TEIL DREI

UMSIEDLUNG

Beim Heiligsten«, murmelte Telgar respektvoll, als er seine Fackel in die Höhe hielt, aber trotzdem die Decke nicht erleuchten konnte. Seine Stimme löste in dem gewaltigen Raum Echos aus, die in den Seitengängen mehrfach widerhallten, bis sich das Geräusch schließlich in der Ferne verlor.

»Mann, was für eine Wahnsinnshöhle«, flüsterte Ozzie Munson. Seine Augen standen weiß und groß in seinem gebräunten, wettergegerbten Gesicht.

Cobber Alhinwa, der sich sonst nur selten beeindrucken ließ, war gleichermaßen überwältigt. »Ist das eine Pracht!« Er flüsterte ebenfalls.

»Allein in diesem Komplex gibt es Hunderte von bezugsfertigen Räumen«, sagte Telgar und entfaltete die Plasfolie, auf der er und seine geliebte Sallah acht Jahre zuvor die Resultate ihrer Erkundungen eingetragen hatten. »Es gibt mindestens vier Öffnungen nach oben zur Klippe hinaus, die man zur Belüftung verwenden könnte. Man legt einen Kanal bis hinunter zur Grundwasserebene, installiert Pumpen und Rohre - ich habe große artesische Wasserreservoire gefunden. Dann eine Kernbohrung bis zur wärmeführenden Schicht, und der ganze Komplex, so groß er auch ist, kann in den Wintermonaten beheizt werden.« Er wandte sich wieder dem Eingang zu. »Wenn man diese Öffnung mit den hier vorkommenden Steinen verschließen würde, hätte man eine uneinnehmbare Festung. Bei Fädeneinfällen ist man auf dem ganzen Planeten nirgendwo sicherer. Weiter unten im Tal gibt es hochgelegene Höhlen in der Nähe des Weidegebietes. Natürlich müßte man es neu ansäen, aber wir haben ja noch die Luzerneverbesserer, die wir für das erste Jahr mitgebracht hatten.

Damals bestand keine Notwendigkeit für eine gründliche Untersuchung, aber die Anlage existiert. Als wir den Gebirgszug über uns überflogen, entdeckten wir, wie ich mich erinnere, etwa eine halbe Flugstunde von hier entfernt, eine mittelgroße Caldera, gespickt mit kleinen Klippen. Wir haben nicht festgestellt, ob sie vom Boden her zugänglich ist, aber sie könnte eine ideale Drachenunterkunft abgeben, und in diesem Fall wäre die Erreichbarkeit kein Thema, vorausgesetzt, die großen Drachen können ebenso gut fliegen wie die Zwergdrachen.«

»Wir haben auch zwei so alte Krater gesehen«, sagte Ozzie und blätterte in dem abgegriffenen Notizbuch, das er ständig in seiner obersten Hemdtasche bei sich trug. »Einen an der Ostküste und einen in den Bergen oberhalb der drei tiefen Seen, wo wir Versuchsbohrungen nach Metallerz durchgeführt haben.«

»Also« - Cobber hatte sich von seinem Staunen erholt -»als erstes müssen bis hier herauf Stufen gehauen werden.« Er trat an den Höhleneingang und schaute kritisch auf die Felswand hinab. »Vielleicht etwas Ähnliches wie eine Rampe, über die man einigermaßen problemlos Sachen befördern kann. Die Schräge da drüben ist ja schon beinahe eine Treppe.« Er zeigte nach links. »Bessere Stufen bis zur nächsten Ebene könnte man sich fast nicht wünschen.«

Ozzie winkte ab. »Nee, die von Landing bringen bestimmt ihre Klugscheißer von Ingenieuren und Architekten her und lassen das Ganze mit allen Schikanen aufmotzen.«

Cobber setzte sich einen Helm auf und schaltete das Licht ein. »Ja, sonst kriegen so ein paar arme Teufel noch Klauphobie.«

»Das heißt Klaustrophobie, du dämlicher Maulwurf«, verbesserte Ozzie.

»Wie auch immer. Jedenfalls ist man da drin in Sicherheit, solange einem dieses Teufelszeug dauernd auf den Kopf fällt.

Komm, Oz, machen wir 'nen Rundgang. Der Admiral und die Gouverneurin warten nämlich auf ein Gutachten von uns.« Ächzend lud er sich den schweren Steinschneider auf die Schulter und strebte zielbewußt auf den ersten Tunnel zu.

Ozzie setzte ebenfalls den Helm auf und griff sich eine Rolle Seil, Kletterhaken und einen Gesteinshammer.

Thermal- und Ultraviolettanzeiger, Komgerät und kleinere Bergmannswerkzeuge waren mit Haken an seinem Gürtel befestigt. Zuletzt hängte er sich noch einen der kleineren Steinschneider über die Schulter. »Geh'n wir mal die Klaustrophobie testen. Links fangen wir an, ja? Ich ruf Sie dann bald, Telgar.«

Cobber war schon in der ersten Öffnung auf der linken Seite verschwunden, und Ozzie folgte ihm. Telgar blieb allein zurück und stand lange mit geschlossenen Augen da, den Kopf zurückgelegt, die Arme vom Körper weggestreckt, die Handflächen flehentlich nach oben gerichtet. Er hörte aufgescheuchte Tiere davonhuschen, und das leise Gemurmel von Ozzie und Cobber, die gerade die erste Tunnelbiegung umrundeten, drang verzerrt zu ihm.

In dieser Höhle war nichts von Sallah zurückgeblieben. Sogar die Stelle, wo ihr winziges Lagerfeuer gebrannt hatte, war bis auf den feuergeschwärzten Fels kahlgefegt. Und doch hatte sie sich ihm dort hingegeben, und er hatte gar nicht gewußt, was für ein Geschenk er in jener Nacht empfangen hatte.

Plötzlich riß ihn das hohe Winseln des Steinschneiders aus seinen Gedanken und erinnerte ihn daran, daß er eine dringende Aufgabe hatte: er mußte diese natürliche Festung für Menschen bewohnbar machen.

***

Das Summen weckte Sorka, und sie versuchte, ihren unförmigen Körper in eine bequemere Stellung zu bringen. Wie froh würde sie sein, wenn sie endlich wieder auf dem Bauch schlafen konnte. Das Summen hielt an, ein unterschwelliges Geräusch, das sie hartnäckig wach hielt. Es ärgerte sie, denn sie hatte in den letzten paar Wochen nicht gut geschlafen und brauchte soviel Ruhe, wie sie nur bekommen konnte. Gereizt streckte sie die Hand aus und zog den Vorhang zurück. Es konnte doch noch nicht Tag sein. Dann packte sie überrascht die Vorhangkante fester, denn vor ihrem Haus war Licht - das Licht vieler Drachenaugen, die in der frühmorgendlichen Dämmerung funkelten.

Sie gab einen Laut des Erstaunens von sich, und neben ihr regte sich Sean und streckte die Hand nach ihr aus. Sie rüttelte ihn an der Schulter.

»Wach auf, Sean! Schau!« Als sie sich bewegte, spürte sie plötzlich einen Schmerz in der Leistengegend, der ihr ein Zischen entlockte.

Sean fuhr hoch und legte die Arme um sie. »Was ist, mein Liebes? Das Baby?«

»Es kann nichts anderes sein«, sagte sie und fing an zu lachen, als sie aus dem Fenster deutete. »Man hat mich gewarnt!« Sie konnte nicht aufhören zu kichern. »Sieh nach, Sean, und sag mir, ob die Feuerechsen schlafen! Ich möchte nicht, daß sie dieses Ereignis versäumen.«

Sean rieb sich den Schlaf aus den Augen und wurde mühsam munter. Er war fast ein wenig ärgerlich über ihren unangebrachten Übermut, aber als ihr Lachen plötzlich wieder in ein schmerzliches Zischen überging, weil ein zweiter qualvoller Krampf ihren aufgeschwollenen Unterleib durchlief, gewann die Besorgnis unvermittelt die Oberhand.

»Ist es soweit?« Er fuhr zärtlich mit einer Hand über ihren Bauch, und seine Finger fanden instinktiv das kontrahierte Muskelband. »Ja, es ist soweit. Was ist daran so komisch?« Sie konnte sein Gesicht im schwachen Licht kaum sehen, aber seine Stimme klang ernst, fast entrüstet.

»Das Begrüßungskomitee natürlich! Alle, die sich da draußen versammelt haben. Faranth, meine Liebe, ist alles anwesend oder hat sich jemand entschuldigt?«

Wir sind hier, sagte Faranth. Wo wir hingehören. Du amüsierst dich.

»Ich amüsiere mich sehr«, sagte Sorka, doch dann kam die nächste Wehe, und sie klammerte sich an Sean. »Aber das war jetzt gar nicht komisch. Du solltest lieber Greta verständigen.«

»Himmel, wir brauchen sie doch gar nicht! Ich bin als Geburtshelfer genauso gut wie sie«, murmelte er und tastete mit seinen Füßen unter dem Bett nach den Schuhen.

»Wenn es um Pferde, Kühe oder Ziegen geht, ganz sicher, Sean, aber bei Menschen sind doch wohl Menschenhebammen zuständig… oooh, Sean, die kommen jetzt sehr dicht aufeinander.«

Er stand auf und wollte sich gerade eine Decke gegen die Morgenkälte um die nackten Schultern legen, als es leise an die Tür klopfte. Er fluchte.

»Wer ist da?« brüllte er, keineswegs begeistert von dem Gedanken, daß ihn vielleicht gerade in diesem Augenblick jemand zu einem tiermedizinischen Notfall holen wollte.

»Greta!«

Sorka begann wieder zu lachen, aber plötzlich fiel ihr das sehr schwer, und sie schaltete auf die Atemtechnik um, die man ihr beigebracht hatte, und hielt sich krampfhaft den Bauch.

»Wie unter allen Sonnen hast du es erfahren, Greta?« hörte sie Sean mit erstaunter Stimme fragen.

»Ich wurde gerufen«, sagte Greta sehr würdevoll und schob ihn sanft beiseite.

»Von wem? Sorka ist doch eben erst aufgewacht«, antwortete Sean und folgte ihr ins Zimmer. »Sie ist es doch schließlich, die das Baby kriegt.«

»Aber das heißt nicht unbedingt, daß sie es als erste weiß, wenn die Wehen einsetzen«, erklärte Greta sehr ruhig, fast abweisend. »Jedenfalls nicht in Landing. Und ganz bestimmt nicht, wenn man eine Drachenkönigin hat, die jeden Gedanken mithört.« Sie schaltete das Licht ein, als sie das Zimmer betrat, und stellte ihre Hebammentasche auf die Anrichte.

Das einst so schlaksige Mädchen war zu einer schlanken Frau herangewachsen, mit kaffeebrauner Haut und ebensolchen Haaren und ein paar Sommersprossen über dem Nasenrücken. Den tiefbraunen Augen in dem gütigen Gesicht entging nur wenig.

»Faranth hat es dir gesagt?« Sorka staunte. Daß ein Drache mit jemandem sprach, der nicht ihrer Gruppe angehörte, war noch nie vorgekommen.

»Nicht direkt«, lachte Greta. »Ein Schwarm von Feuerzwergdrachen kam in mein Fenster geflogen und hat mir mit bemerkenswerter Deutlichkeit erklärt, daß man mich braucht. Sobald ich aus dem Haus trat, war es nicht mehr schwer festzustellen, wessen Baby sich angemeldet hatte. Und jetzt laß mich mal nachsehen, wie weit wir eigentlich sind.«

Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sie holen, erklärte Faranth selbstgefällig. Du magst sie.

Sorka legte sich zurück, um sich von Greta untersuchen zu lassen, und dachte angestrengt nach. Sie mochte auch ihren Arzt und hätte nichts dagegen gehabt, wenn er ihre Entbindung überwacht hätte. Wie hatte Faranth wissen können, daß sie in Wirklichkeit am liebsten Greta dabeihaben wollte? Konnte Faranth tatsächlich gespürt haben, daß sie sich immer zu Greta hingezogen gefühlt hatte? Oder hatte das goldene Drachenweibchen einfach seine Schlüsse daraus gezogen, daß Sorka der Hebamme bei Mairi Hanrahans letzter Niederkunft assistiert hatte, als Sorkas jüngster Bruder zur Welt kam?

Daß Faranth allerdings einen unbewußten Wunsch erfüllen konnte…

Sean trat vorsichtig an die andere Bettseite und griff nach ihrer Hand. Sorka drückte sie, in ihr sprudelte noch immer das Lachen. Sie hatte in den letzten Wochen heftig darunter gelitten, daß ihr Körper nicht mehr ihr selbst zu gehören schien, daß der munter um sich tretende, quicklebendige Fötus, der ihr keinen Augenblick Ruhe gönnte, offenbar völlig die Herrschaft übernommen hatte. Sie lachte aus purer Erleichterung, weil das nun bald vorüber sein würde.

»Jetzt laß mal sehen… wieder eine Wehe?«

Sorka konzentrierte sich auf ihre Atmung, aber die Kontraktion war viel schlimmer, als sie erwartet hatte. Dann war der schmerzhafte Krampf vorbei. Ihre Stirn war schweißnaß. Sean tupfte sie sanft ab.

Du hast Schmerzen Faranths Stimme wurde schrill.

»Nein, nein, Faranth. Mir geht's gut. Mach dir keine Sorgen!« rief Sorka.

»Faranth regt sich auf?« Ohne ihre Hand loszulassen, duckte sich Sean und sah aus dem Fenster nach den dort wartenden Drachen. »Ja, ihre Augen färben sich tief orange und funkeln immer aufgeregter.«

»Das habe ich befürchtet!« Sorka richtete einen stummen, flehentlichen Blick auf Sean. Über sein Gesicht zuckten verschiedene Empfindungen. Wenn sie seinen Ausdruck richtig gedeutet hatte, war er verärgert über Faranth, unschlüssig - eine Seltenheit -, was er tun sollte, und ihretwegen beunruhigt. Dann gewann die zärtliche Besorgnis die Oberhand, er sah auf sie hinunter, und sie wußte, daß sie ihn noch nie so sehr geliebt hatte wie in diesem Augenblick.

»Ein Jammer, daß wir deiner Drachendame nicht auftragen können, einen Topf Wasser heißzumachen, um sie zu beschäftigen«, bemerkte Greta, während ihre starken, fähigen Hände die Untersuchung beendeten. Dann klopfte sie leicht auf Sorkas gewaltigen Bauch. »Wir werden die Aufregung gleich abstellen. Kannst du dich auf die Seite legen? Sean, hilf ihr.«

»Ich komme mir vor wie eine riesige Flunder«, klagte Sorka, als sie sich mit Mühe herumwälzte. Schließlich half ihr Sean, geschickt und so sanft, wie sie es noch nie erlebt hatte, die Bewegung abzuschließen. Sie hatte gerade die neue Stellung erreicht, als wieder eine kräftige Wehe sie erfaßte und sie erstaunt nach Luft schnappen ließ. Draußen trompetete Faranth herausfordernd. »Daß du mir ja nicht den ganzen Ort aufweckst, Faranth. Ich kriege doch nur ein Baby!«

Du hast Schmerzen! Du quälst dich! Faranth war empört.

Sorka spürte einen leichten Druck am unteren Teil der Wirbelsäule, die Kühle der Luftpistole, und dann eine herrliche Gefühllosigkeit, die sich schnell über ihren ganzen Unterleib ausbreitete.

»Oh, Greta, du bist ein Engel!«

Du hast keine Schmerzen mehr! So ist es besser. Faranths Unruhe legte sich, sie stimmte wieder in das merkwürdige Summen der anderen Drachen ein, und Sorka konnte ihre Stimme deutlich aus dem Chor heraushören. Das Summen wurde stärker, seltsamerweise wirkte es beruhigend - oder lag es einfach daran, daß sie diese schmerzhaften Krämpfe des Gebärmuttermuskels nicht mehr zu fürchten brauchte?

»Und jetzt stehen wir auf, Sorka, und gehen ein bißchen auf und ab«, sagte Greta. »Der Muttermund ist schon recht weit geöffnet. Ich glaube nicht, daß es noch lange dauert, bis das Baby kommt, auch wenn es dein erstes ist.«

»Ich spüre gar nichts«, entschuldigte sich Sorka, als Greta sie hochzog. Sean war sofort an ihrer Seite.

Er hatte sich angezogen, doch als Sorka auf ihre empfindungslosen Füße hinuntersah, bemerkte sie, daß er seine Socken vergessen hatte, und fand das sehr liebenswert. Merkwürdig, der Unterschied zwischen seinen und Gretas Händen - beide fürsorglich und sanft, aber Seans Griff strahlte zusätzlich liebevolle Besorgnis aus.

»Braves Mädchen«, lobte Greta. »Es geht prächtig voran, der Muttermund ist schon drei Fingerbreit geöffnet. Kein Wunder, daß die Schwärme unruhig waren.

