TEIL ZWEI
FÄDEN
4.05.08 Pern
Vielleicht lag es daran, daß die Leute nach acht Jahren so an die Zwergdrachen gewöhnt waren, daß sie auf das Verhalten der Tiere nicht mehr besonders achteten. Wer ihre ungewöhnlichen Kapriolen bemerkte, hielt sie für irgendein neues Spiel, denn die kleinen Kerle kamen immer wieder auf die komischsten Ideen. Später sollten sich die Leute daran erinnern, daß die Zwergdrachen versuchten, das Geflügel und die Schafe und Ziegen in die Scheunen zurückzutreiben, und die Meeresaufseher wußten zu berichten, daß die großen Tümmler Bessie, Lottie und Maximilian sich verzweifelt bemüht hatten, ihren menschlichen Freunden zu erklären, warum die einheimischen Meerestiere so hastig nach Osten zu einer neuen Nahrungsquelle zogen.
Als Sabra Ongola-Stein in ihrem Haus am Europaplatz aus dem Fenster sah, dachte sie tatsächlich, Fancy, das Zwergdrachenweibchen der Familie, wolle ihren drei Jahre alten Sohn angreifen, der im Hof spielte. Die kleine Goldene riß heftig an Shuvins Hemd und wollte ihn unbedingt von seinem Sandhaufen und seinem geliebten Spielzeuglaster wegzerren. Sabra schlug nach Fancy und zog den Jungen weg, und danach kreiste der Zwergdrache erleichtert zirpend über ihr. Sehr merkwürdig, sicher, und das Hemd war zerrissen, aber am Körper des Jungen fand Sabra keine Verletzungen. Shuvin weinte auch nicht. Er wollte nur zu seinem Lastwagen zurück, während Sabra darauf bestand, ihm ein anderes Hemd anzuziehen.
Zu Sabras Verwunderung wollte Fancy sich mit ihnen ins Haus drängen, sie konnte gerade noch rechtzeitig die Tür schließen. Als sie sich ganz außer Atem von innen dagegenlehnte, sah sie durch das hintere Fenster, daß auch andere Zwergdrachen sich sehr sonderbar verhielten. Sie war nicht allzu sehr beunruhigt, weil es noch nie vorgekommen war, daß Zwergdrachen einen Menschen verletzten, nicht einmal, wenn sie bei der Paarung in Hitze gerieten, aber auch das schien nicht der Grund für ihre Erregung zu sein, denn die Grünen schwirrten ebenso hektisch in der Luft umher wie alle anderen, und die Grünen räumten stets das Feld, wenn eine Goldene sich paarte. Außerdem konnte Fancy zu diesem Zeitpunkt gar nicht in Hitze sein.
Während Sabra geschickt ihren zappelnden kleinen Sohn festhielt, um ihm das Hemd zu wechseln, fiel ihr auf, daß sich die Schreie, die durch die dicken Plastikwände des Hauses drangen, verängstigt anhörten. Sabra war mit den verschiedenen Lauten der Zwergdrachen ebenso vertraut wie jeder in Landing. Wovor mochten sie sich fürchten?
Das riesige Flugwesen - ein sehr großer Wherry vielleicht -, das gelegentlich in der Nähe des Westlichen Grenzgebirges gesichtet worden war, wagte sich doch wohl kaum so weit nach Osten. Und was konnte es an einem so schönen Vorfrühlingsmorgen sonst für Gefahren geben? Die graue Wolkenbank weit weg am Horizont verhieß Regen, aber das wäre nur gut für das Getreide, das auf den Feldern schon aus dem Boden spitzte. Vielleicht sollte sie die Wäsche von der Leine holen. Manchmal vermißte sie die praktischen Einrichtungen der alten Erde, die einem auf Knopfdruck die eintönige, anstrengende Hausarbeit abgenommen hatten. Schade, daß der Rat nie auf die Idee kam, gewisse Leute für ihr unbotmäßiges Verhalten damit zu bestrafen, daß er ihnen häusliche Pflichten aufbürdete. Sie zog Shuvin das Hemd über die Hosen, und er gab ihr einen dicken, feuchten Kuß.
»Laster, Mami, Laster? Jetzt gleich?«
Bei der sehnsüchtigen Frage wurde ihr plötzlich bewußt, wie still es geworden war, der gewohnte, mißtönende Zwergdrachenchor, der den Alltag in Landing wie in fast allen Ansiedlungen auf dem Südkoninent ständig begleitete, war verstummt. Diese Totenstille war beängstigend. Sabra hielt Shuvin zurück, der unbedingt wieder nach draußen wollte, um im Sand zu spielen, und spähte erst durch das hintere Fenster, und dann durch das Plasglas vor sich. Kein einziger Zwergdrache war zu sehen, nicht einmal auf dem Haus von Betty Musgrave-Blake, wo eine Geburt bevorstand und sich üblicherweise ein riesiger Schwarm versammelt hätte. Betty erwartete ihr zweites Kind, und Sabra hatte gesehen, daß Basil, der Geburtshelfer mit seinem Lehrling Greta, die einmal eine tüchtige Hebamme abgeben würde, bereits eingetroffen war.
Wo waren die Zwergdrachen? Sie ließen sich doch niemals eine Geburt entgehen.
Landing war zwar gut organisiert, aber es wurde doch erwartet, daß man sofort meldete, wenn sich auf Pern etwas Ungewöhnliches ereignete. Sabra ging zum Komgerät und wählte Ongolas Nummer, aber sie war besetzt. Während sie den Hörer in der Hand hatte, streckte Shuvin seine schmutzige Hand zum Türgriff hinauf, schob die Tür auf und grinste seine Mutter voll Stolz über diese neue Leistung verschmitzt an. Sie ließ ihn lächelnd gewähren, während sie Bays Nummer eintippte. Vielleicht wußte die Zoologin, was mit ihren Lieblingstieren los war.
***
Ziemlich weit östlich und etwas südlich von Landing waren Sean und Sorka auf der Jagd nach Wherries für das Ruhetagsessen. Die menschlichen Ansiedlungen breiteten sich immer mehr aus, und die Jäger mußten ziemlich weit gehen, um Wild zu finden.
»Sie geben sich ja gar keine Mühe, Sorka.« Sean machte ein finsteres Gesicht. «Den ganzen Vormittag haben sie sich nur gezankt. Verdammte Narren.« Er drohte mit seinem muskulösen, braunen Arm zornig zu seinen acht Zwergdrachen hinauf. »Reißt euch zusammen, ihr geflügelten Schwächlinge! Wir sind zum Jagen hier!«
Niemand beachtete ihn, seine beiden ältesten Braunen schienen mit den Mentas zu streiten, am heftigsten mit Blazer, Seans Königin. Das war ungewöhnlich, denn die durch Bay Harkenons gentechnische Künste gezüchtete Blazer genoß im allgemeinen durchaus den Respekt, den die andersfarbigen Zwergdrachen allen fruchtbaren goldenen Weibchen entgegen brachten.
»Die meinen sind nicht anders«, stellte Sorka fest und nickte, als ihre fünf sich Seans Schwärm anschlossen. »Du lieber Himmel, jetzt gehen sie auch noch auf uns los!« Sie gab ihrer braunen Stute den Kopf frei und drückte ihr die Schenkel an den Leib, hielt aber inne, als sie sah, wie Sean, der Cricket herumgerissen hatte und den heranstürmenden Zwergdrachen entgegensah, gebieterisch die Hand hob. Noch mehr erschrak sie, als die Zwergdrachen Angriffsformation einnahmen und dabei ein Geschrei ausstießen, das entsetzliche Angst ausdrückte und vor einer Gefahr warnte.
»Gefahr? Wo?« Sean wendete Cricket schnell auf der Hinterhand, ein Kunststück, das Sorka trotz Seans Hilfe und ihrer eigenen unendlichen Geduld ihrer Stute Doove nie hatte beibringen können. Er hielt sein Pferd zurück und suchte den Himmel ab, als die Zwergdrachen einhellig die Köpfe nach Osten wandten.
Blazer landete auf seiner Schulter, ringelte ihren Schwanz um seinen Hals und seinen linken Oberarm und kreischte die anderen an. Sean spürte erstaunt, was da vorging. Eine Königin nahm Befehle von Braunen entgegen? Aber er wurde abgelenkt, als ihre Gedanken lebhafte Befürchtungen ausdrückten.
»Landing in Gefahr?« fragte er. »In Deckung gehen?«
Sobald Sean es ausgesprochen hatte, verstand auch Sorka, was ihre Bronzefarbenen ihr begreiflich zu machen suchten. Sean schaffte es immer als erster, die geistigen Bilder seiner mit Mentasynthese behandelten Zwergdrachen zu deuten, besonders bei Blazer, die sie am klarsten übermitteln konnte. Sorka hatte sich oft ein goldenes Weibchen gewünscht, aber sie liebte ihre Bronzefarbenen und Braunen zu sehr, um sich zu beklagen.
»Mehr kann ich auch nicht verstehen«, sagte sie, als ihre fünf an verschiedenen Stellen ihrer Kleidung zu zupfen begannen. Sean konnte mit nacktem Oberkörper reiten, aber bei ihr schwabbelte zu viel, als daß sie sich dabei wohl gefühlt hätte; die ärmellose Lederweste war da eine gewisse Stütze, außerdem schützte sie die Haut vor den Klauen der Zwergdrachen. Emmet, der Bronzefarbene, ließ sich gerade so lange auf Dooves Kopf nieder, um ein Ohr und die Stirnlocke zu packen, und versuchte dann, den Kopf der Stute herumzuziehen.
»Etwas Großes, Gefährliches, und in Deckung gehen!« sagte Sean kopfschüttelnd. »Es ist doch nur ein Gewitter, Kinder. Schaut, nichts als eine Wolke!«
Sorka blickte stirnrunzelnd nach Osten. Sie befanden sich so weit oben auf der Hochfläche, daß sie gerade noch das Meer sehen konnten.
»Diese Wolkenformation ist irgendwie komisch, Sean. So etwas habe ich noch nie gesehen. Fast wie die Schneewolken, die wir hin und wieder in Irland hatten.«
Sean legte mit finsterem Gesicht die Beine an. Cricket hatte die verzweifelte Angst der Zwergdrachen gespürt und tänzelte nervös auf der Stelle. Noch vollführte er nur die Piaffe, die Sean ihm beigebracht hatte, aber sobald er die Zügel locker ließ, würde der Hengst sofort in rasendem Galopp davonstürmen. Seine Augen verdrehten sich entsetzt, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und er schnaubte. Auch Doove ließ sich von Emmets merkwürdiger Unruhe anstecken.
»Hier schneit es nicht, Sorka, aber was Farbe und Form angeht, hast du recht. Himmel, was immer da abregnet, es ist so verflixt dicht, daß man es fast greifen kann. So sieht der Regen hier nicht aus.«
Duke und die beiden ältesten Braunen von Sean sahen es ebenfalls und kreischten in hilflosem Entsetzen. Blazer trompetete einen strengen Befehl. Ehe Sean und Sorka wußten, wie ihnen geschah, waren beide Pferde von wohlgezielten Klauenhieben der Zwergdrachen auf die Kruppe aufgescheucht worden und rasten, geführt vom ganzen Schwarm, nach Nordwesten. Zügel, Schenkel, Sitz, Stimme, nichts zeigte mehr Wirkung auf die vor Schmerz wie rasenden Pferde, denn jedesmal, wenn sie ihren Reitern gehorchen wollten, versetzten ihnen die wachsamen Zwergdrachen einen neuen Hieb.
»Was, zum Teufel, ist bloß in sie gefahren?« schrie Sean und riß an der Lederschlinge, die er an Stelle einer Gebißstange durch Crickets weiches Maul gezogen hatte. »Ich schlage ihm noch seine verdammte Nase ein!«
»Nein, Sean!« schrie Sorka und duckte sich tief auf den Hals ihrer vorwärtsrasenden Stute. »Duke hat eine Heidenangst vor dieser Wolke. Mein ganzer Schwarm hat Angst. Sie würden den Pferden sonst niemals weh tun! Wir wären verrückt, wenn wir nicht auf sie hörten!«
»Als ob uns etwas anderes übrigbliebe!«
Die Pferde stürmten nun eine Schlucht entlang. Sean mußte seine ganze Kraft und Geschicklichkeit aufwenden, um sich im Sattel zu halten, aber er spürte, wie erleichtert Blazer war, daß sie sich durchgesetzt hatte und alle auf dem Weg zu einer sicheren Zuflucht waren.
»Sicher wovor?« knurrte er wütend. Er haßte es, hilflos auf einem Tier zu sitzen, das ihm in sieben Jahren kein einziges Mal den Gehorsam verweigert hatte, auf einem Tier, das er besser zu kennen glaubte als irgendeinen Menschen auf dem ganzen Planeten.
Das rasende Tempo ging weiter, obwohl Sean spürte, wie der graue Hengst, so gut er auch in Form war, allmählich müde wurde. Die Zwergdrachen trieben die beiden Pferde direkt auf einen der kleinen Seen zu, mit denen dieser Teil des Kontinents übersät war.
»Warum zum Wasser, Sean?« schrie Sorka, lehnte sich zurück und hob die Zügel an. Als die Stute bereitwillig langsamer wurde, protestierten Duke und die beiden anderen Bronzefarbenen mit schrillem Kreischen und schlugen wieder ihre Klauen in die blutende Kruppe des Tiers.
Wiehernd und verängstigt die Augen rollend, sprang die Stute ins Wasser und hätte dabei ihre Reiterin fast abgeworfen. Getrieben von den scharfen Klauen von Scans Zwergdrachen, folgte ihr der Hengst.
Der See, ein tiefes Becken, in dem sich das abfließende Wasser von den umliegenden Hügeln sammelte, hatte nur ein schmales Ufer, und bald schwammen die Pferde, von den Zwergdrachen unerbittlich angespornt, auf einen Felsüberhang auf der gegenüberliegenden Seite zu. Sean und Sorka hatten auf diesem Sims oft in der Sonne gelegen und waren mit Vergnügen von hoch oben in das tiefe Wasser gesprungen.
»Das Felssims? Wir sollen unter das Felssims? Das Wasser ist dort verflixt tief.«
»Warum?« fragte Sorka immer noch. »Was da kommt, ist doch nur Regen.« Sie schwamm neben Doove her und ließ sich, eine Hand am Sattelknauf, in der anderen die Zügel, von der Stute mitziehen. »Wo sind sie denn alle abgeglieben?«
Sean, der neben Cricket schwamm, legte sich auf die Seite und schaute zurück. Seine Augen weiteten sich. »Das ist kein Regen. Schwimm, so schnell du kannst, Sorka! Schwimm zum Felssims!«
Sie warf ebenfalls einen Blick über die Schulter und sah, was den gewöhnlich durch nichts zu erschütternden jungen Mann so aufgeregt hatte. Das Entsetzen verlieh ihr neue Kräfte; sie riß an den Zügeln und drängte Doove zu größerer Eile. Sie hatten das Sims fast erreicht, diese armselige Zuflucht vor dem zischenden, silbernen Niederschlag, der so bedrohlich über die Wälder Perns herabrauschte, die sie eben noch durchquert hatten.
»Wo sind die Zwergdrachen?« heulte Sorka auf, als sie in den Schatten unter dem Sims hineinschwamm. Sie ruckte an Dooves Zügeln, um die Stute mit sich unter das schützende Dach zu ziehen.
»Bestimmt in Sicherheit!« Seans Stimme klang verbittert, er hatte Mühe, Cricket unter das Sims zu bringen. Es gab gerade genügend Raum, daß die Köpfe der Pferde über der Wasseroberfläche bleiben konnten, aber ihre um sich schlagenden Beine fanden keinen Halt.
Plötzlich hörten beide Pferde auf, sich gegen ihre Reiter zu wehren; sie wieherten statt dessen verschreckt und drückten Sorka und Sean gegen die innere Felswand.
»Zieh die Beine an, Sorka! Stütz dich gegen die Wand!« schrie Sean und machte es ihr vor.
Dann hörten sie es zischen. Als sie um die Köpfe ihrer Pferde herumspähten, sahen sie lange, dünne Fäden ins Wasser stürzen. Plötzlich begann der See zu wogen, von allen Seiten zogen die Flossen der Elritzen, die man in den Bächen ausgesetzt hatte, Furchen durch seine Oberfläche.
»Himmel, sieh dir das an!« Sean deutete aufgeregt auf eine kleine Flammenzunge, die dicht über der Seeoberfläche ein großes Fadenknäuel in Asche verwandelte, ehe es das Wasser erreichte.
»Da drüben auch!« sagte Sorka, und dann hörten sie das erregte, aber freudige Geschnatter der Zwergdrachen. Da sie sich so tief unter das Sims hineindrängten, wie nur möglich, erhaschten sie nur ab und zu einen flüchtigen Blick auf die Tiere und die seltsamen Flammen.
Ganz plötzlich erinnerte sich Sorka an jenen längst vergangenen Tag, als sie zum ersten Mal erlebt hatte, wie die Zwergdrachen das Geflügel verteidigten. Damals war sie überzeugt gewesen, daß Duke auf einen Wherry Feuer gespien hatte.
»Das ist früher schon mal passiert, Sean«, sagte Sorka, und wollte seine nasse Schulter packen, damit er ihr auch zuhörte, aber ihre Finger rutschten ab. »Irgendwie können sie Flammen spucken. Vielleicht ist dazu der zweite Magen da.«
»Jedenfalls bin ich froh, daß sie nicht feige sind«, murmelte Sean und näherte sich vorsichtig der Öffnung. »Nein«, sagte er erleichtert und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Feige sind sie ganz bestimmt nicht. Komm her, Sorka.«
Mit einem ängstlichen Blick auf Doove schwamm Sorka an Seans Seite und schrie gleich darauf überrascht und begeistert auf. Ihr Zwergdrachenschwarm hatte sich um eine ganze Menge anderer Tiere vergrößert. Die kleinen Krieger schienen abwechselnd auf den verheerenden Regen loszuschießen, ihre Flammen verkohlten das gräßliche Zeug, und die Asche fiel ins Wasser, wo sie von flinken Fischmäulern verschlungen wurde.
»Schau nur, Sorka, sie beschützen unser Sims.«
Sorka sah, daß der schreckliche Regen auf beiden Seiten der Feuerzone der Zwergdrachen ungehindert in den See fiel.
»Himmel, Sean, sieh nur, was das Zeug mit den Büschen macht!« Sie zeigte ans Ufer. Das dichte, stachelige Gestrüpp, durch das sie vor kurzem noch geritten waren, war nicht mehr zu sehen, alles war bedeckt von einer ekelhaften Masse von ›Dingern‹, die immer weiter aufzuschwellen schienen. Sorka wurde übel dabei, und sie mußte sich sehr zusammennehmen, um ihr Frühstück nicht wieder von sich zu geben. Sean war ganz weiß um den Mund. Seine Hände, die ihn mit ihren rhythmischen Bewegungen über Wasser hielten, ballten sich zu Fäusten.
»Verdammt noch mal, kein Wunder, daß die Zwergdrachen Angst hatten.« Wütend über seine Hilflosigkeit schlug er mit den Fäusten so heftig ins Wasser, daß die Wellen nach allen Seiten schwappten. Sofort erschien Sorkas Duke dicht vor dem Sims und spähte herein. Er nahm sich die Zeit, ihnen beruhigend zuzuquieken, und im nächsten Moment war er buchstäblich verschwunden. »Na ja«, sagte Sean. »Wenn ich Pol Nietro wäre, würde ich sagen, dieses plötzliche Auslöschen ist der beste Verteidigungsmechanismus, den eine Gattung nur entwickeln kann.« Ein langer Faden glitt über ihnen vom Sims herab und schwebte einen Augenblick lang vor ihren entsetzten Augen, bis eine Flamme ihn verkohlen ließ.
Angewidert spritzte Sean Wasser auf die Überreste und fegte mit der Hand die herabsinkenden Stäubchen von sich und Sorka weg. Hinter ihnen war das schwere Atmen der Pferde zu hören; die Tiere schienen völlig erschöpft zu sein.
»Wie lange?« fragte Sean, glitt zu Crickets Kopf und streichelte das Pferd, um es zu beruhigen. »Wie lange wird der Spuk dauern?«
***
»Es ist keine Paarung«, erklärte Bay, als Sabra sie anrief, »sondern ein völlig irrationales Verhaltensmuster.« Bay ging im Geiste alles durch, was sie über die Zwergdrachen wußte und beobachtet hatte, während sie weiter aus ihrem Fenster schaute. In diesem Augenblick hob ein Schlitten von einem Abstellplatz nahe am Wetterbeobachtungsturm ab und raste mit Höchstgeschwindigkeit auf den Sturm zu. »Ich will mir noch einmal die Dateien über die Verhaltensmuster ansehen und mit Pol sprechen, dann rufe ich zurück. Die Sache ist wirklich äußerst ungewöhnlich.«
Pol arbeitete im Gemüsegarten hinter ihrem Haus. Als er sie kommen sah, winkte er ihr fröhlich zu, schob sich die Schildmütze in den Nacken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Gartenerde war sorgfältig angereichert und mit verschiedenen terrestrischen Käfern und Würmern verbessert worden, die den Boden von Pern ebenso gern durchlüfteten, wie sie es auf der Erde getan hatten, und die trägeren einheimischen Arten gut ergänzten. Bay sah, wie Pol mitten in der Bewegung innehielt und sich umsah, und nahm an, er habe erst jetzt das Fehlen der Zwergdrachen bemerkt.
»Wo sind sie denn alle hin?« Er blickte zu den anderen Häusern und auf Bettys leeres Dach. »Das ging aber schnell, nicht wahr?«
»Sabra hat mich eben angerufen. Sie sagt, ihre Fancy habe allem Anschein nach den kleinen Shuvin angreifen wollen. Völlig ohne Grund, allerdings hat sie ihm mit ihren Klauen nicht einmal die Haut geritzt. Dann hat Fancy versucht, mit ihnen ins Haus zu kommen. Sabra sagte, sie sei ganz verstört gewesen.«
Pol zog überrascht die Augenbrauen hoch und wischte sich weiter über die Stirn und dann über das Schweißband seiner Mütze, bis er sich wieder gefangen hatte. Dann lehnte er sich auf seine Hacke und blickte sich um. In diesem Moment entdeckte er die grauen Wolken.
»Die gefallen mir gar nicht, Liebes«, sagte er. »Ich mache lieber eine Pause, bis der Sturm vorüber ist.« Er lächelte ihr zu. »Inzwischen können wir uns deine Notizen über die Mentazucht ansehen. Fancy ist eine Menta, kein einheimischer Zwergdrache.«
Plötzlich war die Luft erfüllt von kreischenden, schreienden, trompetenden und völlig verängstigten Zwergdrachen.
»Wo waren die kleinen Plagegeister denn?« fragte Paul. »Pfui Teufel! Sie stinken!« Er riß sich die Mütze vom Kopf und schwenkte sie heftig vor seinem Gesicht hin und her.
Bay hielt sich die Nase zu und eilte zum Haus. »Und wie! Eindeutig nach Schwefel.«
Sechs Zwergdrachen lösten sich aus dem Wirbel, stießen auf Bay und Pol herab, schlugen von hinten auf sie ein und drängten sie mit schrillen Schreien zur Eile.
»Ich habe tatsächlich den Eindruck, als wollten sie uns ins Haus scheuchen, Pol«, sagte Bay. Als sie stehenblieb, um dieses exzentrische Verhalten genauer zu studieren, packte ihre Königin sie an den Haaren, und die zwei Bronzefarbenen krallten sich in ihre Tunika und zerrten sie weiter. Die Schreie wurden immer aufgeregter.
»Ich glaube, du hast recht. Und bei anderen Leuten machen sie es genauso.«
»Ich habe noch nie so viele Zwergdrachen gesehen. Normalerweise kommen sie doch nicht in solchen Scharen hierher«, fuhr Bay fort und tat den Tieren den Gefallen, einen schwerfälligen Trab anzuschlagen. »Die meisten sind wilde! Sieh nur, wieviel kleiner einige von den Königinnen sind. Und überwiegend Grüne. Faszinierend.«
»Äußerst faszinierend«, stimmte Pol zu und beobachtete amüsiert, daß die Zwergdrachen, die ihre speziellen Freunde waren, sich mit ihnen ins Haus gedrängt hatten und sich nun gemeinsam bemühten, die Tür hinter den Menschen zu schließen. »Sehr bemerkenswert.«
Bay saß schon am Terminal. »Es muß sich offensichtlich um etwas handeln, was für sie wie für uns gefährlich ist.«
»Es wäre mir lieber, wenn sie sich irgendwo niederlassen würden«, sagte Pol. Die Zwergdrachen schossen im Wohnraum umher, ins Schlafzimmer, ins Badezimmer und sogar in den Anbau, den sich die beiden Wissenschaftler als kleines, aber gut ausgestattetes Heimlabor eingerichtet hatten. »Das geht ein bißchen zu weit. Bay, sag deiner Königin, sie soll sich hinsetzen, dann werden die anderen schon folgen.«
»Sag es ihr selbst, Pol, ich rufe gerade das Verhaltensprogramm auf. Sie gehorcht dir ebenso wie mir.«
Pol versuchte, Mariah auf seinen Arm zu locken, aber sie war kaum gelandet, als sie auch schon wieder davonflatterte, und die anderen hinterher. Ein Stückchen ihres Lieblingsfischs fand keine Beachtung. Für Pol war das Ganze allmählich nicht mehr komisch. Er blickte aus dem Fenster, um zu sehen, ob andere Tiere ebenfalls von dieser Massenhysterie erfaßt waren, und stellte fest, daß die Plätze wie ausgestorben dalagen. Drüben bei den Veterinärschuppen sah er Staubwolken aufsteigen, und dazwischen flitzten wie dunkle Schatten Zwergdrachen hin und her und versuchten, das Vieh zusammenzutreiben. Von ferne hörte er das mißtönende Geschrei verängstigter Tiere.
»Hoffentlich gibt es dafür eine Erklärung«, murmelte er und blieb hinter Bay stehen, um auf den Bildschirm zu schauen. »Bei meiner Seele, sieh dir mal Bettys Haus an!« Er zeigte über den Schirm hinweg zum Fenster hinaus auf ein Gebäude, das völlig unter einer Masse von Zwergdrachen verschwand. »Mein Gott, soll ich rübergehen und fragen, ob sie Hilfe brauchen?«
Als er nach dem Türöffner greifen wollte, schoß Mariah zornig kreischend auf ihn los, stieß seine Hand beiseite und kratzte ihn.
»Geh nicht raus, Pol! Bleib hier! Sieh doch nur!«
Bay hatte sich halb aus ihrem Stuhl erhoben und war in dieser Stellung erstarrt, in ihrem Gesicht stand das nackte Entsetzen. Pol legte ihr schützend den Arm um die Schultern, und dann hörten sie beide, wie ein schrecklicher Regen auf Landing herunterzischte, und sahen, wie einzelne längliche ›Tropfen‹ auf die Oberfläche trafen. Manchmal fielen sie nur in den Staub, dann wieder wickelten sie sich um Sträucher und Gräser, und alles verschwand, nur vollgefressene, schneckenähnliche Gestalten blieben übrig, die weiter in rasendem Tempo über alle grünen Pflanzen herfielen, die ihnen in den Weg kamen. Pols herrlicher Garten war im Nu eine Wüste voll sich windender, grauweißer ›Dinger‹, die in Sekundenschnelle mit jeder neuen Beute weiter anschwollen.
Mariah stieß einen heiseren Schrei aus und verschwand. Die anderen fünf Zwergdrachen folgten ihr sofort.
»Ich traue meinen Augen nicht«, flüsterte Pol starr vor Staunen. »Sie teleportieren in Scharen, fast in Formation. Die Telekinese wurde also ursprünglich als Überlebenstechnik entwickelt. Hmm.«
Der gräßliche Regen war weiter vorgerückt, hinter ihm breitete sich seine schreckliche Fracht immer weiter aus, und nun fielen die Fäden auf Pols sauber gepflastertes Patio und näherten sich unaufhaltsam dem Haus.
»Dem Stein können sie nichts anhaben«, bemerkte Pol mit wissenschaftlichem Interesse. »Hoffentlich schützt uns das Silikonplastikdach ebenso gut.«
»Die Zwergdrachen haben noch mehr bisher unentdeckte Fähigkeiten«, bemerkte Bay stolz und deutete aus dem Fenster.
Draußen schossen die Zwergdrachen auf und ab und spien Feuer, um die angreifende Lebensform einzuäschern, ehe sie das Haus erreichte.
»Ich wäre ruhiger, wenn ich wüßte, daß diese Dinger keine Chance haben«, wiederholte Pol mit leicht zitternder Stimme und blickte zu dem durchscheinenden Dach auf. Etwas traf auf den Belag und rutschte ab. Pol zuckte erschrocken zusammen und duckte sich instinktiv, noch ein Aufprall, und dann sah er kurze Feuerstöße über das dunkle Material fegen.
»Immerhin ein Trost«, sagte er und richtete sich erleichtert auf.
»Aber sie sind so lange auf das Dach gefallen, bis die Zwergdrachen, der Himmel möge es ihnen vergelten, sie in Flammen aufgehen ließen.« Bay spähte aus dem Fenster zu Betty Musgrave-Blakes Haus hinüber. »Bei meiner Seele! Sieh dir das an!«
Das Haus war von Feuerwirbeln und Flammengarben wie von einem Schirm umgeben, ein ganzer Schwarm von Zwergdrachen sorgte dafür, daß kein einziges Stück des unheimlichen Regens das Haus einer in Wehen liegenden Frau erreichte.
Pol war geistesgegenwärtig genug, sich aus dem Durcheinander auf einem Regal sein Fernglas zu holen und es auf die Felder und die Veterinärschuppen zu richten. »Ob sie wohl auch unsere Tiere beschützen? Es sind zu viele, um sie alle in Sicherheit zu bringen, aber in dieser Gegend scheinen sich Massen von Zwergdrachen aufzuhalten.«
Zutiefst besorgt um die Sicherheit der Tiere, die sie schließlich mit geschaffen hatten, beobachteten sie abwechselnd das Gebiet um die Schuppen. Plötzlich ließ Bay das Fernglas sinken; ein Schauder durchlief sie, und sie übergab es wortlos an Pol. Der Anblick einer ausgewachsenen Kuh, die sich innerhalb weniger Augenblicke in einen versengten, von Massen sich windender Lebewesen bedeckten Kadaver verwandelte, hatte sie zutiefst erschüttert. Pol stellte das Glas schärfer, dann stöhnte er in hilfloser Verzweiflung auf und setzte es ab.
»Eine Pest. Gefräßig. Unersättlich. Offenbar verschlingen sie alles, was organisch ist«, murmelte er. Dann holte er tief Luft und hob entschlossen das Glas wieder an die Augen. »Leider machen sie offenbar auch vor Plastik auf Kohlenstoffbasis nicht halt, den Spuren auf den Dächern der Hütten nach zu schließen, die wir als erste aufgestellt haben.«
»Du meine Güte. Das ist ja entsetzlich. Könnte es sich um ein regional begrenztes Phänomen handeln?« fragte Bay mit immer noch zitternder Stimme. »Auf den bewachsenen Flächen gab es diese merkwürdigen Kreise, die im ursprünglichen EV-Fax…« Sie wandte sich vom Fenster ab, setzte sich wieder vor ihr Terminal, machte den Schirm frei und rief verschiedene Dateien auf.
