr nachts gedauert hatte, hatten die Mannschaften das für den anderen Tag bestimmte Brot aufgegessen, am nächsten Morgen aber kein neues Brot bekommen, sie waren deshalb nicht zum Dienst angetreten. Nach dem energischen Eingreifen des Ersten Offiziers, dem sie geantwortet haben, sie hätten Hunger, sind sie aber sofort an Deck erschienen.
Etwas später, etwa Mitte Juli, sind auf dem Schiff ›Posen‹ die Backschaften geschlossen zum Oberingenieur gekommen und haben ihm erklärt, sie wollten keine Mairüben haben, weil die Leute sie doch nicht essen wollten: die Rüben waren tags zuvor schlecht geworden. Der Oberingenieur hatte nach seiner eigenen Aussage bei den Akten die Heizer angefahren: ›Ihr verfluchten Schweinehunde, ihr sollt froh sein, daß ihr überhaupt noch was zu fressen bekommt! Eure Kameraden in Flandern haben ganz andere Gefahren auszustehen und beklagen sich nicht!‹ … Auf der Prinzregent Luitpold‹ hat ein zweiter Hungerstreik am 19. Juli stattgefunden. Die Backschaften holten das Essen nicht ab und erklärten, sie äßen keine Steckrüben. Als es dann Dörrkohl gab, haben sie gegessen …