Und du bist heute nicht die einzige, die sie in Aufregung versetzt.« Greta lachte leise, als sie langsam den Rückweg durch das Wohnzimmer und die kleine Diele ins Schlafzimmer antraten. »Das Gehen ist wichtig… aha, wieder eine Wehe. Sehr schön. Die Atmung ist gut so.«

»Bei wem ist es noch soweit?« fragte Sorka. Es war besser, wenn man sich auf andere Dinge konzentrierte, nicht nur auf die Tätigkeit der eigenen Muskeln.

»Elizabeth Jepson. Ein Glück, denn das neue Baby wird ihr helfen, den Verlust der Zwillinge zu überwinden.«

Der Gedanke war schmerzlich. Sorka erinnerte sich noch gut an die beiden Lausbuben auf der Yoko; damals hatte sie ihren Bruder Brian beneidet, weil er gleichaltrige Freunde gefunden hatte.

»Komisch, nicht wahr?« sagte sie schnell. »Man hat zwei komplette Familien aus zwei verschiedenen Generationen. Ich meine, mein Baby wird einen Onkel haben, der nur sechs Monate älter ist. Und doch gehört er einer anderen Generation an… eigentlich.«

»Ein Grund, warum wir die Geburtenbücher sehr genau führen müssen«, sagte Greta.

Sean brummte: »Wir sind alle Perner, und das allein zählt.«

In diesem Augenblick platzte die Fruchtblase, und draußen wurde das Summen um ein paar Töne höher und noch intensiver.

»Ich glaube, ich muß dich untersuchen, Sorka«, sagte Greta.

Sean starrte sie an. »Orientierst du dich bei jeder Entbindung am Drachengesang?«

Greta lachte leise. »Sie haben einen Instinkt für Geburten, Sean, und ich weiß, daß ihr Tierärzte das auch schon bemerkt habt. Komm, wir bringen sie ins Bett zurück.«

Ganz auf die zweite Phase der Entbindung konzentriert, empfand Sorka den Drachengesang gleichzeitig als tröstlich und beruhigend, wie eine Decke aus schimmernden Tönen, die sie wohltuend einhüllte. Plötzlich steigerte sich das Tempo, das Summen erreichte seinen Höhepunkt. Seans Hand umfaßte die ihre, gab ihr Mut und Kraft. Jedesmal, wenn sie die dank der Betäubung schmerzlosen Wehen spürte, half er ihr beim Pressen. Die Kontraktionen kamen jetzt schneller, fast ohne Unterbrechung, als wäre die Sache völlig ihrer Kontrolle entglitten. Sie überließ sich ihrem Instinkt, entspannte sich, wenn es möglich war, und half mit, weil ihr nichts anderes übrigblieb.

Plötzlich spürte sie, wie sich ihr Körper in einer gewaltigen Anstrengung krümmte, und dann empfand sie nur noch Erleichterung, der Druck, das Ziehen hatten aufgehört. Einen Augenblick lang war es draußen völlig still, dann vernahm sie einen neuen Laut. Seans Triumphgeschrei ging unter im Trompeten von achtzehn Drachen und niemand wußte wie vielen Feuerzwergdrachen! O je! dachte sie verwirrt. Sie werden wirklich ganz Landing aufwecken!

»Ihr habt einen gesunden Sohn, meine Lieben«, sagte Greta, und man hörte ihr die Befriedigung an. »Mit einem dichten, roten Haarschopf.«

»Einen Sohn?« fragte Scan, und es klang zutiefst überrascht.

»Jetzt erzähl mir bloß nicht, daß du eine Tochter wolltest, Sean Connell, nachdem ich mir so viel Mühe gegeben habe«, protestierte Sorka.

Sean umarmte sie nur verzückt.

***

»Manchmal kommt es mir so vor, als hätten uns alle vergessen«, sagte David Catarel zu Sean, während sie ihre beiden Bronzedrachen bei der Jagd beobachteten. Sean hatte den Blick auf Carenath geheftet und antwortete nicht.

Obwohl alle Drachen über kurze Strecken gut fliegen konnten und bewiesen hatten, daß sie in der Lage waren, wilde Wherries zu erwischen, wurden ihre menschlichen Partner nervös, wenn sie sich zu weit entfernten. Es war auch nicht immer möglich, einen Schlitten oder Gleiter zu bekommen, um sie zu begleiten. Sean hatte einen Kompromiß gefunden und Red dazu überredet, ihnen das Merzvieh und die verletzten Tiere aus den großen Herden zu überlassen. Alle Drachengefährten hatten gemeinsam in einer der Höhlen einen fädensicheren Unterstand für die Mischherde gebaut und versorgten abwechselnd die Hydroponikkästen, die ihnen das Viehfutter lieferten.

Die jungen Drachen waren kräftig und flogen schon recht sicher, aber die übervorsichtigen Veterinäre hatten entschieden, daß man mit den ersten Reitversuchen nicht vor Ablauf eines vollen Jahres beginnen sollte. Sean hatte bei Sorka seinem Ärger über diese zaghafte Haltung Luft gemacht, aber sie hatte ihm seinen Trotz ausgeredet, indem sie ihn daran erinnerte, wieviel sie zu verlieren hatten, wenn sie die jungen Drachen überforderten. Glücklicherweise war die Entscheidung ohne vorherige Rücksprache mit Windblüte getroffen worden, dadurch konnte Sean die »Verschleppungstaktik« wie er es nannte, leichter akzeptieren. Es ging ihm gegen den Strich, daß die Genetikerin so tat, als gehörten die Drachen ihr allein. Sie arbeitete weiter mit Kitti Pings Programm, allerdings nicht mehr mit dem gleichen Erfolg. Bei den ersten vier Versuchen waren keine lebensfähigen Eier zustandegekommen, die sieben neuen Eisäcke im Brutkasten sahen jedoch vielversprechend aus.

Bei Joel Lilienkamp waren viele Wetten auf den Erfolg der ersten Brut abgeschlossen worden, aber kaum weniger Leute hatten dagegen gesetzt. Insgeheim war Sean entschlossen, allen Zweiflern das Gegenteil zu beweisen, aber er wollte weder eine offizielle Rüge riskieren noch die jungen Drachen in Gefahr bringen.

»Ich habe zu Windblüte einfach nicht soviel Vertrauen wie zu Kitti Fing«, hatte Paul Sean und Sorka in einem Gespräch unter vier Augen erklärt, »aber wir könnten alle aufatmen, wenn wir einen Fortschritt sähen. Eure Drachen fressen und wachsen, und sie fliegen sogar, wenn sie jagen. Aber werden sie auch Feuerstein fressen?« Paul begann die Punkte an seiner linken Hand abzuzählen. »Einen Reiter tragen? Und ihre kostbare Haut bei einem Fädeneinfall schützen? Die Energiezellen sind in kritischem Zustand, Sean, in wirklich sehr kritischem Zustand.«

»Ich weiß, Admiral«, verteidigte sich Sean grimmig. »Und achtzehn voll einsatzfähige Drachen werden beim Fädenkampf auch keine entscheidende Entlastung bringen.«

»Aber sich reproduzierende, sich selbst erhaltende Fädenkämpfer machen auf lange Sicht doch einen gewaltigen Unterschied. Und offen gesagt, die lange Sicht ist es, die mir Sorgen macht.«

Sean behielt seine Ansicht über Windblüte für sich. Zum Teil war sie von Loyalität gegenüber Carenath, Faranth und den anderen aus dem ersten Gelege bestimmt; eine große Rolle spielte auch, daß er nicht so recht an Windblütes Fähigkeiten glaubte, während er ihrer Großmutter rückhaltlos vertraut hatte. Schließlich hatte Kitti Fing ihre Ausbildung an der Quelle erhalten, bei den Eridani.

Während er beobachtete, mit welcher Eleganz Carenath herabstieß und sich einen fetten Hammel aus der kopflos flüchtenden Herde schnappte, gewann sein Vertrauen in diese erstaunlichen Geschöpfe neue Kraft.

»Er fliegt wirklich ganz schön hoch«, bemerkte David neidlos. »Schau, jetzt hat Polenth die Flügel angelegt. Er hat es auf den dort abgesehen!«

»Und ihn auch erwischt«, ergänzte Sean das Kompliment.

Vielleicht waren sie alle nicht mutig genug, wagten einfach nicht, etwas zu riskieren, um zu sehen, was dabei herauskäme. Carenath war ein kräftiger, geschickter Flieger. Der Bronzedrache hatte fast dieselbe Schulterhöhe wie Cricket, freilich einen ganz anderen Körperbau. Carenath war langgestreckter, hatte einen breiteren Brustkorb und kräftigere Hinterbeine. Ja, die Drachen besaßen bereits mehr Kraft als vergleichbare Pferde, und ihr Knochengerüst war viel stabiler, denn es bestand aus Kohlenstoff- und Korundverbindungen, die ihm Haltbarkeit und Elastizität verliehen. Pol und Bay waren an die Planung der Drachenkörper herangegangen, als sollten sie einen neuen Schlitten entwerfen, und Schlitten, dachte Sean ironisch, sollten die Drachen ja schließlich auch ersetzen. Dem Programm zufolge würden die Drachen im Laufe vieler Generationen allmählich immer größer werden, bis sie das Optimum erreicht hatten. Nach Scans Ansicht war Carenath jedoch genau richtig.

»Wenigstens essen sie manierlich«, sagte Dave und wandte die Augen von den beiden Drachen ab, die Fleischstücke aus ihrer Beute rissen. »Aber es wäre mir doch lieber, wenn sie nicht so deutlich zeigten, wie sehr sie es genießen.«

Sean lachte. »Du bist ein Stadtkind, nicht wahr?«

David nickte und lächelte schwach. »Nicht, daß ich für Polenth nicht alles tun würde. Nur ist es eben ein Unterschied, ob man etwas auf 3 D sieht oder in Wirklichkeit und dabei weiß, daß der beste Freund, den man hat, am liebsten lebende Tiere jagt. Was sagst du, Polenth?« In Daves Augen trat der merkwürdig verschwommene Blick aller Drachenpartner, wenn ihre Gefährten sich meldeten. Dann lachte er wehmütig.

»Na?« fragte Sean.

»Er sagt, alles ist besser als Fisch. Er ist zum Fliegen geboren, nicht zum Schwimmen.«

»Nur gut, daß er zwei Mägen hat«, bemerkte Sean, als er sah, wie Polenth das Schaf samt Hörnern, Hufen und Fell hinunterschlang. »So, wie er die Wolle in sich reinmampft, könnte er sonst einen verfrühten Feuerstoß auslösen, wenn er einmal Feuerstein kaut.«

»Das wird er doch tun, Sean, nicht wahr?« Dave flehte so inständig um Bestätigung, daß Sean sich Sorgen machte. Die Drachenpartner durften keinen Augenblick an ihren Tieren zweifeln, in keiner Hinsicht.

»Aber natürlich«, sagte Sean und stand auf. »Das reicht, Carenath. Mit zweien ist dein Bauch voll. Du darfst nicht so gierig sein. Es sind noch mehr da, die Hunger haben.«

Der Bronzedrache war eben im Begriff gewesen, sich wieder in die Lüfte zu erheben und zu einer Anhöhe im nächsten Tal zu fliegen, wo die verschreckte Herde hingeflüchtet war.

Ich hätte wirklich gern noch eines. Sie schmecken so lecker. Viel besser als Fisch. Jagen macht Spaß. Es klang ein wenig eigensinnig.

»Als nächstes jagt die Königin, Carenath.«

Mit einer mürrischen Kopfbewegung schlenderte Carenath zu Sean zurück, die Flügel spreizend, um das Gleichgewicht zu halten. Der Gang der Drachen sah komisch aus, weil ihre Vorderbeine kürzer waren als die Hinterbeine und sie sich zusammenkauern mußten. Einige bewegten sich mit einer Art Hopser und ließen sich nur alle paar Schritte auf die Vorderbeine nieder oder verschafften sich mit den Flügeln Auftrieb. Sean störte es, wenn Drachen so plump und unbeholfen erschienen.

»Bis später«, sagte er zu David und machte sich mit Carenath auf den Weg zurück zu ihrer Wohnhöhle.

Die Drachen waren schnell zu groß geworden für ihre Quartiere in den Hinterhöfen, und in vielen Fällen hatten auch die Nachbarn, von denen manche in Nachtschicht arbeiteten und bei Tag schliefen, die Geduld verloren, denn für eine Gattung, die nicht laut sprechen konnte, machten die Drachen eine Menge Lärm. Also hatten sie zusammen mit ihren Partnern die Catherine-Höhlen erkundet, um eine etwas abgelegenere Unterbringungsmöglichkeit zu finden. Sorka hatte sich zuerst nicht mit der Vorstellung anfreunden können, mit ihrem kleinen Sohn Michael unter der Erde zu leben, aber die Höhle, die Sean ausgesucht hatte, war geräumig und bestand aus mehreren großen Kammern - sie hatten hier viel mehr Bewegungsfreiheit als in ihrem alten Haus am Irenplatz. Faranth und Carenath waren begeistert. Oberhalb des Höhleneingangs gab es sogar ein Erdsims, wo sie sonnenbaden konnten, eine Beschäftigung, die sie sogar noch mehr genossen als das Schwimmen.

»Wir passen alle viel besser hierher.« Mit diesem Ausruf hatte Sorka sich geschlagen gegeben, und dann war sie darangegangen, die neue Wohnung mit Lampen, ihren handgewebten Teppichen und Stoffen und mit den Bildern, die sie Joel abgeluchst hatte, gemütlich zu machen.

Im Lauf der Zeit hatte sich jedoch herausgestellt, daß die neue Wohnung nicht nur eine räumliche Trennung bedeutete, dachte Sean, während er mit Carenath dahinstapfte. Dave Catarel hatte mit seiner wehmütigen Bemerkung, man habe sie vergessen, den Finger auf die Wunde gelegt.

Der Weg ist ziemlich weit. Ich würde lieber vorausfliegen, sagte Carenath, der mit mühsamen Hopsern neben Sean herwatschelte. Wieder einmal konnte sich Sean des Gedankens nicht erwehren, daß sein tapferer, schöner Carenath wie eine mißglückte Kreuzung zwischen einem Kaninchen und einem Känguruh aussah.

»Du bist zum Fliegen bestimmt. Ich freue mich schon, wenn wir beide fliegen können.«

Warum fliegst du dann nicht mit mir? Es wäre viel einfacher, als auf diesem furchtsamen Wesen zu reiten. In Carenaths Augen war Cricket kein sehr geeignetes Reittier für seinen Gefährten.

Furchtsames Wesen, dachte Sean und mußte lachen. Armer Cricket. Dabei wäre es so einfach, sich auf Carenaths Rücken zu schwingen und abzuheben! Bei dem Gedanken stockte ihm der Atem. Auf Carenath zu fliegen, anstatt auf dem staubigen Pfad dahinzuschlurfen! Das Jugendjahr der Drachen war fast vorüber. Sean sah sich nachdenklich um. Wenn Carenath sich von der höchsten Stelle fallen lassen konnte, hätte er genügend Platz für jenen ersten unerläßlichen Flügelschwung…

Sean hatte sich ebensoviel Zeit genommen, das Verhalten der Feuerechsen und der Drachen in der Luft zu beobachten, wie früher, als er geduldig den Pferden zugesehen hatte. Ja, ein Sprung von einer Anhöhe, das müßte gehen.

»Los, Carenath. Zum Glück habe ich nicht zugelassen, daß du dich zu sehr vollstopfst. Komm, ganz nach oben.«

Ganz nach oben? Auf den Grat? Sean spürte, wie sich Verständnis im Geist des Drachen ausbreitete, und dann kletterte Carenath so hastig den Hang hinauf, daß Sean in eine Staubwolke gehüllt wurde und zu husten begann. Schnell! Der Wind ist genau richtig.

Sean rieb sich den Staub aus den Augen und lachte laut; er war in Hochstimmung, doch gleichzeitig raste sein Puls vor Angst. So etwas muß man jetzt tun, zur rechten Zeit, am rechten Ort, dachte er. Und dies war für ihn der rechte Moment, um zum erstenmal auf Carenath zu reiten!

Er hatte keinen Sattel, in den er sich hätte hineinschwingen können, keine Steigbügel, um die hohe Schulter zu erklettern. Carenath duckte sich entgegenkommend, Sean setzte leicht den Fuß auf den dargebotenen Unterarm, packte fest die beiden Nackenwülste, schwang ein Bein hinüber und schob seinen Körper in die Kuhle.

»Himmel, du bist wie für mich gemacht«, lachte er triumphierend und gab Carenath einen liebevollen Klaps auf den Hals. Dann faßte er den Wulst vor sich.

Carenath stand ganz am Rand des Grates, und Sean konnte beängstigend genau den Grund der mit Felsen übersäten Schlucht erkennen. Er schluckte hastig. Auf Carenath zu fliegen war keineswegs dasselbe wie auf Cricket zu reiten. Er holte tief Atem. Aber dies war auch nicht der Zeitpunkt, um sich die Sache noch einmal zu überlegen.

Er legte wie unter einem Zwang die Beine mit den vom jahrelangen Reiten gestählten Muskeln an und schob sich so tief in den natürlichen Sattel, wie er nur konnte.