»Hoffentlich ist niemand so verrückt und geht hinaus, um die letzten paar Kühe und Schafe zu retten«, sagte Pol mit gepreßter Stimme. »Und hoffentlich sind wenigstens alle Pferde in Sicherheit. Die neue Züchtung ist zu vielversprechend, als daß wir sie verlieren dürften, ganz gleich, wie grauenvoll die Katastrophe ist.«
Mit einiger Verspätung begann die Alarmsirene auf dem Wetterbeobachtungsturm zu heulen.
»Na, damit bleibst du aber hinter den Ereignissen zurück, alter Junge«, sagte Pol und richtete das Glas auf den Turm. Er konnte Ongola erkennen, der sich einen Lappen gegen die Wange drückte. Der Schlitten, der gestartet war, um das Gewitter zu untersuchen, parkte dicht am Turmeingang, und Pol vermutete, daß Ongola direkt aus der Kanzel zur Tür gesprungen war.
»Nein, der Schall trägt und schaltet die Zwischenstationen ein«, erklärte Bay zerstreut, während ihre Finger über die Tasten flogen.
»Ach ja, das hatte ich vergessen. Heute morgen sind nämlich eine ganze Menge Leute auf die Jagd gegangen.«
Bays flinke Finger stockten, und sie drehte sich langsam zu Pol um. Ihr Gesicht war aschgrau.
»Nicht aufregen, mein Schatz, so viele Leute haben inzwischen Zwergdrachen und mindestens einen von den schlaueren Mentas, die du entwickelt hast.« Er trat hinter sie und strich ihr beruhigend über das Haar. »Es war erstklassig, wie sie uns gewarnt und beschützt haben. Da! Horch!«
Das jubelnde Trällern der Zwergdrachen, das stets eine Geburt verkündete, war nicht zu überhören. Trotz der gräßlichen Katastrophe, die in diesem Moment über Pern hereinbrach, war neues Leben in die Welt gekommen. Der Begrüßungsgesang unterbrach jedoch nicht das schützende Flammennetz, das das Haus einhüllte.
»Das arme Baby! Ausgerechnet jetzt geboren zu werden!« klagte Bay. Ihre runden Wangen waren eingefallen, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen.
Ohne auf den stechenden Schmerz in seiner linken Gesichtshälfte zu achten, drückte Ongola mit einem Finger auf den Sirenenknopf und begann gleichzeitig, die anderen Stationen des Sendernetzes anzurufen.
»Mayday! Mayday! Mayday in Landing! Alles in Deckung! Bringt das Vieh unter Dach! Höchste Gefahr! Alle Lebewesen in Deckung.« Die Erinnerung an den entsetzlichen Anblick zweier streunender Schafe, die in kürzester Zeit von dem grausigen Niederschlag zerfressen worden waren, ließ ihn schaudern. »Nehmt Deckung unter Felsen, unter Metall, im Wasser! Ein unnatürlicher Regen dringt in unregelmäßigen Schauern nach Westen vor. Tödlich! Tödlich! Alles in Deckung. Mayday von Landing! Mayday von Landing! Mayday von Landing!« Von seinem Kopf und seinem Hals tropfte Blut und bekräftigte die knappen Sätze. »Unnatürliche Wolkenformation. Tödliche Niederschläge. Mayday von Landing! Alles in Deckung. Mayday. Mayday.«
Sein eigenes Haus war durch den dichten Regen fast nicht zu erkennen, aber er sah die Flammengarben über den anderen noch bewohnten Häusern von Landing und nahm erstaunt zur Kenntnis, daß sich tausende von Zwergdrachen versammelt hatten, um ihren menschlichen Freunden zu helfen, und daß sie einen lebenden Flammenschild über Betty Musgrave-Blakes Haus gelegt hatten und in Scharen über den Veterinärschuppen und den Weiden flatterten. Er erinnerte sich auch, daß Fancy versucht hatte, in das Fenster hineinzufliegen, hinter dem er Wache hielt. Als ihm plötzlich aufgefallen war, daß keines der meteorologischen Instrumente die Wolkenmasse registrierte, die sich unaufhaltsam von Osten näherte, hatte er Emily zu Hause angerufen.
»Sehen Sie sich die Sache an, Ongola. Mir kommt es vor wie ein ordentliches Äquinoktialgewitter, aber wenn die Wasserdampfinstrumente nichts anzeigen, sollten Sie lieber die Windgeschwindigkeit feststellen und nachsehen, ob die Wolken Hagel oder Graupel enthalten. Heute sind nicht nur Farmer unterwegs, sondern auch Jäger und Fischer.«
Ongola war so dicht an die Wolke herangeflogen, daß er ihre ungewöhnliche Zusammensetzung feststellen und beobachten konnte, welchen Schaden sie anrichtete. Er wollte Emily vom Schlitten aus anrufen, und als das Komgerät nicht funktionierte, versuchte er, Jim Tillek in der Hafenverwaltung zu warnen. Aber er hatte den nächstbesten Schlitten genommen, eine kleine, schnelle Maschine, die nicht über die raffinierte Ausrüstung der größeren verfügte. Er probierte jede Nummer, die ihm einfiel, erreichte aber nur Kitti, die meistens zu Hause blieb, weil sie mit ihren hundert Jahren schon recht gebrechlich war, auch wenn künstliche Gliedmaßen ihr eine gewisse Beweglichkeit ermöglichten.
»Vielen Dank für die Warnung, Ongola. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich werde die Veterinärschuppen informieren, damit das Vieh unter Dach gebracht wird. Ein gefräßiger Regen?«
Ongola holte aus dem kleinen Schlitten das letzte an Geschwindigkeit heraus und konnte nur hoffen, daß die Zellen genug Energie enthielten, um dieser Belastung standzuhalten. Die Maschine tat ihr Bestes, aber ihr Pilot schaffte es nur mit knapper Not bis zum Turm zurück, und sie hatte kaum den Boden berührt, als auch schon der Motor aussetzte.
Das Zeug prasselte auf das Kanzeldach herunter. Es war ihm nicht gelungen, der Regenfront davonzufliegen. Ongola packte das Klemmbrett für die Flugpläne - ein unzureichender Schutz vor dem tödlichen Regen, aber besser als nichts. Dann holte er tief Luft, drückte auf die automatische Verriegelung und sprang geduckt aus der Kanzel. Mit drei langen Sätzen, eher springend als laufend, erreichte er die Tür zum Turm, als gerade ein Knäuel herabsank. Das schräg gehaltene Brett lenkte das Zeug direkt auf seine ungeschützte linke Kopfseite. Schreiend vor Schmerz schlug er mit der Hand auf sein Ohr ein, doch in diesem Moment kam ihm schon ein feuerspeiender Zwergdrache zu Hilfe. Ongola schrie »Danke«, warf sich durch die Tür und knallte sie hinter sich zu. Automatisch zog er den Riegel vor, schnaubte verächtlich, als ihm bewußt wurde, wie sinnlos das war, und jagte dann, zwei bis drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Der stechende Schmerz hielt an, und er spürte, wie etwas an seinem Hals herunterrann. Blut! Er tupfte die Verletzung mit seinem Taschentuch ab und stellte fest, daß das Blut mit schwarzen Teilchen vermischt war. Außerdem roch er verbrannte Wolle. Der Feueratem des Zwergdrachen hatte seinen Pullover angesengt.
Nachdem er die Warnung abgesetzt hatte und gerade das Aufzeichnungsgerät einschaltete, spürte er einen zweiten, stechenden Schmerz an seiner linken Schulter und blickte nach unten. Das vordere Ende einer Faser bewegte sich, und es sah keineswegs wie Wolle aus. Der Schmerz schien die Faser zu begleiten. Ongola hatte sich noch nie so schnell ausgezogen. Und es reichte gerade noch: die Faser war dicker geworden und bewegte sich schneller und zielbewußter. Vor seinen entsetzten Augen verschwand die ganze Wolle, und das grotesk zuckende, wurmförmige Segment, das zurückblieb, erfüllte ihn mit Ekel.
Wasser! Er griff nach dem Wasserkrug und nach der Thermosflasche mit Klah und leerte beides über das… das Ding. Sich windend und Blasen werfend, löste es sich langsam auf und wurde zu einem Häufchen Matsch, das er voller Genugtuung zertrampelte. Mit den gleichen Gefühlen hatte er einst die Gefechtsstellungen der Nathi vernichtet.
Dann sah er sich seine Schulter an und fand eine dünne, blutige Linie, wo sich das tödliche Stück Faden in sein Fleisch gefressen hatte. Ein krampfhaftes Zittern erfaßte seinen Körper, und er mußte sich an einem Stuhl festhalten, weil ihm die Knie weich wurden.
Das Komgerät begann zu jaulen. Er atmete ein paarmal tief durch, richtete sich auf und kehrte an seine Arbeit zurück.
»Vielen Dank für die Warnung, Ongola. Wir hatten gerade noch Zeit, die Luken dichtzumachen. Wir wußten zwar, daß die Tiere uns etwas sagen wollten, aber wie, zum Teufel, sollten wir auf so etwas kommen?« Jim Tillek meldete sich von der Brücke der Southern Star. »Dank allen höheren Mächten, daß unsere Schiffe samt und sonders aus Siliplex sind.«
Das Hafenbüro von Monaco Bay berichtete von gekenterten Kleinbooten und leitete Rettungsaktionen ein.
Das Lazarett meldete, daß die Menschen in und um Landing nur geringfügige Verletzungen erlitten hatten: hauptsächlich Kratzer von Zwergdrachenklauen. Die Tiere hatten vielen das Leben gerettet.
Red Hanrahan erklärte für die tiermedizinische Abteilung, daß sie fünfzig bis sechzig verschiedene Stück Vieh von den Zuchtherden verloren hätten, die in der Gegend von Landing weideten. Zum Glück hatte man erst einen Monat zuvor dreihundert Kälber, Lämmer, Kitze und Ferkel in neue Heimstätten verfrachtet. Größere Verluste gab es jedoch auf den nähergelegenen Anwesen, die noch keine Stallungen hatten und über die der grausige Regen hinweggegangen war. Red fügte hinzu, daß man alle Tiere, die man frei hatte herumlaufen lassen, als verloren betrachten müsse.
Zwei der größeren Fischdampfer meldeten starke Verbrennungen bei all jenen, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, in Deckung zu gehen. Einer der Hegelman-Jungen war über Bord gesprungen und ertrunken, als ein Klumpen von den Dingern auf seinem Gesicht landete. Maximilian, der die Perseus begleitete, hatte ihn nicht retten können. Der Delphin hatte weiterhin erzählt, daß einheimische Meerestiere in Scharen an die Oberfläche strömten und sich um die ertrinkenden Zappeldinger stritten. Er selbst mochte sie nicht besonders: zu wenig Substanz.
Auf Ongolas Tisch wurde der Stapel mit den Meldungen schnell höher, und er rief Emily an und bat um Hilfe.
Der Kapitän der Maid of the Sea, die im Norden auf Fischfang war, wollte wissen, was eigentlich vorging. In seiner Gegend war der Himmel bis zum südlichen Horizont frei. Patrice de Broglie, der mit dem Seismologenteam draußen am Young Mountain stationiert war, fragte an, ob er seine Crew zurückschicken sollte. In den letzten Wochen hatte es nur ein paarmal gegrummelt, allerdings zeigten die Aufzeichnungsgeräte der Gravimeter ein paar interessante Veränderungen. Ongola bat ihn, so viele Leute freizustellen, wie er entbehren konnte, denn er wollte gar nicht darüber nachdenken, was mit den Heimstätten geschehen war, die auf dem Weg des verheerenden Fädenfalls lagen.
Bonneau rief vom Drake-See aus an, wo es noch Nacht und der Himmel klar war. Er erbot sich ebenfalls, ein Kontingent von Helfern zu schicken.
Aus Karachi Camp teilte Sallah Telgar-Andiyar mit, Hilfe sei bereits unterwegs. Wie verbreitet der Regen eigentlich sei, wollte sie wissen.
Ongola fertigte alle diese Anrufe kurz ab, als sich die erste der nähergelegenen Siedlungen meldete.
»Wenn die Zwergdrachen nicht gewesen wären«, sagte Aisling Hempenstahl von Bordeaux, »wären wir alle bei lebendigem Leib aufgefressen worden.« Sie schluckte hörbar. »Weit und breit ist kein Hälmchen Grün zu sehen, und wir haben kein Stück Vieh mehr, bis auf die Kuh, die die Zwergdrachen in den Fluß getrieben haben, und sie sieht schaurig aus.«
»Irgendwelche Verletzungen?«
»Damit komme ich schon zurecht, aber wir sind etwas knapp an frischen Nahrungsmitteln. Ach, und Kwan möchte wissen, ob ihr ihn in Landing braucht?«
»Ich würde sagen, ja, wir brauchen ihn dringend«, antwortete Ongola mit bewegter Stimme. Danach bemühte er sich erneut, die Du Vieux, die Radelins, die Grant, van Toorns, die Ciottis und die Holstroms zu erreichen. »Versuchen Sie es weiter, Jacob.« Er reichte Jacob Chernoff, der mit drei jungen Lehrlingen gekommen war, um ihm zu helfen, die Liste. »Kurt, Heinrich, ihr versucht es mit den Nummern am Fluß, Calusa, Cambridge und Wien.« Ongola rief Lilienkamp im Magazin an. »Joel, wie viele haben sich heute zur Jagd abgemeldet?«
»Zu viele, Ongola, zu viele.« Der sonst so abgebrühte Joel weinte.
»Ihre Söhne auch?«
Die Antwort war nur ein Flüstern. »Ja.«
»Tut mir leid, das zu hören, Joel. Wir haben Suchaktionen organisiert. Und die Jungen haben Zwergdrachen.«
»Sicher, aber Sie wissen doch, wie viele nötig waren, um Landing zu schützen!« Joels Stimme wurde schrill.
»Sir.« Kurt zog ungeduldig an Ongolas nacktem Ellbogen. »Einer von den Schlitten…«
»Ich melde mich wieder, Joel.« Ongola nahm den Anruf entgegen. »Ja?«
»Was kann man machen, um das Zeug zu vernichten, Ongola?« Als Ongola Ziv Marchanes qualvollen Schrei hörte, durchführen ihn Entsetzen und Wut wie Messerstiche.
»Kauterisieren, Ziv. Wer ist es?«
»Das, was vom jungen Joel Lilienkamp noch übrig ist.«
»Schlimm?«
»Sehr schlimm.«
Ongola schwieg und schloß einen Moment lang fest die Augen. Er mußte an die beiden Schafe denken. »Dann geben Sie ihm den Gnadenschuß!«
Ziv unterbrach die Verbindung, und Ongola starrte wie gelähmt die Konsole an. Er hatte so etwas schon mehrmals getan, zu oft, vor allem im Krieg gegen die Nathi, wenn sein Zerstörer einen Treffer abbekommen hatte und seine Männer in Stücke gerissen worden waren. Bei Kämpfen zu Land war es allgemein üblich. Man überließ niemals einen Verwundeten der Gnade der Nathi. Gnade, ja, es war gnädig, so zu handeln, aber Ongola hatte nicht geglaubt, daß es noch einmal nötig sein würde.
Paul Bendens kräftige Stimme durchbrach seine qualvolle Trance. »Was, zum Teufel, ist eigentlich los, Ongola?«
»Verdammt, Admiral, ich wollte, ich wüßte es.« Ongola schüttelte den Kopf, dann lieferte er einen genauen Bericht der Ereignisse und verlas eine Liste der bekannten und mutmaßlichen Opfer.
»Ich komme sofort.« Paul hatte für sein Anwesen ein Gelände auf den Höhen über der Deltamündung des Boca-Flusses gewählt. Dort würde bald der Tag anbrechen. »Ich sehe auch auf den Besitzungen nach dem Rechten, die auf meinem Weg liegen.«
»Pol und Kitti hätten gern Proben von dem Zeug in der Luft wenn es einigermaßen gefahrlos möglich ist. Es brennt Löcher durch dünnes Material, also verwenden Sie unbedingt Behälter aus dickem Metall oder Siliplex. Von dem, was unsere Felder kahlgefressen hat, haben wir genug. Ich habe alle großen Schlitten losgeschickt, um diesen dreimal verfluchten Niederschlag zu verfolgen. Kenjo kommt mit seinem hochfrisierten Flitzer von Honshu. Das Zeug ist einfach aus dem Nichts aufgetaucht, Paul, aus dem Nichts!«
»Wurde von keinem Gerät registriert? Nein? Gut, wir werden alles nachprüfen.«
Die ruhige Zuversicht in Paul Bendens Stimme wirkte ansteckend auf Ongola. Diesen Tonfall hatte er während der ganzen Cygnus-Schlacht gehört, und auch jetzt flößte er ihm neuen Mut ein.
Den hatte er freilich auch dringend nötig. Ehe Paul Benden am Spätnachmittag eintraf, war die Zahl der Toten und Verwundeten erschreckend angestiegen. Von den zwanzig Leuten, die an diesem Morgen auf die Jagd gegangen waren, waren nur drei zurückgekehrt: Sorka Hanrahan, Sean Connell und David Catarel. Letzterer hatte, hilflos im Wasser stehend, zusehen müssen, wie seine Begleiterin, Lucy Trubberman trotz heftigster Bemühungen ihrer Zwergdrachen am Flußufer von dem Regen zerfressen wurde. Er hatte tiefe Brandwunden auf der Kopfhaut, auf der linken Wange, an Armen und Schultern und stand unter einem schweren Schock.
Zwei Säuglinge, die man offensichtlich im letzten Augenblick in einen kleinen Metallbehälter geworfen hatte, waren die einzigen Überlebenden des größten Tuareg-Lagers auf den Ebenen westlich der großen Biegung des Paradiesflusses. Sean und Sorka hatten sich auf die Suche nach den Connells gemacht, die zuletzt am östlichen Ausläufer der Provinz Kahrain gesichtet worden waren. Auf den nördlichen Besitzungen am Jordan meldete sich niemand. Es sah schlimm aus.
Porrig Connell hatte ausnahmsweise auf die Warnungen der Zwergdrachen gehört und in einer Höhle Unterschlupf gesucht. Sie war nicht groß genug gewesen, um alle seine Pferde aufzunehmen, und vier von den Stuten waren umgekommen. Als sie draußen schrien, hatte der Hengst in der engen Höhle durchgedreht, und Porrig war nichts anderes übrigeblieben, als ihm die Kehle durchzuschneiden. Für die restlichen Stuten gab es kein Futter mehr, also kehrten Sean und Sorka noch einmal mit Heu und Lebensmitteln zu ihm zurück. Dann zogen sie weiter, um nach anderen Überlebenden zu suchen.
Die Du Vieux und die Holstroms auf Amsterdam, die Radelins und Duquesnes auf Bavaria und die Ciottis auf Mailand waren tot; weder von ihnen, noch von ihrem Vieh fand man eine Spur. Nur die Metalle und das dicke, freilich von tiefen Narben gezeichnete Silikonplastikdach zeugten noch davon, daß es hier einmal eine blühende Siedlung gegeben hatte. Die Leute hatten zum Bau ihrer Häuser die neuen, aus Pflanzenfasern gepreßten Platten verwendet. Niemand auf Pern würde dieses Material jemals wieder benützen.
Aus der Luft war die Schneise der Verwüstung, die der fadenförmige Regen in die Landschaft geschlagen hatte, unübersehbar. An ihren Rändern zappelten aufgequollene, wurmähnliche Wucherungen, die von feuerspeienden Zwergdrachengeschwadern angegriffen wurden. Der Streifen endete fünfundsiebzig Kilometer hinter dem schmalen Paradiesfluß, wo er die Lager der Tuareg vernichtet hatte.
Als es Abend wurde, fütterten die erschöpften Siedler zuerst ihre eigenen Zwergdrachen und legten dann gekochtes Getreide in kleinen Häufchen für die wilden Tiere aus, die zu scheu waren, um aus der Hand zu fressen.
»Davon war im EV-Bericht nirgends die Rede«, murmelte Mär Dook verbittert.
»Niemand hat je eine Erklärung für diese elenden Tupfen gefunden«, sagte Aisling Hempenstahl so laut, daß alle es hören konnten.
»Wir sind dieser Möglichkeit nachgegangen«, verteidigte sich Pol Nietro und nickte zu Bay hin, die müde an seiner Schulter lehnte.
»Trotzdem sollten wir, glaube ich, noch vor morgen früh zu einigen ersten Schlüssen kommen«, sagte Kitti. »Die Leute brauchen Tatsachen, das wird sie beruhigen.«
»Bill und ich haben die Berichte nachgelesen, die wir über die Tupfen gemacht haben…« Carol Duff-Vassaloe lächelte grimmig. »… im Jahr der Landung. Wir haben uns nicht mit jeder Stelle beschäftigt, aber jene, die wir untersucht haben und wo man das Wachstum der Bäume messen konnte, lassen auf eine Zeitspanne von mindestens hundertsechzig oder -siebzig Jahren schließen. Für mich ist es ziemlich offensichtlich, daß diese schreckliche Lebensform die Ursache für diese Muster war, weil sie alle organische Materie absorbiert, auf die sie trifft. Dem Himmel sei Dank, daß unsere Plastikbaustoffe größtenteils auf Silikon basieren. Wäre die Basis Kohlenstoff, dann wären wir zweifellos alle umgekommen.
Diese Seuche…«
»Seuche?« Chuck Havers' Stimme schnappte in ungläubigem Zorn über.
»Wie soll man es sonst nennen?« bemerkte Phas Radamanth auf seine trockene Art. »Wir müssen in Erfahrung bringen, wie oft sie auftritt. Alle hundertfünfzig Jahre? Diese Muster gab es überall auf dem Planeten, nicht wahr, Carol?« Sie nickte. »Und wie lange dauert sie, wenn sie einmal auftritt?«
»Dauern?« Chuck war entsetzt.
»Wir werden die Antworten finden«, erklärte Paul Benden entschlossen.
Am späten Abend wurden die beiden Psychologen der Kolonie eingeflogen, im Lazarett drängten sich noch immer die Verwundeten und unter Schock Stehenden, und die Spezialisten machten sich sofort an die Arbeit, um bei der Bewältigung der Traumata behilflich zu sein. Cherry Duff hatte auf die Nachricht hin einen Schlaganfall erlitten, erholte sich aber glänzend. Joel und seine Frau waren durch den Verlust ihrer Söhne völlig niedergeschmettert. Bernhard Hegelman hatte seinen eigenen Schmerz zurückgedrängt, um seine verstörte Frau und die anderen von Verlusten betroffenen Familien zu trösten.
Sean und Sorka hatten unermüdlich mit Schlitten alle Verwundeten herbeigeschafft, die sie finden konnten. Selbst die Unverletzten waren wie betäubt, manche weinten hemmungslos, bis man ihnen Beruhigungsmittel gab, anderen waren erschütternd still. Porrig Connell hatte seine älteste Tochter und seine Frau geschickt, damit sie sich um die Überlebenden kümmerten, während er mit seiner Großfamilie in der Höhle blieb.
»Das ist das erstemal, daß Porrig Connell irgend etwas für andere Leute getan hat«, bemerkte sein Sohn leise zu Sorka, die ihn wegen seines Zynismus schalt. »Er möchte, daß Cricket seine restlichen Stuten deckt, wenn sie gefohlt haben. Er erwartet von mir, daß ich meinen Hengst hergebe, nur weil er den seinen nicht richtig erzogen hatte!«
Sorka hielt klugerweise den Mund.
Mit einer Ausnahme hatten alle entfernten Siedlungen Kontakt mit Landing aufgenommen und entweder ihre Hilfe angeboten oder wenigstens ihr Mitgefühl zum Ausdruck gebracht. Die eine Ausnahme war das Bergwerkscamp Große Insel, bestehend aus Avril Bitra, Stev Kimmer, Nabhi Nabol und einigen anderen. Als Ongola die Protokolle durchsah, vermißte er diesen Außenposten.
Kenjo war wie durch Zauberei von seinem fernen Honshu-Plateau aufgetaucht und leitete die Lufterkundung. Bei Einbruch der Dunkelheit konnten er und sein Team genaue Karten und Aufnahmen vorlegen, die das Ausmaß des schrecklichen ›Fädenfalls‹, wie das Ereignis bald genannt wurde, dokumentierten. Die Biologengruppe traf sich nun wieder in der ursprünglichen Zusammensetzung in Landing, um festzustellen, mit was für einem Wesen man es hier zu tun hatte. Sobald die ersten Proben herangeschafft worden waren, stellten Kitti Fing und Windblüte ihre besonderen Kenntnisse für die Analyse der Lebensform zur Verfügung.
Leider lagen zu viele der von Freiwilligen unter beträchtlichen Gefahren gesammelten Exemplare allem Anschein nach sterbend in den Behältern aus Metall oder schwerem Plastik, in denen man sie aufbewahrt hatte. Offenbar kam nach etwa zwanzig Minuten die hektische Aktivität, die vieltausendfache Reproduktion der ursprünglichen Strähne zu dicken, zappelnden ›Würsten‹, zum Stillstand. Die Fäden verloren ihre Form, wurden schwarz und verwandelten sich unter der festeren Außenhaut in eine völlig leblose, klebrige, teerähnliche Masse. Der Kapitän der Mayflower, die am ausfransenden Nordrand der Niederschlagsfront mit Schleppnetzen gefischt hatte, entdeckte zufällig ein Fadensegment in einem Eimer mit Fischköder, legte einen festen Deckel darauf und meldete den Fund nach Landing. Man bat ihn, das Wesen wenn möglich durch vorsichtige Fütterung am Leben zu erhalten, bis man es nach Landing einfliegen konnte.
Bis dahin mußte das Ding im größten, dickwandigsten Plastikfaß an Bord der Mayflower untergebracht werden. Ongola zog den luftdicht verschlossenen Behälter an einer langen, am großen Transportschlitten befestigten Stahltrosse hinter sich her. Erst als die Besatzung das Flugzeug in der Ferne verschwinden sah, wagte sie sich wieder an Deck. Später erfuhr der Kapitän erstaunt, daß seine Tat als äußerst heldenhaft gerühmt wurde.
Als die pulsierende Lebensform Landing erreichte, hatte sie eine Gesamtlänge von einem Meter und einen Umfang von etwa zehn Zentimetern erreicht und ähnelte zusammengerollt einem dicken Kabeltau. Doppeltstarke Platten aus transparentem Silikonplastik wurden mit Metallstreifen zu einem stabilen Käfig verbunden, den man mit Quikplas am Boden befestigte. Mehrere dünne Schlitze wurden in die Wände gefräst und mit verschließbaren Klappen versehen. In die Deckplatte schnitt man ein Loch von der Größe der Faßöffnung, dann lockerte man den Faßdeckel und beförderte mit Hilfe grimmig entschlossener, aber dennoch ängstlicher Freiwilliger das schreckliche Geschöpf in den Käfig. Sobald die Lebensform sich im Innern des Plastikwürfels befand, wurde die Öffnung versiegelt.
Einer der Männer hastete in eine Ecke und übergab sich. Andere wandten das Gesicht ab. Nur Tarvi und Mär Dook beobachteten scheinbar ungerührt das sich windende Geschöpf, das die im Würfel bereitgelegte Nahrung gierig verschlang.
Während das Wesen hastig fraß, begann es in den verschiedensten, schmierig glänzenden Farben zu schillern: widerliche Grüntöne, mattes Rosa und gelegentlich ein Streifen Gelb strömten in Wellen über seine Oberfläche, und der Anblick wurde durch das dicke, klare Plastik widerwärtig verzerrt. Die Außenhaut des Wesens schien sich zu verfestigen. Erst bei seinem Tod bildete sich wahrscheinlich eine harte Schale, vermuteten die Beobachter, denn solche Hülsen hatte man in steinigem Gelände gefunden, wo der Organismus verhungert war. Das Innere verweste offensichtlich ebenso schnell, wie es sich ursprünglich vergrößert hatte. War es wirklich ein Lebewesen? Oder eine angriffslustige chemische Verbindung, die sich von Lebewesen ernährte? Sein Appetit war jedenfalls enorm, obwohl gerade der Vorgang des Essens seine physische Organisation zu stören schien, es war, als beschleunige das, was es verzehrte, seine Vernichtung.
»Seine Wachstumsgeschwindigkeit ist bemerkenswert«, sagte Bay ganz ruhig. Pol lobte sie hinterher, weil sie den anderen, die wie gelähmt vor dieser fetten Bedrohung gestanden hätten, ein Beispiel gegeben habe. »Eine solche Expansion erwartet man unter dem Mikroskop, aber nicht im Makrokosmos. Wo mag es hergekommen sein? Aus dem Weltraum?«
Verständnisloses Schweigen war die Antwort auf diese erstaunliche Frage, und alle im Raum wechselten teils überraschte, teils verlegene Blicke.
»Haben wir irgendwelche Informationen bezüglich der Periodizität von Kometen in diesem System?« fragte Mär Dook hoffnungsvoll. »Über diesen exzentrischen Himmelskörper vielleicht? Könnte unsere Oort'sche Wolke etwas mitgebracht haben? Außerdem gibt es auch noch die Theorie von Hoyle-Wickramansingh über das mögliche Vorhandensein von Viren, die nie völlig widerlegt werden konnte.«
»Das wäre aber ein verdammt großer Virus, Mär«, meinte Bill Duff skeptisch. »Und hat nicht jemand auf Ceti III diese alte Theorie in tausend Stücke zerrissen?«
»Wenn man bedenkt, daß das Zeug vom Himmel fällt«, überlegte Jim Tillek, »warum sollte es dann nicht aus dem Weltraum stammen? Ich bin nicht der einzige, dem aufgefallen ist, daß dieser rote Morgenstern im Osten in den letzten paar Wochen heller geworden ist. Ein merkwürdiges Zusammentreffen, nicht wahr, daß der Planet mit dem verrückten Orbit gerade in dem Augenblick die Bahn der inneren Planeten kreuzt, in dem dieses Zeug auf uns runterkommt? Könnte es von dort stammen? Gibt es in der Bibliothek irgendwelche Daten über diesen Planeten? Oder über etwas Ähnliches wie diese Fäden?«
»Ich werde Cherry fragen. Nein«, verbesserte sich Bill Duff, ehe jemand ihn daran erinnern konnte, daß die respekteinflößende Richterin momentan nicht verfügbar war. »Ich werde mir die Informationen selbst suchen und Ausdrucke mitbringen, damit wir sie studieren können.« Er verließ hastig den Raum, fast als sei er froh, eine Ausrede gefunden zu haben, um sich verdrücken zu können.
»Ich besorge mir eine Probe von dem Teil, der sich gegen den unteren Schlitz drückt«, sagte Kwan Marceau und suchte sich die notwendigen Instrumente so überstürzt zusammen, als wolle er nicht allzu lange über sein Vorhaben nachdenken.
»Wird eigentlich die - aufgenommene Menge kontrolliert?« fragte Bay. Den Ausdruck ›Nahrung‹ brachte sie angesichts dessen, was diese Wesen bereits konsumiert hatten, seit sie auf Pern gefallen waren, nicht über die Lippen.
»Im Moment nur, um zu beurteilen, wie häufig… diese Aufnahme erfolgen muß«, - Pol übernahm dankbar den Euphemismus -, »um den… Organismus am Leben zu erhalten.«
»Und um zu sehen, wie er stirbt«, fügte Kitti sanft, aber mit einem deutlich befriedigten Unterton hinzu.
»Und herauszufinden, warum alle anderen Vertreter der Gattung damals beim ersten Ansturm umgekommen sind«, ergänzte Phas Radamanth und zog die EV-Bilder aus dem Stapel von Ausdrücken heraus, den er vor sich liegen hatte.
«Sind sie denn wirklich alle umgekommen?« fragte Kitti.
Als am Morgen noch kein Bericht von den Wissenschaftlern vorlag, die die ganze Nacht durchgearbeitet hatten, ging das Murren los: erst ein immer noch schockiertes Geflüster beim Morgen-Klah; dann Gerüchte, die in alle Büros und auch in die hastig wiedereröffneten Wohnungen an den verlassenen Plätzen drangen. Am Abend zuvor hatte man am Freudenfeuerplatz ein riesiges Feuer angezündet, das noch immer brannte. An jeder Ecke waren Pechfackeln aufgestapelt, die nur noch angesteckt zu werden brauchten, und im Laufe des Tages wurden die Stapel immer größer.
Viele der leichteren Schlitten, die in Landing gestanden hatten, brauchten neue Kanzeldächer. Die verwesten Fädenhülsen fegte man mit Masken und dicken Arbeitshandschuhen hinaus.
Die geflügelten Freunde hatten einen neuen, Respekt verratenden Namen bekommen: Feuerdrachen. Auch Leute, die die Tiere bisher verachtet hatten, trugen nun Leckerbissen für sie in den Taschen. Landing wimmelte von dickbäuchigen Zwergdrachen, die in der Sonne schliefen.
Mittags wurde von der alten Gemeinschaftsküche eine Mahlzeit ausgegeben, und die Gerüchte verdichteten sich. Am Nachmittag führten Ted Tubberman und ein Gleichgesinnter mit tränenverschmierten und schmerzverzerrten Gesichtern Angehörige von Opfern der Katastrophe zur Tür der Isolierstation.
Paul und Emily kamen mit Phas Radamanth und Mär Dook heraus.
»Nun? Habt ihr festgestellt, was das für ein Wesen ist?« wollte Ted wissen.
»Es ist ein komplexes, aber durchschaubares Netzwerk von feinen Fasern, das etwa einer terrestrischen Mykorrhiza entspricht«, begann Mär Dook. Tubbermans Verhalten erregte seinen Unmut, aber er respektierte seinen Kummer.
»Das sagt nicht viel, Mär«, gab Ted zurück und schob streitlustig das Kinn vor. »In all den Jahren, seit ich Botaniker bin, habe ich noch nie einen Pflanzensymbionten gesehen, der für Menschen gefährlich gewesen wäre. Was kommt denn als nächstes? Ein tödliches Moos?«
Emily wollte die Hand auf Tubbermans Arm legen, um ihm ihr Mitgefühl zu zeigen, aber er zuckte zurück.
»Es gibt nicht viel, worauf wir uns stützen können«, meldete sich Phas scharf zu Wort. Er war müde, und die ganze Nacht in der Nähe dieses monströsen Wesens zu arbeiten, war eine schreckliche Nervenbelastung gewesen. »Auf keinem der Planeten, die von Menschen erkundet wurden, hat man je so etwas entdeckt. Am nächsten kommen der Sache noch einige fiktive Vorstellungen aus dem Religiösen Zeitalter. Wir müssen uns eingehender damit befassen, um es besser zu verstehen.«
»Es lebt also noch? Ihr haltet es am Leben!« Teds Gesicht wurde aschgrau vor blinder Empörung. Seine Begleiter nickten zustimmend, und neue Tränen liefen ihnen über die Gesichter. Mit zornigem Gemurmel drängte sich die Delegation näher an den Eingang; sie alle suchten nach einem Ventil für ihre Frustration und ihren ohnmächtigen Kummer.
»Natürlich müssen wir es studieren, Mann.« Mär Dook bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Um genau herauszufinden, was es ist. Dazu muß es gefüttert werden, um… sich zu halten. Wir müssen feststellen, ob dies erst der Beginn seines Lebenszyklus ist.«
»Erst der Beginn!« schrie Tubberman. Paul und Phas sprangen herbei, um den rasenden Botaniker festzuhalten. Lucy war seine Tochter, aber auch sein Lehrling gewesen, und zwischen den beiden hatte eine tiefe Zuneigung bestanden. »Bei allem, was heilig ist, damit mache ich jetzt ein Ende!«
»Ted, sei doch vernünftig. Du bist Wissenschaftler!«
»Zuerst einmal bin ich Vater, und meine Tochter ist… von einem dieser Wesen aufgefressen worden! Ebenso wie Joe Milan, Patsy Swann, Eric Hegelman, Bob Jorgensen und…« Tubbermans Gesicht war jetzt totenblaß. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und sein ganzer Körper bebte in hilflosem Zorn. Er starrte Emily und Paul anklagend an. »Wir haben euch beiden vertraut. Wie konntet ihr uns an einen Ort bringen, wo unsere Kinder und alles, was wir in den vergangenen acht Jahren geschaffen haben, einfach aufgefressen werden!«
Das Gemurmel der Delegation unterstützte seinen Vorwurf.
»Wir«, - seine Handbewegung schloß die dichtgedrängte Menge hinter sich mit ein -, »wollen, daß das Wesen getötet wird. Ihr habt lange genug Zeit gehabt, es zu studieren. Kommt, Freunde. Wir wissen, was wir zu tun haben!« Er warf den Biologen einen letzten, verbitterten Blick zu, drehte sich um und stieß grob die Leute zur Seite, die ihm im Weg standen. »Feuer vernichtet es.«
Damit stapfte er wütend davon. Seine Anhänger folgten ihm.
»Was sie auch tun, es ist egal, Paul«, sagte Mär Dook und hielt Paul Benden zurück, der hinterherlaufen wollte. »Das Vieh liegt schon jetzt im Sterben. Laß ihnen den Kadaver, sollen sie doch ihre Wut daran auslassen. Die Untersuchungen, die wir durchführen können, sind ohnehin fast abgeschlossen.« Er zuckte müde die Achseln. »Auch wenn sie uns nicht viel gebracht haben.«
»Und was haben sie gebracht?« fragte Paul ermunternd. Mär Dook und Phas winkten ihm und Emily, noch einmal mit in die Isolierstation zu kommen, wo Pol, Bay und die beiden Genetikerinnen immer noch mit ihren Notizen beschäftigt waren.
Mär Dook rieb sich das Gesicht, seine fahle Haut war grau vor Erschöpfung, als er sich über einen Tisch beugte, der mit Bändern und Objektträgern übersät war. »Wir wissen jetzt, daß es hauptsächlich aus Kohlenstoffverbindungen aufgebaut ist, aus komplexen, sehr großen Eiweißkörpern, die ruckartig den Zustand wechseln und Bewegung erzeugen, und aus anderen, die eine unglaubliche Vielfalt von organischen Substanzen angreifen und verdauen. Es sieht fast so aus, als sei dieses Wesen ganz gezielt darauf angelegt, unsere Art von Leben zu bekämpfen.«
»Ich bin froh, daß du das für dich behalten hast«, stellte Emily trocken fest und deutete mit einer Kopfbewegung nach draußen, wo sich die Gruppe der Unzufriedenen langsam entfernte.
»Mär Dook, was du eben gesagt hast, kann nicht dein Ernst sein«, begann Paul und legte beide Hände auf die Schultern des übermüdeten Biologen. »Gefährlich mag es sein, ja, aber darauf angelegt, uns zu töten?«
»Es ist eigentlich nur so ein Gedanke«, entgegnete Mär Dook mit einem etwas verlegenen Grinsen. »Phas hat eine noch verrücktere Idee.«
Phas räusperte sich nervös. »Na ja, es ist so unerwartet aus dem Nichts aufgetaucht, daß ich mich gefragt habe, ob es möglicherweise eine Waffe sein könnte, die den Boden für eine Invasion vorbereiten soll.« Wie vom Blitz getroffen starrten Paul und Emily ihn an, Bay rümpfte abfällig die Nase, und Kitty Fing schien sich zu amüsieren. »So unlogisch ist diese Interpretation nämlich gar nicht. Und mir ist sie immer noch lieber als Bays Überlegung, diese Form könnte nur der Anfang eines Lebenszyklus sein. Was danach folgen könnte, macht mir Angst.«
Wie betäubt von einer so schrecklichen Möglichkeit blickten Paul und Emily sich um. Aber Pol Nietro stand von seinem Stuhl auf, räusperte sich und sah nachsichtig in die Runde.
»Das ist wieder so eine Idee aus der Mottenkiste des Religiösen Zeitalters, Mär«, sagte er dann und lächelte ironisch. Er warf seiner Frau einen entschuldigenden Blick zu und bemerkte dann Kitti Pings ermunterndes Lächeln. »Und meiner Ansicht nach sehr wahrscheinlich. Wenn der Lebenszyklus Formen produziert, die uns feindlich gesinnt sind, wo sind dann die Nachkommen der späteren Metamorphosen? Das EV-Team mag sich geirrt haben, als es die Tupfen für ungefährlich erklärte, aber es hat auch keine anderen mit dieser Welt nicht zu vereinbarenden Lebensformen entdeckt.
Was eine Invasion aus dem Weltraum angeht, so hat man festgestellt, daß jeder andere Planet in diesem Raumsektor für Lebensformen ungeeignet ist, die auf Kohlenstoff basieren.« Pol begann sich für seine eigene Theorie zu erwärmen und sah, daß Emily sich allmählich von ihrem Schock erholte.
»Und wir haben nachgewiesen, daß dieses Wesen« - er deutete mit dem Daumen auf den verfärbten Würfel -»aus Kohlenstoffverbindungen besteht. Es scheint also, als wäre es mehr oder weniger auf unser System hier beschränkt. Und wir werden herausfinden, wo es herkommt.« Nach dieser hastig hervorgesprudelten Erklärung war Pol offenbar am Ende seiner Kräfte, und er lehnte sich erschöpft gegen den hohen Laborständer. »Aber ich glaube, daß ich recht habe. Daß wir die schlimmsten Interpretationen vorgetragen haben, die man aus den gewonnen Informationen herauslesen kann, hat sozusagen die Atmosphäre gereinigt.« Er zuckte leicht die Achseln, fast als wolle er sich entschuldigen, und lächelte Phas und Bay hoffnungsvoll an.
»Ich habe immer noch das Gefühl, daß wir bei der Untersuchung etwas übersehen haben«, meinte Phas kopfschüttelnd. »Etwas, das offenkundig und wichtig ist.«
»Nach vierzig Stunden im Geschirr kann keiner mehr klar denken.« Pol packte Phas an den Schultern und schüttelte ihn. »Wir sehen uns deine Notizen noch einmal an, wenn du dich ein wenig ausgeruht und etwas gegessen hast, und zwar anderswo, nicht in diesem Gestank hier. Jim, Emily und ich bleiben noch und kümmern uns um Teds Delegation. Die Leute sind völlig überreizt.« Er seufzte. »Ich kann es ihnen nicht verdenken. Ein so plötzlicher Verlust ist immer ein Schock. Persönlich würde ich allerdings sagen, wir sollten uns auf das Schlimmste einstellen. Da ihr mehrere gräßliche Möglichkeiten angedeutet habt, kann uns nichts mehr überraschen. Und wir sollten uns überlegen, wie wir künftig die Auswirkungen solcher Vorkommnisse auf die Siedlungen mildern können.«
Paul sprach leise mit einem der Psychologen, der der Ansicht war, die angestaute Aggression der Hinterbliebenen könnte am besten durch eine Zeremonie abgebaut werden, die er als ›rituelle Verbrennung‹ bezeichnete. Also ließ man Ted Tubberman und seine Anhänger gewähren, als sie die Herausgabe des Würfels verlangten, ein großes Feuer entfachten und ihn darin verbrannten. Bei dem dabei entstehenden Gestank wurde vielen übel, aber das führte dazu, daß die Zuschauer sich schnell zerstreuten. Nur Ted blieb mit ein paar anderen zurück, um zu warten, bis die Asche ausgekühlt war.
Der Psychologe schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube, ich muß Ted Tubberman eine Weile im Auge behalten«, erklärte er Paul und Emily. »Es hat offensichtlich nicht genügt, um seinen Kummer zu lindern.«
Am nächsten Morgen richtete man Teleskope auf den exzentrischen Planeten. Seine rötliche Farbe war, wie Ezra Keroon vermutete, auf die Staubwirbel zurückzuführen, die er vom Rand des Systems mitgebracht hatte. Obwohl es keinen Beweis gab, hatten alle Beobachter das Gefühl, daß der Planet irgendwie für die Katastrophe verantwortlich war.
Im Laufe des Tages entdeckte Kenjos Gruppe Spuren eines früheren Fädenfalls auf der Insel Ierne, ein Augenzeuge hatte ihn allerdings eher als Gewittersturm mit schwarzen Staubteilchen in Erinnerung. Ein auf den Nordkontinent entsandter Kundschafter fand dort auf der östlichen Halbinsel Spuren von Zerstörungen aus jüngerer Zeit. Diese Entdeckung machte die Hoffnung zunichte, daß der Niederschlag einmalig oder auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt sein konnte. Auch eine Überprüfung der Sondenaufnahmen des EV-Protokolls löste die Spannung nicht, denn das Fax zeigte eindeutig, daß die Niederschläge vor zweihundert Jahren sehr weit verbreitet gewesen sein mußten. Man errechnete, daß das Ereignis kurz vor dem Eintreffen des Teams stattgefunden haben mußte. Mit immer bedrohlicherem Nachdruck wurde gefordert, das Ausmaß und die Häufigkeit der Fadenfälle festzustellen.
Um die immer größer werdenden Ängste und Spannungen abzubauen, machten sich Betty Musgrave-Blake und Bill Duff daran, die ersten botanischen Informationen der EV-Berichte zu überprüfen. Ted Tubberman war der einzige qualifizierte Botaniker, der noch am Leben war, aber er war die ganze Zeit damit beschäftigt, jede einzelne Fadenhülse aufzuspüren und seine Ausbeute allabendlich zu verbrennen. Die Psychologen überwachten ihn weiterhin.
Aus den ursprünglichen Daten leiteten Betty und Bill ab, daß die Bedrohung in Abständen von zweihundert Jahren auftrat. Nachdem sie das Alter der größten Bäume aus der Zeit des letzten Fädenfalls mit einbezogen hatten, gaben sie noch zehn bis fünfzehn Jahre für die Regeneration der Vegetation auf den beschädigten Kreisen zu. Betty formulierte diese Schlußfolgerungen als definitive Erkenntnisse, die Optimismus verbreiten sollten, aber auf die entscheidende Frage, wie lange der tödliche Regen noch fallen würde, konnte auch sie keine Antwort geben.
Um Mars Theorie eines gezielten Plans oder Phas' ebenso beunruhigende Vermutung einer Invasion zu entkräften, verbrachte Ezra Keroon einen ganzen Tag am Interface mit dem Zentralcomputer auf der Yokohama. Seine Berechnungen ergaben zweifelsfrei, daß der exzentrische Planet eine Umlaufbahn von 250 Jahren Dauer hatte. Im inneren System verbrachte er jedoch nur kurze Zeit, ähnlich wie der Halley'sche Komet, der sich in regelmäßigen Abständen der Sonne näherte. Man konnte nun eigentlich nicht mehr davon ausgehen, daß zwischen den beiden Ereignissen kein Zusammenhang bestand, und deshalb programmierte Ezra nach Rücksprache mit Paul und Emily eine der wenigen noch vorhandenen Sonden der Yokohama darauf, den Planeten zu umfliegen und seine Zusammensetzung und besonders die Bestandteile seiner offenbar gasförmigen Hülle festzustellen.
Obwohl alle Berichte sofort nach ihrem Eintreffen ehrlich und vollständig der ganzen Bevölkerung bekanntgemacht wurden, waren bis zum Abend die alarmierendsten Deutungen und Spekulationen entstanden. Verbissen bemühten sich die verantwortungsbewußteren Bewohner, jene zu beruhigen, die sich von Panik überwältigen ließen.
Dann kam Kenjo völlig ratlos zu Betty und erzählte ihr von einer beunruhigenden Beobachtung. Sie informierte unverzüglich Paul und Emily, und man rief ohne Aufsehen all jene Leute zusammen, die in der Lage waren, die Situation einigermaßen objektiv zu betrachten.
»Sie wissen alle, daß ich die betroffenen Gebiete überflogen habe, um das Ausmaß der Verwüstungen festzustellen«, begann Kenjo. »Ich merkte gar nicht, was ich sah, bis es mir oft genug begegnet war und ich begriff, daß etwas nicht da war.« Er zögerte, als wappne er sich gegen Vorwürfe oder Zweifel. »Ich glaube nicht, daß alle Fäden verhungert sind. Und der verrückte Tubberman ist nicht so weit vorgedrungen wie ich. An den meisten Stellen findet man Hülsen! Aber in neun Kreisen, die ich gesehen habe - und ich bin sogar gelandet, um ganz sicher zu gehen - gab es keine Hülsen.« Er fuchtelte mit beiden Händen durch die Luft. »Überhaupt keine. Diese Kreise lagen weit auseinander, nicht in einer Gruppe, und das Gebiet - das verwüstete Gebiet - war nicht so groß wie üblich.« Er blickte der Reihe nach in die ernsten Gesichter. »Ich habe es gesehen. Ich habe es beobachtet. Ich habe auch Bilder davon.«
»Schön«, sagte Pol mit einem müden Seufzer und streichelte zerstreut die gefalteten Hände seiner Frau, die neben ihm am Tisch saß. »Aus biologischer Sicht ist es konsequent, wenn zur Erhaltung einer Art viele berufen, aber nur wenige auserwählt werden. Vielleicht werden die meisten Organismen auf dem Weg durch den Weltraum geschädigt. Es erleichtert mich fast, daß ein paar tatsächlich überleben und sich entwickeln. Das ergibt eher einen Sinn. Ich ziehe diese Theorie manchen anderen vor, die in letzter Zeit verbreitet wurden.«
»Ja, aber was wird in der nächsten Metamorphose daraus?« fragte Bay deprimiert. Manchmal war man auch gescheitert, wenn man recht behielt.
»Das müssen wir eben herausfinden«, erklärte Paul und sah sich um Unterstützung heischend um. »Gibt es in der Nähe eine dieser Stellen, Kenjo?« Als der Pilot ihm die Lage auf der Karte zeigte, nickte er. »Schön. Phas, Pol, Bill, Ezra, Bay und Emily, ihr verlaßt Landing unauffällig mit kleinen Schlitten. Mal sehen, ob wir den nächsten Schwung wilder Phantastereien nicht im Ansatz stoppen können. Meldet euch zurück, sobald ihr könnt.«
Paul schickte Betty zu ihrem Baby nach Hause und befahl ihr, sich auszuruhen. Boris Pahlevi und Dieter Clissman wurden herbeordert, um ein umfassendes Computerprogramm zu entwerfen, das die ständig eintreffenden Daten analysieren sollte. Dann warteten Paul und Ongola gespannt auf die Rückkehr der anderen Spezialisten.
Als erste kamen Pol, Bay und Phas, und sie brachten wenig gute Nachrichten.
»Alle Insekten, Schneckenformen und Raupen, die wir an diesen Stellen gefunden haben«, berichtete Phas, »scheinen harmlos zu sein. Einige sind bereits katalogisiert, aber«, fügte er achselzuckend hinzu, »wir haben noch kaum angefangen, die einzelnen Geschöpfe und ihre Funktion im ökologischen System dieses Planeten zu bestimmen. Kenjo hatte recht, uns zu warnen. Einige der Fäden oder Sporen überleben eindeutig und pflanzen sich auch fort, Bays Theorie ist also momentan die stichhaltigste.« Phas wirkte erleichtert. »Aber ich werde so lange nicht mehr ruhig schlafen, bis ich den ganzen Zyklus kenne.«
Am Spätnachmittag des dritten Tages nach jenem ersten Fädenfall kam ein fast hysterischer Anruf von Wade Lorenzo auf Sadrid in der Provinz Mazedonien. Jacob Chernoff war am Komgerät und nahm sofort Kontakt mit Ongola und Paul im Verwaltungsgebäude auf. »Er sagt, es kommt direkt über das Meer, geradewegs auf ihn zu, Sir. Sein Anwesen liegt genau westlich auf der Zwanzig-Grad-Linie. Ich habe ihn auf Kanal siebenunddreißig gelegt.«
Noch während Paul den Hörer aufnahm und den Kanal eintippte, suchte er auf der großen Karte des Kontinents die Küstensiedlung Sadrid.
»Alles soll unter Silikonplastik in Deckung gehen«, ordnete er an. »Stecken Sie das Zeug in Brand, wenn es auf den Boden trifft, nötigenfalls mit Fackeln. Haben Sie Zwergdrachen?«
Die tiefen Atemzüge des um Fassung ringenden Farmers drangen aus dem Hörer. »Wir haben einige Zwergdrachen, Sir, und auch zwei Flammenwerfer - wir haben damit das Gestrüpp gerodet. Wir dachten, es sei nur ein besonders schlimmes Gewitter, bis wir die Fische fressen sahen. Können Sie nicht herkommen?«
»Wir sind so schnell wie möglich da.«
Paul bat Jacob, niemandem von dem neuen Fädenfall zu erzählen.
»Man soll die Panik, die wir ohnehin schon haben, nicht noch schüren, Sir«, stimmte Jacob zu.
Paul lächelte kurz über den leidenschaftlichen Ernst des Jungen, dann rief er Jim Tillek in der Hafenmeisterei von Monaco Bay an und fragte, ob sich irgendwelche Fischdampfer im Südwesten in der Nähe von Sadrid aufhielten.
»Heute nicht. Probleme?«
Soviel zu dem Versuch, sich nichts anmerken zu lassen, dachte Paul. »Kannst du hierher ins Verwaltungsgebäude kommen, ohne daß es überstürzt aussieht?«
Ongola starrte verbissen auf die Karte, sein Blick huschte zwischen Mazedonien und dem Delta hin und her. »Ihr Anwesen am Bocafluß ist nicht sehr weit von Sadrid entfernt«, erklärte er dem Admiral.
»Ich habe es bemerkt.« Paul wählte seine eigene Nummer, brachte seiner Frau in knappen Sätzen die schlechte Nachricht bei und erklärte ihr, welche Vorsichtsmaßnahmen sie treffen sollte. »Ju, vielleicht kommt es nicht bis zu uns, aber…«
»Man sollte lieber auf Nummer Sicher gehen, nicht wahr?«
Paul war stolz, daß sie so ruhig reagierte. »Ich halte dich auf dem laufenden, sobald wir neue Informationen bekommen. Wenn wir Glück haben, bleibt dir mindestens noch eine Stunde Zeit, falls es in diesem Moment Sadrid erreicht hat. Ich komme, sobald ich kann. Durchaus möglich, daß Boca weit genug im Norden liegt. Das Zeug scheint nach Südwesten abgetrieben zu werden.«
»Fragen Sie sie, ob ihre Zwergdrachen sich normal verhalten«, schlug Ongola vor.
»Sie sonnen sich, wie immer zu dieser Tageszeit«, berichtete Ju. »Ich werde sie beobachten. Wissen sie wirklich im voraus, wann das Zeug kommt?«
»Ongola glaubt es. Ich melde mich später, Ju.«
»Ich habe eben die Logorides in Thessalien erreicht«, sagte Ongola. »Könnte sein, daß sie auf der Bahn liegen. Sollten wir Caesar auf Roma nicht auch warnen? Er hat so viel Vieh.«
»Er war allerdings auch schlau genug, Steingebäude zu errichten, aber rufen Sie ihn ruhig an, und fragen Sie dann nach, ob das neue Programm von Boris und Dieter schon läuft. Verdammt, wenn wir nur genau wüßten, wann es angefangen hat und wie weit es gehen wird«, murmelte Paul nervös. »Ich werde den Transport organisieren.« Er rief den Technikerschuppen an und fragte nach Kenjo.
»Ein neuer Fädenfall? Wie weit entfernt?« fragte Kenjo. »Sadrid? Auf dem zwanzigsten? Ich habe da etwas, damit können wir in etwas mehr als einer Stunde dort sein.« Kenjos normalerweise so gelassene Stimme zitterte vor Aufregung.
»Fulmar hat einen der mittelgroßen Schlitten mit Düsenverstärkern ausgerüstet und glaubt, wir müßten selbst bei voller Beladung mindestens siebenhundert Stundenkilometer rausholen können. Bei geringem Gewicht noch mehr.«
»Wir müssen so viele Flammenwerfer mitnehmen wie möglich und außerdem Notvorräte. Wir verwenden HNO3-Zylinder - das ist, als ginge man gleichzeitig mit Feuer und Wasser gegen die Sporen vor. Pol und Bay wiegen nicht viel, und als Beobachter sind sie von unschätzbarem Wert. Wir brauchen mindestens einen Mediziner, zwei Sanitäter, außerdem werden Tarvi, Jim und ich dabei sein. Insgesamt acht Leute. Schön, wir sind dann gleich bei Ihnen.« Paul wandte sich an Ongola. »Etwas erreicht?«
»Wenn wir ihnen schon nicht sagen können, wann es angefangen hat, dann möchten sie wenigstens wissen, wann es aufhört«, sagte Ongola. »Je mehr Fakten wir ihnen geben können, desto genauer werden die Voraussagen - beim nächstenmal. Gehöre ich zu den acht Leuten?«
Paul schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich brauche Sie hier, falls irgendwo Panik ausbricht. Verdammt, wir müssen diese Sache irgendwie in den Griff bekommen.«
Ongola schnaubte belustigt. Paul Bendens Fähigkeit, in Notsituationen eine bestens funktionierende Organisation aufzubauen, war bereits legendär. Innerhalb von zwanzig Minuten nach dem ersten Anruf waren Beobachter, Crew und Vorräte an Bord des frisierten Schlittens, und die Maschine war schon in der Luft und außer Sicht, ehe Ongola das gedämpfte Röhren des verstärkten Antriebs hörte.
Passagiere und Vorräte waren fest angeschnallt, und Kenjo flog den Schlitten mit Höchstgeschwindigkeit. Sie rasten über die grüne Landspitze der unberührten Halbinsel am Jordan vorbei und dann hinaus auf das Meer, wo sporadische, aber heftige Gewitterschauer Turbulenzen verursachten und den ohnehin schon unruhigen Flug in der nicht für solche Geschwindigkeiten gebauten Maschine noch unangenehmer machten.
»Keine Spur vom vordersten Rand des Niederschlags. Die Wolkenformation südlich von uns besteht zur Hälfte nur aus Regen«, sagte Paul, blickte vom Teleskop auf und rieb sich die Augen. »Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht«, fügte er leise hinzu, »haben diese Schauer auch Sadrid gerettet.«
Trotz der hohen Geschwindigkeit schien der hauptsächlich über Wasser führende Flug kein Ende nehmen zu wollen. Plötzlich verringerte Kenjo das Tempo. Auf der Steuerbordseite war nun das Meer zu erkennen, nicht mehr nur ein blauer Wischer, und backbords konnte man durch den Dunst der Regenschauer undeutlich das riesige Festland näher kommen sehen. Die Sonne brach durch die Wolken und beschien vom Wind gepeitschte Pflanzen ebenso wie kahlgefressene Stellen.
»Selten ein Schaden ohne Nutzen«, bemerkte Jim Tillek und zeigte auf das Meer, das unter Wasser mehr aufgewühlt wurde als an der Oberfläche durch den Wind.
»Übrigens habe ich, ehe ich Monaco Bay verließ, unsere mit Flossen ausgestatteten Freunde beauftragt, sich umzusehen und so viel wie möglich herauszufinden.«
»Du lieber Himmel!« rief Bay und preßte das Gesicht gegen das dicke Plastik des Kanzeldachs. »So schnell können sie doch nicht bis hierher gekommen sein.«
»Wohl kaum«, lachte Jim leise, »aber für die Einheimischen ist der Tisch wirklich reich gedeckt.«
»Sitzen bleiben!« schrie Kenjo und kämpfte mit dem Steuerjoch.
»Wenn die Delphine feststellen könnten, wo es angefangen hat… Fakten, das ist es, was Dieter und Boris brauchen.« Paul ging wieder an das vordere Teleskop. »Sadrid hatte nur teilweise Glück«, fuhr er stirnrunzelnd fort. »Es sieht aus, als hätte jemand die Pflanzen dicht über dem Boden mit einem heißen Messer abrasiert«, murmelte er leise und wandte sich ab. »Bringen Sie uns runter, so schnell es geht, Kenjo!«
»Es war der Wind«, erklärte Wade Lorenzo der Rettungsmannschaft. »Der Wind hat uns gerettet, und die Regenschauer. Es hat in Strömen gegossen, aber es war Wasser, keine Fäden. Nein, uns ist nicht viel passiert«, versicherte er ihnen und zeigte auf die Zwergdrachen, die auf den Dachbalken saßen und sich putzten. »Sie haben uns beschützt, genau wie damals in Landing.« Die jüngeren Kinder wurden gerade aus einem der großen Gebäude geführt und sahen sich mit großen Augen ängstlich um. »Aber wir wissen nicht, ob Jiva und Bahka durchgekommen sind. Sie waren draußen beim Fischen.« Er zeigte mutlos nach Westen.
»Wenn sie nach Nordwesten gefahren sind, hatten sie eine gute Chance«, beruhigte ihn Jim.
»Aber wir sind ruiniert«, schaltete sich Athpathis ein. Der Agronom deutete verzweifelt auf die verwüsteten Felder und Obstgärten.
»In Landing gibt es noch genügend Sämlinge«, versicherte ihm Pol Nietro und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »Und das Klima hier ermöglicht mehrere Ernten im Jahr.«
»Wir kommen später wieder«, sagte Paul und half mit, die Flammenwerfer auszuladen. »Jim, kannst du hier die Aufräumarbeiten leiten? Du weißt, was zu tun ist. Wir müssen die Hauptwolke bis ans Ende verfolgen. Hier, Wade. Machen Sie Asche aus dem Zeug!«
»Aber Admiral -« begann Athpathis; das Weiße seiner angstvoll aufgerissenen Augen hob sich grell von seinem sonnengebräunten Gesicht ab.
»Es liegen noch zwei weitere Anwesen im Gefahrenbereich«, erklärte Paul, kletterte in den Schlitten und schloß die Luke.
»Direkt zu Ihnen nach Hause, Paul?« fragte Kenjo, als der Schlitten abhob.
»Nein, fliegen Sie zuerst nach Norden. Mal sehen, ob wir Jiva und Bakha finden können. Und dann bis an den Rand des Niederschlags.«
Sobald der Schlitten in der Luft war, schaltete Kenjo die Düsenverstärker zu, und die Passagiere wurden in die Sitze gepreßt. Aber gleich darauf verringerte er das Tempo wieder. »Sir, ich glaube, Ihr Besitz ist verschont geblieben.«
Sofort preßte Paul ein Auge an das Teleskop und sah zu seiner Erleichterung, wie die Pflanzen am Strand von den Windböen geschüttelt wurden. Jetzt war er beruhigt und konnte sich ohne Ablenkung auf die vordringlichsten Aufgaben konzentrieren.
»Aber das hört ja einfach auf wie abgeschnitten«, sagte Bay überrascht.
»Es ist Regen, glaube ich«, bemerkte Pol, auch er verrenkte sich den Hals, um durch das Siliplex des Kanzeldachs sehen zu können. »Seht mal, ist das nicht ein orangefarbenes Segel?«
Paul blickte mit einem müden Lächeln vom Teleskop auf. »Ja, tatsächlich, und es ist unversehrt. Stellen Sie die Position fest, Fusaiyuki, und dann weiter zu Caesar, mit allem, was die Kiste hergibt.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und umfaßte die Armstützen.
»Aye, aye, Sir.«
Wieder wurden die sechs Passagiere durch die Beschleunigung in die Sitze gepreßt, und wieder bremste Kenjo unvermittelt ab. Diesmal legte er den Schlitten auch noch so stark nach Backbord, daß er auf dem Schwanz zu rotieren schien.