»Wir fliegen, Carenath. Wir wagen es!«

Wir werden fliegen, bestätigte Carenath mit unerschütterlicher Ruhe und neigte sich nach vorne.

Obwohl Sean Connell jahrelang auf buckelnden, rutschenden und sich aufbäumenden Pferden gesessen hatte, war das, was er in diesem scheinbar endlos langen Augenblick empfand, völlig anders und vollkommen neu. Kurz schoß ihm die Erinnerung an die Stimme eines Mädchens durch den Kopf, die ihn drängte, an Raumfahrer Yves zu denken. Wieder fiel er durch den Weltraum. Einen sehr kleinen Weltraum. Hatte er den Verstand verloren, daß er so etwas versuchte?

Faranth möchte wissen, was wir tun, sagte Carenath gelassen.

Ehe Sean in seiner Verwirrung die Frage auch nur registrierte, hatten Carenaths Schwingen ihre Abwärtsbewegung beendet, und sie stiegen auf. Sean spürte, wie die Schwerkraft plötzlich wiederkehrte, er spürte Carenaths Hals unter sich, spürte sein eigenes Gewicht, und sein Selbstvertrauen, das ihm während dieses endlos scheinenden Sturzes völlig abhanden gekommen war, kehrte zurück. Carenath strebte mit machtvollen Schwingenschlägen weiter nach oben, und Sean wurde tiefer zwischen die Nackenwülste hineingedrückt. Jetzt waren sie auf gleicher Höhe mit dem nächsten Grat, der Grund der Schlucht war nicht mehr so bedrohlich nahe.

»Natürlich kannst du Faranth sagen, daß wir fliegen«, antwortete Sean. Er würde es Sorka niemals eingestehen - konnte es kaum vor sich selbst zugeben -, aber einen Augenblick lang hatte ihn tiefstes Entsetzen beherrscht.

Ich werde dich nicht fallen lassen, schalt ihn Carenath.

»Das habe ich auch nie geglaubt.« Sean zwang sich, seine angespannten Muskeln zu lockern, seine Beine lang nach unten hängen zu lassen und sie um Carenaths glatten Hals zu schließen, packte aber den Nackenwulst fester. »Ich habe nur befürchtet, daß ich mich keine Minute auf deinem Rücken würde halten können.«

Carenaths Flügel bewegten sich kurz hinter Seans Blickfeld auf und ab, und er spürte ihren kräftigen, regelmäßigen Schlag, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Er spürte den Wind auf seinem Gesicht und seiner Brust. Um ihn herum war nichts als Luft, nichts als leere Weite, es war einfach großartig.

Ja, nachdem er einmal auf den Geschmack gekommen war, war dieser Flug auf seinem Drachen das Schönste, was er jemals erlebt hatte.

Mir gefällt es auch. Ich fliege gern mit dir. Du paßt auf meinen Rücken. Es geht gut. Wo wollen wir hin? Der Himmel gehört uns.

»Hör zu, Carenath, wir sollten es nicht gleich übertreiben. Du hast eben erst gefressen, und wir müssen uns das alles erst einmal gründlich überlegen. Es genügt nicht, sich einfach von einem Grat fallen zu lassen. Oooooooooooh-« schrie er unwillkürlich auf, als sich Carenath in eine Kurve legte und er das weite, staubige, von Fäden zerfressene Gelände tief, tief unter sich sah. »Richte dich auf!«

Ich lasse dich schon nicht fallen! Es klang fast entrüstet, und Sean löste eine Hand, um dem Drachen einen beruhigenden Klaps zu geben. Aber gleich packte er wieder zu. Himmel, ein Reiter kann nicht gegen Fäden fliegen, wenn er sich ständig mit aller Kraft festhalten muß!

»Du würdest mich nicht fallen lassen, mein Freund, aber mir selbst traue ich nicht so ganz!«

Bemüht, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, wagte Sean einen Blick nach unten. Sie hatten fast die Höhlenreihe erreicht, die jetzt ihr Zuhause war. Sean entdeckte Faranth auf dem Erdsims, sie mußte sich wohl gesonnt haben. Jetzt hockte sie, die Flügel halb gespreizt, auf der Hinterhand. Mit wenigen kräftigen Schwingenschlägen hatte Carenath eine Strecke zurückgelegt, die sie normalerweise einen mühseligen halbstündigen Marsch hügelauf - hügelab gekostet hätte.

Faranth sagt, Sorka will, daß wir sofort runterkommen. Sofort! Carenaths Tonfall klang trotzig, ein Betteln lag darin, Sean möge der goldenen Drachenkönigin widersprechen und nicht zulassen, daß dieses neue Erlebnis abgekürzt wurde. Wir fliegen zusammen, und genau das sollten Drachen und ihre Reiter tun.

»Es ist phantastisch, Carenath, aber jetzt sind wir zu Hause, würdest du, sagen wir, neben Faranth landen? Dann kannst du ihr genau erzählen, wie wir es gemacht haben!«

Sean kümmerte es nicht, ob Sorka wegen seines spontanen, völlig ungeplanten Fluges hysterisch wurde. Er hatte es getan, es war gelungen, Ende gut, alles gut. Endlich gab es Reiter für die Drachen von Pern! Das würde die Einsätze bei Joels Wetten ins Gegenteil verkehren!

Die anderen siebzehn Reiter - auch Sorka, sobald Faranth sie in bezug auf Carenaths Fähigkeiten beruhigt hatte - waren begeistert über diesen gewaltigen Fortschritt. Dave wollte freilich wissen, warum Sean sich so überstürzt dazu entschlossen hatte.

»Hättest du nicht auf mich warten können? Polenth und ich waren dicht hinter dir. Du hast mir einen Augenblick lang einen fürchterlichen Schrecken eingejagt.«

Sean umfaßte in wortloser Entschuldigung Daves Arm. »Du hast gesagt, man hätte uns vergessen, Dave, und das war es. Daraufhin mußte ich es einfach probieren, aber ich wollte keinen anderen in Gefahr bringen, falls es ein Fehler war.«

Sean sah Sorkas finsteres Gesicht und zuckte in gespieltem Schrecken zusammen. »Mir wäre nichts passiert, mein Liebes. Das weißt du! Aber…« Er sah die anderen, die um ihn herum auf den Teppichen saßen, warnend an. »Wir müssen die Sache logisch und vernünftig angehen, Leute. Auf einem Drachen zu fliegen ist etwas anderes, als ein Pferd zu reiten.«

Sein Blick fiel auf Nora Sejby. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß ausgerechnet sie einen Drachen an sich binden würde, aber Tenneth hatte sie gewählt, und nun mußte man eben das Beste daraus machen. Nora neigte zu Unfällen, und Tenneth hatte ihre Gefährtin schon aus dem See gezogen und mehrfach verhindert, daß sie in die Spalten und Löcher stürzte, von denen die Hügel rund um die Catherine-Höhlen durchsetzt waren. Andererseits war Nora vor Monaco Bay gesegelt, seit sie kräftig genug war, um eine Ruderpinne zu halten, und konnte sowohl mit Schlitten als auch mit Gleitern umgehen.

»Zum einen ist ringsherum nichts als leere Luft. Wenn man stürzt, dann auf eine harte Oberfläche, und es geht sicher nicht ohne Verletzungen ab.« Sean begleitete seine Worte mit den passenden Gesten, zum Schluß schlug er mit der Faust in seine Handfläche, und das Geräusch ließ Nora aufschrecken.

»Na und?« fragte Peter Semling. »Dann verwenden wir eben einen Sattel.«

»Ein Drachenrücken ist voll mit Flügeln«, gab Sorka trocken zu bedenken.

»Man reitet vor den Flügeln, und das Gesäß befindet sich zwischen den beiden letzten Wülsten«, fuhr Sean fort, griff dabei nach einem Stück Folie und einem Stift, skizzierte den Rücken und die Schultern eines Drachen und zeichnete zwei Riemen ein. »Der Reiter trägt einen festen Gurt, so breit wie ein Werkzeugürtel. Man schnallt sich auf beiden Seiten fest, und die Riemen reichen auch noch über die Oberschenkel, das gibt zusätzliche Sicherheit. Außerdem brauchen wir besondere Reitkleidung und Schutzbrillen - der Wind hat mir die Tränen in die Augen getrieben, und dabei war ich gar nicht so lange oben.«

»Was war es eigentlich für ein Gefühl, Sean?« fragte Catherine Radelin mit erwartungsvoll leuchtenden Augen.

Sean lächelte. »Etwas so Unglaubliches habe ich noch nie erlebt. Kein Vergleich mit dem Fliegen in einer Maschine. Ich meine…« Er hob die Fäuste, spannte die Arme an und stieß mit den Händen nach oben, um auszudrücken, wie unbeschreiblich dieses Erlebnis war. »Es ist… es findet nur zwischen dir selbst und deinem Drachen statt und…« Er breitete schwungvoll die Arme aus. »Und der ganzen, verdammten weiten Welt.«

Bei der hastig einberufenen Sitzung, wo er sich wegen des eingegangenen Risikos verantworten sollte, stellte er alles viel weniger dramatisch dar. Er hätte viel lieber unter vier Augen Bericht erstattet, vielleicht an Admiral Benden, Pol oder Red, aber er sah sich dem ganzen Rat gegenüber.

»Sehen Sie, Sir, das Risiko war einfach gerechtfertigt«, sagte er und blickte schnell vom Admiral zu Red Hanrahan. Sein Schwiegervater war gleichzeitig wütend und gekränkt gewesen, er empfand seine Handlungsweise als Verrat. Damit hatte Sean nicht gerechnet. »Wir hatten den Grat fast erreicht, als ich plötzlich ganz sicher war, beweisen zu müssen, daß die Drachen uns tragen können. Sir, alle Planung der Welt bringt einen manchmal nicht zur rechten Zeit an den rechten Ort.«

Admiral Benden nickte weise, aber der erschrockene Ausdruck auf Jim Tilleks offenem Gesicht und Ongolas plötzliches Aufhorchen verrieten Sean, daß er etwas Falsches gesagt hatte.

»Ich konnte meinen eigenen Hals riskieren, Sir, aber nicht den eines anderen«, fuhr er fort, »wir müssen uns also Zeit lassen, um einige der anderen Reiter auf das Fliegen vorzubereiten. Ich bin viel geritten und habe Erfahrung mit Schlitten, aber auf einem Drachen ist alles ganz anders, und ich werde nicht mehr aufsteigen, bis Carenath irgendein Reitgeschirr an seinem - und meinem - Körper trägt.«

Joel Lilienkamp beugte sich über den Tisch. »Und was wäre dazu erforderlich, Connell?«

Sean grinste erleichtert. »Keine Sorge, Lili, was ich brauche, gibt es auf Pern im Überfluß - Leder. Ich habe für die vielen gegerbten Wherhäute, die Sie im Magazin liegen haben, eine Verwendung gefunden. Sie sind haltbar genug und werden weniger auf dem Drachenhals scheuern als die synthetischen Gewebe, die man für die Schlittengurte verwendet. Ich habe ein paar Skizzen gemacht.« Er entfaltete die Diagramme, die er bei seinen Gesprächen mit den anderen Drachenpartnern noch sehr verbessert hatte.

»Hier sieht man, wie die Riemen und Gurte angeordnet sein müssen, die wir brauchen, außerdem benötigen wir Fliegeranzüge, und ein paar von den Arbeitsbrillen, die die Plastikabteilung herstellt, wären auch nicht schlecht.«

»Fliegeranzüge und Plastikbrillen«, wiederholte Joel und griff nach den Zeichnungen. Je länger er sie betrachtete, desto weniger ablehnend wurde seine Haltung.

»Sobald ich das Reitgeschirr für Carenath zusammengebastelt habe, Admiral, Gouverneurin, meine Herren«, wandte sich Sean höflich an alle Versammelten und lächelte obendrein die finster blickende Cherry Duff zaghaft an, »können Sie zusehen, wie gut mein Drache mich trägt.«

»Man hat Ihnen doch mitgeteilt«, sagte Paul Benden, und Sean sah, wie er die Knöchel seiner linken Hand rieb, »daß auf dem Sand der Brutstätte neue Eier heranreifen?«

Sean nickte. »Wie ich Ihnen schon sagte, Admiral, achtzehn genügen nicht, sie können nicht genug ausrichten. Es wird Generationen dauern, bis sie in ausreichender Zahl vorhanden sind.«

»Generationen?« rief Cherry Duff mit ihrer krächzenden Stimme und sah das Veterinärsteam vorwurfsvoll an. »Warum hat man uns nicht gesagt, daß es Generationen dauern wird?«

»Drachengenerationen«, antwortete Pol, ein wenig über das Mißverständnis lächelnd. »Keine Menschengenerationen.«

»Und wie lange ist eine Drachengeneration?« wollte sie immer noch empört wissen und funkelte Sean entrüstet an.

»Die Weibchen sollten mit drei Jahren ihr erstes eigenes Gelege produzieren. Sean hat bewiesen, daß ein männlicher Drache mit knapp einem Jahr fliegen kann.«

Cherry schlug mit beiden Händen kräftig auf den Tisch. »Ich will Fakten, Pol, verdammt noch mal.«

»Dann eben vier bis fünf Jahre.«

Cherry schürzte verärgert die Lippen, eine Angewohnheit, die sie noch mehr wie eine verschrumpelte Trockenpflaume aussehen ließ, dachte Sean.

»Hm, dann werde ich wahrscheinlich keine Drachengeschwader mehr am Himmel sehen können, wie? Vier bis fünf Jahre. Und wann werden sie anfangen, Fäden zu verbrennen? Das war doch ihr eigentlicher Zweck, oder nicht? Wann werden sie anfangen, sich nützlich zu machen?«

Sean hatte genug. »Früher, als Sie denken, Cherry Duff. Joel, Sie können schon Wetten annehmen.« Damit verließ er den Raum. Es war ihm zutiefst zuwider, mit einem Gleiter zu Sorka und den anderen zurückzukehren, die schon warteten, um zu hören, was passiert war.

Als Joel Lilienkamp ihnen zehn Tage später persönlich die angeforderten Gurte, Riemen, Fliegeranzüge und Schutzbrillen brachte, konnte die Flugausbildung der Drachen von Pern allen Ernstes beginnen.

***

Landing hatte sich während der vergangenen eineinhalb Jahre an das unterirdische Rumpeln und Poltern gewöhnt. Am Morgen des zweiten Tages im vierten Monat des neunten Frühlings auf Pern bemerkten Frühaufsteher noch ganz verschlafen die Rauchwolke, erkannten aber ihre Bedeutung nicht.

Auch Sean und Sorka fiel sie auf, als sie mit Carenath und Faranth aus ihrer Höhle traten.

Warum raucht der Berg? wollte Faranth wissen.

» Was tut der Berg?« fragte Sorka und wurde gerade so weit munter, daß die Worte ihrer Drachenkönigin in ihr Bewußtsein drangen. »Himmel, Sean, schau!«

Sean genügte ein scharfer Blick. »Das ist nicht der Garben. Es ist der Picchu-Gipfel. Patrice de Broglie hat sich geirrt! Oder nicht?«

»Was in aller Welt willst du eigentlich sagen, Sean?« Sorka starrte ihn verständnislos an.

»Ich meine, es wurde doch dauernd über Grundgestein geredet und daß man Landing an eine günstigere Stelle verlegen wolle, mit besonderen Unterbringungsmöglichkeiten für die Drachen und für uns…« Sean ließ die Rauchfahne nicht aus den Augen. Sie ringelte sich träge von der Bergspitze empor, die neben dem mächtigen Garben zwergenhaft, aber deshalb nicht weniger bedrohlich wirkte. Er zuckte die Achseln. »Nicht einmal Paul Benden kann auf Kommando einen Vulkan ausbrechen lassen. Komm, wir können bei deiner Mutter frühstücken. Wir stecken Mick in seinen Fliegeranzug, und dann geht's los. Vielleicht hat dein Dad irgend etwas Offizielles gehört.« Er machte ein finsteres Gesicht. »Wir sind immer die letzten, die etwas erfahren. Ich muß Joel wenigstens ein Komgerät für die Höhlen abschwatzen.«

Sorka packte ihren zappelnden Sohn in den pelzgefütterten Tragesack, dann schlüpfte sie in ihre Jacke und setzte sich Helm und Schutzbrille auf. Sean trug Mick zu Faranth hinaus. Mit der Geschicklichkeit langer Übung sprang Sorka die zwei Stufen bis zu dem höflich ausgestreckten Vorderbein ihres Drachen hinauf und schwang sich auf Faranths Rücken. Sean reichte ihr das protestierende Bündel, sie hängte es sich auf den Rücken, und dann wandte er sich dem aufbruchbereiten Carenath zu und saß ebenfalls auf.