»Position festgestellt, Admiral. Wie lauten die Befehle, Sir?«
Paul Benden lief es unwillkürlich kalt über den Rücken. Hoffentlich war das nur der Schreck über das unerwartete Manöver, dachte er, und nicht etwa eine Reaktion auf Kenjos militärische Anrede.
»Wir folgen der Bahn der Wolke und stellen fest, wie weit sich die Verwüstungen nach der Seite hin erstrecken. Ich werde den anderen Anwesen mitteilen, daß die Gefahr vorüber ist.«
Er gestattete sich, als erstes Kontakt mit seiner Frau aufzunehmen, und gab ihr einen kurzen Bericht, einerseits, um sie zu beruhigen, aber auch, um sich die Einzelheiten selbst genau einzuprägen.
»Soll ich eine Hilfsmannschaft schicken?« fragte sie. »In dem Bericht von Landing heißt es, das Zeug muß oft verbrannt werden, um es ganz zu vernichten.«
»Johnny Greene und Greg Keating sollen mit dem schnelleren Schlitten kommen. Flammenwerfer haben wir dabei.«
Auch andere Besitzer erboten sich, ihre Söhne zu schicken, und Paul lehnte nicht ab. Caesar Galliani machte den gleichen Vorschlag, fügte aber hinzu, seine Söhne müßten rechtzeitig zurück sein, um die große Herde auf Roma zu melken.
»Ich hatte doch recht, nicht wahr?« lachte der Tierarzt zufrieden, »daß ich mit meinen Steingebäuden soviel Aufwand getrieben habe?«
»Nicht zu leugnen, Caesar.«
»Wenn man sich sicher fühlen will, gibt es nichts Besseres als Steinmauern. Die Jungen brechen auf, sobald Sie mir eine Position angeben. Sie halten uns auf dem laufenden, Admiral, nicht wahr?«
Als Paul nun schon zum zweiten Mal so automatisch mit seinem alten Titel angesprochen wurde, zuckte er zusammen. Er hatte sieben Jahre lang glücklich als Zivilist und Agronom gelebt und verspürte nicht den Wunsch, sich nun wieder die Verantwortung des Befehlshabers aufzuladen. Dann blieben seine Augen an den verwüsteten Stellen hängen, die aus der Luft so gräßlich deutlich zu sehen waren. Dazwischen gab es unversehrte Streifen, wo Regenschauer die Fäden ertränkt hatten, ehe sie den Boden erreichten. Regen und Zwergdrachen! Schwache Verbündete gegen ein solches Unheil. Wenn es nach ihm ginge… Paul unterbrach diesen Gedankengang. Er hatte nicht das Kommando und wollte es auch gar nicht übernehmen. Dafür gab es jüngere Männer.
»Ich würde sagen, der Korridor ist fünfzig Kilometer breit«, verkündete Kenjo. Paul merkte, daß die anderen leise miteinander gesprochen hatten.
»Man kann zusehen, wie sich die Vegetation Meter für Meter auflöst«, sagte Bay erschrocken und sah Paul an. »Regen genügt nicht.«
»Er war eine Hilfe«, antwortete Tarvi, aber auch seine Augen waren auf Paul gerichtet.
»Wir bekommen Verstärkung von Thessalien und Roma. Auf dem Rückweg nach Sadrid verbrennen wir soviel, wie nötig ist. Gehen Sie runter, sobald Sie können, Kenjo. Landing braucht die Informationen, die wir heute gesammelt haben. Sie wollen Fakten, und sie werden sie kriegen.«
Als alle zur Verfügung stehenden HNO3-Zylinder erschöpft waren, waren auch die Leute am Ende. Pol und Bay waren den Flammenwerferteams gefolgt, hatten sich gewissenhaft Notizen über die Verteilung der Fäden gemacht und dankbar festgestellt, daß der Regen die Schäden doch ein wenig in Grenzen gehalten hatte. Paul bedankte sich bei den Männern von Thessalien und Roma und gab Kenjo Anweisung, mit mäßiger Geschwindigkeit nach Sadrid zurückzufliegen und Jim Tillek abzuholen.
»So müssen wir uns denn mit Flammenzungen rüsten, um gegen diese Bedrohung unseres gütigen, großzügigen Planeten anzukämpfen«, sagte Tarvi leise zu Paul, als sie schließlich nach Osten flogen, der schnell hereinbrechenden Nacht entgegen. »Ist Sadrid jetzt in Sicherheit?«
»Nach dem Grundsatz, daß ein Blitz nie zweimal ins gleiche Haus einschlägt?« scherzte Paul. »Solche Versprechungen können wir nicht geben, Tarvi. Ich hoffe jedoch, daß Boris und Dieter uns bald ein paar Antworten liefern werden.« Dann wandte er sich beunruhigt an Pol. »Das Zeug kann doch nicht völlig willkürlich fallen, oder?«
»Ziehen Sie die Theorie vor, daß es geplant ist? Nein, Paul, wir haben festgestellt, daß wir es mit einem nicht denkenden, heißhungrigen Organismus zu tun haben. Intelligenz ist nicht erkennbar«, antwortete Pol, er ballte und lockerte abwechselnd die Faust und wunderte sich über seine heftige Reaktion, »und noch viel weniger eine Spur von Vernunft. Ich ziehe weiterhin Bays Theorie eines Lebenszyklus mit zwei oder drei Phasen vor. Auch dabei ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, daß sich in einer der späteren Phasen Intelligenz entwickelt.«
»Die Wherries?« witzelte Tarvi.
»Nein, nein, lächerlich. Wir haben sie zurückverfolgt bis zu einem Seeaal, der ein gemeinsamer Vorfahre von ihnen wie von den Zwergdrachen ist.«
»Die Zwergdrachen haben uns mehr geholfen, als ich erwartet hätte«, gestand Tarvi. »Sallah behauptet steif und fest, sie hätten einen hohen Intelligenzgrad.«
»Pol, haben Sie oder Bay versucht, diese Intelligenz zu messen, als Sie die Mentasynthesebehandlung vornahmen?« fragte Paul Benden.
»Nein, eigentlich nicht«, gestand Pol. »Es war kein Grund dafür vorhanden, nachdem sich gezeigt hatte, daß ein gesteigertes Empathievermögen sie gefügiger machte. Es gab andere Prioritäten.«
»Absoluten Vorrang hat momentan, den Rahmen dieser Bedrohung abzustecken«, murmelte Paul. »Wir sollten alle ein paar Stunden schlafen.«
Sobald die Rettungsmannschaft nach Landing zurückgekehrt war, konnte man nicht mehr abstreiten, daß ein neuer Einfall stattgefunden hatte. Obwohl während der Reise Funkstille geherrscht hatte, waren Gerüchte nicht zu unterbinden gewesen.
»Das einzig Gute war«, sagte Paul zu Emily, während er eine hastig zubereitete Mahlzeit verzehrte, »daß es weit genug von hier entfernt passierte.«
»Wir haben immer noch nicht genug Fakten, um die Häufigkeit und die wahrscheinlichen Bahnen des Zeugs zu berechnen«, meldete Dieter Clissman. »Die Delphine konnten offenbar nicht herausfinden, wo und wann es angefangen hat. Im Meer achtet man nicht auf die Zeit. Boris fügt auf gut Glück Werte für Temperaturvariationen, Hoch- und Tiefdruckgebiete, Regenhäufigkeit und Windgeschwindigkeit in die Berechnungen ein.« Er stieß einen langgezogenen Seufzer aus und strich sich das dichte Haar aus der Stirn. »Im Regen ertrinkt es, wie? Feuer und Wasser vernichten es! Wenigstens ein Trost.«
Nur wenige ließen sich so leicht trösten. In Landing gab es sogar ein paar Leute, die froh waren, daß auch andere Teile des Kontinents unter der Katastrophe zu leiden hatten. Angst und Entsetzen hatten jedoch auch eine positive Auswirkung, niemand wehrte sich mehr gegen die Notverordnungen. Einige hatten zuerst gedacht, die von Landing ausgehenden Vorsichtsmaßnahmen sollten nur die vertraglich zugesicherte Autonomie einschränken, doch auch wer das offen ausgesprochen hatte, zog seine Einwände zurück, als Bilder der Verwüstung im Sadrid-Korridor - Pol hatte ihn so genannt - verteilt wurden. Danach hatten Ongola und sein Kommunikationsteam alle Hände voll zu tun, um abgelegenen Besitzungen Verhaltensmaßregeln zu geben.
Tarvi holte sich eine Mannschaft zusammen, mit der er rund um die Uhr leere Zylinder zu Flammenwerfern umbaute und sie mit HNO3 füllte. Dieses Oxidationsmittel hatte sich nicht nur als sehr geeignet zur Vernichtung der Fäden erwiesen, sondern war auch einfach und billig aus Luft und Wasser synthetisch herzustellen. Den dazu nötigen Strom lieferte die Wasserkraft, und es verschmutzte die Umwelt nicht. Am wichtigsten war jedoch, daß die Haut der Zwergdrachen wie der Menschen nicht allzu stark geschädigt wurde, wenn einmal ein Feuerstrahl danebenging. Mit einem innerhalb von zwanzig Sekunden aufgelegten nassen Tuch konnte man schwere Verbrennungen verhindern. Kenjo brachte mit einer Gruppe an den schwereren Schlitten Halterungen für die Flammenwerfer an. Er war nicht davon abzubringen, daß der Angriff nicht nur die beste Verteidigung sei, sondern auch aus der Luft erfolgen müsse. Von den Leuten in Landing, die den ersten Fädenfall überlebt hatten, stimmten ihm viele bereitwillig zu.
Das Feuer war die beste Waffe. Wie ein Witzbold es formulierte, war es die einzig zuverlässige Verteidigung, weil es schließlich noch niemand geschafft hatte, nach Bedarf Regen zu machen. Selbst die glühendsten Anhänger der Zwergdrachen wollten sich nicht völlig auf die Hilfe der kleinen Tiere verlassen.
Es gab nicht genug Hände, um alle notwendigen Arbeiten zu erledigen. Zweimal wurden Paul und Emily in Fällen von Arbeitspiraterie zu Schlichtern bestellt. Die Agronomen und Veterinäre verstärkten hastig die Unterstände für das Vieh. Höhlen wurden als mögliche Alternative in Betracht gezogen und erforscht. Leerstehende Lagerhallen in Landing wurden zu Stallungen für diejenigen Grundbesitzer umfunktioniert, die aus Sicherheitsgründen ihr Vieh hier unterbringen wollten. Joel Lilienkamp verlangte, wegen des Arbeitskräftemangels müßten die Siedler die Gebäude, die sie in Anspruch nehmen wollten, selbst ausbauen. Viele Grundbesitzer waren dagegen der Ansicht, das sei die Aufgabe von Landing, manche wollten auch ihr Anwesen nicht verlassen, solange man ihnen keine sicheren Unterkünfte garantierte. In den vergangenen acht Jahren hatte sich die Bevölkerung so stark vermehrt, daß die ursprünglichen Gebäude nicht einmal mehr die Hälfte der Siedler zu fassen vermochten.
Porrig Connell blieb in seiner Höhle, denn er hatte so viele miteinander verbundene Kammern entdeckt, daß er seine gesamte Großfamilie mit ihren Tieren unterbringen konnte. Außer den Ställen für seine Stuten und Fohlen hatte er noch eine Hengstbox gebaut, wo Cricket es sehr bequem hatte. In einem Anfall von Großmut erlaubte er sogar den Überlebenden einiger anderer Familien, in seinem Höhlenkomplex zu bleiben, bis sie einen eigenen gefunden hatten.
Obwohl Paul Benden und Emily Boll ihre offiziellen Ämter längst aufgegeben hatten, stellten sie - ebenso wie Jim Tillek, Ezra Keroon und Ongola - fest, daß man wegen vieler Entscheidungen zu ihnen kam, weil sie einst die Führer der Kolonie gewesen waren.
»Es ist mir immer noch lieber, sie wenden sich an mich als an Ted Tubberman«, bemerkte Paul müde zu Ongola, als der ehemalige Nachrichtenoffizier ihm die neuesten, dringenden Anfragen von entlegenen Besitzungen brachte. Dann wandte er sich wieder dem Psychologen Tom Patrick zu, der ihn über die jüngsten Nörgeleien und Gerüchte informiert hatte. »Tom?«
»Ich glaube nicht, daß Sie die Konfrontation noch lange aufschieben können«, sagte der Psychologe, »sonst verlieren Sie und Emily jede Glaubwürdigkeit, und das wäre ein großer Fehler. Sie beide wollen vielleicht das Kommando gar nicht übernehmen, aber jemand muß es tun. Tubberman untergräbt ständig die Moral und die Anstrengungen der Gemeinschaft. Er ist absolut negativ eingestellt, Sie müßten eigentlich froh sein, daß er die meiste Zeit unterwegs ist, um den Kontinent im Alleingang von verwesenden Fädenhülsen zu befreien. Der Kummer hat seine Wahrnehmungsfähigkeit und sein Urteilsvermögen vollkommen gestört.«
»Auf seine Phrasendrescherei fällt doch sicher niemand herein?« fragte Emily.
»Im Moment haben sich so viel Unbehagen, Groll und gute, ehrliche, kreatürliche Angst angestaut, daß einige Leute doch auf ihn hören. Besonders, wenn offizielle Stellungnahmen ausbleiben«, gab Tom zu bedenken. »Tubbermans Klagen enthalten immerhin ein Körnchen Wahrheit, wenn auch natürlich verzerrt.« Tom zuckte die Achseln und hob beide Hände. »Im Lauf der Zeit wird er sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehen - hoffe ich. Inzwischen hat er freilich ziemlich viel untergründige Unzufriedenheit geschürt, der man bald entgegenwirken muß. Und das sollten am besten Sie tun, meine Herren, und Emily und die anderen Kapitäne. Man vertraut Ihnen nämlich immer noch, trotz Tubbermans Anklagen.«
»Dann muß der Rubikon also noch einmal überschritten werden«, scherzte Paul und seufzte dann. Als er merkte, daß er mit dem linken Daumen an der gefühllosen Haut seiner Ersatzfinger rieb, hörte er sofort damit auf, lehnte sich müde in seinem Stuhl zurück und verschränkte beide Hände hinter dem Kopf, als müsse er ein zusätzliches Gewicht stützen.
»Eine Versammlung kann ich leiten, Paul«, sagte Cabot, als Paul ihn auf einer abhörsicheren Frequenz anrief, »aber im Unterbewußtsein betrachtet man Sie und Emily als die Führer der Kolonie. Macht der Gewohnheit.«
»Jede Entscheidung, uns wieder als solche einzusetzen, muß spontan fallen«, entgegnete Paul nach einer langen Pause nachdenklich. Emily nickte langsam. Die letzten Tage hatten den Admiral wie auch die Gouverneurin altern lassen. »Die Sache muß strikt nach der Verfassung gehandhabt werden, obwohl ich, bei allem, was heilig ist, nie damit gerechnet hatte, mich auf diese Eventualklauseln berufen zu müssen.«
»Allen höheren Mächten sei Dank, daß es sie gibt«, bemerkte Cabot salbungsvoll. »Es wird ein bis zwei Stunden dauern, um hier alles zu organisieren. Ach, übrigens, gestern am frühen Morgen sind auch ein paar Nachrichten von jenseits des Flusses eingegangen. Habe sie erst heute gegen Mittag bemerkt. Es hat den Südrand von Bordeaux erwischt. Wir sind Pat und seiner Crew ein wenig zur Hand gegangen. Dort ist alles in Sicherheit.« Damit legte er auf und ließ Paul völlig verdutzt zurück.
»Nach unserem kleinen Scharmützel mit dem Zeug«, sagte Cabot, als er persönlich eintraf, »kann ich allmählich einschätzen, wie ernst die Lage der Kolonie ist.« Ein hoffnungsvolles Lächeln, das seine scharfen, grauen Augen nicht erreichte, spielte um seinen kraftvollen Mund. »Ist es wirklich so schlimm, wie die Gerüchte behaupten?«
»Wahrscheinlich. Kommt auf den Ursprung der Gerüchte an«, antwortete Paul und verzog das Gesicht.
»Beziehungsweise darauf, ob man Optimist oder Pessimist ist«, fügte Jim Tillek hinzu. »Ich war auf der Asteroidenlinie schon schlimmer in der Klemme und bin mit heiler Haut wieder rausgekommen. Mir ist es lieber, wenn ich einen Planeten habe, in, auf und über dem ich manövrieren kann. Und vor allem das Meer.«
Cabots Lächeln verschwand, als er die fünf Leute betrachtete, die sich ohne Aufsehen im Wetterbeobachtungsturm versammelt hatten.
»Das meiste, was wir wissen«, sagte Paul, »ist negativ.
Aber…« Er zählte die häufigsten Gerüchte an seinen kräftigen, von der Arbeit fleckigen Fingern ab, um sie gleich zu widerlegen. »Es ist unwahrscheinlich, daß die Sporen die Vorläufer einer fremden Invasion sind, denn sie waren nicht auf dieses Gebiet allein begrenzt, sondern haben den Planeten den EV-Protokollen zufolge vor fast genau zweihundert Jahren auf mehr oder weniger die gleiche Weise befallen. Sie können von dem exzentrischen Planeten ausgehen oder auch nicht, er hat jedenfalls einen Orbit von zweihundertfünfzig Jahren. Und obwohl wir nicht wissen, wie ihr Lebenszyklus aussieht oder ob sie überhaupt einen haben - was die bisher brauchbarste Theorie behauptet -, sind die Sporen nicht das erste Stadium zum Beispiel der Tunnelschlangen, die haben viel ehrbarere Vorfahren, und auch keiner anderen Lebensform, die wir uns bisher angesehen haben.«
»Ich verstehe.« Cabot wiegte langsam das mächtige Löwenhaupt und zupfte sich nachdenklich an den Lippen. »Keine beruhigende Voraussage verfügbar?«
»Bisher nicht. Tom hier empfiehlt uns, ein Forum einzurichten, wo man Beschwerden vorbringen und Mißverständnisse korrigieren kann«, fuhr Paul fort. »Die Fäden haben Boca nicht verfehlt, weil es Paul Benden gehört, sie sind auch nicht auf Sadrid gefallen, weil es die neueste Ansiedlung ist, oder haben kurz vor Thessalien haltgemacht, weil Gyorgy als einer der ersten Konzessionäre seine Parzelle abgesteckt hat. Wir können und werden diese Gefahr überleben, aber wir können nicht zulassen, daß Techniker und kräftige Arbeiter wahllos zwangsverpflichtet werden. Jeder, der einen Augenblick nachdenkt, muß auch einsehen, daß wir nicht überleben können, wenn jeder kopflos in eine andere Richtung rennt. Oder wenn man nicht einige der wilderen Vorstellungen, die von Tubberman eingeschlossen, aus der Welt schafft und die Moral wiederherstellt.«
»Kurzum, was Sie wollen, ist die Aufhebung der Autonomie?«
»Ich will das keineswegs«, widersprach Paul mit deutlichem Nachdruck, »aber eine zentralisierte Verwaltung«, Cabot grinste über die Wortwahl des Admirals -, »wäre in der Lage, verfügbare Arbeitskräfte wirksam zu organisieren, Versorgungsgüter und Nahrungsmittel zu verteilen und sicherzustellen, daß die Mehrheit überlebt. Joel Lilienkamp hat heute, um Panikforderungen vorzubeugen, das Magazin unter dem Vorwand geschlossen, er müsse Inventur machen. Die Leute müssen begreifen, daß es hier tatsächlich ums Überleben geht.«
»Gemeinsam stehen wir, getrennt fallen wir?« Cabot gebrauchte die alte Redensart mit großem Respekt.
»Genau so ist es.«
»Das Kunststück besteht darin, all unseren radikalen Individualisten begreiflich zu machen, daß dies die klügste Lösung ist«, sagte Tom Patrick, und Cabot nickte zustimmend.
»Ich muß betonen«, fuhr Paul nach einem schnellen Blick auf Emily fort, die beifällig nickte, »daß es nicht darauf ankommt, wer während dieser Notlage die Regierung führt, solange irgendeine Autorität, die das Überleben sichert, anerkannt wird und man ihr gehorcht.«
Nach einer Pause bemerkte Cabot nachdenklich: »Wir sind Jahre von jeder Hilfe entfernt. Haben wir alle Brücken hinter uns abgebrochen?«
Als Cabot Francis Carter, der älteste Jurist der Kolonie, am nächsten Morgen überall verkündete, daß für den folgenden Abend eine Massenversammlung anberaumt sei, war ganz Landing überrascht und erleichtert. Vertreter aller größeren Ansiedlungen, Konzessionäre ebenso wie Kontraktoren, wurden ebenfalls zur Teilnahme aufgefordert.
Am Abend der Versammlung war es den Elektrikern gelungen, mittels unterirdischer Leitungen eine Seite des Freudenfeuerplatzes wieder mit Strom zu versorgen. Wo die Lampen noch dunkel blieben, hatte man an den Laternenpfählen Fackeln befestigt. Im erleuchteten Bereich waren Bänke und Stühle aufgestellt worden. Auf der ursprünglich für die Musiker bei den abendlichen Feuern gebauten Plattform stand ein langer Tisch mit sechs Stühlen an einer Seite. Es war hell genug, um zu erkennen, wer die Plätze dort einnahm.
Als weder Paul Benden noch Emily Boll erschienen, ging ein erstauntes Gemurmel durch die Reihen der Versammelten. Cabot Francis Carter trat, gefolgt von Mär Dook, Pol und Bay Harkenon-Nietro, Ezra Keroon und Jim Tillek, auf die Bühne.
»Wir hatten Zeit, unsere Verluste zu beklagen«, begann Cabot, und seine sonore Stimme drang mühelos bis zur letzten Bank. Selbst die Kinder lauschten schweigend. »Und sie waren schwer. Aber sie hätten noch schlimmer sein können, und es ist wohl niemand unter uns, der unseren kleinen, feuerspeienden, drachenähnlichen Verbündeten nicht dankbar ist.
Ich habe heute abend nicht nur schlechte Nachrichten für Sie, aber ich wünschte doch, sie wären besser. Wir können jetzt sagen, was einige unserer Lieben getötet und fünf Besitzungen ausgelöscht hat: es ist eine sehr primitive, mykorrhizoide Lebensform.
Mär Dook hier hat mir erklärt, daß auf anderen Planeten, auch auf unserer Erde, überall solche einfachen Pilze in symbiotischer Verbindung mit Bäumen zu finden sind, das Myzel des Pilzes mit den Wurzeln einer Samenpflanze.
Wir haben alle erlebt, wie dieses Zeug die Pflanzen angegriffen hat…«
»Und fast alles andere«, rief Ted Tubberman aus der linken Seite des Publikums.
»Ja, das ist leider wahr.« Cabot sah den Mann nicht an und versuchte auch nicht, die Leute aufzuheitern, aber er würde keine Panik dulden. Er hob leicht die Stimme. »Was uns erst allmählich klar wird, ist, daß das Phänomen den ganzen Planeten betrifft und daß es das letztemal vor etwa zweihundert Jahren auftrat.« Er machte eine Pause, um den Zuhörern Gelegenheit zu geben, diese Tatsache zu verdauen, dann hob er ruhig die Hände, um dem anschwellenden Gemurmel Einhalt zu gebieten. »Bald werden wir in der Lage sein, genau vorherzusagen, wo und wann dieser Fädenfall wieder zuschlagen wird, denn das wird er leider tun. Aber dies ist unser Planet«, fuhr er mit wilder Entschlossenheit fort, »und kein verdammtes, hirnloses Fadenwesen wird uns von hier vertreiben.«
»Wir können doch gar nicht weg, du blöder Hund!« Ted Tubberman war aufgesprungen und fuchtelte mit den geballten Fäusten wild in der Luft herum. »Ihr habt dafür gesorgt, daß wir hier verfaulen müssen, ausgesaugt von diesen gottverdammten Biestern. Wir können nicht weg! Wir werden alle zugrundegehen.«
Sein Ausbruch löste dumpfes Gemurre im Publikum aus. Sean, der mit Sorka am Rand der Menge saß, war entrüstet.
»Verdammter, großmäuliger, strohdummer Konzessionär«, murmelte er. »Er hat doch vorher gewußt, daß es kein Zurück gibt, aber jetzt, wo ihm nicht alles glatt genug läuft, muß irgend jemand daran schuld sein.« Sean schnaubte laut, um seine Verachtung kundzutun.
Sorka brachte ihn zum Schweigen, um Cabots Erwiderung zu hören.
»Ich betrachte unsere Lage nicht als hoffnungslos, Tubberman«, begann Cabot, und seine geschulte Stimme übertönte mit ihrem festen, zuversichtlichen und entschlossenen Tonfall das Gemurmel. »Keineswegs! Ich denke lieber positiv. Ich sehe dies alles als Herausforderung an unseren Erfindungsreichtum, an unsere Anpassungsfähigkeit. Die Menschheit hat schon an schlimmeren Orten überlebt als Pern es ist. Wir haben ein Problem, und wir müssen damit fertigwerden. Wir müssen es lösen, um zu überleben. Und wir werden überleben!« Als Cabot sah, wie der große Botaniker Luft holte, hob er die Stimme. »Als wir die Verfassung unterschrieben haben, wußten wir alle, daß dies eine unwiderrufliche Entscheidung war. Aber selbst wenn wir könnten, ich jedenfalls würde nicht daran denken, wieder nach Hause zu laufen.« Seine Stimme triefte nun vor Verachtung für die Kleinmütigen, die Feiglinge, die Drückeberger. »Denn auf diesem Planeten habe ich mehr gefunden, als First oder die Erde mir jemals geben konnten! Ich werde nicht zulassen, daß dieses Phänomen mich aus dem Haus vertreibt, das ich mir gebaut habe, mich dazu zwingt, das Vieh zu verlassen, das ich züchten will, und das Leben aufzugeben, das mir gefällt!« Mit einer Handbewegung tat er die Bedrohung als kleinere Unbequemlichkeit ab. »Ich werde jedesmal dagegen kämpfen, wenn es meinen Besitz oder den meiner Nachbarn triff, mit jedem Funken Kraft, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen.
Diese Versammlung«, fuhr er ruhiger fort, »wurde einberufen, um demokratisch, wie es in unserer Verfassung verankert ist, zu überlegen, wie wir unsere Kolonie am besten durch diese Notlage bringen können. Wir werden von diesem Mykorrhizoid sozusagen belagert. Also müssen wir Maßna hmen ergreifen und Strategien entwickeln, mit dem Ziel, die Auswirkungen dieser Belagerung auf unser Leben und unser Hab und Gut möglichst gering zu halten.«
»Wollen Sie vorschlagen, das Kriegsrecht auszurufen, Cabot?« fragte Rudi Shwartz mit verschlossener Miene und stand auf.
Cabot lachte ironisch. »Da es auf Pern keine Armee gibt, Rudi, kann es auch kein Kriegsrecht geben. Die Umstände zwingen uns jedoch zu der Erwägung, ob wir unsere gegenwärtige Autonomie nicht vorübergehend aufheben sollen, um die Schäden zu verringern, die diese Fäden offensichtlich sowohl der Ökologie des Planeten als auch der Wirtschaft dieser Kolonie zufügen können - und werden. Ich gebe zu bedenken, daß eine Rückkehr zu einer zentralisierten Regierung, wie wir sie in unserem ersten Jahr auf Pern hatten, im Moment vielleicht ratsam wäre.« Bei seinen nächsten Worten mußte er fast brüllen, um die laut werdenden Proteste zu übertönen. »Und daß wir eventuell zu gewissen Mitteln greifen müssen, um das Überleben der Kolonie zu sichern, die uns als Individuen, denen ihre Autonomie teuer ist, keineswegs zusagen.«
»Und über diese Mittel wurde bereits entschieden?« fragte eine Frau.
»Keineswegs«, versicherte ihr Cabot. »Dazu wissen wir noch nicht genug über unseren - Gegner -, aber es müssen jetzt Pläne für alle nur denkbaren Möglichkeiten gemacht werden. Wir wissen, daß die Sporen weltweit fallen, früher oder später wird also jedes Anwesen betroffen sein. Wir müssen die Gefahren so gering wie möglich halten.
Das bedeutet, Zentralisierung der vorhandenen Vorräte an Nahrungsmitteln und Versorgungsgütern und eine Rückkehr zum hydroponischen Anbau. Und es bedeutet unbedingt, daß einige von den Technikern nach Landing zurückbeordert werden müssen, weil ihre speziellen Fähigkeiten hier am nutzbringendsten eingesetzt werden können. Es bedeutet, daß wir alle wieder zusammenarbeiten müssen, anstatt unsere eigenen, getrennten Wege zu gehen.«
»Was haben wir denn für Alternativen?« fragte eine andere Frau, als eine kleine Pause entstand. Es klang resigniert.
»Einige von Ihnen haben ziemlich große Gemeinschaftsbesitzungen«, antwortete Cabot ganz nüchtern. »Sie kämen wahrscheinlich ganz gut allein zurecht. Eine Zentralverwaltung hier in Landing müßte vorrangig die Bedürfnisse der hiesigen Bevölkerung berücksichtigen, aber es würde nicht heißen ›Tritt nie wieder über unsere Schwellen« Er lächelte kurz in ihre Richtung. »Deshalb sind wir ja heute abend hier zusammengekommen, um alle Möglichkeiten ebenso eingehend zu diskutieren, wie zu Anfang die Grundsätze der Verfassung und die Aussichten der Kolonie diskutiert wurden.«
»Augenblick mal!« schrie Ted Tubberman, sprang wieder auf, breitete die Arme aus und blickte mit aggressiv vorgerecktem Kinn in die Runde. »Eine todsichere Möglichkeit bleibt uns noch, und die ist realistisch. Wir können eine Peilkapsel zur Erde schicken und um Unterstützung bitten. Das ist ein Notfall. Wir brauchen Hilfe!«
»Ich hab's dir ja gesagt«, murmelte Sean Sorka zu, »er quiekt wie ein angestochenes Schwein. Wenn die Erde hier landet, Mädchen, dann ziehen wir ins Grenzgebirge und lassen uns nie wieder blicken.«
»Ich würde mich nicht darauf verlassen, daß die Erde uns Hilfe schickt«, sagte Joel Lilienkamp aus der vordersten Reihe, aber seine Worte gingen unter im Geschrei derjenigen Kolonisten, die Ted zustimmten.
»Wir wollen nicht, daß die Erde auf Pern herumpfuscht«, rief Sean, auch er war aufgesprungen und fuchtelte wild mit den Armen herum. »Das ist unser Planet!«
Cabot bat um Ruhe, aber der Aufruhr wollte sich nicht legen. Ezra Keroon stand auf, um ihm zu Hilfe zu kommen, legte schließlich die Hände wie einen Trichter an den Mund und brüllte: »Jetzt haltet mal die Luft an, Freunde. Ich muß euch alle daran erinnern -hört doch zu! -, daß es mehr als zehn Jahre dauern würde, bis wir eine Antwort bekämen. Wie immer sie ausfällt.«
»Na, ich bin jedenfalls nicht scharf darauf«, sagte Jim Tillek in das Geschrei hinein, das nun erneut einsetzte, »daß das gute alte Terra oder auch First die Nase in unsere Angelegenheiten steckt. Das heißt, falls sie uns überhaupt einer Antwort würdigen. Sollten sie sich tatsächlich herablassen, uns zu helfen, dann würden sie uns dafür sicher bis zum Hals mit Hypotheken zuschaufeln. Und am Ende hätten sie alle Schürfrechte und den größten Teil des Ackerlandes. Oder habt ihr vergessen, was auf Ceti III geschehen ist? Ich begreife auch nicht, warum eine Zentralregierung in einer solchen Notlage etwas so Schreckliches sein soll. Für mich klingt es vernünftig. Gleiches Recht für alle!«
Deutlich hörbar erhob sich leises, zustimmendes Gemurmel, viele Gesichter blickten freilich mürrisch oder entmutigt drein.
»Er hat recht, Sorka«, sagte Sean so laut, daß auch andere ringsum es hören konnten.
»Dad und Mutter finden das auch.« Sorka zeigte auf ihre Eltern, die ein paar Reihen weiter vorn saßen.
»Wir müssen eine Botschaft schicken«, schrie Ted Tubberman und schüttelte die Hände der neben ihm Sitzenden ab, die ihn auf seinen Platz ziehen wollten. »Wir müssen ihnen sagen, daß wir in Schwierigkeiten sind. Wir haben ein Recht auf Hilfe! Was ist so schlimm daran, eine Botschaft zu schicken?«
»Was schlimm daran ist?« rief Wade Lorenzo von hinten. »Wir brauchen jetzt Hilfe, Tubberman, nicht erst in zehn oder zwanzig Jahren. Bis dahin haben wir die Sache wahrscheinlich auch selbst bewältigt. Ein Fädenfall ist so schlimm auch wieder nicht«, fügte er mit der Sicherheit der Erfahrung hinzu. Pfiffe und Buhrufe ertönten, hauptsächlich von den Leuten, die während der Tragödie in Landing gewesen waren.
»Und vergeßt nicht, daß es fünfzig Jahre gedauert hat, bis die Erde Ceti III zu Hilfe kam«, sagte Betty Musgrave-Blake und sprang auf.
Auch andere Stimmen meldeten sich.
»Ja, Kapitän Tillek hat recht. Wir müssen unsere Probleme selbst lösen. Wir können nicht auf die Erde warten.«
»Vergiß es, Tubberman!«
»Setz dich hin und halt den Mund, Tubberman!«
»Cabot, rufen Sie ihn zur Ordnung! Wir wollen weitermachen.«
Von allen Seiten waren ähnliche Kommentare zu hören.
Der Botaniker wurde von seinen Nachbarn auf seinen Platz gedrückt. Empört über den Mangel an Unterstützung schüttelte er die Hände ab und verschränkte trotzig die Arme. Tarvi Andiyar und Fulmar Stone stellten sich in seine Nähe. Sallah beobachtete sie ängstlich, obwohl sie genau wußte, wieviel Kraft in Tarvis hagerem Körper steckte.
Sean stieß Sorka an. »Sie werden ihn zum Schweigen bringen, und dann können wir endlich zur Sache kommen«, sagte er. »Ich hasse solche Versammlungen - die Leute schwafeln endlos, nur damit die Luft bewegt wird, und spielen sich auf, obwohl sie gar nicht wissen, wovon sie reden.«
Rudi Shwartz hob die Hand und stand wieder auf. »Wenn, wie Sie angedeutet haben, Cabot, die größeren Ansiedlungen sich weiterhin selbst verwalten könnten, wie soll dann eine Zentralverwaltung organisiert sein? Hätten die großen Besitzungen ihr gegenüber denn überhaupt Verpflichtungen?«
»Es geht eher um die gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln, Versorgungsgütern und Unterkünften, Rudi«, sagte Joel Lilienkamp, »als um…«
»Soll das heißen, daß wir nicht genug Lebensmittel haben?« mischte sich eine ängstliche Stimme ein.
»Im Moment schon, aber wenn dieses Fädenzeug planetenweit fällt… wir haben alle gesehen, was mit den Feldern von Landing passiert ist«, erklärte Joel mit einer Handbewegung auf das dunkle, verwüstete Gebiet, »und wenn es immer wiederkommt, nun ja…« Der bestürzte Protestschrei einer Frau war nicht zu überhören. »Nun«, fuhr der Magazinverwalter fort und rückte seinen Hosenbund zurecht, »jeder hat das Recht auf einen fairen Anteil an allem, was wir besitzen. Für mich spricht nichts dagegen, für die nächste Zeit wieder auf die Hydroponik zurückzugreifen. An Bord sind wir fünfzehn Jahre lang ganz gut damit gefahren, oder nicht? Ich gehe jede Wette ein, daß wir das auch jetzt wieder schaffen.«
Diese humorvolle Herausforderung wurde unterschiedlich aufgenommen, manche reagierten erheitert, andere deutlich erschrocken.
»Vergeßt auch nicht, Leute, daß die Fäden dem Meer nichts anhaben können«, sagte Jim Tillek ungekünstelt jovial. »Wir können vom Meer allein leben, und zwar gut.«
»Die meisten frühen Zivilisationen haben allein vom Meer gelebt«, rief Mairi Hanrahan herausfordernd. »Joel hat recht wir können alternative Anbaumethoden anwenden. Und solange wir frisches Eiweiß aus dem Meer bekommen, wird es uns nicht schlecht gehen. Ich finde, wir sollten uns alle ranhalten, anstatt bei der ersten kleinen Schwierigkeit den Kram gleich hinzuschmeißen.« Sie warf einen vielsagenden Blick auf Ted Tubberman.
»Kleine Schwierigkeit?« brüllte der. Er machte Anstalten, sich durch die Menge zu drängen, und wäre auf Mairi losgegangen, wenn man ihn nicht zurückgehalten hätte. Tarvi und Fulmar rückten näher an ihn heran.
»Man kann wohl kaum von einer kleinen Schwierigkeit sprechen«, schaltete sich Mär Dook schnell ein. Er sprach laut genug, um das Gemisch aus Protestrufen und zustimmendem Gemurmel zu übertönen. »Und für viele von uns war es gewiß auch tragisch. Aber wir sollten jetzt nicht anfangen, uns gegenseitig zu bekämpfen. Ebenso sinnlos ist es, sich darüber aufzuregen, daß das EV-Team den Planeten nicht gründlich untersucht und uns grob getäuscht hat. Diese Welt hat doch schon bewiesen, daß sie eine solche Plage überleben und sich wieder regenerieren kann. Sind wir Menschen mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, weniger belastbar?« Er klopfte sich bedeutungsvoll an die Stirn.
»Ich will nicht einfach dahinvegetieren und nur von der Hand in den Mund leben«, schrie Ted Tubberman und reckte wieder streitlustig das Kinn vor, »ich will nicht in einem Gebäude eingepfercht sein und mich ständig fragen, ob diese Dinger sich zu mir durchfressen werden oder nicht.«
»Ted, das ist das dümmste Geschwätz, das ich von einem erwachsenen Mann jemals gehört habe«, sagte Jim Tillek. »Wir haben ein paar Probleme mit unserer neuen Welt, und ich will verdammt sein, wenn ich nicht mithelfe, sie zu lösen. Also hör mit dem Genöle auf und laß uns überlegen, was zu tun ist. Wir sind nun einmal hier, Mann, und wir werden überleben!«
»Ich möchte, daß wir eine Kapsel nach Hause schicken und um Hilfe bitten«, sagte eine andere Stimme ruhig, aber entschieden. »Ich glaube, wir werden die Mittel brauchen, die eine hochentwickelte Gesellschaft uns bieten kann, um uns zur Wehr zu setzen, besonders, nachdem wir selbst so wenig Technologie mitgebracht haben. Und ganz besonders, wenn dieses Zeug so oft wiederkommt.«
»Wenn wir einmal um Hilfe gebeten haben, müssen wir nehmen, was man uns gibt«, sagte Cabot schnell.
»Lili, was wettest du, daß die Erde uns Hilfe schicken würde?« fragte Jim Tillek.
Ted Tubberman sprang wieder auf. »Wettet nicht, stimmt ab! Wenn es hier wirklich demokratisch zugeht, dann laßt uns darüber abstimmen, ob wir eine Kapsel zur Konföderation Vernunftbegabter Rassen schicken wollen oder nicht.«
»Ich unterstütze den Antrag«, sagte einer der Ärzte, und mehrere andere schlossen sich ihm an.
»Rudi«, bat Cabot, »ernennen Sie noch zwei Ordner, wir stimmen mit Handzeichen ab.«
»Es sind aber nicht alle anwesend«, wandte Wade Lorenzo ein.
»Wenn jemand an einer vorher angekündigten Versammlung nicht teilnehmen will, dann muß er sich an die Entscheidungen halten, die die Teilnehmer getroffen haben«, gab Cabot streng zurück. Die Menge reagierte mit begeisterter Zustimmung. »Wir stimmen nun über den vorliegenden Antrag ab. Wer dafür ist, eine Peilkapsel zur Konföderation Vernunftbegabter Rassen zu schicken und um Hilfe zu bitten, der hebe die Hand.«
Gehorsam gingen Hände in die Höhe, die Ordner zählten, und Rudi Shwartz hielt das Ergebnis fest. Dann bat Cabot um Gegenstimmen, und sie waren in der Mehrheit. Als das Ergebnis verkündet wurde, brach Ted Tubberman in wüste Beschimpfungen aus.
»Ihr seid alle verdammte Narren. Wir werden mit dem Zeug nicht allein fertig. Auf dem ganzen Planeten ist man nirgends sicher davor. Erinnert ihr euch nicht mehr an die EV-Berichte? Der gesamte Planet wurde zerfressen. Er hat mehr als zweihundert Jahre gebraucht, um sich wieder zu erholen. Was haben wir denn für eine Chance?«
»Das reicht, Tubberman«, brüllte Cabot. »Sie haben eine Abstimmung verlangt. Sie wurde vor aller Augen abgehalten, und die Mehrheit hat sich gegen einen Hilferuf entschieden. Selbst wenn die Entscheidung anders ausgefallen wäre, ist unsere Lage so ernst, daß gewisse Maßnahmen sofort in die Wege geleitet werden müssen.
Ein wichtiger Punkt ist die Herstellung von Metallverkleidungen zum Schutz bestehender Gebäude, ganz gleich wo. Zweitens müssen HNO3-Zylinder und Flammenwerferteile produziert werden. Drittens sind alle Versorgungsgüter und Lebensmittel zu rationieren. Ein weiteres Problem ist, daß in jeder Ansiedlung nach Osten hin ständig Wachen aufgestellt werden müssen, bis man erkennen kann, nach welchem System diese Sporen fallen.
Ich schlage vor, daß wir einstweilen Emily Boll und Paul Benden wieder als Führer einsetzen. Gouverneurin Boll ist es gelungen, trotz einer fünf Jahre dauernden Raumblockade durch die Nathi ihren Planeten zu ernähren und ihm die Freiheit zu bewahren, und Admiral Benden ist bei weitem der beste Mann, wenn es darum geht, eine wirksame Verteidigungsstrategie aufzustellen und zu organisieren.
Ich bitte jetzt um Handzeichen, später, wenn wir wissen, wie lang der Ausnahmezustand genau dauern muß, werden wir eine reguläre Volksbefragung durchführen.« Seine knappen, entschiedenen Sätze wurden mit zustimmendem Gemurmel aufgenommen. »Rudi, bereiten Sie eine weitere Zählung vor.« Er wartete einen Augenblick, bis die Menge sich wieder beruhigte. »Wer dafür ist, die oben genannten Projekte unter Leitung von Admiral Benden und Gouverneurin Boll durchzuführen, der hebe die Hand.«
Viele Hände schossen sofort in die Luft, einige folgten etwas langsamer, weil die Unentschlossenen erst abwarteten, was ihre Nachbarn taten. Noch ehe Rudi ihm das Ergebnis mitteilte, sah Cabot, daß die Abstimmung deutlich zugunsten des Notprogramms ausgefallen war.
»Gouverneurin Boll, Admiral Benden, wollen Sie das Mandat annehmen?« fragte er förmlich.
»Das war alles getürkt!« schrie Ted Tubberman. »Ich sage euch, alles Schwindel. Die wollen nur wieder an die Macht.« Er verstummte plötzlich, als Tarvi und Fulmar ihn energisch auf die Bank zurückstießen.
»Gouverneurin? Admiral?« Cabot ignorierte die Störung. »Sie beide sind immer noch am besten für die anstehenden Aufgaben qualifiziert, aber falls Sie ablehnen, nehme ich weitere Vorschläge aus dem Plenum entgegen.« Er schwieg erwartungsvoll, ohne sich anmerken zu lassen, welche Antwort er selbst gerne hören würde, und ohne auf die Unruhe der Zuhörer und das anschwellende, ängstliche Geflüster zu achten.
Emily Boll stand langsam auf. »Ich nehme an.«
»Ich ebenfalls«, sagte Paul Benden und stellte sich neben die Gouverneurin. »Aber nur für die Dauer dieses Notstandes.«
»Glaubt ihr das?« brüllte Tubberman und riß sich los, als man ihn erneut zurückhalten wollte.
»Jetzt ist es wirklich genug, Tubberman«, schrie Cabot und gab sich den Anschein, als sei er mit seiner von Amts wegen erforderlichen Geduld am Ende. »Die Mehrheit ist für diese zeitweilige Maßnahme, auch wenn Sie dagegen sind.« Das Publikum beruhigte sich langsam. Cabot wartete, bis es völlig still geworden war. »Nun, ich habe mir die schlimmsten Nachrichten noch aufgespart, bis ich sicher sein konnte, daß wir alle zur Zusammenarbeit entschlossen sind. Dank Kenjo und seinem Beobachtungsteam glauben Boris und Dieter, allmählich ein Schema erkennen zu können. Wenn das stimmt, müssen wir damit rechnen, daß diese Fäden morgen nachmittag am Malayfluß fallen und über die Provinz Cathay nach Mexiko am Maori-See weiterziehen.«
»Auf Malay?« Chuck Kimmage sprang auf, seine Frau umklammerte seinen Arm, beide waren entsetzt. Phas hatte alle anderen Grundbesitzer von Malay und Mexiko vorher ausfindig machen und warnen können, aber Chuck und Chaila waren dafür zu spät eingetroffen.
»Wir werden alle mithelfen, Ihre Anwesen zu schützen«, versprach Emily Boll mit lauter und fester Stimme.
Paul sprang auf die Plattform, hob die Hände und bat Cabot mit einem Blick um das Wort. »Ich brauche Freiwillige, um die Schlitten zu fliegen und die Flammenwerfer zu bedienen. Kenjo und Fulmar haben eine Möglichkeit gefunden, sie an den Schlitten zu befestigen. Die Maschinen, die sie requirieren konnten, sind bereits damit ausgerüstet. Wer von ihnen mittelgroße und große Schlitten besitzt, hat sie eben freiwillig zur Verfügung gestellt. Die Sporen sind am besten in der Luft zu vernichten, ehe sie landen können. Wir brauchen auch Leute am Boden, die mit dem aufräumen, was den Flugzeugen durch die Lappen geht.«
»Was ist mit den Feuerechsen oder wie man sie nennt? Werden sie nicht mithelfen?« fragte jemand.
»Sie haben uns damals in Landing geholfen« fügte eine Frau mit vor Angst überschnappender Stimme hinzu.
»Vor zwei Tagen auf Sadrid ebenfalls«, sagte Wade.
»Auch der Regen war sehr nützlich«, ergänzte Kenjo, der sich nicht gerne auf Unterstützung aus dem nichttechnischen Bereich verlassen wollte.
»Jeder, der Zwergdrachen hat, ist bei den Bodenmannschaften sehr willkommen«, fuhr Paul fort. Er begrüßte alle Hilfstruppen, ganz gleich, woher sie kamen. Aber auch er war skeptisch; er war bisher zu beschäftigt gewesen, um einen Zwergdrachen an sich zu binden, seine Frau und sein ältester Sohn hatten allerdings jeweils zwei von den Tierchen. »Ich brauche besonders Leute mit Kampf- und Flugerfahrung. Unsere Feinde sind diesmal nicht die Nathi, aber es ist unsere Welt, die überfallen wird. Halten wir die Invasion auf, morgen und wann immer es nötig ist.«
Die zündenden Worte lösten spontanen Jubel aus. Das Geschrei wurde immer lauter, schließlich erhoben sich die Leute von ihren Plätzen und schwenkten die geballten Fäuste. Auf der Plattform beobachtete man die Demonstration erleichtert und beruhigt. Ongola war vielleicht der einzige, der registrierte, wer nicht aufstand oder stumm blieb.
Wenn Dieter und Boris recht hatten, würde der bevorstehende Fädenfall die Halbinsel Kahrain knapp verfehlen und etwa um 16.30 Uhr ungefähr 120 km nordwestlich der Mündung des Paradiesflusses, 25 Grad Süd beginnen. Dieter und Boris waren nicht sicher, ob der Niederschlag sich so weit nach Südwesten erstrecken würde, daß er Mexiko am Maori-See erreichte, aber man traf auch dort Vorsichtsmaßnahmen.
Kommandant Kenjo Fusaiyuki sammelte seine Geschwader an der bezeichneten Stelle. Dort ertranken die Sporen zwar im Meer, aber seine Teams würden wenigstens etwas Übung darin bekommen, mit Flammen gegen den ›wahren Feind‹ zu kämpfen.
›Übung‹ war nicht der richtige Ausdruck für das Chaos, das dabei entstand. Kenjo konnte nur noch kategorisch Befehle in das Komgerät fauchen, während die unerfahrenen, aber dafür übereifrigen Schlittenpiloten auf der Jagd nach den Fäden wild durch den Himmel schossen und sich dabei häufig gegenseitig mit HNO3 streiften.
Der Kampf gegen die Sporen erforderte eine vollkommen andere Technik als die Jagd auf Wherries oder der Beschuß eines großen Flugzeugs, das von einem einigermaßen intelligenten Feind gesteuert wurde. Sporen besaßen keinen Verstand. Sie fielen einfach - in schräger Front nach Südwesten, gelegentlich von Windböen zu Knäueln zusammengetrieben. Dieses unerbittliche Herabfallen war es, was die Leute so wütend machte, entmutigte und frustrierte. Ganz gleich, wie viele Fäden am Himmel zu Asche versengt wurden, es folgten immer noch mehr. Nervöse Piloten gingen in Sturzflug, drehten scharf ab und ließen die Maschinen absacken. Untrainierte Schützen feuerten auf alles, was in ihre Reichweite kam, und das war nur allzuoft ein anderer hinter einem Fädenknäuel herjagender Schlitten. Neun zahme Zwergdrachen fielen dieser Unerfahrenheit zum Opfer, und die Zahl der wilden Tiere, die sich dem Kampf angeschlossen hatten, wurde plötzlich merklich geringer.
In der ersten halben Stunde waren sieben Schlitten in Zusammenstöße verwickelt, drei wurden schwer beschädigt, bei zweien bekamen die Kanzeldächer Sprünge, so daß sie nicht mehr einsetzbar waren. Sogar Kenjos Schlitten zeigte Brandspuren. Vier gebrochene Arme, sechs gebrochene oder verstauchte Hände, vier Schlüsselbeinbrüche und ein Beinbruch setzten vierzehn Schützen außer Gefecht; viele andere machten trotz Fleischwunden und Prellungen weiter. Niemand hatte daran gedacht, Haltegurte für die Schützen anzufertigen.
Zu Beginn der zweiten Stunde, als die Sporen noch über dem Wasser fielen, wurde auf einer abhörsicheren Frequenz hastig eine Konferenz der Geschwaderführer einberufen. Die Geschwaderführer - Kenjo, Sabra Stein-Ongola, Theo Force und Drake Bonneau, außerdem Paul Benden als Anführer der Bodenmannschaften beschlossen, jedem Geschwader in Abständen von hundert Metern eine eigene Flughöhe zuzuweisen. Die Maschinen sollten in enger Keilformation den fünfzig Kilometer breiten Fädenkorridor abfliegen. Das wichtigste war, daß jeder der aus sieben Schlitten bestehenden Keile die ihm zugewiesene Höhe auch einhielt.
Sobald die Schlitten anfingen, voneinander Abstand zu halten, gingen die Kollisionen und Verbrennungsschäden deutlich zurück. Kenjo flog mit den fähigsten Piloten auf der tiefsten Ebene, um dort so viele bis dahin noch unverbrannte Sporen zu erwischen wie nur möglich, und um den Bodenmannschaften mitzuteilen, wo Knäuel durchgeschlüpft waren. Paul Benden koordinierte die schnellen Bodengleiter, die Teams mit kleinen Flammenwerfern beförderten. Man hielt ständig Funkverbindung mit den Geschwadern, den Bodenmannschaften und mit Landing. Joel Lilienkamp organisierte den Austausch der leeren HNO3-Zylinder und Energiezellen. Ein Team von Medizinern hielt sich in Bereitschaft.
Mitten im Fädenfall erkannte Paul, daß seine Bodenmannschaften zu weit auseinandergezogen waren, um wirklich etwas ausrichten zu können, obwohl es glücklicherweise weite Strecken gab, wo die Sporen auf steinigem oder kargem Boden landeten, einschrumpften und schnell zugrunde gingen. Gegen Ende, als den müden Piloten allmählich die Kräfte versagten und die Energiezellen der Schlitten fast erschöpft waren, kamen mehr Fäden durch. Es paßte zu der immer schlimmer werdenden Pechsträhne, daß diese über dichte Vegetation und über die Farm der Mexiko-Besitzung fielen.
Der Niederschlag endete so jäh am Rand des Maori-Sees und vor den Hauptgebäuden von Mexiko, daß es alle, die sich so sehr bemühte hatten, die Fäden zu zerstören, wie einen Schock empfanden. Die Geschwaderführer wiesen ihre Leute an, am Seeufer zu landen, wo sie sich mit den Koordinatoren der Bodenmannschaften absprechen konnten. Die Bewohner von Mexiko, die nicht bei der Bodenverteidigung mitgeholfen hatten, brachten nun heiße Suppe und Klah, frisches Brot und Obst, und in einem der Häuser hatte man ein Lazarett eingerichtet. Tarvi und das Team von Karachi hatten gerade noch Metalldächer fertigstellen können, ehe die Fäden das Gebiet erreichten. Dann traf Joel Lilienkamps Versorgungsschiff mit frischen Energiezellen und HNO3-Zylindern ein.
Der Tag war noch nicht zu Ende. Piloten flogen langsam den Korridor ab und suchten nach ›aktiven‹ Sporen. Paul kehrte mit seinen verschwitzten, rußverschmierten, müden Leuten zum Malay-Anwesen und zur Küste zurück, um an den Stellen, wo weder Hülsen noch verwesende Materie zu sehen waren, nach Spuren eines Sekundärbefalls zu suchen. Sie fanden nur zwei solcher Flecken, und auf Pauls Anweisung hin wurde dort der Boden mit Dauerfeuer aus HNO3-Zylindern sterilisiert.
Ein Angehöriger des Bodentrupps erklärte dem Admiral, er hielte dies für Verschwendung. »Die Zwergdrachen benehmen sich ganz unbekümmert, Admiral. Wenn Fäden da sind, reagieren sie ganz anders.«
»Wir dürfen in diesem Stadium kein Risiko eingehen«, antwortete Paul lächelnd und keineswegs gekränkt. Er hielt das Feuerbad nicht für überflüssig. Die Zwergdrachen hatten unverkennbar ein Gespür für Sporen, aber das Vorhandensein des zweiten und möglicherweise noch schlimmeren Stadiums dieses Lebenszyklus nahmen sie ganz offensichtlich nicht wahr.
Paul Bendens Respekt vor den Zwergdrachen war noch gewachsen, als er sah, wie gewissenhaft sie auf frisch gefallene Fäden losgingen. Während des Kampfes fiel ihm mehrmals ein Schwarm auf, der Seite an Seite mit Sean Connell und dem rothaarigen Hanrahanmädchen kämpfte. Die Geschöpfe schienen Befehle auszuführen und bewegten sich diszipliniert, während andere Gruppen kopflos hin- und herflitzten.
Fast zu häufig beobachtete Paul, daß die kleinen Wesen genau dann plötzlich verschwanden, wenn man sicher war, daß sie von einem Feuerstoß erfaßt worden waren, und er wünschte sich, daß auch die Schlitten über diese Fähigkeit oder wenigstens über größere Wendigkeit verfügten. Schlitten waren nicht die geeignetsten Kampfflugzeuge. Er erinnerte sich, wie er die Zwergdrachen während des Wherry-Angriffs bewundert hatte. Aus Berichten über die inzwischen legendäre ›Schirm‹Verteidigung von Landing beim Ersten Fädenfall wußte er, daß Hunderte von wilden Tieren ihren zahmen Verwandten beigestanden hatten. Sie könnten ausgezeichnete Verstärkungstruppen abgeben. Paul fragte sich, wie groß wohl die Chance war, alle Zwergdrachen zu rekrutieren, um sie von Connel und Hanrahan ausbilden zu lassen.
Auch diesmal hatten die Sporen kahle Stellen auf der Oberfläche hinterlassen, aber trotz aller anfänglichen Pfuscherei, trotz der Unerfahrenheit der Schlittenbesatzungen und Bodenmannschaften war die Verwüstung nicht so umfangreich wie nach jener ersten, schrecklichen Katastrophe.
Die meisten der erschöpften Kämpfer beschlossen, die Nacht auf Malay zu verbringen. Pierre de Courci übernahm die Rolle des Küchenchefs, und seine Leute brieten in großen Gruben am Strand Fische und Knollenfrüchte. Müde Männer, Frauen und Kinder saßen erschöpft um die anheimelnden Lagerfeuer herum, zu müde, um sich zu unterhalten, aber froh, die Strapazen des Tages lebend überstanden zu haben.
Sean und Sorka richteten am Strand von Malay ein Notlazarett für die verletzten Feuerechsen ein und behandelten von Fäden versengte Flügel und Hautverbrennungen mit schmerzstillenden Kräutern.
»Glaubt ihr, daß mein Bronzefarbener und mein Brauner zurückkommen, wenn Sira zu schreien aufhört?« fragte Tarrie Chernoff. Sie war mit Ruß- und Grasflecken übersät, und ihr Wherlederwams zeigte zahlreiche alte und neue Brandstellen, aber wie alle treuen Zwergdrachenbesitzer versorgte sie zuerst ihr Tierchen, ehe sie sich um ihr eigenes Wohlbefinden kümmerte.
Sean hob nur die Schultern, aber Sorka legte Tarrie beruhigend die Hand auf den Arm. »Normalerweise schon. Sie sind immer ziemlich außer sich, wenn einer von ihrem Schwarm verletzt wird, besonders eine Königin. Schlaf du dich erst einmal richtig aus und warte ab, was der Morgen bringt.«
»Warum tröstest du sie mit leeren Versprechungen, Sorka?« fragte Sean leise, als Tarrie, ihre inzwischen ruhiger gewordene Königin auf den Armen wiegend, zu den Feuern zurückgestapft war. »Du weißt doch inzwischen verdammt genau, daß eine Feuerechse nicht wiederkommt, wenn sie so schwer verletzt ist.« Sean machte ein grimmiges Gesicht. Er und Sorka hatten bisher mit ihrem Schwarm Glück gehabt, aber er hatte schließlich auch dafür gesorgt, daß die Tiere sich diszipliniert verhielten.
»Sie muß sich erst einmal ausschlafen, ohne vor Sorgen den Verstand zu verlieren. Und viele kommen doch zurück.«
Sorka seufzte vor Müdigkeit, als sie den Sanitätskasten schloß, und versuchte, ihre überanstrengten Rückenmuskeln zu entspannen. »Massiere mich doch bitte mal, Sean. An der rechten Schulter.« Sie wandte ihm den Rücken zu und stöhnte erleichtert, als sich unter seinen kräftigen Fingern die Verspannung löste.
Es war herrlich, Seans Hände auf ihrem Rücken zu spüren; er wußte genau, wie man Verkrampfungen beseitigte. Dann wanderten sie zärtlich über ihren Nacken und wühlten liebevoll in ihrem Haar. Trotz ihrer Erschöpfung reagierte sie auf die stumme Bitte, trat lächelnd zurück und sah sich schnell nach ihrem Schwarm um.
»Die haben alle schon ein ruhiges Nest gefunden und sich zusammengekuschelt.« Seans leise Stimme klang verführerisch.
»Komm, wir suchen uns auch eines.« Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn vom Strand weg in ein dichtes Gebüsch, das mit ihrer Hilfe vor den Fäden bewahrt worden war.
***
Erfrischt durch die warme Mahlzeit und ein großzügiges Quantum sehr milden Quikals, das Chaila Xavior-Kimmage aus einheimischen Früchten gebraut hatte, beriefen Paul und Emily in aller Stille in einem der unversehrten Außengebäude von Malay eine Sitzung ein, an der außer dem Admiral und der Gouverneurin Ongola, Drake, Kenjo, Jim Tillek, Ezra Keroon und Joel Lilienkamp teilnahmen.
»Beim nächstenmal geht es bestimmt besser, Admiral«, versicherte Drake Bonneau und salutierte flott vor Paul. Kenjo, der hinter ihm eintrat, betrachtete den hochgewachsenen Kriegshelden mit belustigter Herablassung. »Heute haben wir gelernt, daß diese Fäden ganz andere Flug- und Kampftechniken erfordern. Wir werden die Keilformation so verfeinern, daß nichts mehr durchschlüpft. Die Schlittenpiloten müssen üben, bestimmte Höhen einzuhalten. Die Schützen müssen lernen, ihre Feuerstöße gezielt anzubringen. Es reicht nicht, nur auf den Knopf zu drücken. Ein paarmal ging es verdammt knapp her. Auch ein paar von den kleinen Zwergdrachen haben wir verloren. Wir können nicht so viele Leben aufs Spiel setzen, von den Schlitten ganz zu schweigen.«
»Die Schlitten lassen sich reparieren, Drake«, bemerkte Joel Lilienkamp trocken, ehe Paul zu Wort kam, »aber die Energiezellen halten nicht ewig. Wir können es uns nicht leisten, sie für sinnlose Übungsflüge zu verschwenden. Trotz unseres Nachschubsystems, das ich sicher noch verbessern kann, mußten neun Piloten bei Maori im Gleitflug runtergehen. Das zeugt von schlechter Einteilung. Übrigens werden bei der Keilformation die Zellen geschont, Drake. Aber es dauert trotzdem Tage, bis man sie wieder aufgeladen hat, wenn sie einmal erschöpft sind. Wie lange wird das Zeug noch fallen, Paul?« Joel blickte von seinen Berechnungen auf.
»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Benden und rieb sich mit dem linken Daumen über die Knöchel seiner Hand. »Boris und Dieter sammeln gerade bei einer Abschlußbesprechung mit den Piloten Informationen.«
»Hölle und Teufel, das alles sagt uns doch nicht, was wir wissen müssen, Paul«, klagte Drake müde. »Wo kommt das Zeug her?«
»Die Sonde ist abgesetzt«, erklärte Ezra Keroon. »Es wird noch ein paar Tage dauern, bis die ersten Berichte eintreffen.«
Drake fuhr fort, als habe er ihn gar nicht gehört. »Ich möchte herausfinden, ob das Zeug in der Atmosphäre nicht vielleicht empfindlicher ist. Wäre ein Angriff aus großer Höhe nicht vielleicht wirkungsvoller, auch wenn wir nur zehn Schlitten mit Druckkabinen haben? Trifft dieser Schrott möglicherweise in Klumpen auf die Atmosphäre und verteilt sich erst dann? Können wir eine Verteidigungsmethode entwickeln, die mehr Wendigkeit gestattet als die Flammenwerfer? Wir müssen mehr über diesen Feind in Erfahrung bringen.«
»Jedenfalls wehrt er sich nicht«, bemerkte Ongola und rieb sich die Schläfen, um die hämmernden Kopfschmerzen zu lindern, die ihn nach Kämpfen stets überfielen.