Die Drachen stießen sich von dem Sims vor der Höhle ab, das hoch genug lag für den ersten vollen Schwingenschlag. Im Lauf der letzten paar Wochen hatten sich die Rückenmuskeln der Drachen gekräftigt, und sie hielten jetzt Flüge von mehreren Stunden Dauer durch. Die Reiter, sogar Nora Sejby - Sean hatte ein besonderes Geschirr entworfen, das ihr das Gefühl gab, auf Tenneths Rücken sicher festgebunden zu sein wurden immer geschickter. Lange Gespräche mit Drake Bonneau und einigen der anderen Piloten, die einerseits Kampferfahrung aus den alten Nathi-Kriegen besaßen und auch oft genug gegen die Fäden geflogen waren, hatten den Drachenreitern ein besseres Verständnis für die erforderlichen Fähigkeiten vermittelt. Und mit der Übung wuchs ihr Mut.

Vor drei Wochen waren die Ergebnisse von Windblütes letztem Versuch ausgeschlüpft. Die vier überlebenden Wesen hatten sich nicht an die Kandidaten angeschlossen, die auf sie warteten, obwohl sie das Futter verzehrten, das diese ihnen reichten. Es stellte sich heraus, daß die armen Tiere an Photophobie litten, aber Windblüte hatte, sehr zur Empörung von Pol und Bay und gegen deren Rat, auf speziellen, verdunkelten Räumen für die Wesen bestanden, um diese Abart weiterhin studieren zu können.

Sogar die Feuerechsen waren nützlicher, dachte Sean, als die beiden Schwärme plötzlich ringsum in der Luft auftauchten und mit ihren hohen, lieblichen Stimmen den Morgen begrüßten. Wenn die Drachen nur auch dazu fähig wären, dachte Sean neidisch. Aber wie bringt man einem Drachen etwas bei, was man selbst nicht versteht? Die Drachen wurden jeden Tag klüger und lernten schnell, aber es war unmöglich, ihnen die Telekinese zu erklären oder sie aufzufordern, nach Art der Feuerechsen zu teleportieren. Kitti Fing hatte behauptet, das sei instinktives Verhalten, aber Sean fand nirgendwo in dem Genetikprogramm, das er sich genau eingeprägt hatte, einen weisen Rat, wie man einen Drachen dazu brachte, seine angeborenen Instinkte einzusetzen.

Und an solche Dinge ging man auch nicht spontan heran. Zuerst sollten die Drachen versuchen, Feuerstein zu fressen und Flammen zu erzeugen. Die Reiter wußten, wo die Feuerechsen das phosphinhaltige Gestein herbekamen; Sean hatte sogar beobachtet, wie die Braunen und Sorkas Duke sich die Stücke auswählten, die sie kauen wollten, und wie sorgfältig sie sich beim Kauen konzentrierten. Die Feuerechsen hatten gelernt, je nach Bedarf Flammen zu produzieren, daher hatte Sean keine Bedenken, daß man auch die Drachen darin unterweisen konnte. Aber sich zwischen einen Ort und einem anderen zu bewegen… das war ihm unheimlich.

Ein Feuer ganz anderer Art erfaßte die Ratsmitglieder von Landing drei Tage später.

»Paul und Emily, die Leute wollen von Ihnen wissen«, sagte Cherry Duff und richtete ihren durchdringenden Blick erst auf den Admiral und dann auf die Gouverneurin, »wie lange vorher Sie von dem Ausbruch des Picchu erfahren haben.«

»Überhaupt nicht«, sagte Paul entschieden, und Emily nickte. »Patrice de Broglies Berichte wurden nicht verändert. Entlang des ganzen Rings gab es in letzter Zeit vulkanische Aktivität, außerdem ist dieser neue Vulkan aus dem Meer aufgetaucht. Sie haben dieselben Stöße gespürt wie ich. Landing und sämtliche Grundbesitzer wurden über alle technischen Einzelheiten informiert. Für uns ist das eine ebenso unangenehme Überraschung wie für Sie!« Dann veränderte sich Pauls strenge Miene. »Bei allem, was heilig ist, Cherry, die viele schwarze Asche hat mich gestern genauso erschreckt wie alle anderen.«

»Und?« fragte Cherry, ohne einzulenken.

»Der Picchu ist offiziell als tätiger Vulkan registriert!« Paul breitete die Arme aus und blickte an Cherry vorbei zu Cabot Francis Carter und Rudi Shwartz. »Offiziell ist es auch wahrscheinlich, daß er weiterhin Rauch und Asche spuckt. Patrice und seine Leute sind momentan oben am Krater. Er wird heute abend am Freudenfeuerplatz öffentlich und vollständig berichten.«

Cherry sah ihn mit ihren schwarzen Augen scharf und bohrend an. Dann schnaubte sie. »Ich glaube ihm, aber das heißt nicht, daß es mir gefällt - auch die offizielle Prognose nicht.

Landing bewegt sich, nicht wahr?«

Emily Boll nickte ernst.

»Und Ihre nächste Erklärung«, fuhr Cherry mit ihrer harten Stimme fort, »lautet, daß Sie einen anderen Platz für uns gefunden haben!«

Paul brach in schallendes Gelächter aus, Emily bezwang sich gerade noch, als sie sah, daß Rudi Shwartz an dieser übermütigen Reaktion Anstoß nahm.

»Sie hatten kein Recht«, sagte Paul, sich mit Mühe beherrschend, »Emily ihren Text zu stehlen, Cherry Duff! Verdammt, wir hatten gerade an der offiziellen Verlautbarung gearbeitet, als Sie reingeplatzt sind. Und Sie wissen verdammt gut, wie wir uns beeilt haben, um die Festung im Norden fertigzustellen. Landing war so nicht länger tragbar, selbst wenn uns der Picchu nicht mit Asche überschüttet hätte. Das heißt natürlich nicht«, versicherte er schnell und hob die Hand, um Cabots Explosion zuvorzukommen, »daß man von den Grundbesitzern verlangt, ihr Land zu verlassen. Aber die Regierung des Planeten muß an dem geschütztesten Ort untergebracht werden, den wir finden können. Landing hat sich ganz offensichtlich überlebt. Es war nie als Dauereinrichtung geplant.«

Emily lenkte nun die Aufmerksamkeit auf sich und verteilte an die ganze Delegation Kopien des von ihr und Paul verfaßten Aufrufs. »Der Transfer wird ähnlich organisiert wie die Reise hierher. Wir verfügen über die erforderlichen Techniker und Geräte, um eine Umsiedlung nach Norden so einfach wie möglich zu gestalten. Wir verfügen über genügend Treibstoff, um zwei von den Fähren zum Transport der Geräte einzusetzen, die für Jims Schiffe zu sperrig sind. Für die Fähren wird es der letzte Flug; sie werden hinterher zerlegt und die Teile anderweitig verwendet. Wenn noch Zeit bleibt, können wir auch eine Mannschaft zurückschicken, um die drei anderen auszuschlachten. Joel Lilienkamp hat Prioritätenlisten für die großen Schlitten ausgearbeitet, um möglichst wenige von den Kampfgeschwadern abzuziehen.«

»Da wir gerade von Kampfgeschwadern sprechen, hat dieser junge Emporkömmling ihnen irgendwelche neuen Tricks beigebracht?« verlangte Cherry gebieterisch zu wissen und spähte an ihrer langen Nase entlang zu Paul hinüber. »Und da wir gerade von Eruption sprechen, wie geht es mit den Tieren von Kitti Fing voran? Ich sehe sie die ganze Zeit herumflitzen. In der Formation sehen sie ja blendend aus, aber taugen sie auch zum Kämpfen?«

»Bisher«, begann Paul vorsichtig, »haben sie sich besser entwickelt, als man erwarten konnte. Die jungen Connells haben sich als großartige Anführer erwiesen.«

»Sie waren die besten Führer bei den Bodentrupps, die ich je hatte«, sagte Cabot Carter verstimmt.

»Als Luftkämpfer werden sie phantastisch sein«, fuhr Paul fort und wies damit die unausgesprochene Kritik des Juristen zurück. »Und sie pflanzen sich, im Gegensatz zu Schlitten und Gleitern, selbst fort.«

»Sind Sie da ganz sicher?« krächzte Cherry. »So erfolgreich sind Windblütes Experimente nun wieder nicht.«

»Aber die ihrer Großmutter«, gab Paul mit einer Zuversicht zurück, von der er hoffte, daß sie Cherry beruhigen würde. »Laut Pol und Bay produzieren die Männchen ein Spermaäquivalent. Man hat mit der Genanalyse begonnen, aber sie wird Monate in Anspruch nehmen. Vielleicht haben wir bis dahin schon direkte Beweise für die Fruchtbarkeit der Drachen, weil die goldenen Weibchen länger brauchen, um zur Geschlechtsreife zu gelangen.« Paul bemühte sich, seine Worte nicht wie eine Verteidigung klingen zu lassen, aber er wollte der schlechten Meinung entgegenwirken, die die Leute von Windblütes Kreaturen hatten. Besonders, weil die jungen Drachenreiter sich mit so großem Eifer auf den Kampf gegen die Fäden vorbereiteten. Es war zwar nicht allgemein bekannt, aber Sean und seine Gruppe hatten bereits Botendienste geleistet und mit Erfolg kleinere Lasten befördert.

Auf Pauls Schreibtisch lag ein Bericht von Telgar und seiner Gruppe. Sie hatten den alten Krater oberhalb der Fort-Festung mit seinen zahllosen Höhlenblasen und gewundenen Gängen erkundet und erklärt, er sei als Unterkunft für die Drachen und ihre Reiter geeignet. Telgar hatte ein Team dazu abgestellt, die Höhlen bewohnbar zu machen, solange die schweren Geräte noch Energie hatten. Im Moment wurde ein Bach aufgestaut, um einen Badeteich in Drachengröße anzulegen; man leitete mit Rohren Wasser für den Küchenbedarf in die größten, zu ebener Erde gelegenen Kavernen und bohrte ein Kaminloch für einen großen Herdkomplex.

Offensichtlich würden sich menschliche Behausungen auf Pern in Zukunft an diesem Vorbild orientieren, und die Menschen, die an ausgedehnte Besiedlungen auf der Oberfläche gewöhnt waren, würden einige Zeit brauchen, um sich darauf einzustellen. Aber es war die beste Möglichkeit, um zu überleben.

***

»Pol?«

Der Biologe wußte die zaghafte Stimme nicht gleich einzuordnen. »Mary?« Seine Antwort klang ebenso zögernd, aber er zupfte Bay, die gerade stirnrunzelnd auf einen Monitor starrte, am Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Mary Tubberman?«

»Ich bitte dich, höre eine alte Freundin an!«

»Mary«, sagte Pol freundlich, »dich hat man doch nicht geächtet.« Er teilte sich den Hörer mit Bay, die energisch nickte.

»Das macht keinen Unterschied.« Es klang verbittert, dann begann die Stimme zu zittern, und schließlich hörten Bay und Pol die Frau weinen. »Hör zu, Pol, mit Ted ist etwas passiert.

Die Tiere, mit denen er experimentiert hat, sind frei. Ich habe die Fädenjalousien heruntergelassen, aber sie streichen noch immer draußen herum und geben entsetzliche Laute von sich.«

»Tiere? Was für Tiere?« Pol starrte Bay an. Über ihnen erwachten ihre Zwergdrachen und zirpten, weil sie ihre Unruhe spürten.

»Diese Bestien, die er gezüchtet hat.« Es hörte sich an, als glaube Mary, Pol müsse wissen, wovon sie spreche, und stelle sich absichtlich dumm.

»Er - er hat tiefgefrorene Zellkulturen aus dem Veterinärlabor gestohlen und Kittis Programm verwendet, um sie gefügig zu machen, aber es sind immer noch… Bestien. Sein Meisterstück tut nichts, um sie aufzuhalten.« Wieder klang ihre Stimme vor Verbitterung schrill.

»Wie kommst du darauf, daß Ted etwas zugestoßen ist?« fragte Pol. Bay hatte ihm dies mit Lippenbewegungen und ungeduldigen Gesten souffliert.

»Er würde diese Tiere niemals freilassen, Pol! Sie könnten Petey etwas antun!«

»Mary, jetzt beruhige dich erst einmal. Bleib im Haus. Wir kommen.«

»Ned ist nicht in Landing!« Das klang vorwurfsvoll. »Ich habe versucht, ihn anzurufen. Er würde mir glauben!«

»Mit glauben hat das nichts zu tun, Mary.« Bay hatte die Sprechmuschel zu sich herangezogen. »Und dir kann jeder zu Hilfe kommen.«

»Sue und Chuck melden sich auch nicht.«

»Sue und Chuck sind nach Norden gezogen, Mary, als vom Picchu der erste schlimme Steinregen kam.« Bay bemühte sich um Geduld. Die Frau hatte allen Grund, sich verfolgt zu fühlen, nachdem sie so lange mit einem psychisch gestörten Mann, ständig von Erdbeben und Vulkangepolter erschreckt, in völliger Abgeschiedenheit gelebt hatte.

»Pol und ich kommen zu dir, Mary«, sagte Bay entschlossen.

»Und wir bringen Hilfe mit.« Sie legte den Hörer auf.

»Wen?« fragte Pol.

»Sean und Sorka. Drachen wirken einschüchternd auf andere Tiere. Und auf diese Weise brauchen wir nicht den offiziellen Weg zu gehen.«

Pol sah seine Frau überrascht an. Bisher hatte sie niemals, weder offen noch versteckt, Kritik an Emily oder Paul geübt.

»Ich war immer der Meinung, daß man dem Bericht von Drake und Ned Tubberman hätte nachgehen sollen, und die beiden fanden das auch. Manchmal gehen in dem Durcheinander hier die wichtigen Dinge verloren.« Sie schrieb schnell eine Nachricht und befestigte sie am rechten Fuß ihres goldenen Zwergdrachenweibchens. »Such den Rotschopf«, sagte sie eindringlich und faßte den dreieckigen Kopf, um Mariahs volle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Such den Rotschopf!« Sie ging mit der kleinen Echse ans Fenster, öffnete es und deutete energisch in Sorkas Richtung. Dann stellte sie sich ganz intensiv vor, wie Sorka sich gegen Faranth lehnte. Mariah zirpte fröhlich. »Und jetzt ab mit dir!« Als der Zwergdrache gehorsam davonflog, fuhr Bay mit einem Finger über die schwarze Schicht, die schon wieder das erst vor kurzem abgewischte Fensterbrett bedeckte. »Ich bin froh, wenn wir endlich nach Norden übersiedeln. Ich habe diesen schwarzen Staub überall so gründlich satt. Komm, Pol, wir müssen uns warm anziehen.«

»Du hast dich nur so schnell bereit erklärt, Mary zu helfen, weil du dadurch Gelegenheit bekommst, wieder auf einem Drachen zu reiten«, lachte Pol.

»Pol Nietro, ich mache mir schon lange Sorgen um Mary Tubberman!«

Fünfzehn Minuten später schossen zwei Drachen über die Anhöhe und landeten auf der Straße vor ihrem Haus.

»Wie elegant sie sich bewegen.« Bay überzeugte sich, daß ihr Kopftuch fest zugebunden war. Es sollte sie gegen den allgegenwärtigen Staub schützen, aber vielleicht brauchte sie es auch für den erhofften Ritt. Als sie das Haus verließ, kam Mariah herabgeschwebt und ließ sich mit einem selbstzufriedenen Zirpen auf ihrer Schulter nieder. »Du bist großartig, Mariah, einfach großartig«, lobte Bay ihre kleine Königin leise, während sie ohne Zögern zwischen Faranth und Carenath hindurch auf Sorka zuging. »Vielen Dank, daß du gekommen bist, meine Liebe. Mary Tubberman hat uns eben angerufen. In Calusa gibt es Schwierigkeiten. Irgendwelche Tiere laufen frei herum, und Mary glaubt, daß Ted etwas zugestoßen ist. Könntest du uns hinbringen?«

»Offiziell oder inoffiziell?« fragte Sean, als Sorka ihn ansah.

»Es ist nicht verboten, Mary zu helfen«, gab Bay zu bedenken und sah Pol, der gerade mit bewundernden Blicken an die Drachen herangetreten war, hilfesuchend an. »Außerdem treiben sich wer weiß was für Bestien…«

»Drachen sind schon nützliche Wesen«, grinste Sorka. Sie hatte sich entschieden und winkte Bay heran. »Gib der Dame dein Bein, Faranth. Hier, nehmen Sie meine Hand.«

Mit Faranths Unterstützung gelang es Bay ohne große Schwierigkeiten, hinter Sorka aufzusitzen. Sie hätte niemals zugegeben, daß sie zwischen Wülsten vorne und hinten eingeklemmt wurde. Mariah quiekte wie üblich protestierend.

»Nur ruhig, Mariah, Faranth wird überhaupt nichts passieren«, sagte Bay und schaute zu Pol hinüber, der sich gerade hinter Sean zurechtsetzte. Der junge Drachenreiter grinste breit und zwinkerte Bay zu. Na ja, diesmal ist es wirklich ein Notfall, sagte sie sich. Eine Frau, die mit kleinen Kindern in ihrem Haus gefangensitzt, während draußen unbekannte, bedrohliche Wesen herumstreichen.

»Festhalten«, sagte Sean wie immer und gab mit einer Armbewegung das Zeichen zum Start.

Bay unterdrückte einen Aufschrei, als Faranth sich in die Lüfte schwang und sie schmerzhaft gegen die harten Rückenwirbel gepreßt wurde. Es dauerte nur einen Moment, dann ging der goldene Drache wieder in die Horizontale und schwenkte gemächlich nach rechts. Bay stockte der Atem. Sie würde sich nie daran gewöhnen, wollte es auch gar nicht. Ein Ritt auf einem Drachen war das Aufregendste, was sie erlebt hatte seit… seit Mariah zum erstenmal zum Paarungsflug aufgestiegen war.

Der Flug nach Calusa dauerte nicht lang, aber er war ein zutiefst beglückendes Erlebnis. Die Drachen gerieten in eine der vielen durch die Aktivität des Picchu entstandenen warmen Luftströmungen, und Bay steckte die Finger bis an die Knöchel in die Schlaufen von Sorkas Gürtel und klammerte sich fest. Auf einem Drachen zu fliegen war ein viel unmittelbareres, weit erregenderes Gefühl, als im geschlossenen Schlitten oder Gleiter zu sitzen. Bay drehte den Kopf, damit Sorkas hochgewachsener, kräftiger Körper sie vor der stärksten Luftströmung und vor dem Staub des Picchu schützte, der sogar in dieser Höhe die Luft erfüllte.

Unterwegs hatte Bay Zeit, darüber nachzudenken, was Mary über die ›Bestien‹ gesagt hatte. Red Hanrahan hatte einen nächtlichen Einbruch im Veterinärlabor gemeldet. Ein tragbarer Bioscanner wurde vermißt, und es gab keinen Eintrag, daß ihn jemand entliehen hatte, aber da sich das Biolabor ständig Geräte von den Veterinären ausborgte, achtete man nicht weiter darauf. Später hatte jemand bemerkt, daß die Behälter mit den gefrorenen Eizellen verschiedener terrestrischer Tierarten durcheinandergeraten waren. Das konnte freilich auch während eines Erdbebens geschehen sein.

Der unzufriedene Ted Tubberman war sehr fleißig gewesen, dachte Bay grimmig. Eine der wichtigsten Maximen in ihrem Beruf als Mikrobiologin war die strenge Einschränkung von Genmanipulationen. Sie war eigentlich überrascht, wenn auch erleichtert gewesen, als Kitti Fing Yung, die Seniorin unter den Wissenschaftlern der Pernexpedition, die biotechnische Veränderung der Zwergdrachen gestattet hatte. Ob Kitti Ping wohl wußte, was für ein herrliches Geschenk sie der Bevölkerung von Pern damit gemacht hatte?

Aber daß Ted Tubberman, der verärgerte Botaniker, mit Eizellen herumpfuschte - und er hatte weder die Techniken noch das Verfahren verstanden -, um ohne Rücksprache mit den anderen Veränderungen vorzunehmen, das war für sie beruflich wie persönlich unerträglich. Bay hielt sich für einen toleranten, freundlichen und rücksichtsvollen Menschen, aber Ted Tubbermans Tod würde sie nur als gewaltige Erleichterung empfinden. Und mit dieser Ansicht stand sie keineswegs allein. Schon der Gedanke an den Mann versetzte sie in so heftige Erregung, daß sie nicht mehr mit wissenschaftlicher Objektivität zu urteilen vermochte, und das ärgerte sie noch mehr. Da saß sie nun auf einem Drachenrücken, eine herrliche Gelegenheit, friedlichen Gedanken nachzuhängen, nur der Wind dröhnte in ihren Ohren, unter ihr lag Jordan ausgebreitet, und sie verschwendete diese Zeit an Ted Tubberman. Bay seufzte. Es gab so selten Augenblicke, in denen man ganz für sich war und sich entspannen konnte. Wie sehr beneidete sie doch die junge Sorka, Sean und die anderen.

Erstaunt entdeckte sie Calusa im nächsten Tal. Es war ein massiver Gebäudekomplex, den sich die Tubbermans als Zentrale für ihren Besitz gebaut hatten. Die wiederholten Vulkanascheschauer des Picchu, die der Wind überall verteilte, hatten die galvanisierten Dächer der Hauptgebäude zu einem stumpfen Dunkelgrau verfärbt. Aber Bay hatte kaum Zeit gehabt, das zu bemerken, als Sorkas überraschter Aufschrei zu ihr nach hinten drang.

»Himmel, das ist ja ein Trümmerhaufen!« Sorka zeigte nach rechts, und Faranth schwenkte auf die unausgesprochene Bitte hin unvermittelt ab. Ihre Rückenwirbel preßten sich in Bays Weichteile, und sie packte Sorkas Gürtel noch fester.

»Dort!« Sorka richtete den Blick nach unten.

Fünfundsiebzig Meter vom Haupthaus entfernt befand sich eine überdachte Anlage mit einzelnen Gehegen und einem Lförmigen Korridor, der zwei Seiten eines eingezäunten Bereichs bildete. Eine der Außenmauern und mehrere Zwischenwände waren zerstört, und eine Ecke des Dachs war nach außen aufgesprengt. Bay konnte sich nicht erinnern, ob es in diesem Gebiet weitere Erdstöße gegeben hatte, die solchen Schaden hätten anrichten können. Alle anderen Gebäude waren intakt.

Als der Drache noch einmal die Richtung änderte, legte Bay die Arme um Sorka, spürte den beruhigenden Druck ihrer Finger, und dann waren sie unten.

»Es ist ein Vergnügen, auf Faranth zu reiten. Sie hat so elegante, kraftvolle Bewegungen«, sagte Bay und streichelte zaghaft den warmen Drachenhals.

»Nein, steigen Sie nicht ab«, warnte Sorka. »Faranth sagt, hier streicht irgend etwas herum. Die Zwergdrachen werden mal nachsehen. He!«

Plötzlich war die Luft erfüllt vom Schnattern und Schwatzen zorniger Feuerechsen. Bays Mariah kreischte ihr ins Ohr.

»Nein, nein, schon gut. Faranth wird nicht zulassen, daß euch jemand etwas zuleide tut.« Bay streckte ihrer Goldenen den Arm entgegen, aber Mariah schloß sich den Schwärmen an, die die Gegend erkunden wollten. Bay registrierte verblüfft, daß der Drache knurrte, sie konnte es am ganzen Körper spüren. Faranth wandte ihren imposanten Kopf der Anlage zu, die Facetten ihrer Augen schillerten rot und orange.

Deutlich war ein durchdringendes Jaulen zu hören, dann war alles still. Die Schwärme sammelten sich aufgeregt über den Köpfen der beiden Drachenreiter und übermittelten ihnen mit lautem Schnattern die Neuigkeit. Faranth blickte mit funkelnden Augen nach oben und nahm die Bilder der Zwergdrachen in sich auf.

»Hier treibt sich irgendwo eine große, gefleckte Bestie herum«, erklärte Sorka Sean. »Und ein anderes Tier, das noch größer, aber stumm ist.«

»Dann brauchen wir Betäubungsgewehre«, sagte er. »Sorka, Faranth soll Verstärkung anfordern. Marco und Duluth wenn möglich; Dave, Kathy - vielleicht brauchen wir auch einen Arzt. Peters Gilgath ist kräftig, Nyassa gerät nicht in Panik, und verlange auch Paul oder Jerry. Ich glaube, wir sollten Mary und die beiden Kinder von hier wegbringen, bis man die Bestien eingefangen hat.«

Mary Tubbermans Leidenszeit war zu Ende, und sie weinte sich an Bays Schulter aus. Ihr Sohn Peter, normalerweise ein aufgeweckter Siebenjähriger, stand starr vor Angst mit ausdruckslosem Gesicht daneben. Seine zwei kleinen Schwestern hatten sich in einen Sessel verkrochen, klammerten sich aneinander und reagierten nicht auf Pols Tröstungsversuche, obwohl er im allgemeinen mit Kindern sehr gut umgehen konnte. Mary wehrte sich nicht gegen den Vorschlag, sich an einen sicheren Ort bringen zu lassen.

»Dad ist tot, nicht wahr?« fragte Petey und trat dicht an Sean heran.

«Vielleicht ist er auch draußen und versucht, die Tiere wieder einzufangen«, redete ihm die weichherzige Bay zu. Der Junge sah sie nur verächtlich an und ging den Korridor hinunter zu seinem Zimmer.

Die angeforderte Verstärkung traf ein und brachte die Betäubungsgewehre mit. Sean sah zufrieden, daß die Drachenreiter genau in der Reihenfolge landeten, die er mit ihnen geübt hatte. Er gab Paul, Jerry und Nyassa die Gewehre und schickte sie mit ihren Drachen los, um die entflohenen Tiere zu suchen und außer Gefecht zu setzen.

Sorka blieb zurück, um den Tubbermans beim Packen zu helfen, und Sean und die anderen näherten sich, mit Pistolen bewaffnet, vorsichtig der demolierten Anlage. Im Inneren des Gebäudes hing ein starker Raubtiergeruch, überall lagen frische Kothaufen herum. Sie fanden Ted Tubbermans erbärmlich zerfleischten, angefressenen Körper vor seinem kleinen Labor liegen.

»Verdammt, wir haben hier keine Tiere, die so töten!« rief David Catarel aus und wich rückwärts in den Korridor zurück.

Kathy kniete mit ausdruckslosem Gesicht neben der Leiche nieder. »Was immer es war, es hatte Reißzähne und scharfe Klauen«, bemerkte sie und erhob sich langsam. »Es hat ihm den Rücken gebrochen.«

Marco riß einen alten Labormantel und ein paar Handtücher von einer Stange und deckte die Leiche zu. Dann hob er einen zerbrochenen Stuhl auf, der wie die meisten Möbel auf Pern aus gepreßten Pflanzenfasern bestand. »Den könnte man anzünden. Mal sehen, ob wir genug Brennmaterial finden, um die Leiche hier einzuäschern. Das würde uns einiges an Peinlichkeiten ersparen«, erklärte er mit einer Handbewegung in Richtung auf das Haupthaus. Dann erschauderte er; es war ihm ganz offensichtlich zuwider, den verstümmelten Körper zu berühren.

»Der Mann war wahnsinnig«, bemerkte Sean und stocherte mit einem Stock in den Kothaufen in einem der Gehege herum. »Große Raubtiere zu züchten. Als ob wir mit den Wherries und den Schlangen nicht schon genug Probleme hätten!«

»Ich werde Mary Bescheid geben«, murmelte Kathy.

Sean packte sie am Arm, als sie vorbeiging. »Sag ihr, er ist schnell gestorben.« Sie nickte.

»He!« Peter Semling zog aus dem Durcheinander auf dem Fußboden des Labors ein Klemmbrett hervor. »Sieht aus wie Notizen«, rief er und studierte die dünnen, mit kleiner, verkrampfter Schrift bedeckten Folien. »Das hier hat was mit Botanik zu tun.« Achselzuckend reichte er Kathy das Brett und hob ein anderes auf. »Das hier ist… Biologie? Hm.«

»Wir müssen alle Notizen einsammeln«, sagte Sean. »Alles, was uns eventuell verraten kann, was für ein Tier ihn getötet hat.«

»He!« sagte Peter wieder und klappte den Deckel eines tragbaren Bioscanners mit Bildschirm und Tastatur zurück. »Der sieht genauso aus wie das Gerät, das uns vor einer Weile zusammen mit einigen Eizellenkulturen im Veterinärlabor abhanden gekommen ist.«

Sorgfältig suchten sie alles Material zusammen, das sie finden konnten, sogar eine an den Spritzschutz eines Wasserbeckens genagelte Platte mit der rätselhaften Gravierung Heureka, Mykorrlüza! nahmen sie mit. Dave trug mehrere Säcke hinaus, die sie nach Landing bringen wollten. Dann sammelten Sean und Peter brennbares Material und schichteten einen Scheiterhaufen auf, um ihn anzuzünden, sobald Mary und die Kinder fort waren.

»Sean!« rief David Catarel. Er kauerte vor einem breiten Grünstreifen, das einzige, was auf dem verwüsteten, mit Asche bedeckten Grundstück noch lebte, auch wenn der allgegenwärtige schwarze Staub die satte Farbe getrübt hatte. »Wie viele Fädeneinfälle gab es in dieser Gegend?« fragte er und blickte sich um. Dann fuhr er mit Hand über das Gras, eine widerstandsfähige Hybridsorte, die die Agronomen für die Gartenanlagen entwickelt hatten, ehe die Sporen kamen.

»Genug, um das Zeug zu vernichten!« Sean kniete neben ihm nieder und zog ein dickes Büschel heraus. In der Erde um die Wurzeln ringelten sich verschiedene Bodenbewohner, darunter mehrere pelzig aussehende Maden.

»Die Sorte habe ich noch nie gesehen«, bemerkte David und fing geschickt drei Exemplare auf, als sie zu Boden fielen. Dann kramte er in seiner Jackentasche, zog ein Stück Stoff heraus und wickelte die Maden sorgfältig ein. »Ned Tubberman hat was von einer neuen Grasart gequasselt, die hier die Sporen überlebt haben soll. Ich bringe die Dinger ins Agro-Labor.«

In diesem Moment kamen Sorka, Pol, Bay und Peter mit allen möglichen Habseligkeiten bepackt aus dem Haupthaus. Sean und Dave begannen, die acht Drachen zu beladen.

»Wir können auch noch einmal fliegen, Mary«, bot Sorka taktvoll an, als die Frau mit zwei vollgestopften Schlafsäcken zu ihnen trat.

»Außer Kleidung habe ich nicht viel«, sagte Mary und warf einen schnellen Blick auf die Anlage. »Kathy sagte, es sei schnell gegangen?« Ihre Augen flehten um Bestätigung.

»Kathy ist der Arzt«, erklärte Sean sanft. »Und jetzt rauf mit Ihnen! David und Polenth nehmen Sie mit. Alles aufsitzen. Seid ihr schon mal auf einem Drachen geritten, Kinder?«

Sean machte ein Spiel daraus, um ihnen über die Peinlichkeit des Augenblicks hinwegzuhelfen. Erst als alle fort waren, zündete er zusammen mit Pol den Scheiterhaufen an. Als auch sie schließlich aufbrachen, ging ein neuer Schauer Vulkanstaub nieder, der Staub, der mit der Zeit Landing unter sich begraben würde.

***

»Ich kann Teds Privatcode nicht knacken!« rief Pol frustriert und warf den Stift auf die mit Klemmbrettern und Folienstapeln übersäte Arbeitsplatte. »Dieser elende Narr!«

»Ezra liebt Codes, Pol«, schlug Bay vor.

»Den DNS/RNS-Reihen nach experimentierte er mit Katzenartigen, aber ich kann mir nicht vorstellen, warum. Hier in Landing streunen doch schon genug davon herum. Es sei denn…« Pol unterbrach sich, nagte nervös an seiner Unterlippe und verzog das Gesicht, während er sich in Gedanken mit diversen unangenehmen Möglichkeiten beschäftigte. »Wir wissen« - er schlug heftig auf den Tisch -»daß Katzen nicht gut auf Mentasynthese ansprechen. Er wußte das auch. Warum sollte er alte Fehler wiederholen?«

»Was ist mit den anderen Notizen?« fragte Bay und deutete auf ein Klemmbrett, das gefährlich nahe an der Tischkante lag.

»Leider kann ich nur Teile aus Kittis Drachenprogramm entziffern.«

»Ach so?« Bay bewegte nachdenklich den Unterkiefer. »Er mußte also auch noch den Schöpfer spielen, die Rolle des Anarchisten reichte ihm nicht.«

»Warum sollte er sich sonst mit den genetischen Gleichungen der Eridani befassen?« Pol schlug gereizt mit der flachen Hand auf den Tisch, sein Gesicht war von banger Unruhe gezeichnet. »Und was wollte er erreichen?«

»Ich glaube, wir können froh sein, daß er nicht versucht hat, die Feuerzwergdrachen zu manipulieren, obwohl ich den Verdacht habe, daß er mit den aus dem Gefriervorrat gestohlenen Eizellen herumexperimentierte.«

Pol rieb sich die müden Augen. »In diesem Fall muß man für alles dankbar sein. Besonders, wenn man bedenkt, was Windblüte so treibt. Aber das hätte ich nicht sagen sollen, mein Liebes. Vergiß es.«

Bay rümpfte abfällig die Nase. »Wenigstens ist Windblüte so vernünftig, ihre elenden Photophoben unter Verschluß zu halten. Ich begreife einfach nicht, warum sie so hartnäckig an ihnen festhält. Sie ist die einzige, die mit ihnen zurechtkommt.« Bay wurde von Ekel geschüttelt. »Vor ihr kriechen sie richtiggehend.«

Pol schnaubte verächtlich. »Genau das ist der Grund«, sagte er zerstreut und blätterte dabei in den rätselhaften Notizen auf dem Klemmbrett. »Ich komme nicht dahinter, warum er sich ausgerechnet die Großkatzen ausgesucht hat.«

»Warum fragen wir nicht Petey? Er hat seinem Vater in der Anlage geholfen, oder nicht?«

»Du bist doch der Inbegriff der Vernunft, mein Schatz«, stellte Pol fest, hievte sich aus seinem Stuhl hoch, küßte sie liebevoll auf die Wange und zauste ihr das Haar. Sie schimpfte immer noch, als er schon die Nummer von Mary Tubbermans Wohnung eintippte. Er und Bay hatten sie täglich besucht, um ihr die Rückkehr in die Gemeinschaft zu erleichtern. »Mary, ist Petey erreichbar?«

Als Petey sich meldete, klang seine Stimme nicht übermäßig freundlich. »Ja?«

»Diese großen Katzen, die dein Vater gezüchtet hat, hatten die Flecken oder Streifen?« erkundigte sich Pol im Plauderton. »Flecken.« Mit dieser Frage hatte der Junge nicht gerechnet.