»Das ist richtig«, antwortete Paul und wandte sich mit grimmigem Lächeln an Kenjo. »Was meinen Sie, ob wir wohl bei einem orbitalen Erkundungsflug brauchbare Informationen gewinnen könnten? Wieviel Treibstoff befindet sich im Tank der Mariposa?«
»Mit mir als Piloten reicht es für drei, wenn nicht sogar für vier Flüge«, antwortete Kenjo und wich betont Drakes Blick aus, »das hängt davon ab, wie viele Manöver erforderlich sind und wieviel Umkreisungen.«
»Du bist der richtige Mann dafür, Kenjo«, sagte Drake mit einer schwungvollen Handbewegung und sah ihn neiderfüllt an. »Du kannst noch mit einem Fingerhut voll Treibstoff landen.« Kenjo lächelte ein wenig und verneigte sich kurz aus der Taille. »Wissen wir, wann oder wo das Zeug wieder zuschlagen wird?«
»Das wissen wir«, versicherte Paul tonlos. »Wenn die Daten stimmen, und das war heute der Fall, dann haben die Grundbesitzer Glück. Die Fäden werden an zwei Orten niedergehen: Um 19.30 Uhr über Arabien bis zum Asowschen Meer«, in seinem Gesicht war zu lesen, daß er den Verlust Arabiens und seiner ursprünglichen Besitzer noch immer nicht verwunden hatte -»und um 3.30 Uhr vom Meer her über die Spitze von Delta. Beide Gebiete sind unbewohnt.«
»Wir dürfen das Zeug aber nirgends unkontrolliert runterkommen lassen, Paul«, mahnte Ezra erschrocken.
»Ich weiß, aber wenn wir alle drei Tage Mannschaften ausschicken müssen, sind wir bald völlig erschöpft.«
»Nicht alles muß geschützt werden«, sagte Drake und entfaltete seine Fliegerkarte. »Es gibt dort viel Sumpf und Gestrüpp.«
»Man wird den Fädenfall trotzdem überwachen«, sagte Paul in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Betrachten Sie es als Chance, die Manöver zu verfeinern und die Teams auszubilden, Drake. Es ist zweifellos am wirkungsvollsten, das Zeug zu erwischen, solange es noch in der Luft ist. Die Sporen haben heute nicht so viel Land zerstört, aber wir können es uns nicht leisten, jedesmal, wenn sie kommen, diese breiten Korridore zu verlieren.«
»Stellt doch noch ein paar von diesen Zwergdrachen in Dienst«, scherzte Joel. »Die sind am Boden genausogut wie in der Luft.«
Emily sah ihn traurig an, während die anderen grinsten. »Leider sind sie einfach nicht groß genug.«
Paul drehte sich auf seinem Stuhl um und warf der Gouverneurin einen langen, forschenden Blick zu. »Das ist der beste Einwand, den ich heute gehört habe, Emily.«
Drake und Kenjo sahen sich verständnislos an, aber Ongola, Joel und Ezra Keroon richteten sich mit erwartungsvollen Gesichtern auf. Jim Tillek grinste.
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Vor der Südküste der Großen Insel lagen fünf Hauptinseln und mehrere kleine Überreste von Vulkanen, die aus dem strahlend grünblauen Meer herausragten. Die Kuppe, der Avril und Stev sich nun erwartungsvoll näherten, war nichts anderes als der Krater eines versunkenen Vulkans. Ihre Seiten fielen steil ins Meer ab und bildeten ringsum eine schmale Küste, außer im Süden, wo der Kraterrand am niedrigsten war. Avril fieberte vor Ungeduld, als Stev den Bug des kleinen Bootes im Norden auf den Strand schob.
»Die Nielsen, das kleine Dummchen, konnte doch unmöglich recht haben«, murmelte sie und sprang auf den Kiesstrand, noch ehe Stev den Motor abgeschaltet hatte. »Wie sollten wir denn einen ganzen Strand voll Diamanten übersehen haben?«
»Wir hatten schon aussichtsreichere Stellen, Avril, weißt du noch?«
Stev sah zu, wie sie eine Handvoll der schwarzen Steine aufhob und durch die Finger rinnen ließ. Sie behielt nur den größten, und den schob sie ihm hin.
»Hier! Untersuche ihn!« Als er den handflächengroßen Stein in den tragbaren Scanner legte, sah sie sich empört um. »Es ergibt einfach keinen Sinn. Es können doch nicht alles schwarze Diamanten sein, oder?«
»Das hier ist jedenfalls einer!«
Er gab ihr den Stein zurück, und sie hielt ihn einen Augenblick in die Sonne. »Und was ist mit dem?« Sie hob einen faustgroßen Stein auf und warf ihn ihm zu, aber er sah gerade noch, wie sie den ersten Stein in ihren Beutel schob. »Ein Glück, daß die kleine Nielsen nur unser Lehrling ist. Das hier gehört alles uns!«
»Wir« - Stev war nicht entgangen, daß Avril kurz gestockt hatte -»werden aufpassen müssen, daß wir den Markt nicht überschwemmen.« Er legte den großen Stein mit ungeduldigen und nicht ganz sicheren Fingern in den Scanner. »Es ist tatsächlich ein schwarzer Diamant. Etwa vierhundert Karat und einigermaßen rein. Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe, du hast das große Los gezogen.«
Es klang spöttisch, und sie verzog das Gesicht, riß ihm den Diamanten aus der Hand und drückte ihn an sich, fast als wolle sie ihn beschützen. »Es können nicht alles schwarze Diamanten sein«, murmelte sie. »Oder doch?«
»Warum nicht? Nichts kann einen Vulkan davon abhalten, Diamanten auszubrüten, wenn die richtigen Zutaten vorhanden sind und zu irgendeinem Zeitpunkt der Druck hoch genug ist. Ich gebe zu, daß dies vielleicht der einzige Strand aus schwarzen Diamanten oder überhaupt aus Diamanten im ganzen Universum sein könnte, aber genau den« - Stev grinste boshaft - »hast du hier gefunden.«
Sie sah ihn mißtrauisch an und rang sich ein Lächeln ab. »Wir haben ihn gefunden, Stev.« Sie lehnte sich an ihn, ihre Haut berührte warm die seine. »Das ist der aufregendste Moment meines Lebens.« Sie legte ihre freie Hand um seinen Nacken, küßte ihn leidenschaftlich und preßte sich so fest an ihn, daß sich der Diamant in seine Rippen bohrte.
»Nicht einmal Diamanten dürfen zwischen uns stehen, mein Liebes«, murmelte er, nahm ihr den Stein aus den widerstrebenden Fingern und warf ihn hinter sich in den offenen Schlitten.
Stev war nicht allzu überrascht, als er am nächsten Morgen feststellte, daß Avril mit seinem schnellsten Schlitten das Bergwerkscamp Große Insel verlassen hatte. Er kontrollierte vorsichtshalber auch die Felshöhle, wo sie, wie er genau wußte, die sensationellsten Funde versteckt hatte. Die Höhle war leer.
Stev grinste schadenfroh. Sie mochte die Warnung von Landing als unwichtig abgetan haben, aber er nicht. Er hatte verfolgt, was auf dem Südkontinent vor sich ging, und behielt stets den Osten im Auge, sobald eine Wolke erschien. Er hatte auch Pläne für den Notfall gemacht, bezweifelte jedoch, daß Avril ebenso umsichtig gewesen war. Er hätte gern ihr Gesicht gesehen, wenn sie entdeckte, daß es in Landing von emsigen Leuten nur so wimmelte und sich auf dem Startgitter Schlitten und Techniker drängten. Deshalb brüllte er vor Lachen, als einer der Lehrlinge ängstlich meldete, Avril sei nirgends zu finden.
Nabhi Nabol fand das gar nicht komisch.
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Kenjo erreichte den Orbit mit minimalem Treibstoffaufwand und konzentrierte sich voll auf die vor ihm liegende Aufgabe, obwohl er den Aufwärtsschub der wendigen Maschine spürte und das herrliche Gefühl der Befreiung von der Schwerkraft genoß. Es wäre schön, wenn alle seine Sorgen ebenso leicht von ihm abfallen könnten, aber wenigstens hatte er seine Hand für Raumschiffe nicht verloren. Liebevoll glitt er mit den Fingern am Rand der Steuerkonsole entlang.
Die letzten drei Tage waren hektisch gewesen, die ruhenden Systeme der Mariposa mußten gewartet und alle wichtigen Teile auf mögliche Materialermüdung oder Beschädigungen untersucht werden. Er hatte sich sogar von Theo Force bei seinem Geschwader vertreten lassen, als die Fäden über die Berge südöstlich von Karachi fielen und Longwood auf der Insel lerne streiften. Für ihn war es wichtiger, die Mariposa zu reaktivieren. Ongola hatte sich die Zeit genommen, die Schaltkreise des Komgeräts einzustellen und bei den letzten Checks mitzuhelfen. Das kleine Schiff war dafür gebaut, inaktiv im Vakuum des Weltraums zu schweben, und obwohl die wichtigeren Stromkreise in Vakuumbehältern gelagert worden waren, konnte man nie ganz ausschließen, daß irgendeine kleine, aber wichtige Verbindung nicht genau überprüft worden war. Aber schließlich hatten alle Systeme einwandfrei funktioniert, die Triebwerke hatten beim Probelauf beruhigend laut und ruhig geklungen und Kenjo hatte protestiert, als man ihn zwang, sich in den letzten zwölf Stunden vor dem Start auszuruhen.
»Sie mögen ein verdammt guter Jockey sein, Kenjo, aber es gibt bessere Mechaniker auf Pern als Sie«, hatte ihm Paul Benden kategorisch erklärt. »Sie brauchen jetzt Ruhe, damit sie im Weltraum wach sind, wo wir Ihnen nicht helfen können.«
Man hatte den Flugplan so kalkuliert, daß Kenjo sich zu dem Zeitpunkt in der richtigen Position befand, zu dem nach Boris' und Dieters Berechnungen die nächste Fädenwand in Perns Atmosphäre eindringen würde. Ihr Programm hatte ergeben, daß die Fäden in einem Rhythmus von annähernd zweiundsiebzig Stunden fielen, mit einer Stunde Spielraum. Kenjos Auftrag bestand darin, die Genauigkeit des Programms zu überprüfen, die Zusammensetzung der Sporen vor dem Eintritt festzustellen und, wenn möglich, ihre Flugbahn zurückzuverfolgen. Außerdem, und das war bei weitem nicht das unwichtigste, sollte er sie zerstören, ehe sie die Atmosphäre erreichten. Der nächste Fädenfall würde auf die Provinz Kahrain gleich oberhalb des verlassenen Anlegeplatzes von Oslo niedergehen, dann über die Paradiesflußsiedlung ziehen und über den Ebenen von Arabien enden.
Kenjo befand sich hundertfünfzig Kilometer unterhalb der leeren Raumschiffe, zu weit entfernt, um sie mit seinem Teleskop erkennen zu können, aber er versuchte es trotzdem mit der größtmöglichen Einstellung. Dann zuckte er die Achseln. Die Schiffe gehörten der Vergangenheit an. Er würde jetzt einen neuen Beitrag zur Geschichte leisten, eine unerhörte Tat. Kenjo Fusaiyuki würde entdecken, woher die Sporen kamen, er würde sie ein für allemal ausrotten und der Held des Planeten werden. Dann würde ihn niemand mehr verurteilen, weil er so viel Treibstoff für seinen Privatgebrauch ›gespart‹ hatte. Der Fleck auf seiner Ehre würde getilgt werden, und die heftigen Gewissensbisse würden verstummen.
Der Bau seines superleichten Flugzeugs hatte sich wirklich gelohnt. Er hatte den Plan auf einem Band in der Bibliothek der Yokohama entdeckt, in der Abteilung „Geschichte der Luftfahrt“ Es war nicht gerade sehr treibstoffökonomisch, auch dann noch nicht, als er das Triebwerk umgestaltet hatte, aber die Mengen, die er bei seinen Fährenflügen erübrigt hatte, hatten für diese flotte Maschine ausgereicht. Seine einsam gelegene Honshu-Besitzung im Westlichen Grenzgebirge zu überfliegen, hatte ihm eine Befriedigung verschafft, wie er sie sich nie hätte träumen lassen, auch wenn Gerüchte entstanden waren, dort treibe sich ein großes, bis dahin unbekanntes Flugwesen herum. Seine geduldige, ruhige Frau hatte sich zu seiner Nebenbeschäftigung nicht weiter geäußert, sondern sogar beim Bau mit angepackt.
Sie war Maschinenbauingenieurin und hielt das kleine Wasserkraftwerk in Gang, das ihr Heim auf der Hochebene und drei kleine Anwesen im nächsten Tal mit Strom versorgte. Sie hatte ihm vier Kinder geschenkt, darunter drei Söhne, war eine gute Mutter und schaffte es darüber hinaus noch, ihm bei der Veredelung der Obstbäume behilflich zu sein, deren Ernte er verkaufen wollte.
Die Fäden waren keine Gefahr für sie, denn sie hatten ihr Haus direkt in den Berg hineingehauen und nur für die Innenausstattung Holz verwendet. Sie hatte ihm auch bereitwillig geholfen, mit den Steinschneidern, die er sich von Drake Bonneau ausgeliehen hatte, einen Hangar für sein Flugzeug in den Fels zu treiben. Von der zweiten, gut versteckten Höhle, wo er seinen Vorrat an Flüssigtreibstoff lagerte, wußte sie freilich nichts. Es war ihm bisher noch nicht gelungen, die ganze Menge aus der Höhle bei Landing nach Honshu zu bringen.
Ja, niemand würde mehr gegen Kenjos Handlungsweise protestieren, wenn er die so dringend benötigten Informationen brachte. Und er würde schon dafür sorgen, daß dazu drei oder vier derartige Flüge notwendig wurden. Er hatte die Stille und die Herausforderung des Weltraums vermißt. Was für ein jämmerliches Ding war doch sein kleiner Atmosphärenflieger, verglichen mit der eleganten, kraftvollen Mariposa. Wie schwerfällig war dagegen der Schlitten, den er als Geschwaderführer gesteuert hatte. Er war endlich wieder in seinem wahren Element - im Weltraum!
Der Schiffsalarm schlug an, und Augenblicke später begann das Klingeln. Er befand sich inmitten einer Wolke aus kleinen, eiförmigen Kokons. Mit einem Schrei, wie ihn einst die längst verstorbenen japanischen Krieger ausgestoßen hatten, feuerte Kenjo die Steuerbordrepulsoren ab und grinste, als auf dem Schirm winzige Sterne der Zerstörung aufblühten.
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Avril Bitra war ganz bleich vor Schreck. Es war unfaßbar, wie sehr Landing sich verändert hatte, und dabei hatte sie damit gerechnet, es so gut wie verlassen vorzufinden. Als Stev sie überredet hatte, Lehrlinge anzunehmen, damit niemand sich allzu genau dafür interessierte, was sie eigentlich auf der Großen Insel machten, hatte die Bevölkerung von Landing noch aus ganzen zweihundert Leuten bestanden.
Das Landing, das jetzt vor ihr lag, wimmelte hingegen von Menschen. Überall brannten Lichter, und trotz der späten Stunde eilten die Leute geschäftig umher. Und was das schlimmste war, auf dem Landestreifen herrschte ein Gedränge von großen, kleinen und mittelgroßen Schlitten, dazwischen liefen Techniker hin und her - und die Mariposa war nicht da! Was unter allen Sonnen war geschehen?
Sie hatte ihren Schlitten ganz am Rand des Streifens abgestellt, in der Nähe der Stelle, wo sie die kleine Raum-Gig zum letzten Mal gesehen hatte. Die Enttäuschung erfüllte sie von neuem mit hilflosem Zorn. Da hatte sie nun ein Vermögen, mit dem sie diesen elenden Klumpen Dreck verlassen konnte. Es war ihr sogar gelungen, alle ihre Gefährten abzuschütteln, und sie hatte auch keinerlei Skrupel, Stev Kimmer zurückzulassen. Er hatte sich als nützlich und amüsant erwiesen - bis er vor kurzem diese schwarzen Diamanten taxiert hatte. Ja, es war richtig gewesen, sofort aufzubrechen, ehe er auf die Idee kam, die Schlitten unbrauchbar zu machen oder sonst etwas Drastisches zu unternehmen, um sie zu zwingen, ihn mitzunehmen. Aber wo in allen Höllen auf siebzehn Welten war die Mariposa? Wer verbrauchte den Treibstoff, den sie benötigte, um zu den Kolonistenschiffen zu gelangen? Sie bemühte sich, ihren Zorn zu beherrschen. Sie mußte nachdenken!
Erst nach einer Weile fiel ihr der Alarm ein. Jetzt wünschte sie, genauer zugehört zu haben. Nun, so ernst war es wohl nicht gewesen, sonst ginge es in Landing nicht zu wie in einem Bienenstock. Aber vielleicht war das sogar günstig für sie. Bei so vielen Leuten würde es niemandem auffallen, ob sich ein Arbeiter mehr oder weniger herumtrieb.
Sie schauderte, die Kühle der Nachtluft auf dem Plateau kam ihr plötzlich zu Bewußtsein. Sie war an das Tropenklima auf der Großen Insel gewöhnt. Leise, aber kräftig fluchend, kramte sie in den Stauräumen des Schlittens und fand einen einigermaßen sauberen Overall. Sie schnallte sich auch den Mechanikergürtel um, den sie darunter gefunden hatte. Wahrscheinlich gehörte er Stev - er war immer gut ausgerüstet. Sie grinste höhnisch. Aber nicht immer auf alles vorbereitet.
Ehe sie sich auf die Suche nach der Mariposa machte, mußte sie den Schlitten verstecken. Sie versuchte, im Dunkeln wenigstens einen der dichten Büsche zu finden, die am Rand des Landestreifens wuchsen, aber sie sah keinen. Statt dessen stolperte sie in ein kleines Loch, das sich als groß genug erwies, um die Säcke mit den Schätzen zu verstecken. Sie holte sie aus dem Schlitten, ließ sie in das Loch fallen, schichtete Steine und Erde darüber und leuchtete dann mit der Taschenlampe auf die Stelle, um zu sehen, ob sie gut getarnt war. Nach einigen kleinen Veränderungen war sie zufrieden.
Mit kühnen Schritten ging sie am Gitter entlang auf die Lichter und das rege Treiben der Stadt zu.
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Als Sallah Telgar-Andiyar aus dem Erdgeschoßfenster des Wetterbeobachtungsturms schaute, wo Drake Bonneau gerade Unterricht hielt, traute sie ihren Augen nicht: die Frau sah sicher nur so aus wie Avril Bitra. Sie trug einen Werkzeuggürtel und ging zielbewußt auf einen zerlegten Schlitten zu. Aber Sallah kannte sonst niemanden, der sich so arrogant bewegte, so provozierend die Hüften schwenkte. Die Frau blieb stehen und machte sich an dem Schlitten zu schaffen. Sallah schüttelte den Kopf. Avril war auf der Großen Insel; sie hatte nicht einmal auf den Alarm reagiert und war auch nicht erschienen, als vor kurzem alle Piloten nach Landing zurückbeordert worden waren. Niemand hatte sie besonders vermißt, Stev Kimmers geniale Fähigkeiten im Umgang mit Schaltkreisen hätte man allerdings gut gebrauchen können. Ongola versuchte immer noch, Paul Benden dazu zu bringen, daß er den Bergleuten auf der großen Insel die Rückkehr befahl.
»Laßt den Finger nicht auf dem Auslöser.« Drakes Stimme riß sie aus ihren Gedanken.
Armer Kerl! dachte Sallah. Er gab sich alle Mühe, diesen eifrigen Kindern beizubringen, wie man Fäden bekämpfte. Wenn das, was Tarvi ihr über diese tödliche Bedrohung erzählt hatte, nur zur Hälfte stimmte, war dies verteufelt schwer.
»Schwenkt immer vom Bug zum Heck. Die Fäden fallen in südwestlicher Richtung, wenn ihr also unter den vordersten Rand kommt, könnt ihr mehr verbrennen.« Drake hatte allmählich keinen Platz mehr auf der Tafel, die er mit seinen Diagrammen und Flugschemata vollgekritzelt hatte. Sallahs erster Einsatz stand noch bevor, deshalb hatte sie aufgepaßt bis zu dem Augenblick, als sie geglaubt hatte, Avril Bitra zu erkennen.
Der Tag hatte auch so etwas wie eine Wiedersehensfeier der Fährenpiloten gebracht. Bis auf Nabhi Nabol und Kenjo war die ganze alte Gruppe dem Ruf gefolgt. Sallah wußte, wo Kenjo war, und beneidete ihn ein wenig, daß Nabol nicht dabei war, war ihr hingegen ganz recht. Er hätte sich bestimmt darüber mokiert, mit all den jungen Leuten zusammenarbeiten zu müssen, die sich erst nach der Landung auf dem Planeten ihre Fluglizenz erworben hatten. Tja, einige von ihnen hatte sie noch als Heranwachsende gekannt.
In Karachi Fuß zu fassen hatte mehr Zeit gekostet, als ihr bewußt gewesen war. Und es gab so viel Neues, zum Beispiel die Zwergdrachen, die auf den Schultern der Kinder saßen oder sich an Beinen in Wherlederhosen hinaufhangelten. Ihren drei eigenen - einer Goldenen und zwei Bronzefarbenen - hatte sie genau wie ihren Kindern beigebracht, sich einigermaßen manierlich zu benehmen. Im Moment hockten sie ganz oben auf den Regalen des großen Bereitschaftsraums. Zwei davon waren Mentas, und sie fragte sich, ob sie wohl verstanden, was vor ihren wachsamen, in allen Regenbogenfarben schillernden Augen vor sich ging.
Drakes eindringliche Warnung holte sie erneut in die Gegenwart zurück. »Weicht nicht von der vorgeschriebenen Flughöhe ab. Wir versuchen, Geräte zu bauen, die euch labile Piloten warnen, wenn ihr aus der Reihe tanzt. Wir müssen bestimmte Flughöhen einhalten, um Kollisionen zu vermeiden. An Leuten, die fliegen können, fehlt es uns weniger als an Schlitten. Ihr«, sagte er und deutete dabei mit dem Finger auf seine Zuhörer, »seid zu ersetzen. Der Schlitten nicht, und wir werden jede Maschine brauchen, die sich in der Luft halten kann.«
»Nun, bei einem Schwenk vom Bug zum Heck mit einem einsekündigen Stoß werden alle Fäden in der Reichweite dieser Flammenwerfer verkohlt. Wenn ihr auch nur ein Ende von den Dingern erwischt, frißt sich das Feuer meistens von selbst weiter. Verschwendet also kein HNO3.« Er ratterte die chemische Formel so schnell herunter, daß es sich eher wie ›Agenodrei‹ anhörte, dachte Sallah, und ihre Gedanken schweiften wieder ab. Verdammt, sie mußte aufpassen, aber sie war inzwischen mehr daran gewöhnt, auf Geräusche zu hören als auf Worte. Und auf Stille. Auf die Stille zum Beispiel, die bei allen Kindern eintrat, wenn sie unfolgsam waren oder etwas Verbotenes ausprobierten. Und die ihren waren sehr erfinderisch. Sie spürte, wie sich ihre Lippen zu einem stolzen, mütterlichen Lächeln verzogen, und nahm sich schnell zusammen, weil sie Drakes Blick auf sich ruhen fühlte.
Sie vermißte ihre drei älteren Kinder schon jetzt schrecklich. Ram Da, ihr kräftiger, zuverlässiger, sieben Jahre alter Sohn hatte versprochen, auf Dena und Ben aufzupassen. Die drei Monate alte Cara hatte sie mitgenommen - das Baby war unter Mairi Hanrahans Meute gut untergebracht - sie war also nicht ganz allein. Aber Tarvi war in Karachi und preßte rund um die Uhr Metallblech, er schuftete ebenso hart wie seine Leute, die er bis zum Umfallen antrieb.
»… damit ihr mit jedem Zylinder möglichst lange auskommt«, sagte Drake. »Je mehr Agenodrei und Energie ihr spart, desto länger könnt ihr in der Formation bleiben. Und dort werdet ihr gebraucht. Nun haben die meisten von euch schon Erfahrung mit Turbulenzen. Legt eure Sicherheitsgurte erst ab, wenn ihr am Boden seid. Die leichteren Schlitten können beim Landen umkippen, wenn plötzliche Böen auftreten, weil sie durch die Flammenwerferbefestigungen vorderlastig sind.«
Nachdem Tarvi so unter Druck stand, war es ganz gut, daß sie eine eigene Aufgabe hatte, dachte Sallah. Er hatte ohnehin nur wenig Zeit für sie, und sie würde nicht einmal das Vergnügen haben, neben ihm zu schlafen - oder ihn im Morgengrauen, wenn er zu müde war, um Widerstand zu leisten, mit ihren Zärtlichkeiten zu erregen.
Was machte sie nur falsch? fragte sie sich zum hundertsten Mal. Sie hatte Tarvi nicht eingefangen. Das Verlangen, die Leidenschaft an jenem Tag in der Höhle waren doch auf beiden Seiten echt gewesen. Als sie schwanger geworden war, hatte Tarvi ihr sofort angeboten, das Verhältnis zu legalisieren. Sie hatte nicht darauf bestanden, war aber sehr erleichtert gewesen, daß er die Initiative ergriffen hatte. Während der Schwangerschaft war er rücksichtsvoll, zärtlich und besorgt gewesen, und als sein erstes Kind, ein kräftiger, gesunder Junge, zur Welt kam, hatte er sich vor Freude nicht zu lassen gewußt. Er vergötterte alle seine Kinder, war entzückt, wenn sie geboren wurden und verfolgte begeistert ihre Entwicklung. Nur seine Frau wurde gemieden, beiseitegeschoben, ignoriert.
Sallah seufzte, und ihre alte Freundin Barr warf ihr einen fragenden Blick zu. Sallah zuckte lächelnd die Achseln, zum Zeichen, daß Drake ihr diese Reaktion entlockt hatte. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie sich in trauter Zweisamkeit mit Drake Bonneau an seinem See niedergelassen hätte? Svenda schien es an nichts zu fehlen, sie prahlte sogar damit, daß sie ihre Schwangerschaften auf zwei beschränken wolle. In der Öffentlichkeit mochte Drake den selbstsicheren Paradeflieger markieren, aber am Abend zuvor war er doch auffallend nach der Pfeife seiner dominierenden Frau getanzt. Sallah hatte schon immer den Verdacht gehabt, daß bei Drake hinter der Fassade nicht allzuviel steckte. Trotz aller Verschrobenheiten zog sie ihren Tarvi vor und hätte jene freilich immer seltener werdenden Gelegenheiten, zu denen sie seine Leidenschaft wecken konnte, nicht missen mögen. Vielleicht war das der Fehler: vielleicht sollte sie ihm die Initiative überlassen. Nein, das hatte sie schon einmal versucht und war ein Jahr lang kreuzunglücklich gewesen, ehe sie auf die Idee mit den ›Angriffen im Morgengrauen« verfiel.
Sie hatte von Jivan einige Pushtu-Ausdrücke gelernt und sich ganz harmlos nach Frauennamen erkundigt. Nach wem Tarvi auf dem Gipfel der Leidenschaft auch immer rief, eine andere Frau war es nicht. Und soviel sie feststellen konnte, auch kein anderer Mann.
»Nun«, sagte Drake, »hier ist der Einsatzplan für den nächsten Fädenfall. Vergeßt nicht, er erfolgt an zwei Stellen, am Jordan und in Dorado. Wir schicken die Dorado-Geschwader voraus, damit ihr ausgeruht seid, wenn der Kampf beginnt.« Wieder schweifte Drakes Adlerblick über seine bewundernden Schüler. »Und jetzt zurück mit euch zu euren Schlitten, helft den Technikern, wo ihr könnt. Um Mitternacht gehen die Lichter aus. Wir brauchen alle unseren Schlaf«, schloß er fröhlich und entließ sie mit einer Handbewegung.
Svenda trat schnell an seine Seite und schreckte mit ihrer finsteren Miene alle ab, die mit privaten Fragen an Drake herandrängten.
»Seit wann bist du hier, Sallah?« fragte Barr und wandte sich ihr mit dem gewohnt freundlichen Grinsen zu. »Ich bin erst gegen Mittag von unserem Anwesen gekommen. Von der alten Gruppe wußte niemand, bis wann du es schaffen würdest. Mir war gar nicht bewußt, daß die Lage so ernst ist, bis ich auf dem Weg hierher sah, was diese Sporen alles angerichtet hatten.«
Sallah lachte. Die temperamentvolle Barr war ganz die alte geblieben, nur etwas rundlicher war sie geworden. »Wie viele Kinder hast du jetzt, Barr?« fragte sie. »Wir haben uns doch ziemlich aus den Augen verloren, seit du auf der anderen Seite des Kontinents lebst.«
»Fünf!« Barr ließ ein backfischhaftes Kichern hören und warf Sallah einen verschmitzten Blick zu. »Beim letzten Mal waren es Zwillinge, und damit hätte ich nie gerechnet. Dann hat Jess mir erzählt, daß er auch ein Zwilling ist und daß Zwillingsgeburten in seiner Familie nichts Ungewöhnliches sind. Ich hätte ihn erwürgen können.«
»Aber du hast es nicht getan.«
»Nein! Er ist ein guter Mann, ein liebevoller Vater, und er arbeitet schwer.« Barr nickte bei jeder der aufgezählten Tugenden nachdrücklich mit dem Kopf und grinste Sallah wieder an. Dann trat ein besorgter Ausdruck in ihr lebhaftes Gesicht. »Bei dir alles in Ordnung, Sallah?«
»Sicher. Ich habe vier Kinder. Cara habe ich mitgebracht. Sie ist erst drei Monate alt.«
»Ist sie bei Mairi oder bei Chris MacArdle-Cooney?«
»Bei Mairi. Aber wir sollten uns den Dienstplan ansehen und feststellen, wann wir eingeteilt sind. Wo ist Sorka denn inzwischen?«
Sallah hatte auch das rothaarige Hanrahanmädchen aus den Augen verloren. »Alle anderen habe ich getroffen.«
»Ach, sie lebt mit einem Tierarzt zusammen. Am Irenplatz.« »Wie passend!« Plötzlich stieg Groll in Sallah auf, zum Teil wegen der Freiheit, die junge Leute genießen durften, zum Teil hatte es auch mit ihrer Enttäuschung über Tarvis Zurückhaltung zu tun. Aber gleichzeitig wurde ihr klar, daß sie im Moment relativ wenig Verantwortung hatte und daß ihre beruflichen Fähigkeiten wieder gefragt waren. »Komm, wir besorgen uns was zu trinken und erzählen uns gegenseitig, was in den letzten Jahren passiert ist!«
Sorka und Sean kamen aus verschiedenen Richtungen und trafen sich vor ihrer Wohnung, Sean hatte an einer außerordentlichen Sitzung bei Admiral Benden teilgenommen, Sorka war in einem der Veterinärschuppen gewesen. Sein harter Schritt verriet ihr, daß er sich vor Wut kaum noch beherrschen konnte, aber er hielt sich zurück, bis sie im Haus waren.
»Dieser verdammte Narr, dieser dreimal verfluchte Narr«, sagte er und knallte die Tür hinter sich zu. »Dieser aufgeblasene, dickschädelige, vernagelte Blödmann.«
»Admiral Benden?« fragte sie überrascht. Sean hatte bisher nie einen Anlaß gefunden, den Admiral zu kritisieren, und er war sehr stolz gewesen, als er zu dieser Sonderbesprechung geladen wurde.
»Dieser blöde Admiral will eine Kavallerieeinheit!«
»Kavallerie?« Sorka holte gerade das Abendessen aus dem Gefrierfach, aber jetzt hielt sie inne.