»Aha, Geparden. Hat er sie so genannt?«

»Ja, Geparden.«

»Warum Geparden, Petey? Ich weiß, daß sie schnell laufen können, aber für die Jagd auf Wherries waren sie doch wohl nicht zu gebrauchen.«

»Sie waren aber wie wild hinter den großen Tunnelschlangen her.« Peteys Stimme wurde lebhaft. »Und sie gehorchten aufs Wort und machten alles, was Dad ihnen sagte…« Er brach ab.

»Das kann ich mir gut vorstellen, Petey. Auf der Erde wurden sie von mehreren alten Kulturen gezüchtet und zur Jagd auf alle möglichen Wildarten eingesetzt. Das Schnellste, was je auf vier Beinen gelaufen ist!«

»Sind sie auf ihn losgegangen?« fragte Petey nach kurzem Schweigen.

»Ich weiß es nicht, Petey. Kommst du heute abend zum Feuer?« Pol wechselte das Thema, um das Gespräch nicht so traurig enden zu lassen. »Du hast mir Revanche versprochen. Ich kann doch nicht zulassen, daß du mich bei jeder Schachpartie schlägst.« Nachdem er eine Zusage für den Abend erhalten hatte, legte er auf. »Nach dem, was Petey sagte, hat Ted offenbar Geparden mit Mentasynthese behandelt, um sie gefügiger zu machen. Er hat sie auf Tunnelschlangen gehetzt.«

»Sind sie auf ihn losgegangen?«

»Wahrscheinlich. Nur, warum? Wenn wir wenigstens wüßten, wie viele Eizellen er sich aus dem Labor geholt hat. Und wenn wir diese Notizen entschlüsseln und feststellen könnten, ob er nur mit Mentasynthese oder auch mit anderen Teilen von Kittis Programm gearbeitet hat. Wie auch immer…« Pol seufzte verdrossen. »Auf Calusa treibt sich eine unbekannte Zahl von Raubtieren herum!« Er lachte höhnisch. »Ob wohl Phas Radamanth mit seinen Unterlagen über die Maden mehr Glück hatte? Die könnten nützlich sein!«

***

Patrice de Broglie kam in Emilys Büro gestürmt. »Der Garben steht kurz vor dem Ausbruch. Wir müssen Landing evakuieren. Sofort!«

»Was!« Emily stand auf, die Folien, die sie gerade studiert hatte, glitten ihr aus der Hand und flatterten zu Boden.

»Ich war eben auf den Gipfeln. Das Schwefel-Chlor-Verhältnis hat sich verändert. Es ist der Garben, der ausbrechen wird.« Er schlug sich zerknirscht mit der Hand vor die Stirn. »Direkt vor meiner Nase, und ich habe es nicht begriffen.«

Von Emilys Aufschrei alarmiert, kam Paul aus dem Büro nebenan gelaufen. »Der Garben?«

»Sie müssen sofort evakuieren«, schrie Patrice mit verzerrtem Gesicht. »Es gibt in diesem verdammten Krater sogar einen erheblichen Anstieg bei Quecksilber und Radon. Und wir dachten, das sickert vom Picchu durch.«

»Aber der Picchu qualmt doch!« Paul war vor Schreck wie gelähmt und bemühte sich mit aller Kraft, Ruhe zu bewahren. Im gleichen Augenblick wie Emily griff er nach dem Komgerät. Sie erreichte es als erstes, und er zog die Hand zurück und überließ es ihr, Ongola anzurufen.

»Dieser Garben ist ebenso gerissen wie der Mann, nach dem wir ihn benannt haben. Die Vulkanologie ist noch immer keine exakte Wissenschaft«, sagte Patrice und rollte ratlos die Augen, während er in dem kleinen Büro auf und ab marschierte.

»Ich habe einen Gleiter mit dem Korrelationsspektrometer raufgeschickt, damit er die Zusammensetzung der eben einsetzenden Fumarole-Emissionen im Garben-Krater feststellt«, fuhr Patrice fort. »Und ich habe neue Ascheproben mitgebracht. Aber da sich das Schwefel-Chlor-Verhältnis verändert, kann kein Zweifel mehr bestehen, daß das Magma ansteigt.«

»Ongola«, sagte Emily. »Schalten Sie die Sirene ein.

Vulkanalarm. Rufen Sie sofort alle Schlitten und Gleiter zurück. Ja, ich weiß, heute ist Sporenfall gemeldet, aber wir müssen Landing jetzt räumen, nicht erst später. Wie lange haben wir Zeit, Patrice?«

Er zuckte hilflos die Achseln. »Ich kann Ihnen den genauen Zeitpunkt der Katastrophe nicht nennen, meine Freunde, und auch nicht, in welcher Richtung der Ausbruch erfolgen wird, aber wir haben starken Nordostwind. Die Asche wird schon jetzt dichter. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«

Erschrocken schauten der Admiral und die Gouverneurin aus dem Fenster und sahen, daß der Himmel grau war und daß die Asche sogar die Sonne verdeckte. Auch die gelbe Rauchfahne des Picchu war breiter als gewöhnlich, und aus dem Gipfel des Garben stiegen ähnliche Schwaden.

»Man kann sich sogar daran gewöhnen, im Schatten eines Vulkans zu leben«, bemerkte Paul trocken.

Patrice zuckte wieder die Achseln und rang sich ein Lächeln ab. »Aber das können wir uns nicht leisten, meine Freunde. Selbst wenn der Lavaaustritt minimal sein sollte, wird Landing bei der Aschenmenge, die jetzt fällt, bald verschwunden sein. Sobald wir die möglichen Lavastrombahnen festgestellt haben, werde ich Sie informieren, damit Sie die am meisten gefährdeten Gebiete als erste räumen können.«

»Welches Glück, daß wir bereits einen Evakuierungsplan haben!« bemerkte Emily und rief eine Datei auf. »Da!« Sie ließ das Programm vorrangig auf allen Druckern ausgeben. »Das geht an alle Sektionsleiter. Die Evakuierung hat offiziell begonnen, meine Herren. Daß wir nur so wenig Zeit haben, ist allerdings ungünstig. Irgend etwas wird immer vergessen, ganz gleich, wie sorgfältig man vorausplant.«

Die Bevölkerung von Landing war durch wiederholten Probealarm gut gedrillt und reagierte prompt auf die Sirenen. Alle gingen zu ihren Sektionsleitern, um sich Anweisungen zu holen. Eine kurz aufflackernde Panik wurde schnell unterdrückt, und von da an lief alles auf vollen Touren.

Der Himmel verdunkelte sich immer mehr, dicke, schwarze Aschewolken stiegen auf und bedeckten die Gipfel der Vulkane, die einst einen so harmlosen Eindruck gemacht hatten. Weiße Rauchfahnen stiegen von den neu erwachten Fumarolen des Garben und aus Spalten an seiner Ostseite auf. Der Morgen wurde zur Dämmerung, die Luftverschmutzung breitete sich immer weiter aus. Handlampen und Atemschutzmasken wurden verteilt.

Joel Lilienkamp, der für die eigentliche Evakuierung zuständig war, führte von einem der schnellen Schlitten aus die Oberaufsicht und hatte das Kanzeldach geöffnet, um den verschiedenen Trupps Befehle und ermunternde Worte zuzubrüllen und blitzartig Entscheidungen treffen zu können. Die Labors und Lagerhäuser, die dem schwelenden Vulkan am nächsten lagen, wurden zusammen mit dem Lazarett als erste geräumt, nur die Erste-Hilfe-Abteilung für Notfälle und die Brandkontrolle ließ man noch bestehen. Überall rollten die Lastesel umher, luden ihre Fracht am Landegitter ab oder schleppten sie weiter, um sie vorübergehend in den Catherine-Höhlen unterzustellen.

Patrices Gruppe hatte bereits berechnet, für welche Gebiete das pyroklastische Risiko besonders hoch beziehungsweise besonders niedrig war. Man hatte nach Osten hin bis Cardiff, nach Westen bis Bordeaux und nach Süden bis Cambridge Warnungen ausgeschickt. Monaco, wo ohnehin schon dichter Aschenregen fiel, war obendrein noch vom Vulkanauswurf bedroht. Jedes Boot, jedes Schiff, jeder Schleppkahn in der Bucht wurde mobilisiert, beladen und fortgeschickt, um jenseits der ersten Halbinsel von Kahrain zu warten.

Man leerte die restlichen Treibstoffsäcke in die Tanks der beiden letzten Fähren. Die meisten Drachenreiter wurden herangezogen, um das Vieh zur Hafenbucht zu treiben. Zum erstenmal versammelte sich niemand am Maori-See, um gegen die Sporen zu kämpfen - ein tödlicherer Niederschlag drohte.

Niemand hatte Zeit zum Jubeln, als Drake Bonneau mit der alten Swallow, vollbeladen mit Kindern und Geräten, im letzten Tageslicht von der Hochfläche startete. Die Techniker gingen sofort weiter zur Parrakeet. Ongola und Jake, die vom Turm aus den Flugverkehr überwachten, nützten die Pause, um die warme Mahlzeit zu verzehren, die man ihnen geschickt hatte. Alle Funkapparaturen waren auf Handwagen verladen worden und konnten schnell weggebracht werden, falls der Turm bedroht sein sollte.

»Die Swallow sieht gut aus«, meldete Ezra vom Interfaceraum, wo er den Flug überwachte. Er hatte an diesem Tag viel Zeit damit verbracht, eine Abschirmung aus hitzebeständigem Material zu errichten, da er Patrices hastigen Versicherungen, das Gebäude liege in keiner der früheren Lavastrombahnen, nicht so recht traute. Leider konnte man das Interface mit der in der Umlaufbahn befindlichen Yokohama nicht abbauen, denn es war auf ein fest auf den Empfänger der Yoko eingestelltes Funkfeuer angewiesen. Da man die Justierung auf der Yoko nicht mehr verändern konnte, hatte es keinen Sinn, das Gerät mitzunehmen und anderswo neu zu installieren.

In dieser Nacht war die Luft von Schwefeldämpfen und Rußpartikeln durchsetzt, und Patrice warnte, der Druck im Vulkan nähere sich den kritischen Werten. Über dem Picchu wie über dem Garben hingen weiße Rauchfahnen am dunklen Himmel, darunter strahlte ein gedämpfter Schein bedrohlich aus Gipfel und Krater und tauchte die Siedlung in ein gespenstisches Licht.

Drake Bonneau meldete, er sei nach einem schwierigen Flug sicher gelandet. »Die verdammte Kiste hat gezittert, als wolle sie auseinanderfallen, aber nichts wurde beschädigt, und die Kinder haben nicht einmal eine Prellung abgekriegt, aber ich glaube, keines von ihnen wird jemals Begeisterung fürs Fliegen entwickeln. Harte Landung, haben eine Furche in den Boden gepflügt, als wir übers Ziel hinausgeschossen sind. Wir werden den Rest des Tages brauchen, um das Gelände für die Parrakeet freizumachen. Fulmar soll die Gyros und die Stabilisierungsmonitoren überprüfen. Ich könnte schwören, daß bei der Swallow Tunnelschlangen reingekommen waren.«

Ein ständiger Strom von Fahrzeugen bewegte sich auf den Hafen zu, die größeren Schiffe und Kähne wurden mit sich sträubenden Tieren beladen, für die man auf Deck Boxen errichtet hatte. Kisten mit Hühnern, Enten und Gänsen wurden überall festgezurrt, wo man Platz fand; sie sollten in der Bucht von Kahrain, die sich außerhalb der Gefahrenzone befand, ausgeladen werden. Mit etwas Glück würde man das Vieh zum größten Teil evakuieren können. Jim Tillek flog im Gleiter über dem Hafengelände umher, war überall, wo man ihn brauchte, und trieb seine Leute mit Ermunterungen und Beschimpfungen unaufhörlich an.

Als es dunkel wurde, verlangte Sean für seine Drachenreiter, die Menschen und Pakete zur Bucht von Kahrain beförderten, eine Pause. »Ich werde weder mit müden Drachen noch mit müden Reitern ein Risiko eingehen«, erklärte er Lilienkamp ziemlich hitzig. »Das ist zu gefährlich, und die Drachen sind einfach noch zu jung, um so unter Druck gesetzt zu werden.«

»Die Zeit drängt, Mann, wir können uns solche Mätzchen nicht leisten!« gab Joel wütend zurück.

»Kümmern Sie sich um die Räumung, Joel, ich kümmere mich um meine Drachen. Die Reiter werden arbeiten bis zum Umfallen, aber es ist einfach dumm, junge Drachen zu schinden! Das wird nicht geschehen, solange ich es verhindern kann.«

Joels zorniger Blick verriet seine Ratlosigkeit. Die Drachen hatten sich enorm nützlich gemacht, aber auch er sah ein, daß es unvernünftig war, sie zu gefährden. Wie eine kleine, aschebedeckte Statue hinter die Konsole geduckt, schoß er mit dem Schlitten davon.

Sean und die anderen Reiter arbeiteten tatsächlich bis zum Umfallen. Als sie schließlich einschliefen, legte sich jeder Drache schützend um seinen Partner. Niemandem fiel auf, daß nur wenige Zwergdrachen zu sehen waren.

Allzu früh war Joel wieder da und forderte sie aus der Luft zum Weitermachen auf, und sie beteiligten sich erneut an den herkulischen Anstrengungen der anderen.

Plötzlich stieß die Sirene drei durchdringende Töne aus. Sämtliche Arbeiten wurden eingestellt, alles lauschte auf die folgende Botschaft.

»Er geht hoch!« Patrices Schrei hallte fast triumphierend durch Landing.

Alle Köpfe drehten sich zum Garben, dessen Gipfel sich in der geisterhaften Helligkeit aus dem Krater deutlich abzeichnete.

»Parrakeet starten!« Ongolas Stentorstimme zerriß das betäubte Schweigen.

Die Triebwerke der Fähre wurden übertönt vom Poltern der Erde und dem ohrenbetäubenden Krach des gewaltigen Vulkanausbruchs. Die in andächtiger Haltung erstarrten Zuschauer wurden lebendig, jeder führte hastig zu Ende, was er gerade tat, Schreie waren über das Getöse hinweg zu hören. Später sagten einige, die beobachtet hatten, wie der Gipfel barst und die rotglühende Lava aus dem Riß zu dringen begann, alles habe sich wie in Zeitlupe abgespielt. Man habe die Spalten im Krater orangerot aufleuchten, die Trümmer über den Rand schießen und sogar einige Brocken aus dem Vulkan selbst hochsteigen sehen und ihre schwindelerregende Bahn verfolgen können. Andere behaupteten, es sei alles viel zu schnell gegangen, um Einzelheiten zu erkennen.

Leuchtend rote Lava wogte unheilvoll über den zerklüfteten Rand des Garben, ein Strom bewegte sich erstaunlich schnell direkt auf die westlichsten Gebäude von Landing zu.

In dieser Dämmerstunde hatte sich der Wind gelegt, dadurch blieb der Ostteil von Landing vor den schlimmsten Stein- und Ascheregen verschont. Die größeren, alles vernichtende Geschosse, die Patrice gefürchtet hatte, blieben aus. Aber die Lava allein war bedrohlich genug.

Als die mit unersetzlichen Geräten beladene Parrakeet in die Finsternis im Westen eindrang, war der Feuerstrahl aus ihren Triebwerken deutlich zu sehen, aber nichts war zu hören. Dann schwenkte sie nach Nordwesten ab und war in Sicherheit.

Beim Klang der Sirene begannen die Delphine, schwer beladene, kleine Boote von Monaco Bay wegzuziehen, eine Flottille, die man unter normalen Umständen niemals auf eine längere Fahrt geschickt hätte. Die Delphine hatten den Menschen jedoch versichert, sie seien in der Lage, ihre Schützlinge unversehrt zu der geschützten Bucht jenseits der ersten Halbinsel von Kahrain zu bringen. Die Maid und die Mayflower waren noch nicht voll beladen, liefen aber trotzdem aus und warteten außerhalb der geschätzten Fallout-Zone, bis sie zurückkehren und auch den Rest ihrer Fracht aufnehmen konnten. Jim geleitete mit der Southern Cross Kähne und Logger an der Küste entlang auf dem weiten Weg bis Seminole, von wo aus sie die letzte Etappe nach Norden antreten sollten.