»Um mit Flammenwerfern in der Gegend herumzurasen, nicht mehr und nicht weniger.«
»Ist ihm denn nicht bekannt, daß Pferde Feuer hassen?«
»Jetzt schon.« Sean ging an ihr vorbei an den kleinen Schrank, zog eine Flasche Quikal heraus und hielt sie vielsagend hoch.
»Ja, bitte. Wenn ich nicht ruhiger werde, bekommt mir das Essen nicht.« Sie unterdrückte ihre Neugier. Daß er nach Alkohol verlangte, war ein deutliches Zeichen für seine Anspannung, denn Sean war gewöhnlich kein starker Trinker.
»Wir brauchen nicht oben zu essen, oder?« fragte er und deutete mit dem Kopf in Richtung der wiedereröffneten Gemeinschaftsküche.
»Nein, ich habe Mutters Tiefkühltruhe geplündert.« Sie schob ein Gefäß in den Herd und stellte die Zeit ein.
Sean reichte ihr ein Glas und erhob das seine zu einem Trinkspruch. »Auf idiotische Admiräle, die sich zwar im Weltraum bestens auskennen, aber nicht die leiseste Ahnung von Pferden haben. Als ob wir solche Mengen von den Tieren hätten, daß wir sie mit hirnlosen Kapriolen verheizen könnten.
Außerdem bildet er sich ein, ich könnte Feuerechsengeschwader ausbilden«, Sean hatte sich nicht davon abbringen lassen, die Tiere mit seinem eigenen Namen zu bezeichnen -, »die die Fäden auf Kommando vernichten. Er glaubt sogar, er müßte sich auch so ein Tier anschaffen. Und dann weiß er nicht einmal, daß sie erst im Sommer wieder schlüpfen! Wenn diese Paradeflieger sie bis dahin nicht alle angezündet haben.«
Sorka hatte Sean noch nie so wütend gesehen. Sein Gesicht war zornrot. Um sich abzureagieren, ging er auf und ab, fuchtelte mit dem rechten Arm wie wild in der Luft umher und nippte zwischen den Sätzen an seinem Glas. Ständig warf er den Kopf zurück, um sich das sonnengebleichte Haar aus dem Gesicht zu schütteln. Seine starre Miene ließ ihn undurchschaubar, fast beängstigend wirken. Sorka hörte ihm mit einem Teil ihres Bewußtseins zu und pflichtete ihm bei, während er seine Befürchtungen und Ansichten zum besten gab; aber daneben registrierte sie wieder einmal erfreut, was sich hinter der beherrschten, fast gefühllosen Fassade, die er den meisten Leuten präsentierte, für eine leidenschaftlich engagierte, intelligente, kritische und durch und durch vernünftige Persönlichkeit verbarg.
Sie wußte nicht mehr genau, wann ihr klar geworden war, daß sie ihn liebte - es schien schon immer so gewesen zu sein -, aber sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie gemerkt hatte, daß auch er sie liebte: damals war er zum ersten Mal in ihrer Gegenwart wegen einer Kleinigkeit explodiert. Diesen Luxus hätte Sean sich nie gestattet, wenn er sich bei ihr nicht völlig sicher gefühlt, wenn er nicht unbewußt ihre Zuneigung und ihre besänftigende Anwesenheit gebraucht hätte. Mit einem kleinen Lächeln, das sie jedoch taktvoll hinter ihrem Glas verbarg, beobachtete sie nun, wie er sich seinen Ärger von der Seele redete.
»Weißt du, Sean, eigentlich war es doch auch ein Kompliment für dich«, bemerkte sie schließlich. Als sie seinen überraschten Blick sah, lächelte sie. »Insofern, als der Admiral sich an dich gewandt hat. Dir ist es vielleicht gar nicht aufgefallen, aber er hat uns da draußen im Malay-Korridor beobachtet und gesehen, wie gut sich unser Schwarm benimmt. Und er weiß sicher, daß du eher als alle anderen die Stellen finden wirst, wo die Königinnen ihre Eier verstecken.«
»Hm. Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Sean ging weiter auf und ab, aber seine Erregung hatte nachgelassen.
Sorka liebte Sean in jeder Stimmung, aber seine gelegentlichen Explosionen faszinierten sie. Sein Zorn hatte sich nie gegen sie gerichtet; er kritisierte sie selten, und dann nur auf sehr knappe und unpersönliche Weise. Einige ihrer Freundinnen wunderten sich, wie sie seine Schweigsamkeit, seine fast mürrische Launenhaftigkeit ertragen konnte, aber wenn sie mit ihm allein war, war er nie mürrisch. Er war im allgemeinen rücksichtsvoll, wurde nie ausfallend, selbst wenn er völlig anderer Ansicht war, und war sicher ein Mann, der seine Meinung für sich behielt - es sei denn, Pferde waren in Gefahr. Seine schlanke Gestalt bewegte sich selbst jetzt noch mit einer gewissen Eleganz, obwohl er mit schweren Schritten hin und her stapfte und in dem dicken Wollteppich, den sie selbst gewebt hatte, Abdrücke hinterließ. Sie ließ ihn weiterlamentieren und hörte belustigt zu, wie er sich in abfälligen Vermutungen über die Abstammung des Admirals erging, vor dem er normalerweise größten Respekt hatte, und sämtliche Biologen als Idioten beschimpfte, weil sie mit Tieren herumpfuschten, obwohl sie zu dumm waren, um ihr Wesen zu verstehen.
»Hast du nun dem Admiral angeboten, ihm ein Zwergdrachenei zu besorgen, wenn die Zeit kommt, oder nicht?« fragte sie, als er nach einer weiteren ausführlichen Verurteilung aller militärischen Esel eine Pause einlegte, um wieder zu Atem zu kommen.
»Ha! Falls ich das kann, ja.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ sich neben sie auf die Couch fallen. Sein Gesicht war plötzlich ruhig geworden, Zorn und Frustration waren verflogen, seine Augen ruhten auf der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in seinem Glas. Sie spürte, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte, und wartete, daß er weitersprach. »Du weißt ebensogut wie ich, daß wir hier in der Gegend von den wilden Feuerechsen keine Flügelspitze mehr gesehen haben. Seit dem Fädenfall von Sadrid machen sie sich rar. Himmel, wenn es auf diesem Planeten einen sicheren Platz gäbe, sie würden ihn finden!«
»Im Malay-Korridor haben uns aber eine Menge von ihnen geholfen.«
»So lange, bis ein paar Irre auch auf sie gefeuert haben!« Sean trank sein Glas leer, um seinen Abscheu hinunterzuspülen. »Wenn sich das rumspricht, wird uns von den Wilden überhaupt keiner mehr helfen.« Er schenkte sich noch einmal ein. »Sag mal, wo sind eigentlich deine?« fragte er plötzlich, weil ihm auffiel, daß die gewohnten Plätze leer waren.
»Genau da, wo auch deine sind, nämlich irgendwo draußen«, antwortete sie sanft.
Sean begann zu lachen, über sich selbst und weil er sich jetzt erinnerte, wie seine Feuerechsen sich verdrückt hatten, sobald er das Verwaltungsgebäude verließ.
»Ein Wunder ist es nicht, oder?« neckte sie ihn grinsend. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie dichter an sich, ohne daß sie sich gewehrt hätte. »Als Emmett mir berichtete, Blazer sei wegen deines gerechten Zorns ganz aus dem Häuschen, habe ich den meinen gesagt, sie müßten sich heute abend selbst etwas zu essen suchen. Von Käse sind sie sowieso nicht begeistert.«
»Es passiert nicht oft, daß wir einen Abend für uns allein haben«, flüsterte Sean ihr leise ins Ohr. »Trink aus, mein kleiner Rotschopf.« Er fuhr ihr durchs Haar, dann schob sich seine Hand in zärtlichem Streicheln über ihre Wange und faßte nach ihrem Kinn. »Und schalte den Herd aus«, fügte er hinzu, ehe er sie küßte.
Sorka gehorchte gern. Es war umständlich, sich jedesmal irgendwelche Scheinaufträge für die Zwergdrachen einfallen lassen zu müssen. Aber die Tiere genossen starke Gefühle, auch wenn sie selbst nicht in Hitze waren, und wenn ein dreizehnköpfiger Chor seinen Ermunterungsgesang anstimmte, wußte die ganze Nachbarschaft, was im Haus Hanrahan-Connell vorging.
Am späten Abend, als es in Landing allmählich ruhig wurde, fragte sich Sorka, ob sie wohl diesmal empfangen hatte. Sean schlief ruhig neben ihr, die Finger leicht um ihren Oberarm gelegt. Sie hatte ihm gegenüber nie den Wunsch geäußert, ihr Verhältnis zu legalisieren, oder darauf hingewiesen, daß sie in den Augen von ganz Landing ein festes Paar waren. Sie waren bei fast allem, was sie taten, einer Meinung und nützten ihre Veterinärlehrzeit dazu, das beste Material aus dem Genvorrat auszuwählen, der ihnen entweder in den Samenbanken oder an lebendigen Hengsten zur Verfügung stand, um kräftige Pferde zu züchten. Bald würden sie ihr Abschlußexamen in Tiermedizin ablegen, und sie hatten schon genau die richtige Stelle für ihr künftiges Heim gefunden - ein Tal etwa in der Mitte des Östlichen Grenzgebirges. Sean hatte Red mitgenommen und ihm das geplante Killarney-Anwesen gezeigt, und ihr Vater hatte ihrer Wahl begeistert zugestimmt. Sorka deutete das als stillschweigende Zustimmung zu ihrer immer noch inoffiziellen Beziehung.
Sorkas Eltern hatten sich also mittlerweile mit Sean abgefunden, aber Porrig Connell behandelte die Freundin seines Sohnes immer noch sehr förmlich, wie einen Gast, den er nicht allzuoft zu sehen wünschte. Seine Frau hatte nie ihre Bemühungen aufgegeben, ihren Sohn an den Herd zurückzubringen, an den er ihrer Ansicht nach gehörte. Sie hatte sich sogar eine Schwiegertochter ausgesucht und brachte manchmal alle Beteiligten in Verlegenheit, weil sie ihm das Mädchen bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufdrängte.
»Ich will niemanden, der so nahe mit mir verwandt ist, Mam«, hatte Sean ihr erklärt, als sie ihn einmal zu oft damit geplagt hatte. »Dabei kommt nichts Gutes heraus. Der Vater von Lally Moorhouse ist ein Vetter ersten Grades von dir. Wir müssen den Genpool vergrößern, nicht begrenzen.«
Sorka hatte es gehört, aber sie kannte Sean inzwischen so gut, daß sie nicht gekränkt war, obwohl er nichts davon erwähnt hatte, daß seine Wahl bereits getroffen war. Vielleicht hatte er damals noch nicht gemerkt, daß er die fünfzehn Jahre alte Sorka Hanrahan liebte, die ihrerseits ganz genau wußte, wem ihr Herz gehörte.
Sie war siebzehn gewesen, als er zum ersten Mal so etwas wie Leidenschaft gezeigt hatte, und das war eine denkwürdige Nacht gewesen. Sie hatten die Rollen getauscht: sie war die Zügellose gewesen, er der zögernde, zärtliche Liebhaber. Ihre heftige Reaktion auf seine vorsichtigen Annäherungsversuche hatte sie beide überrascht und befriedigt, aber eine eigene Wohnung hatten sie erst nach ihrem achtzehnten Geburtstag genommen. In ihrer Generation hatte es sich eingebürgert, erst einmal eine Weile auf Probe zusammenzuleben, ehe man vor dem Richter eine offizielle Bindung einging.
Sorka wollte unbedingt ein Kind von Sean. Seit jener schrecklichen halben Stunde, in der sie unter dem Steinsims im Wasser gestanden hatten, war ihr bewußt, daß sie sterblich waren. Sie wollte etwas von Sean für sich haben - nur für den Fall der Fälle. Nicht daß er besonders wild oder unvorsichtig gewesen wäre, aber die Lilienkampsöhne waren auch nicht leichtsinnig gewesen, und die arme Lucy Tubberman ganz gewiß nicht. Bei jenem ersten Fädenfall waren so viele Menschen ausgelöscht worden!
Sorka wollte nicht allein zurückbleiben, ohne irgendein Andenken an Sean zu haben. Sie hatte sich bisher nicht bemüht, ein Kind zu empfangen, weil eine Schwangerschaft ihre Pläne für das Killarney-Anwesen verzögert hätte: sie brauchte die Anrechnungspunkte für ihre Arbeit, um möglichst viele Morgen Land erwerben zu können. Sie hatte sich allerdings schon Sorgen gemacht, weil sie bisher nicht schwanger geworden war, obwohl sie und Sean sich bisher bei ihren Spielereien nie besonders vorgesehen hatten. Aber jetzt war Schluß mit den Spielereien, soweit es sie anging. In dieser Nacht war sie aufs Ganze gegangen.
***
Windblüte öffnete Paul Benden, Emily Boll, Ongola und Paul und Bay Harkenon-Nietro weit die Tür und neigte anmutig den Kopf zur Begrüßung.
Kitti Peng saß auf einem gepolsterten Stuhl, der nach Pauls Ansicht unter dem Bezug auf einem Podest stehen mußte, so daß er aussah wie ein archaischer Thron. Für jemanden, der nur halb so groß war wie er selbst, wirkte sie beeindruckend. Der schmächtige Körper war in eine herrlich weiche, gewebte Decke gewickelt, und auch die langärmelige, kunstvoll bestickte Tunika steigerte die Ausstrahlung von Kraft und Autorität. Sie hob eine zarte Hand, nicht größer als die seiner ältesten Tochter, und bedeutete ihnen, auf den Hockern Platz zu nehmen, die in einem unregelmäßigen Halbkreis vor ihr aufgestellt waren.
Paul mußte seine langen Beine anwinkeln, um sich niederzulassen, und dabei wurde ihm klar, daß sie sich damit einen fast unmerklichen Vorteil vor ihren Besuchern verschafft hatte. Belustigt von dieser Taktik lächelte er zu ihr auf und glaubte, in ihren Augen eine leise Reaktion zu entdecken.
Nur ganz wenige starke Volkstraditionen hatten das Religiöse Zeitalter überstanden, aber vier Völker, Chinesen, Japaner, Maori und Amazonasindianer, hatten einige ihrer alten Sitten beibehalten. In Kittis mit erlesenen Familienerbstücken ausgestattetem pernesischem Haus hätte Paul nie gewagt, das Ritual der Gastfreundschaft zu stören. Windblüte servierte den Besuchern duftenden Tee in zarten Porzellantassen. Die kleine Teepflanzung, die man nur angelegt hatte, um diese wunderschöne Zeremonie zu ermöglichen, war dem ersten Fädenfall zum Opfer gefallen. Paul war sich schmerzlich bewußt, daß der Tee, an dem er jetzt nippte, vielleicht der letzte sein würde, den er je zu kosten bekam.
»Hatte Mär Dook schon Gelegenheit, Ihnen zu sagen, daß er im Treibhaus noch mehrere Teesträucher in Reserve hatte, Kitti Fing?« fragte Paul, als alle genügend Zeit gehabt hatten, das Getränk zu genießen.
Kitti Fing senkte zum Zeichen der Dankbarkeit tief den Kopf und lächelte. »Das ist eine große Beruhigung.«
Ihre unverbindliche Höflichkeit lieferte ihm keinen Ansatzpunkt. Paul rutschte auf der Suche nach einer bequemeren Stellung unruhig auf dem Hocker hin und her und war sich durchaus bewußt, daß Pol und Bay es kaum erwarten konnten, auf den Grund für diese Unterredung zu sprechen zu kommen.
»Wir wären alle noch beruhigter, Kit Fing Yung«, - er dämpfte unvermittelt seine Stimme, die nach ihrer zarten Antwort so laut geklungen hatte -, »wenn wir… irgendeine zuverlässige Unterstützung im Kampf gegen diese Bedrohung hätten.«
»Ach?« Ihre bleistiftstrichdünnen Augenbrauen gingen in die Höhe, und ihre winzigen Hände auf den Armlehnen vollführten eine unbestimmte Geste.
»Ja.« Paul räusperte sich, er ärgerte sich über seine Unbeholfenheit und darüber, daß er sich durch eine Kleinigkeit wie die Sitzordnung so aus der Fassung bringen ließ. Sie mußte doch wissen, warum er diese Privatkonferenz arrangiert hatte. »Die Wahrheit ist, daß wir nur sehr schlecht dafür gerüstet sind, uns gegen die Sporen zu verteidigen. Rundheraus gesagt, in fünf Jahren sind unsere Vorräte erschöpft. Wir haben nicht die Mittel, um Schlitten oder Energiezellen herzustellen, wenn die mitgebrachten am Ende sind. Kenjos Versuch, die Sporen im Weltraum zu zerstören, war nur zum Teil erfolgreich, und für die Mariposa ist nicht mehr viel Treibstoff vorhanden.
Wie Sie wissen, hat keines der Kolonistenschiffe irgendwelche Defensiv- oder Vernichtungswaffen mitgerührt. Selbst wenn wir Laserkanonen bauen könnten, wir hätten nicht genug Treibstoff, um auch nur ein Schiff in eine Position zu bringen, von der aus es die Kokons wirkungsvoll vernichten könnte. Trotzdem bleibt die Zerstörung der Sporen aus der Luft die beste Möglichkeit, den Boden zu schützen.
Boris und Dieter haben unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt: die Fäden werden nach einem Schema über Pern hinwegfegen, das den ganzen Planeten in eine Wüste verwandelt, wenn wir sie nicht aufhalten können. Wir haben auch nicht viel Hoffnung, daß Ezra Keroons Sonde uns irgendwelche brauchbaren Informationen liefert.« Paul spreizte die Hände, die Hoffnungslosigkeit drohte ihn zu überwältigen.
Kitti zog aufrichtig überrascht ihre zarten Augenbrauen in die Höhe. »Der Morgenstern ist also der Ursprung?«
Paul seufzte schwer. »So lautet die aktuelle Theorie. Wenn die Sonde ihre Daten schickt, werden wir mehr wissen.«
Kitti Fing nickte nachdenklich, ihre gertenschlanken Finger umklammerten die Armlehnen fester.
»Kit Fing Yung«, sagte Emily und setzte sich noch aufrechter auf ihren Hocker, »wir sind in einer verzweifelten Lage.«
Paul fand es auf undefinierbare Weise ermutigend, daß sich die Gouverneurin nicht weniger wie ein nervöses Schulkind benahm als er selbst. Pol und Bay nickten ihr aufmunternd zu. Kitti Fing und Windblüte, die links hinter ihrer Großmutter stand, warteten geduldig.
»Wenn die Zwergdrachen größer wären, Kitti«, schaltete sich Bay ungewöhnlich schroff ein, »und intelligent genug, um Anweisungen zu befolgen, wären sie uns eine gewaltige Hilfe. Ich konnte mit Hilfe der Mentasynthese ihre latent vorhandenen empathischen Fähigkeiten verstärken, aber das ist vergleichsweise einfach.
Um Zwergdrachen zu züchten, die groß genug sind - Drachen - sie müssen sehr groß sein…« Bay streckte die Arme aus, so weit sie konnte, und deutete mit den Fingern etwa die Größe eines Zimmers an, »… intelligent, folgsam, stark genug, um die erforderliche Aufgabe zu erfüllen: Fäden am Himmel zu verbrennen.« Sie stockte, denn sie wußte sehr wohl, wie Kitti Fing über den Einsatz von Biotechnik dachte, wenn es über einfache Korrekturen hinausging, um Lebewesen an neue, ökologische Rahmenbedingungen anzupassen.
Wieder nickte Kitti Fing, und ihre Enkelin sah sie überrascht an. »Ja, Größe, Kraft und beträchtliche Intelligenz wären nötig«, sagte sie kaum hörbar. Sie schob die Hände in die Manschetten ihrer langen Ärmel, verschränkte die Arme, neigte den Kopf und schwieg so lange, daß die Besucher sich schon fragten, ob sie vielleicht in den letzten Schlaf der Greise gefallen sei. Dann fuhr sie fort: »Und Begeisterungsfähigkeit, die man manchen Wesen leicht einflößen kann, während es bei anderen unmöglich ist. Die Zwergdrachen besitzen bereits die Züge, die Sie verstärken und verbessern wollen.«
Sie lächelte, ein sanftes, fast entschuldigendes Lächeln, hinter dem sich große Traurigkeit und Mitgefühl verbargen.
»Ich war nur eine - wenn auch sehr willige und lerneifrige Schülerin in den Großen Beltrae-Hallen der Eridani.
Man hat mich gelehrt, was geschehen würde, wenn ich dies oder jenes täte, wenn ich vergrößerte oder verkleinerte, jene Synapse durchtrennte oder dieses Genmuster veränderte.
Die meiste Zeit funktionierte das, was man mir beigebracht hatte, aber leider«, fügte sie hinzu und hob warnend eine Hand, »wußte ich nie, warum manchmal eine Veränderung scheiterte und der Organismus zugrunde ging. Ich sollte es auch nicht erfahren. Die Beltrae lehrten uns das Wie, aber niemals das Warum.«
Paul seufzte tief auf, die Verzweiflung drohte ihn zu überwältigen.
»Aber ich kann es versuchen«, sagte sie. »Und ich werde es versuchen. Denn obwohl mein Leben fast zu Ende ist, sind andere da, auf die es Rücksicht zu nehmen gilt.« Sie drehte sich um und lächelte freundlich zu Windblüte auf, die demütig den Kopf senkte.
Paul schüttelte den Kopf, er glaubte, nicht recht gehört zu haben.
»Sie werden es tun?«
Bay sprang auf und beherrschte sich gerade noch so weit, daß sie nicht auf Kittis hohen Stuhl zustürmte.
»Natürlich werde ich es versuchen!«
Wieder hob Kitti warnend ihre winzige Hand. »Aber ich muß vorausschicken, daß nicht unbedingt mit einem Erfolg zu rechnen ist.
Was wir vorhaben, ist gefährlich für die Spezies, es könnte gefährlich für uns ein, und es gibt keine Garantie, daß es gelingt. Es ist in höchstem Maß ein Glücksfall, daß die kleinen Zwergdrachen bereits so viele der Eigenschaften besitzen, die das genetisch veränderte Tier braucht, um unsere dringendsten Bedürfnisse zu erfüllen. Trotzdem ist es uns vielleicht nicht möglich, genau das richtige Wesen zu schaffen und auch noch einer genetischen Progression sicher zu sein.
Wir haben weder hochwertige Laboreinrichtungen noch die Analysemethoden, die uns die Schwierigkeiten erleichtern könnten. Wiederholung, die Arbeit vieler Hände und Augen müssen uns die Präzision und die Empfindlichkeit der Geräte ersetzen.
Die Aufgabe ist nicht unlösbar, aber die Mittel sind barbarisch.«
»Aber wir müssen es versuchen!« sagte Paul Benden und erhob sich mit entschlossen geballten Fäusten.
***
Alles medizinische Personal, das nicht im Lazarett oder bei den Bodenmannschaften Dienst tat, die Veterinäre und alle Lehrlinge, auch Sean und Sorka, arbeiteten in Schichten an Kitti Pings Projekt, das Vorrang vor allem anderen erhielt. Jeder, der in Biologie, Chemie oder irgendwelchen Labortechniken ausgebildet war, wurde zu dieser Arbeit herangezogen manchmal auch einfach Leute mit geschickten Fingern, um die Objektträger vorzubereiten, oder Rekonvaleszenten von Fädenverletzungen, um die Monitore zu beobachten. Kitti, Windblüte, Bay und Pol extrahierten einen genetischen Kode aus den Chromosomen der Feuerechsen. Obwohl die Tiere nicht von der Erde stammten, war ihre Biologie nicht allzu fremdartig.
»Wir hatten Erfolg mit den Chiropteroiden auf Centauri«, sagte Pol, »und deren genetisches Material waren Silikonketten.«
Man mußte viel mit Terminen jonglieren, um genügend Leute zusammenzubekommen, wenn über bewohnten Gebieten Fäden fielen. Das von Boris Pahlevis und Dieter Clissmanns erschöpftem Team bis ins kleinste ausgearbeitete Schema der Niederschläge strukturierte das Leben aller, und dem hatte sich auch Kitti Pings Projekt zu beugen. Daraus entstand ein Dienstplan in vier Schichten, der versuchte, jedem noch etwas Zeit für sich selbst zu lassen - sei es, um sich zu entspannen, oder sich um seine eigene Besitzung zu kümmern; einige Spezialisten schoben solche Überlegungen jedoch beiseite und mußten zum Schlafen gezwungen werden.
Alle über Zwölfjährigen wurden herangezogen, wenn die Sporen fielen. Die Hoffnung, daß Kenjo in der Mariposa die Sporenkokons in den oberen Bereichen der Atmosphäre ablenken könnte, mußte man begraben. Der vorhergesagte Doppeleinfall - über Cardiff in der Mitte des Jordan und Bordeaux in Kahrain, sowie über Seminole und der Insel lerne - kam in unregelmäßigen Schauern, aber widersinnigerweise lagen gerade nicht die bewohnten Gebiete in den Lücken.
Man mußte mit weiteren Doppeleinfällen rechnen: am eindunddreißigsten Tag nach dem Ersten Fädenfall würden die Sporen über Karachi Camp und die Spitze der Halbinsel Kahrain dahinfegen; drei Tage später würde sich ein Landkorridor von Kahrain bis über die Paradiesflußsiedlung erstrecken, während ein zweiter Niederschlag ohne Schaden anzurichten weit jenseits der Spitze der Provinz Cibola über dem Meer herunterkommen würde. Nach weiteren drei Tagen würde ein gefährlicher Doppeleinfall sowohl die Boca-Siedlung als auch die dichten Wälder im unteren Teil von Kahrain und Arabien treffen, die einzigen brauchbaren Holzvorräte, die dringend benötigt wurden, um die Gruben von Karachi Camp und am Drake-See abzustützen, wo eifrig gearbeitet wurde.
Ezra verbrachte Stunden in der Hütte, in der die Interfacestation, die Verbindung zum Hauptcomputer der Yokohama untergebracht war, und durchforstete die Marine- und Militärgeschichte nach einem Mittel, um die Gefahr zu bekämpfen. Mit viel weniger Optimismus suchte er auch nach abwegigen Gleichungen oder Geräten, mit denen man eventuell den Orbit des Planeten verändern konnte, um vielleicht auf diese Weise dem nächsten Fädenfall zu entrinnen. Inzwischen war jedoch der ganze Orbit von Pern mit Spiralen der verkapselten Sporen übersät, und dieser Gefahr konnten die Kolonisten auf keinen Fall entgehen. Er stellte auch Vergleiche mit Daten aus Kittis Programm an, wühlte in wissenschaftlichen Akten und verschaffte sich mit Hilfe seines geschützten Paßworts Zugang zu geheimen oder vertraulichen Informationen. Außerdem wartete er auf die Ergebnisse der Sonde. Und weil jedermann wußte, wo Ezra zu finden war, konnte er oft Beschwerden und kleinere Probleme abfangen, die den Admiral und die Gouverneurin unnötigerweise noch weiter belastet hätten.
Kenjo wurde noch dreimal mit der Admirals-Gig ausgeschickt und bemühte sich jedesmal, eine wirksame Methode zu finden, um so viele Sporen im Weltraum zu zerstören, daß der Verbrauch des kostbaren Treibstoffs gerechtfertigt wurde. Die Anzeigen der Mariposa sanken bei jeder Reise nur leicht, und Kenjo wurde für seine Sparsamkeit gelobt. Drake verlieh seinem Neid auf das Können des Raumschiffpiloten sogar offen Ausdruck.
»Himmel, Mann«, pflegte er zu sagen, »du fliegst das Ding mit den Auspuffgasen.«
Kenjo nickte nur bescheiden und schwieg. Er war jedoch froh, daß es ihm nicht gelungen war, alle Treibstoffsäcke in das Versteck auf Honshu zu schaffen. Zu bald schon würde er diesen Vorrat angreifen müssen, um weitere Flüge in den Weltraum zu ermöglichen. Nur dort fühlte er sich mit allen Sinnen, mit jedem Nerv wach und seiner Umwelt bewußt.
Aber er brachte auch jedesmal nützliche Informationen mit. Es stellte sich heraus, daß die Sporen sich in einem Kokon befanden, der verbrannte, wenn sie auf die Atmosphäre von Pern trafen, so daß eine innere Kapsel zurückblieb. Etwa fünfzehntausend Fuß über der Oberfläche öffnete sich dann diese Kapsel und entließ die Bänder, von denen einige nicht dick genug waren, um in den oberen Bereichen zu überleben. Aber wie ganz Landing am eigenen Leib erfahren hatte, erreichten immer noch genügend viele die Oberfläche.
Die meisten der Schlitten besaßen keine Druckkabinen, so daß sie höchstens auf einer Höhe von zehntausend Fuß fliegen konnten. Es gab immer noch nur eine Möglichkeit, die Sporen am Himmel zu beseitigen: Flammenwerfer.
Da am vierzigsten Tag Fäden auf der Besitzung Große Insel zu erwarten waren, beorderte Paul Benden Avril Bitra und Stev Kimmer nach Landing zurück. Auf Stevs Anfrage, was Landing von den auf der Großen Insel geförderten Erzen gebrauchen könne, lieferte ihm Joel Lilienkamp nur zu gern eine Liste. Als dann vier bis zum Kanzeldach mit Metallbarren bepackte Schlitten in Landing eintrafen, sprach niemand mehr davon, daß Kimmer und seine Kollegen sich so lange nicht gemeldet hatten.
»Ich sehe Avril nicht«, bemerkte Ongola, als die Schlitten bei den Metallschuppen entladen wurden.
Stev sah ihn überrascht an. »Sie ist schon vor Wochen zurückgeflogen.« Er spähte den Landestreifen entlang und sah die Sonne auf dem Rumpf der Mariposa glitzern. »Hat sie sich nicht gemeldet?« Ongola schüttelte langsam den Kopf. »Das ist doch nicht zu fassen!« Stevs Blick ruhte so lange nachdenklich auf der Mariposa, daß es Ongola auffiel. »Vielleicht haben die Fäden sie erwischt!«
»Sie vielleicht, aber den Schlitten sicher nicht«, antwortete Ongola. Avril Bitra war durchaus fähig, auf ihre eigene Haut aufzupassen, das wußte er. »Wir werden die Augen offen halten.«
Überall waren Fädenfallpläne ausgehängt, die ständig auf den neuesten Stand gebracht wurden; frühere Einfalle wurden gelöscht, die zu erwartenden begrenzte man auf die nächsten drei, damit die Leute eine Woche vorausplanen konnten. Avril konnte sich keine zehn Minuten in Landing aufgehalten haben, ohne von dieser Gefahr zu erfahren. Ongola nahm sich vor, den Chip im Steuermodul der Mariposa zu entfernen, sobald Kenjo gelandet war. Er wußte genau, wie der Raumschiffpilot den Treibstoff gestreckt hatte, aber er wollte nicht, daß jemand anderer, schon gar nicht Avril Bitra, es entdeckte. Paul Benden hatte recht behalten, was Kenjo betraf. Ongola hatte nicht den Ehrgeiz, es ihm in bezug auf die Astrogatorin gleichzutun.
»Wo wollen Sie mich einsetzen, Ongola, nachdem ich nun schon mal hier bin?« fragte Stev mit schiefem Grinsen.
»Fragen Sie Fulmar Stone, wo er Sie am dringendsten braucht, Kimmer. Freut mich jedenfalls, Sie heil wiederzusehen.«
Avril war in dieser Nacht nur so lange in der Nähe von Landing geblieben, bis ihr klar war, daß sie von keinem der verschiedenen Teams vereinnahmt werden wollte, die ihre besonderen Fähigkeiten gebrauchen konnten. Das einzige, was sie wirklich gern getan hätte - Navigation im Weltraum -, wurde ihr verwehrt. Ehe also in Landing der Tag anbrach, und ehe jemand den zusätzlichen Schlitten bemerkte, startete sie die mit Nahrungsmitteln und Versorgungsgütern beladene Maschine wieder.
Sie landete auf den felsigen Höhen über dem verwüsteten Mailand-Anwesen, wo sie einen guten Blick auf Landing und, was noch wichtiger war, auf das belebte, hell erleuchtete Landegitter hatte, wo die Mariposa niedergehen würde. Sie verbrachte die frühen Morgenstunden damit, aus den Metallblechen, die sie sich organisiert hatte, über dem Siliplex-Kanzeldach des Schlittens einen Schirm zu errichten, denn mit dem tödlichen Zeug aus der Luft wollte sie kein Risiko eingehen. Am späten Vormittag hatte sie ihren Adlerhorst getarnt und das Schlittenteleskop auf ihr Ziel eingestellt. Der provozierende Anblick von Kenjos Rückkehr belohnte sie.
Indem sie sorgfältig alle mit dem Komgerät des Schlittens zu empfangenden Kanäle abhörte, bekam sie heraus, worum es bei seinem Auftrag ging und wie begrenzt sein Erfolg gewesen war.
Im Lauf der nächsten Tage fühlte sie sich in ihrem Versteck immer sicherer. Wegen der alten Vulkane bewegte sich der Luftverkehr zum größten Teil durch Korridore, die sich weitab von ihrem Standort befanden. Vormittags lag der Schatten des höchsten Gipfels wie ein breiter, direkt auf sie zeigender Finger über ihrer Zuflucht und verursachte ihr eine Gänsehaut.
Grandiose Ausblicke hatte sie eigentlich noch nie so recht zu schätzen gewußt, allerdings garantierte ihr die Tatsache, daß sie den Jordan entlang auf der einen Seite bis zur Bucht und auf der anderen bis Bordeaux sehen konnte, daß man sie wohl nicht so leicht überraschen würde. Sie bemühte sich, in aller Ruhe abzuwarten, aber in Anbetracht der erhofften Belohnung fiel es ihr schwer, sich in Geduld zu üben.
***
»Haben Sie denn irgendwelche Fortschritte zu melden, Kitti?« fragte Paul Benden die kleine Genetikerin.
Er hatte eigentlich immer wieder festgestellt, daß es die Leistungen keineswegs verbesserte, wenn man den Leuten ständig im Nacken saß, aber er brauchte wenigstens einen Anflug von Ermunterung, um seine deprimierten Leute ein wenig aufzuheitern. Als der zweite Monat der Fadeneinfälle sich hinschleppte, meldeten die Psychologen ein Absinken der Moral. Die anfängliche Begeisterung und Entschlossenheit wurden allmählich von der gewaltigen Arbeitsbelastung untergraben, die nur wenig Zerstreuung zuließ. Das einst so großzügig angelegte Landing war überfüllt, weil man viele Techniker in die Labors geholt hatte und weil sich die Familien vieler Grundbesitzer in die zweifelhafte Sicherheit der ersten Siedlung flüchteten.
Niemand war untätig. Mairi Hanrahan hatte sich für die Fünf- bis Sechsjährigen, die bereits über eine gute Feinmotorik verfügten, ein Spiel ausgedacht, bei dem sie Schalttafeln nach der Farbe der Chips zusammensetzen mußten. Selbst die Ungeschicktesten konnten mithelfen, auf den noch nicht verwüsteten Feldern Obst und Gemüse zu ernten, oder sie konnten um die Wette nach auffallend gefärbtem Seetang suchen, der nach der Flut oder nach Stürmen an den Stranden angetrieben wurde. Die Sieben- bis Achtjährigen bekamen Angeln und durften unter strenger Aufsicht beim Fischen helfen. Aber sogar bei den kleinsten Kindern machte sich die ständig steigende Gereiztheit allmählich bemerkbar.
Es wurde viel davon geredet, daß man mehr Grundbesitzern gestatten sollte, auf ihr eigenes Land zurückzukehren und von dort aus gegen die Fäden zu fliegen. Aber das würde bedeuten, daß man die Vorräte aufteilte und die Arbeitsprogramme der wertvollen Techniker durcheinanderbrachte. Paul und Emily mußten schließlich streng auf der Zentralisierung bestehen.
An jenem Abend sah Kitti die beiden Führer der Kolonie mit einem weisen, verständnisvollen Lächeln an. Sie saß aufrecht auf einem Hocker neben den großen, mikrobiologischen Apparaten, deren winzige Laserwerkzeuge von der Manipulatorkammer zurückgeklappt waren, und man sah ihr keine Erschöpfung an, nur die blutunterlaufenen Augen verrieten, welche Strapazen die Arbeit mit sich brachte. Ein Programm lief flüsternd und klickend ab, auf mehreren Monitoren erschienen unverständliche Anzeigen. Kitti hielt kurz inne, betrachtete einen Graphen auf einem Schirm und einen Satz Gleichungen auf einem anderen, dann richtete sie ihren Blick wieder auf die ungeduldigen Besucher.
»Es gibt keine Möglichkeit, Admiral, das Reifen zu beschleunigen, nicht, wenn Sie gesunde, lebensfähige Exemplare wollen. Diesen Vorgang konnten nicht einmal die Beltrae verkürzen. Wie ich in meinen letzten Berichten dargelegt habe, ist es uns gelungen, die Ursache unserer ersten Fehlschläge genau zu eruieren und die notwendigen Korrekturen vorzunehmen. Zeitraubend, das ist mir klar, aber es lohnt die Mühe. Die zweiundzwanzig gentechnisch behandelten Prototypen, die wir im Moment haben, sind schon recht weit entwickelt. Wir alle« - ihre zarte Hand vollführte eine anmutige Geste, die sämtliche in dem riesigen Laborgebäude beschäftigten Techniker einschloß - »sind über diesen hohen Erfolgsgrad sehr erfreut.« Sie drehte ein wenig den Kopf, um eine über den Bildschirm flackernde Anzeige zu lesen. »Wir überwachen die Exemplare ohne Unterbrechung. Sie zeigen die gleichen Reaktionen wie die kleinen Tunnelschlangen, deren Entwicklung wir sehr gut durchschauen. Lassen Sie uns hoffen, daß alles reibungslos vonstatten geht. Bisher hatten wir unendlich viel Glück. Jetzt müssen Sie Geduld aufbringen.«
»Geduld«, wiederholte Paul ironisch. »Geduld ist Mangelware.«
Kitti hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Die Embryos wachsen Tag für Tag. Windblüte und Bay verfeinern das Programm immer weiter. In zwei Tagen beginnen wir mit einer zweiten Gruppe. Wir werden die Manipulationen auch weiterhin verbessern, sind stets auf Vervollkommnung bedacht. Wir stehen nicht still. Wir schreiten fort.
Unsere Aufgabe ist groß und höchst verantwortungsvoll. Man verändert nicht leichtfertig das Wesen und den Zweck eines Geschöpfes. Wie schon gesagt wurde, gebietet es die Klugheit, vorsichtig zu differenzieren, damit alles seinen Platz findet. Besonnenheit und Behutsamkeit sind unerläßliche Voraussetzungen für den Erfolg.«
Kitti entließ die beiden Führer mit einem hoheitsvollen Lächeln und wandte den schnell wechselnden Bildern auf den Monitoren wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu. Paul und Emily verneigten sich ebenso höflich vor ihrem schmalen Rücken und verließen den Raum.
»Nun ja«, begann Paul und schüttelte seine Enttäuschung mit einem Achselzucken ab. »So ist es eben.«
»Welche Stadt wurde nicht an einem Tag erbaut, Paul?« fragte Emily schelmisch.
»Rom.« Paul grinste, weil sie über seine prompte Antwort so verwundert war. »Alte Erde, erstes Jahrhundert, glaube ich. Gute Kämpfer zu Lande und gute Straßenbauer.«
»Militaristen.«
»Ja«, sagte Paul. »Hmm… Sie hatten auch eine besondere Methode, für Zufriedenheit im Volk zu sorgen. Zirkus nannten sie es. Ich überlege…«
Am zweiundvierzigsten Tag nach dem Ersten Fädenfall - die Sporen würden unbewohnte Teile von Arabien und Cathay überqueren, ohne Schaden anzurichten, in das Nordmeer oberhalb von Delta fallen und die Westspitze von Dorado verfehlen - verfügten Admiral Benden und Gouverneurin Boll, daß alle einen Ruhetag einlegen sollten. Gouverneurin Boll bat die Leiter der einzelnen Abteilungen, die Arbeit so einzuteilen, daß jeder am nachmittäglichen Festmahl und am abendlichen Tanz teilnehmen konnte. Selbst die am weitesten entfernten Grundbesitzer wurden aufgefordert, zu kommen und so lange zu bleiben, wie es ihnen möglich war. Admiral Benden bat um zwei Geschwader von Freiwilligen, die um 9.30 Uhr den östlichen Korridor durchfliegen sollten, und um weitere zwei, die sich am frühen Abend bereithalten sollten, um den westlichen zu kontrollieren.
Die Plattform auf dem Freudenfeuerplatz war mit bunten Wimpeln geschmückt, und eine neue Planetenflagge flatterte an der Stange im Wind. Tische, Bänke und Stühle wurden um den Platz herum aufgestellt, die Mitte blieb frei für den Tanz. Fässer mit Quikal sollten angestochen werden, und Hegelman würde Bier brauen - niemand wollte daran denken, daß es vielleicht für lange Zeit das letzte sein würde. Joel Lilienkamp knauserte nicht und gab großzügig Vorräte heraus. »Bedankt euch bei den Kindern, die sie gesammelt haben! Kinderarbeit kann sehr einträglich sein«, grinste er. Die Fischer von Monaco Bay brachten kistenweise glänzende Fische und saftigen Seetang. Das alles sollte in den großen, nun schon so lange nicht mehr benützten Gruben schmoren; zwanzig Farmen steuerten ebensoviele Stiere bei, die man am Spieß braten wollte; Pierre de Courci hatte die ganze Nacht hindurch Kuchen gebacken und köstliches Naschwerk hergestellt. »Sollen doch lieber die Menschen fett werden als die Sporen!«
Er war immer am glücklichsten, wenn er eine Großaktion leiten konnte.
»Es tut gut, Musik, Gesang und Gelächter zu hören«, murmelte Paul, als er mit Ongola von einer Gruppe zur anderen schlenderte.
»Ich glaube, es wäre nicht schlecht, das zu einer ständigen Einrichtung zu machen«, antwortete Ongola. »Die Leute hätten etwas, worauf sie sich freuen könnten. Man trifft alte Freunde wieder, Beziehungen werden gefestigt, jeder hat eine Chance, mal rauszukommen und zu vergleichen, wie es die anderen machen.« Er nickte einer Gruppe zu, die aus seiner Frau Sabra, Sallah Telgar-Andiyar und Barr Hamil-Jessup bestand, alle plauderten und lachten, und jede hatte ein schläfriges Kind auf dem Schoß. »Wir müssen uns öfter treffen.«
Paul nickte, dann schaute er auf seinen Chrono, fluchte leise und verließ das Fest, um die Freiwilligen gegen die Fäden im Westen zu führen.
***
Ongola war in etwas angeschlagener Verfassung, als er am nächsten Morgen seine Wache im Wetterbeobachtungsturm antrat. Er hatte sogar zuvor das Lazarett aufgesucht, wo ihm die Apothekerin eine Tablette gegen den Kater gegeben und ihm versichert hatte, daß er bei weitem nicht der einzige sei. Ihre Bemerkung über beunruhigende Ausfälle beim letzten Fädenfall hatte seine Kopfschmerzen freilich eher noch verschlimmert.
Der Bericht, der ihn im Wetterbeobachtungsturm erwartete, war gleichzeitig schockierend und überraschend. Ein Schlitten war völlig zerstört, die dreiköpfige Besatzung war tot; ein zweiter Schlitten war bei einem Frontalzusammenstoß in der Luft stark beschädigt worden, der Steuerbordschütze war tot, der Pilot und der Backbordschütze schwer verletzt. Jemand hatte sich nicht an die vorgegebenen Flughöhen gehalten. Ongola stöhnte unwillkürlich, als er die Verlustliste las: Becky Nielsen, Bergwerkslehrling, eben erst von der Großen Insel zurückgekehrt - bei Avril war sie doch besser aufgehoben gewesen; Bart Nilwan, ein vielversprechender junger Mechaniker, und Ben Jepson. Ongola rieb sich die Augen. Der zweite getötete Pilot war Bob Jepson. Zwei aus einer Familie. Diese Zwillinge! Vollführten halsbrecherische Kunststücke, anstatt sich an die Befehle zu halten. Verdammter Mist! Was sollte er ihren Eltern erzählen? Ein eher unbedeutender Fädenfall, hinterher wartete ein Fest, und sie kamen dabei um!
Ongola streckte die Hand nach dem Komgerät aus und wollte gerade die Nummer der Verwaltung wählen, als jemand zaghaft an die Tür klopfte.
»Herein!« rief er.
Catherine Radelin-Doyle stand mit großen Augen und blassem Gesicht vor ihm.
»Ja, Cathy?«
»Sir, Mr. Ongola…«
»Eins von beiden reicht.« Er rang sich ein freundliches Lächeln ab. In Anbetracht der Schwierigkeiten, in die Cathy immer wieder geriet, angefangen damit, daß sie schon als Kind in Höhlen stolperte, bis hin zu der Tatsache, daß sie den größten Tunichtgut auf dem ganzen Planeten geheiratet hatte, war ihre Schüchternheit eigentlich nicht verwunderlich. Das arme Kind gehörte einfach zu den Leuten, denen ständig etwas zustieß, ohne daß sie das Geringste dazu getan hätte.
»Sir, ich habe eine Höhle gefunden.«
»Ja?« ermunterte er sie, als sie zögerte. Sie fand am laufenden Band Höhlen.
»Sie war nicht leer.«
Ongola richtete sich auf. »Waren eine Menge Treibstoffsäcke darin?« fragte er. Wenn Catherine die Höhle gefunden hatte, würde dann auch Avril darauf stoßen? Nein, Avril war kein solches Glückskind wie Catherine.
»Woher wissen Sie das denn, Mr. Ongola?« Ihr war ganz flau vor Erleichterung.
»Möglicherweise, weil ich weiß, daß sie da sind.«
»Tatsächlich? Ist das wahr? Ich meine, sie wurden nicht von ›ihnen‹ dorthin gebracht?«
»Nein, von uns.« Er wollte von Kenjos Hort so wenig Aufhebens wie möglich machen. Er hatte die ständig weniger werdenden Säcke gezählt und sich schon gefragt, warum Kenjo nach jedem Flug so mit sich zufrieden schien. Ongola warf einen schnellen Blick in die im Schatten liegende Regalecke, wo in einem Schaumstoffkasten die Steuerchips versteckt waren.
Catherine ließ sich plötzlich in den nächsten Stuhl sinken. »O Sir, Sie können sich nicht vorstellen, wie ich erschrocken bin. Ich dachte, es sei noch jemand da, schließlich wissen wir doch alle, wie wenig Treibstoff noch übrig ist. Und als ich dann sah…«
»Aber du hast doch gar nichts gesehen, Catherine«, erklärte Ongola streng. »Überhaupt nichts. Unter diesem speziellen Spalt gibt es keine Höhle, die der Rede wert wäre, und du wirst mit niemandem ein Wort darüber sprechen. Ich werde es dem Admiral persönlich sagen. Aber du hältst den Mund.«
»Ja, Sir.«
»Diese Information darf keinesfalls - ich wiederhole, darf keinesfalls - an irgendwelche anderen Personen verraten werden.«
»Verstanden, Mr. Ongola.« Sie nickte mehrmals feierlich mit dem Kopf, dann lächelte sie strahlend. »Soll ich weitersuchen?«
»Ja, ich glaube, das wäre nicht schlecht. Und sieh zu, daß du etwas findest!«
»Das habe ich doch schon, Mr. Ongola, und Joel Lilienkamp sagt, es sind ausgezeichnete Lagerräume.« Ihr Gesicht verdüsterte sich kurz. »Aber er hat nicht gesagt, wofür.«
»Geh nur, Cathy, und suche etwas - anderes.«
Sie zog ab, und Ongola hatte gerade wieder angefangen, über die ersten schweren Verluste bei der Verteidigung nachzugrübeln, als Tarvi die Treppe heraufgestürmt kam.
»Es hat uns die ganze Zeit ins Gesicht gestarrt, Zi«, sagte er und schwenkte in seiner etwas überspannten Art die Arme. Sein Gesicht strahlte vor Begeisterung, obwohl seine Haut nach den Exzessen der letzten Nacht ein wenig grau wirkte.
»Was?« Ongola war nicht in Stimmung für Rätsel.
»Sie! Da!« Tarvi deutete aufgeregt durch das Nordfenster. »Die ganze Zeit.«
Wahrscheinlich lag es an den Kopfschmerzen, dachte Ongola, er hatte jedenfalls keine Ahnung, wovon Tarvi redete.
»Worum geht es eigentlich?«
»Die ganze Zeit plagen wir uns damit ab, Erz zu fördern, zu verhütten, zu gießen, wir schlagen uns damit Wochen um die Ohren, obwohl wir die ganze Zeit vor der Nase hatten, was wir brauchen.«
»Keine Rätsel, Tarvi, bitte!«
Tarvis ausdrucksvolle Augen weiteten sich erstaunt und bestürzt. »Ich gebe dir keine Rätsel auf, mein Freund Zi, sondern ich nenne dir die Quelle vieler kostbarer Metalle und anderer Materialien. Die Fähren, Zi, die Fähren können zerlegt und ihre Bestandteile für unseren spezifischen Bedarf hier und jetzt verwendet werden. Sie haben ihren Zweck erfüllt. Warum lassen wir sie auf der Wiese langsam verkommen?« Tarvi begleitete jeden Satz mit einem Schnippen seiner langen Finger, dann zog er Ongola, voll Ungeduld über dessen Begriffsstutzigkeit, in die Höhe und zeigte mit seinem langen, nicht ganz sauberen Zeigefinger direkt auf die Schwanzflossen der alten Fähren. »Da! Wir werden alles verwenden. Hunderte von Schaltkreisen, Kilometer geeigneter Kabel und Röhren, sechs kleine Berge wiederverwertbaren Materials. Hast du eine Ahnung, wieviel Zeug da drin ist?« Im nächsten Moment war die Begeisterung im Gesicht des Geologen erloschen. Er legte Ongola beide Hände auf die Schultern. »Wir können den Schlitten ersetzen, den wir heute verloren haben, auch wenn wir diese wundervollen jungen Leute nicht wieder zum Leben erwecken und die trauernden Familien nicht trösten können. Die Teile ergeben ein neues Ganzes.«
Die Arbeit dämpfte den Schmerz, den ganz Landing nach dem Verlust vier junger Leute empfand. Die beiden Überlebenden gestanden widerstrebend ein, daß sich die beiden Jepsonzwillinge gegen Ende des Fädenfalls ein paar lebensgefährliche Eskapaden geleistet hatten. Bens Schlitten war nach dem Fädenfall zur Wartung vorgemerkt, weil der letzte Pilot festgestellt hatte, daß er bei Backbordwendungen etwas träge reagierte, aber man hatte geglaubt, für einen Überwachungsflug sei er sicher genug.
Weitere derartige Kollisionen wurden durch diese Katastrophe freilich nicht verhindert, im Gegenteil, während der nächsten Fädeneinfälle häuften sie sich. Tarvis Crew begann, die erste Fähre zu zerlegen, und Fulmars Leute konnten aus der Fundgrube von Ersatzteilen die anderen Maschinen warten und reparieren.
Am längsten wurde immer noch in Kitti Pings Labor gearbeitet, die Entwicklung der Exemplare mußte ständig überwacht werden, um jede Abweichung vom Programm sofort festzustellen.
»Geduld«, lautete Kittis Antwort auf alle Fragen. »Alles geht gut voran.«
Drei Tage nach der Luftkollision entdeckte Windblüte, daß ihre Großmutter immer noch am Elektronenmikroskop saß und offenbar ein Präparat betrachtete. Aber als sie Kittis Arm berührte, hatte das unerwartete Folgen. Die zarten Finger, die locker auf der Tastatur lagen, rutschten weg, und der Körper sackte nach vorne, nur von dem Stützband gehalten, das ihn während der langen Sitzungen am Mikroskop an den Hocker gefesselt hatte. Windblüte stöhnte laut auf, fiel auf die Knie und drückte die winzige, kalte Hand an ihre Stirn.
Bay hörte ihr verzweifeltes Weinen und sah nach, was geschehen war. Sofort rief sie Pol und Kwan und telefonierte dann nach einem Arzt. Sobald Windblüte hinter der Trage mit der Leiche ihrer Großmutter den Raum verlassen hatte, nahm Bay ihre rundlichen Schultern zurück, trat an die Konsole und fragte den Computer, ob er sein Programm beendet habe.
PROGRAMM BEENDET! flimmerte es über den Bildschirm - fast entrüstet, ging es Bay trotz ihrer Trauer durch den Kopf. Sie tippte eine Informationsanfrage ein. Der Bildschirm zeigte eine verwirrende Folge von Berechnungen und endete mit der Aufforderung: KAPSEL SOFORT ENTFERNEN! HÖCHSTE GEFAHR!
Erstaunt erkannte Bay die Utensilien, die neben dem Elektronenmikroskop auf dem Arbeitstisch lagen. Kitti Fing hatte wieder Genmuster manipuliert, ein komplizierter Prozeß, den Bay trotz der Ermunterungen der Genetikerin ebenso beängstigend fand wie Windblüte. Kitti hatte also diese winzigen Veränderungen an den Chromosomen vorgenommen. Bay fröstelte, eine schreckliche Angst schüttelte sie. Sie preßte die Lippen aufeinander. Das war nicht der richtige Augenblick, um in Panik zu geraten. Sie durften nicht verlieren, was Kitti Peng aus dem Rohmaterial von Pern geschaffen hatte.
Mit nicht ganz ruhigen Händen öffnete sie den Mikrozylinder, entfernte die winzige Gelatinekapsel und legte sie in die von Kitti vorbereitete Kulturschale. Ein Schmerz, fast so heftig wie ein Messerstich, durchzuckte sie, und sie hätte sich fast gekrümmt, aber sie kämpfte ihre Erschütterung über die Erkenntnis nieder, daß Kit Ping Yung gestorben war, um diese veränderte Eizelle zu erzeugen. Sogar das Etikett lag schon bereit: Versuch 2684/16/M: Nukleus #22A; Mentasynthgeneration B2; Bor/Silikon System 4, Größe 2H; 16.204.8.
Allmählich faßte sich Bay, trug, so schnell es ihre zittrigen Beine gestatteten, das letzte Vermächtnis der genialen Technikerin in die Brutkammer und legte es vorsichtig neben die einundvierzig anderen Kapseln, die Perns ganze Hoffnung enthielten.
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»Das war die zweite Sonde, die versagt hat«, erklärte Ezra Paul und Emily, und seine ruhige Stimme war heiser vor Enttäuschung. »Als die erste hochging, hielt ich es für eine Panne. Selbst das Vakuum schützt nicht vollkommen gegen Verfall.
Sondenmotoren können fehlzünden, ihr Aufzeichnungsmechanismus kann irgendwie steckenbleiben. Also habe ich das Programm für die zweite Sonde noch verbessert. Sie kam genauso weit wie die erste, und dann wurden alle Lichter rot. Entweder ist die Atmosphäre so ätzend, daß sie sogar die Sondenlegierungen angreift, oder die Garage auf der Yokohama wurde irgendwie beschädigt und damit auch die Sonden. Ich weiß es nicht, Leute.«
Ezra neigte nicht zu heftigen Bewegungen, aber jetzt ging er mit großen Schritten in Pauls Büro auf und ab und fuchtelte mit den Armen herum wie eine Vogelscheuche im Sturm. Die Strapazen der letzten Tage hatten ihn altern lassen. Paul und Emily wechselten besorgte Blicke. Kitti Pings Tod, noch dazu so kurz nach den Schlittenkollisionen, war ein großer Schock gewesen. Alle hatten die Genetikerin trotz ihrer körperlichen Hinfälligkeit für unverwüstlich gehalten. Sie hatte den Eindruck vermittelt, sie sei unsterblich, aber dieser Eindruck hatte sich als falsch erwiesen.
»Wer hat doch noch die Theorie aufgestellt, daß uns jemand aus dem Weltraum bombardiert, um uns gefügig zu machen?« fragte Ezra, blieb unvermittelt stehen und starrte die beiden Führer an.
»Ach, Ezra, kommen Sie!« höhnte Paul. »Denken Sie doch mal nach, Mann! Wir stehen alle unter Druck, aber doch nicht so weit, daß wir den Verstand verlieren. Wir wissen alle, daß es Atmosphären gibt, die Sonden zerstören können und es auch schon getan haben. Außerdem…« Er stockte, denn er wußte nicht, was er noch sagen sollte, um Ezra und sich selbst zu beruhigen.
»Außerdem ist der Organismus, der uns angreift«, fuhr Emily mit bewundernswerter Gelassenheit fort, »aus Kohlenwasserstoffen aufgebaut, und wenn er von diesem Planeten kommt, dann ist die Atmosphäre dort nicht ätzend. Ich tippe eher auf eine Panne.«
»Das ist auch meine Ansicht.« Paul nickte energisch mit dem Kopf. »Donnerwetter, Ezra, reden wir uns doch nicht noch mehr Probleme ein, als wir ohnehin schon haben.«
»Wir müssen« - Ezra schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch - »diesen Planeten mit einer Sonde erforschen, das ist die einzige Möglichkeit, wie wir genügend Informationen bekommen können, um das Zeug zu bekämpfen. Die Hälfte der Siedler will wissen, wo es herkommt, um die Quelle zu zerstören, damit wir unser altes Leben wiederaufnehmen können. Den Schutt zusammenharken und alles vergessen.«
»Wem sagen Sie das, Ezra?« fragte Emily, legte leicht den Kopf schief und sah den Kapitän an, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ezra erwiderte den Blick lange, dann richtete er sich aus seiner halb gebückten Haltung auf und lächelte verlegen.
»Sie haben zu lange am Interface gesessen, Ezra, und Sie haben schließlich nicht Däumchen gedreht, während die Programme liefen«, fuhr Emily fort.
»Meine Berechnungen sind beängstigend«, sagte er leise und sah sich nach allen Seiten um. »Wenn das Programm auch nur einigermaßen fehlerfrei arbeitet, und ich habe es fünfmal von Anfang bis Ende durchlaufen lassen, müssen wir uns mit den Sporen noch herumschlagen, wenn dieser rote Planet das innere System schon lange verlassen hat.«
»Und wie lange wird das sein?« Paul spürte, wie seine Finger sich um die Armlehnen krampften, und zwang sich, sie zu lockern, während er gleichzeitig versuchte, sich an irgendeine beruhigende Einzelheit in bezug auf Planetenumlaufbahnen zu erinnern.
»Meinen Ergebnissen nach zwischen vierzig und fünfzig Jahre!«
Emily verzog das Gesicht und schnappte überrascht nach Luft, dann atmete sie langsam aus. »Vierzig oder fünfzig Jahre, sagen Sie?«
»Wenn«, fuhr Ezra grimmig fort, »die Bedrohung tatsächlich von diesem Planeten ausgeht.«
Paul sah ihm fest in die Augen und bemerkte die tiefe Müdigkeit und Resignation darin. »Wenn? Gibt es noch eine Alternative?«
»Ich habe eine Trübung um den Planeten entdeckt, die nichts mit seiner Atmosphärenhülle zu tun hat. Einen Schleier, der sich hinter dem Wanderstern im System verteilt und an seiner Bahn entlangwirbelt. Das Teleskop vergrößert nicht so weit, daß ich Genaueres sagen könnte. Vielleicht handelt es sich auch um Weltraumschutt, um einen Nebelfleck, um die Reste eines Kometenschweifes, es könnte alle möglichen harmlosen Erklärungen dafür geben.«
»Und wenn es nicht harmlos ist?« fragte Emily.
»Es würde fast fünfzig Jahre dauern, bis dieser Schweif aus dem Orbit um Pern verschwindet, ein Teil wird in Rubkat stürzen - und der Rest, wer weiß?«
Lange Zeit schwiegen alle.
»Irgendwelche Vorschläge?« fragte Paul schließlich.
»Ja«, sagte Ezra, nahm mit einem Ruck die Schultern zurück und hob zwei Finger. »Wir fliegen zur Yokohama, stellen fest, was mit den Sonden los ist und schicken zwei davon zu dem Planeten, um so viele Daten zu bekommen, wie nur möglich. Die beiden anderen lassen wir an diesem Kometenstaub entlangfliegen, und mit dem stärkeren Weltraumteleskop auf der Yokohama versuchen wir, ohne Störung durch den Planeten seinen Ursprung und seine Zusammensetzung zu bestimmen.« Ezra verschränkte die Finger und knackte mit den Knöcheln, eine Angewohnheit, bei der Emily jedesmal ein Schauder über den Rücken lief. »Entschuldigung, Em.«
»Wenigstens ein positives Konzept«, bemerkte Paul anerkennend.
»Die große Frage ist, ob wir genügend Treibstoff haben, um jemanden zur Yoko und wieder zurück zu bringen. Kenjo hat schon mehr Flüge gemacht, als ich für möglich gehalten hätte.« »Er ist ein guter Pilot«, sagte Paul diskret. »Für das, was wir dazu brauchen, reicht es. Kenjo wird fliegen, wollen Sie mit?«
Ezra schüttelte langsam den Kopf. »Für solche Dinge ist Avril Bitra ausgebildet.«
»Avril?« fauchte Paul schroff, dann schüttelte er den Kopf und grinste säuerlich. »Avril ist die letzte, die ich in die Mariposa setzen würde, ganz gleich, aus welchem Grund. Selbst wenn wir wüßten, wo sie ist.«
»Tatsächlich?« Ezra sah Emily fragend an, aber die zuckte nur die Achseln. »Na, dann soll Kenjo beides machen. Nein«, verbesserte er sich. »Wenn mit den Sonden etwas nicht stimmt, brauchen wir einen guten Techniker. Stev Kimmer. Er ist wieder da, oder nicht?«
»Wer noch?« Paul kritzelte Namen auf einen Block, um Ezra nicht mit weiteren Verdächtigungen zu beunruhigen.
»Kenjo ist ein sehr fähiger Techniker«, betonte Emily.
»Aus Sicherheitsgründen sollte der Auftrag von zwei Leuten durchgeführt werden«, beharrte Ezra stirnrunzelnd. »Wir müssen die Ergebnisse bekommen, wir brauchen sie dringend.«
»Zi Ongola«, schlug Paul vor.
»Ja, das ist genau der richtige Mann«, stimmte Ezra zu. »Wenn er auf Schwierigkeiten stößt, kann ich Stev als fachkundigen Berater ans Interface setzen.«
»Hm, vierzig Jahre?«
Emily sah zu, wie Paul die beiden Namen, für die man sich schließlich entschieden hatte, auf dem Block unterstrich.
»Einiges länger, als wir gerechnet hätten, mein Freund. Wir sollten anfangen, unsere Nachfolger einzuarbeiten.«
Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Windblüte, die ganz offensichtlich zu schwach war, um die Arbeit fortzusetzen, die ihre Großmutter begonnen hatte.
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