Schlitten und Gleiter strömten von Landing zur Paradiesflußbesitzung, dem nächsten sicheren Treffpunkt. Hier ging alles drunter und drüber, da lebenswichtige Versorgungsgüter zur Verfügung gehalten und andere Frachten an bestimmten Stellen am Strand umgeleitet werden mußten. Man wollte nichts in Landing zurücklassen, was man in der neuen Festung im Norden wieder gebrauchen konnte.

Dicke, nach Schwefel riechende Asche legte sich auf Landings Gebäude. Einige der leichteren Dächer brachen unter der Last zusammen, man konnte das Plastik ächzen und rutschen hören. Die Luft enthielt Spuren von Chlor und war fast nicht atembar. Jedermann bediente sich klaglos der Atemschutzmasken.

Am Spätnachmittag landete Joel Lilienkamp seinen ramponierten Schlitten erschöpft auf der windgeschützten Seite des Turms neben Ongolas Maschine und wartete einen Augenblick, bis er genug Kraft gesammelt hatte, um das Komgerät aufzuklappen.

»Wir haben geräumt, was wir konnten«, stieß er hervor; seine Stimme war heiser von den ätzenden Dämpfen in der Luft. »Die Lastesel stehen in den Catherine-Höhlen, bis wir sie zerlegen und verladen können. Sie können jetzt auch abziehen.«

»Wir kommen«, antwortete Ongola.

Augenblicke später erschien er an der Tür und schob auf einer Gravplattform langsam ein schweres Gerätepaket heraus. Hinter ihm kam Jake, ähnlich bepackt. Paul folgte mit zwei weiteren Teilen.

»Soll ich helfen?« fragte Joel automatisch, obwohl er so zusammengesunken vor der Konsole saß, daß er sichtlich zu keiner Anstrengung mehr fähig war.

»Ein Flug noch«, sagte Ongola, als sie die Geräte in seinem Schlitten verstaut hatten. »Reichen die Energiezellen für die Landung?« fragte er Joel.

»Jawohl. Meine letzte frische Zelle.«

Während Ongola und Jake noch einmal in den Turm zurückkehrten, trat Paul an die Fahnenstange und holte mit trostloser Miene feierlich die versengten Fetzen der Kolonieflagge herunter. Er zerknüllte sie zu einer Kugel und stopfte sie unter seinen Sitz im Schlitten. Dann warf er dem Magazinverwalter einen langen Blick zu. »Soll ich fliegen, Joel?«

»Ich habe euch hergebracht, ich bringe euch auch weg!«

Paul wagte nicht, zu den Ruinen von Landing zurückzuschauen, aber als Joel in weitem Bogen erst nach Osten und dann nach Norden flog, sah der Admiral, daß er nicht der einzige war, dem die Tränen über die Wangen liefen.

Dank einer steifen Brise aus Nordost wurde die Bucht von Kahrain auch weiterhin von der Asche und den ätzenden Dämpfen der Garben-Eruption verschont. Patrice blieb mit einem kleinen Team zurück, nachdem Landing verlassen worden war, um das Ereignis zu überwachen.

***

»Heute gehen wir auf die Jagd«, erklärte Sean den anderen Reitern.

Sie hatten eine stille Bucht gefunden, die vom Lager der Evakuierten aus gesehen strandaufwärts lag. Keiner der in der warmen Sonne liegenden Drachen hatte eine gesunde Farbe, und Sean machte sich insgeheim Sorgen, ob sich die noch nicht voll ausgewachsenen Tiere nicht vielleicht überanstrengt hatten. Dann entschied er resolut, alles, was ihnen fehle, sei eine anständige Mahlzeit, sah sich nach Feuerechsen um und fluchte leise. »Verdammt! Wir brauchen alle, die wir haben! Vier Königinnen und zehn Bronzefarbene können unmöglich genügend Packschwänze fangen, um achtzehn Drachen sattzukriegen! Sie haben doch sicher nicht zum erstenmal einen Vulkanausbruch erlebt.«

»Aber nicht direkt über ihren Köpfen«, gab Alianne Zulueta zurück. »Ich konnte die meinen nicht beruhigen. Sie sind einfach verschwunden!«

»Rotes Fleisch wäre besser als Fische - mehr Eisen«, schlug David Catarel vor, und seine Augen ruhten auf der blassen Haut seines bronzefarbenen Polenth. »Hier gibt es Schafe.«

»Langam«, wehrte Marco Galliani entschieden ab und hob beide Hände. »Mein Vater will die Tiere nach Roma transportieren, sobald Schlitten frei sind. Erstklassiges Zuchtmaterial.«

»Das sind Drachen auch.« Sean erhob sich mit einem merkwürdigen Grinsen. »Peter, Dave, Jerry, ihr kommt mit mir. Sorka, du kümmerst dich um Störungen - falls welche auftreten.«

»He, Sean, Moment mal.« Marco wußte nicht, auf welche Seite er sich stellen sollte.

Sean grinste verschmitzt und legte einen Finger an die Nase. »Was das Auge nicht sieht, Marco, darüber weint das Herz nicht.«

»Es geht schließlich um deinen Drachen, Mann«, murmelte Dave, als er an ihm vorbeiging.

Eine Stunde später verschwanden mehrere Drachen dicht über den Baumwipfeln in westlicher Richtung. Die anderen Reiter halfen so auffällig den Trupps, die sich bemühten, Ordnung in das Chaos am Strand zu bringen, daß niemand bemerkte, ob alle gleichzeitig anwesend waren. Am Mittag wälzten sich siebzehn gesättigte Drachen mit kräftiger Hautfarbe am Strand. Einer saß geduldig auf der Landspitze, während Zwergdrachen ins Wasser tauchten und nach Packschwänzen fischten.

Als Caesar und Stefane Galliani beim Verladen ihre Schafe zählten, stellten sie fest, daß etwa sechsunddreißig Tiere fehlten, darunter einer der besten Böcke. Caesar bat die Drachenreiter, die Gegend abzusuchen und die vermißten Tiere an die Küste zurückzutreiben.

»Die Taugenichtse streunen ständig herum«, bemerkte Sean verständnisvoll und nickte den ratlosen, verwirrten Gallianis zu. »Wir werden nachsehen.«

Als Sean sich eine Stunde später zurückmeldete, erklärte er, die Schafe müßten wohl in eine der vielen Höhlen in der Gegend gestürzt sein. Widerstrebend brachen die Gallianis mit der dezimierten Herde auf. Die großen Transportschlitten mußten ihre Termine einhalten, die Beförderung konnte nicht aufgeschoben werden.

Als der letzte Schlitten gestartet war, trat Emily an Sean heran. »Sind Ihre Drachen einsatzbereit?«

»Wir erfüllen jeden Wunsch!« erklärte Sean so liebenswürdig, daß Emily ihm einen scharfen Blick zuwarf. »Die Feuerechsen haben den ganzen Vormittag schwer gearbeitet, um Futter herbeizuschaffen.« Er deutete zur Bucht, wo Duluth gerade von einer Bronzeechse einen Packschwanz entgegen nahm.

»Feuerechsen?« Das Wort ›Echsen‹ verblüffte Emily, bis ihr wieder einfiel, daß Sean für die kleinen Wesen seinen eigenen Namen hatte. »Ach, dann sind Ihre Schwärme also zurückgekehrt?«

»Nicht alle«, sagte Sean traurig und fügte dann schnell hinzu: »Aber genügend Königinnen und Bronzefarbene, um sich nützlich zu machen.«

»Die Eruption hat sie alle erschreckt, nicht wahr?«

Sean schnaubte. »Die Eruption hat uns alle erschreckt!«

»Aber nicht so sehr, daß wir nicht mehr klar denken können, wie es scheint«, bemerkte Emily mit einem spöttischen Lächeln. »Jedenfalls hat sich niemand so töricht benommen wie die Schafe, nicht wahr?« Sean stellte sich weder ahnungslos, noch gab er zu, daß er verstand, was sie meinte, er erwiderte nur ihren Blick so lange, bis sie die Augen abwandte. »Wenn eure Drachen keinen Appetit mehr auf Fisch haben, dann jagt Wherries. Die Eruption hat uns schon genug Vieh gekostet, vielen Dank.« Sean nickte, immer noch unverbindlich, mit dem Kopf. »Es gibt viel zu tun, und es muß schnell getan werden.« Sie sah auf die dicken Folien auf ihrem Klemmbrett und rieb sich die Stirn. »Wenn eure Drachen nur voll einsatzfähig wären…« Sie warf ihm einen reumütigen Blick zu. »Tut mir leid, Sean, das war eine unschöne Bemerkung.«

»Ich wünschte das ebenfalls, Gouverneurin«, entgegnete Sean aufrichtig. »Aber wir wissen nicht genau, wie man es macht. Wir wissen nicht einmal, was wir ihnen sagen sollen.« Seine Stirn und sein Hals waren schweißnaß, und das kam nicht nur von der heißen Sonne.

»Gut ausgedrückt, wir müssen uns darum kümmern, aber nicht hier und jetzt. Sehen Sie, Sean, Joel Lilienkamp macht sich Sorgen wegen der Vorräte, die noch in Landing zurückgeblieben sind. Wir befördern die Sachen so schnell von hier weg wie wir können.«

Sie zeigte mit einer Armbewegung auf die Stapel von farbkodierten Kisten und schaumstoffbedeckten Paletten. »Das orangefarbene Zeug ist durch Fadeneinfälle gefährdet, es muß also schnellstmöglich nach Norden, um in der Fort-Festung gelagert zu werden. Aber wir sollten trotzdem versuchen, die noch in Landing verbliebenen Dinge zu retten, ehe die Asche sie zudeckt.«

»Die Asche ist ätzend, Gouverneurin. Sie frißt sich durch Drachenschwingen so leicht wie durch…« Sean brach ab und starrte zum westlichen Strand, eine Hand hob sich zu einer vergeblichen Geste der Warnung. Emily drehte sich um, um zu sehen, was seine Besorgnis erregt hatte.

Das Trompeten eines Drachen hing schwach und dünn in der heißen Luft. Der Schlittenführer, der sich auf Kollisionskurs mit dem Wesen befand, schien gar nicht zu merken, daß unter ihm noch etwas flog. Dann, kurz bevor Drache und Reiter mit dem Schlitten zusammenstießen, waren sie plötzlich verschwunden.

»Instinkte sind doch etwas Wunderbares!« rief Emily aus und strahlte vor Erleichterung über die Rettung in letzter Minute und vor Freude, weil ein Drache diese angeborene Fähigkeit gezeigt hatte. Als sie Sean wieder ansah, veränderte sich ihr Ausdruck. »Was ist los?« Sie blickte schnell zum Himmel auf, wo weder der Drache mit seinem Reiter noch der Schlitten zu sehen war; letzterer hatte sich unter die vielen anderen Maschinen gemischt, die über der Bucht von Kahrain hin und her flogen. »O nein!« sie faßte sich an die Kehle, die auf einmal wie zugeschnürt war, und ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. »Nein. O nein! Sie müßten doch inzwischen schon wieder aufgetaucht sein? Nicht wahr, Sean? Es ist doch angeblich nur eine kurzzeitige Dislokation.«

Bestürzt umfaßte sie seinen Arm und schüttelte ihn ein wenig, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schaute auf sie hinab, und die Qual in seinen Augen ließ ihre Angst in Trauer umschlagen. Sie wiegte langsam den Kopf, wollte sich die Wahrheit nicht eingestehen.

Gerade als einer der Frachtaufseher, ein Bündel Plasfolien in der Hand, hastig auf sie zukam, ertönte ein entsetzliches Jammergeschrei. Die mißklingenden Töne waren so durchdringend, daß die Hälfte der Leute am Strand stehenblieben und sich die Ohren zuhielten. Im gleichen Augenblick, während der unerträgliche Laut ständig weiter anschwoll, füllte sich die Luft mit Zwergdrachen, die mit schrillen Stimmen in den Trauergesang einfielen.

Die anderen Drachen stiegen ohne ihre Reiter auf und flogen an der Stelle vorüber, wo einer von ihnen mit seinem menschlichen Partner umgekommen war. In einer komplizierten Formation, die die Zuschauer zu jeder anderen Gelegenheit fasziniert hätte, umkreisten die Zwergdrachen ihre größeren Vettern und setzten ihren schaurigen Kontrapunkt zu der tiefen, pulsierenden Drachenklage.

»Ich werde feststellen, wie das passieren konnte. Der Pilot des Schlittens…« Emily verstummte, als sie den verstörten Ausdruck auf Seans Gesicht sah.

»Das bringt uns Marco Galliani und Duluth nicht wieder zurück, oder?« Er wehrte mit einer scharfen Handbewegung ab. »Morgen werden wir fliegen, wohin Sie wollen, und bergen, soviel wir können.«

Emily sah ihm lange nach, bis sich ihr das Bild des gramgebeugten jungen Mannes unauslöschlich eingeprägt hatte. Am Himmel strebten die eleganten Tiere kreisend und gleitend nach Westen ihrem Strand zu, als wollten sie Sean begleiten.

Der Schmerz, den Emily empfand, war nichts im Vergleich zu dem Gefühl des Verlustes, mit dem die Drachenreiter fertigwerden mußten, das war ihr klar. Sie rieb sich das Gesicht, das zitternde Kinn, schluckte entschlossen den Klumpen in ihrer Kehle hinunter und winkte den Frachtaufseher gereizt zu sich heran.

»Finden Sie heraus, wer diesen Schlitten geflogen hat, und bringen Sie ihn oder sie mittags in mein Zelt. Und womit kann ich Ihnen helfen?«

»Marco und Duluth sind genauso verschwunden wie es die Feuerechsen tun«, sagte Sean mit seltsam sanfter Stimme.

»Aber sie sind nicht zurückgekommen!« protestierte Nora schrill. Sie begann wieder zu weinen und vergrub ihr Gesicht an Peter Semlings Schulter.

Der plötzliche Tod der beiden hatte allen einen traumatischen Schock versetzt. Die Klage der Drachen war im Laufe des Nachmittags leiser geworden. Am Abend hatten ihre Partner sie endlich bewegen können, sich im Sand zusammenzurollen und zu schlafen. Nachdem die Tiere versorgt waren, kauerten die jungen Leute mutlos und apathisch um ein kleines Feuer.

»Wir müssen herausfinden, was schiefgegangen ist«, sagte Sean, »damit es nie wieder geschieht.«

»Sean, wir wissen nicht einmal, was Marco und Duluth gemacht haben«, schrie Dave Catarel.

»Duluth hat ganz instinktiv auf eine Gefahr reagiert«, sagte eine neue Stimme. Pol Nietro trat mit Bay in den Feuerschein. »Mit einem Instinkt, der ihm angeboren war. Dürfen wir euch im Namen aller, die mit dem Drachenprogramm zu tun hatten, unser Beileid aussprechen? Wir - Bay und ich - ja, ihr alle seid für uns wie eine Familie.« Pol fuhr sich verlegen über die Augen und schniefte.

»Bitte, setzen Sie sich zu uns«, sagte Sorka mit ruhiger Höflichkeit, stand auf und führte Pol und Bay ans Feuer. Zwei weitere Packkisten wurden in den Kreis gezogen.

»Wir haben uns bemüht herauszufinden, was eigentlich passiert ist«, fuhr Pol fort, nachdem er und Bay sich schwerfällig niedergelassen hatten.

»Keiner hat sich umgesehen«, sagte Sean mit einem schweren Seufzer. »Ich habe es beobachtet. Marco und Duluth sind vom Strand gestartet und waren im Steigflug, als sich der Schlittenpilot mit einer Wendung dem Landeplatz näherte. Er konnte die beiden unter sich nicht sehen. Drachen sind nicht mit einer Kollisonswarneinrichtung ausgerüstet.« Sean hob hilflos beide Hände. »Ich weiß aus sicherer Quelle, daß der Schlittenpilot seinen Alarm abgeschaltet hatte, weil ihm das ständige Piepsen bei dem starken Verkehr auf die Nerven ging.«

Pol beugte sich zu ihm. »Dann ist es um so wichtiger, daß ihr Reiter euren Drachen Disziplin beibringt.« Ärgerlicher Protest wurde laut, und er winkte beschwichtigend ab. »Das soll keine Krittelei sein, Freunde. Ich will euch aufrichtig helfen. Aber jetzt ist offenbar der Moment gekommen, bei der Ausbildung der Drachen einen Schritt weiterzugehen - sie müssen lernen, den Instinkt, der Marco und Duluth heute eigentlich hätte retten sollen, richtig einzusetzen.«

Diese Bemerkung rief erneut teils zorniges, teils erschreckendes Gemurmel hervor.

Sean hob die Hand, sein müdes Gesicht wurde von den tanzenden Flammen erhellt. Sorka, die neben ihm saß, sah genau die verkrampften Kiefermuskeln und den Schmerz in seinen Augen.

»Ich glaube, unsere Überlegungen gehen in die gleiche Richtung, Pol«, sagte er, und seine gepreßte Stimme verriet dem Biologen, unter welcher Belastung der junge Drachenreiter stand. »Meiner Meinung nach sind Marco und Duluth in Panik geraten. Sie hätten einfach an die Stelle zurückkommen sollen, von der sie verschwunden waren, der verdammte Schlitten war ja schon weg!« Jetzt war der Schmerz fast mit Händen zu greifen, Sean atmete tief durch und sprach ruhiger, fast ungerührt weiter. »Wir alle haben Feuerechsen. Kit Fing hat uns unter anderem deshalb als Kandidaten ausgewählt. Wir haben sie alle schon mit Botschaften losgeschickt, nachdem wir ihnen gesagt hatten, wohin sie fliegen, was sie machen oder wen sie suchen sollten. Das müßten wir doch auch den Drachen beibringen können. Wir haben heute auf die harte Tour erfahren, daß sie ebenso wie die Feuerechsen fähig sind zu teleportieren. Diesen Instinkt müssen wir lenken. Wir müssen ihn disziplinieren, wie Pol vorhin sagte, damit wir nicht wie Marco in Panik verfallen.«

»Warum hat Marco eigentlich durchgedreht?« jammerte Tarrie Chernoff.

»Ich würde alles darum geben, wenn ich das wüßte«, sagte Sean, und jetzt klang der Schmerz wieder in seiner Stimme mit. »Aber eines weiß ich. Von jetzt an startet kein Reiter mehr, ohne sich zu vergewissern, was in seiner unmittelbaren Umgebung in der Luft vorgeht. Wir müssen defensiv fliegen, müssen uns bemühen, mögliche Gefahren im voraus zu erkennen. Vorsicht«, sagte er und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe, »muß uns in die Augäpfel eingegraben sein.« Er sprach schnell, in knappen Worten. »Wir wissen, daß die Feuerechsen, um dahin zu gelangen, wohin sie auch immer wollen, zwischen einem Ort und dem anderen wechseln, also hören wir auf, diese Fähigkeit als selbstverständlich anzusehen, und beobachten wir genau, was sie tun. Überprüfen wir, wie sie kommen und gehen. Schicken wir sie an bestimmte Orte, an Orte, wo sie noch nicht gewesen sind, um zu sehen, ob sie unseren geistigen Anweisungen folgen können. Unsere Drachen hören uns auf telepathischem Wege, sie verstehen - im Gegensatz zu den Feuerechsen - genau, was wir sagen, wenn wir uns also angewöhnen, den Feuerechsen präzise Anweisungen zu geben, dann müßten damit eigentlich auch die Drachen etwas anfangen können. Wenn wir das Verhalten der Feuerechsen so weit verstehen, wie es irgend geht, dann erst werden wir versuchen, unsere Drachen von einem Ort zum anderen zu schicken.«

Die anderen Reiter begannen, leise miteinander zu reden, und Sean beobachtete sie scharf aus schmalen Augen.

»Aber bringen wir damit nicht unsere Zwergdrachen in Gefahr?« fragte Tarrie und strichelte die kleine Goldene, die sich in ihre Armbeuge kuschelte.

»Besser die Zwergdrachen als die Drachen!« bemerkte Peter Semling.

Sean schnaubte verächtlich. »Die Feuerechsen können recht gut auf sich selbst aufpassen. Versteht mich nicht falsch…« Er hob die Hand, um Tarries prompt einsetzenden Protest abzuwehren. »Ich schätze sie. Sie sind großartige kleine Kämpfer. Himmel, ohne ihre Hilfe hätten wir die Nestlinge niemals satt bekommen, aber…« - er hielt inne und sah in die Runde -»sie besitzen einen gut ausgeprägten Überlebensmechanismus, sonst hätten sie den ersten Durchzug dieser Oort'schen Wolke nicht überstanden. Wann immer das war. Wie Peter schon sagte, ist es weit weniger gefährlich, mit Feuerechsen zu experimentieren, als einen weiteren Drachen samt Reiter aufs Spiel zu setzen.«

»Du hast einige sehr wichtige Gesichtspunkte angesprochen, Sean.« Pol hatte selbst neuen Mut gefaßt. »Aber du willst doch sicher die goldenen und die bronzefarbenen Zwergdrachen dafür verwenden. Bay und mir erscheinen sie immer als die zuverlässigsten.«

»Das hatte ich vor. Besonders, nachdem sich die Blauen und Grünen nach der Eruption alle verdrückt haben.«

»Ich bin bereit, es zu versuchen«, sagte Dave Catarel, nahm mit einem Ruck die Schultern zurück, richtete sich auf und sah die anderen herausfordernd an. »Wir müssen etwas tun. Aber vorsichtig!« Er warf Sean einen schnellen Blick zu.

Auf dessen Gesicht erschien langsam ein Lächeln, und er schüttelte Dave über das Feuer hinweg die Hand.

»Ich mache auch mit«, sagte Peter Semling. Nora schloß sich etwas zaghaft an.

»Ich finde, es klingt äußerst vernünftig.« Otto nickte energisch und sah sich um. »Schließlich wurden die Drachen so gezüchtet, daß sie den Gefahren des Fädenfalls entgehen können, wozu die mechanischen Schlitten nicht in der Lage sind.«

»Danke, Otto«, sagte Sean. »Wir müssen alle positiv denken.«

»Und vorsichtig sein«, ergänzte Otto und hob warnend einen Finger.

Die Reiter waren aus ihrer Lethargie gerissen und begannen sich leise zu unterhalten.

»Weißt du noch, Sorka«, sagte Bay und beugte sich zu ihr, »wie ich Mariah an dem Tag zu dir geschickt habe, als man uns nach Calusa rief?«

»Sie hat mir Ihre Botschaft gebracht.«

»Das hat sie, aber ich habe ihr nur gesagt, sie soll den Rotschopf bei den Höhlen suchen.« Bay schwieg bedeutungsvoll. »Natürlich kennt dich Mariah, seit sie ausgeschlüpft ist, und es gibt in Landing und auf dem ganzen Planeten nicht so viele Rotschöpfe.« Bay wußte, daß sie faselte, und das passierte ihr nur selten, aber schließlich brach sie auch nur selten in Tränen aus, und als sie die schreckliche Nachricht gehört hatte, hatte sie fast eine Stunde lang geweint, ohne daß Pol sie hätte trösten können. Pol hatte es ganz richtig formuliert, es war, als habe man ein Familienmitglied verloren. Da sie kein Terminal zur Verfügung hatten, um nach möglichen Lösungen zu suchen, hatten sie zwei Stunden lang aufgeregt nach der Kiste gesucht, die alle ihre schriftlichen Aufzeichnungen über das Drachenprogramm enthielt; sie wollten irgendeinen positiven Vorschlag parat haben, um die jungen Leute ein wenig aufzumuntern. »Aber Mariah hat dich an diesem Tag mühelos gefunden, und du warst innerhalb von wenigen Minuten bei unserem Haus. Sie kann also nicht sehr lange gebraucht haben.«

»Nein, das ist richtig«, sagte Sorka nachdenklich und sah in die Runde der vom Feuer beschienenen Gesichter. »Bedenkt doch nur, wie oft wir den Zwergdrachen gesagt haben, sie sollen uns Fische für die Nestlinge bringen.«

»Fische sind Fische«, bemerkte Peter Semling und stocherte geistesabwesend mit einem Ast im Sand herum.

»Ja, aber die Zwergdrachen wußten, welche Sorte die Drachen am liebsten mögen«, meldete sich Kathy Duff. »Und sobald wir die Anweisung gegeben haben, sind sie sofort wieder da. Sie verschwinden einfach, und ein paar Atemzüge später kommen sie mit einem Packschwanz an.«

»Ein paar Atemzüge«, wiederholte Sean und starrte in die Dunkelheit hinaus. »Alle unsere Drachen haben länger als ein paar Atemzüge gebraucht, um zu begreifen, daß… Marco und Duluth nicht zurückkommen würden. Können wir daraus schließen, daß es auch bei Drachen nur ein paar Atemzüge dauert, wenn sie teleportieren?«

»Vorsichtig…« Otto hob wieder warnend den Finger.

»Richtig«, fuhr Sean lebhaft fort. »Das machen wir gleich morgen früh, wenn es hell wird.« Er griff nach Peters Stock und zeichete eine zerklüftete Küstenlinie in den Sand. »Die Gouverneurin möchte, daß wir einige Sachen aus Landing holen und hierher bringen. Dave, Kathy, Tarrie, ihr alle habt goldene Feuerechsen. Ihr fliegt die erste Tour. Wenn ihr den Turm erreicht habt, schickt ihr eure Feuerechsen zu mir und Sorka hierher zurück. Bay, haben Sie und Pol morgen etwas vor?«

Bay rümpfte die Nase. »Wir zwei sind so lange überflüssig, bis wir in der Fort-Festung unsere Systeme wieder in Betrieb nehmen können. Und außerdem müssen wir auf Beförderung warten. Wir helfen euch gern, wo immer wir können!«

»Wir werden die Feuerechsen stoppen. Aber wir brauchen Funkgeräte, um genaue Ergebnisse zu bekommen.«

»Laßt mich die besorgen«, erbot sich Pol.

Sean grinste amüsiert. »Auf diesen Vorschlag hatte ich gehofft. Ihnen kann Lilienkamp nichts abschlagen, oder?«

Pol schüttelte energisch den Kopf, er fühlte sich jetzt viel besser als am Nachmittag, als er zutiefst niedergeschlagen vergeblich nach den verschwundenen Unterlagen gesucht hatte.

»Nun, dann werden Bay und ich jetzt gehen«, sagte er, erhob sich und half ihr beim Aufstehen. »Um Funkgeräte zu organisieren. Wie viele? Zehn? Wir treffen uns dann morgen früh hier, mit den Geräten.« Er verneigte sich vor den anderen und stellte dabei fest, daß nur Bay diese Marotte verstand. »Ja, im Morgengrauen werden wir mit unseren wissenschaftlichen Beobachtungen beginnen.«

»Und wir brauchen alle unseren Schlaf, ihr Reiter«, sagte Sean und begann, Sand auf das erlöschende Feuer zu schaufeln.

***

Pol hielt sich ein Funkgerät ans Ohr und zeigte mit dem Finger nach unten, während Bay, Sean und Sorka ihre Stoppuhren einschalteten. Mit dem Finger auf dem Knopf blickten sie alle nach Osten zum Himmel auf, Bay blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht, das sich in der glatten See spiegelte.

»Jetzt!« Vier Stimmen sagten es, vier Finger drückten auf die Knöpfe, als ein aufgeregt zirpender Zwergdrache über ihren Köpfen erschien.

»Wieder acht Sekunden«, rief Pol zufrieden.

»Komm her, Kundi«, sagte Sorka und streckte den Arm aus, damit das Tierchen landen konnte. Dave Catarels Bronzeechse piepste und legte den Kopf schief, als ziehe sie die Einladung in Betracht, schwenkte dann aber ab, als Duke, Sorkas eigener Zwergdrache, sie verscheuchte. »Sei nicht so garstig, Duke.«

»Acht Sekunden«, sagte Sean bewundernd. »Länger brauchen sie nicht, um etwa fünfzig Kilometer zurückzulegen.«

»Ich frage mich«, sinnierte Pol und klopfte mit seinem Stift auf das Klemmbrett mit den erfreulichen Zahlen. »Der Wert verändert sich nicht, ganz gleich, wen wir in welche Richtung schicken. Wie lange würden sie wohl brauchen, um, sagen wir Seminole oder die Fort-Festung im Norden zu erreichen?« Er sah die anderen fragend an.

Sean schüttelte zweifelnd den Kopf, aber Sorka war begeistert.

»Mein Bruder Brian arbeitet in der Festung. Duke kennt ihn so gut wie mich. Und ich habe viele Faxe von dort gesehen. Zu Brian würde er gehen.« Duke kam angeflogen und landete auf Sorkas Schulter, als wisse er, daß über ihn gesprochen wurde. Sie lachte. »Seht ihr, er macht mit!«

»Er kommt vielleicht, wenn er gerufen wird«, sagte Sean, »aber wird er auch ein Ziel ansteuern, zu dem man ihn schickt? Landing ist etwas anderes, das kennen sie alle gut.«

»Wir müssen es eben versuchen«, entschied Pol. »Und jetzt ist eine gute Zeit, um Brian in der Fort-Festung zu erreichen.« Er tippte eine Nummer auf dem Komgerät. »Ein Segen, daß der Turm funktioniert. Ach ja, hier Pol Nietro. Ich muß dringend mit Brian Hanrahan sprechen… ich sagte dringend! Hier ist Pol Nietro. Dann holen Sie ihn! Idioten«, murmelte er vor sich hin. »Ist das ein wichtiger Anruf?«

Als Brian an den Apparat kam, war er überrascht, die Stimme seiner Schwester zu hören. »Sag mal, was soll das denn? Du kannst doch hier nicht einfach eine Vorzugsbehandlung verlangen. Ich versichere dir, daß Mick bei Mutter bestens aufgehoben ist. Sie vergöttert ihn.«

Seine etwas ärgerliche Stimme war für alle deutlich zu verstehen, und Sorka war konsterniert über seine wenig entgegenkommende Reaktion. Sean nahm ihr das Funkgerät aus der Hand.

»Brian, hier Sean. Marco Galliani und sein Drache Duluth sind gestern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Wir versuchen zu verhindern, daß so etwas noch mal passiert. Wir bitten dich nur um ein paar Minuten deiner Zeit. Und das hat Vorrang.«

»Marco und Duluth?« Jetzt klang Brians Stimme zerknirscht. »Himmel, wir haben nichts davon gehört. Es tut mir leid. Was kann ich tun?«

»Bist du im Freien? An einer Stelle, wo du aus der Luft leicht zu finden bist?«

»Ja. Warum?«

»Dann beschreibe Sorka genau, wo du bist. Ich übergebe an sie.«

»Hölle und Verdammnis, Sorka, tut mir leid, daß ich dich so angefahren habe. Also, ich bin im Freien. Hast du das letzte Fax gesehen? Nun, ich stehe ungefähr zwanzig Meter von der neuen Rampe entfernt. Bei den Veterinärshöhlen. Man hat sie endlich etwas höher gemacht, und etwa einen Meter von mir liegt ein riesiger Steinhaufen, der fast so groß ist wie ich. Was soll ich jetzt tun?«

»Bleib einfach stehen. Ich schicke Duke zu dir. Wenn ich ›los‹ sage, schaltest du deine Stoppuhr ein.«

»Also weißt du, Schwesterchen«, begann er ungläubig, »du bist doch in der Bucht von Kahrain, oder nicht?«

»Brian! Mach bitte, was ich sage, nur dieses eine Mal!«

»Schön. Ich bin bereit, die Stoppuhr einzuschalten.« Es klang noch immer beleidigt.

Sorka hob den Arm, um Duke in die Luft zu werfen. »Flieg zu Brian, Duke. Er ist an dem neuen Ort! Hier!« Sie kniff die Augen zu und stellte sich mit aller Kraft Brian an der von ihm beschriebenen Stelle vor. »Los, Duke.«

Mit einem überraschten Quäken hob Duke ab und verschwand.

»Mark!« schrie Sorka.

»He, ich höre dich laut und deutlich, Schwester. Du brauchst nicht zu brüllen. Ich weiß nicht, was das Ganze eigentlich soll. Du willst doch wohl nicht behaupten, daß ein Feuerzwergdrache - Himmel!« Brians Stimme wurde ganz leise vor Staunen. »Verdammt, das ist unglaublich. Scheiße! Ich habe vergessen, die Zeit zu nehmen.«

»Das macht nichts«, sagte Sorka und nickte entzückt mit dem Kopf. »Wir haben dein ›Himmel‹ mitgestoppt.«

Pol sprang auf und ab, schwenkte seinen Armbandchronometer und schrie: »Acht Sekunden! Acht Sekunden!«

Er faßte Bay um die Taille und tanzte mit ihr herum. Sean hob Sorka hoch und küßte sie, während Mariah und Blazer mit einem riesigen Schwarm flötender Zwergdrachen in einem schwindelerregenden Reigen durch die Luft wirbelten.

»Acht Sekunden bis zur Festung, nur acht Sekunden«, keuchte Pol und blieb taumelnd stehen. Bay hielt sich an ihm fest.

»Das ergibt keinen Sinn, oder?« fragte Bay schwer atmend, eine Hand auf die Brust gelegt. »Die gleiche Zeit für fünfzig Kilometer wie für beinahe dreitausend.«

»He, Sorka«, ertönte Braians vorwurfsvolle Stimme. Sie hielt sich das Funkgerät wieder ans Ohr und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Ich muß wirklich gehen, aber was soll ich mit Duke machen, nachdem er jetzt hier ist?«

«Sag ihm, er soll zu mir zurückkommen. Und gib uns ein Zeichen, wenn er verschwindet.«

»Gut. Mache ich. Auf die Plätze… Duke, suche Sorka! Sorka! Suche - er ist fort. Mist! Jetzt!«

Am Strand der Bucht von Kahrain drückten vier Finger auf die Knöpfe von Stoppuhren, vier Augenpaare wandten sich nach Westen und schauten in den heißen Nachmittagshimmel, vier Stimmen zählten die Sekunden.

»Sechs… sieben… acht… Er hat's geschafft!«

In die Freude mischte sich neue Gewißheit, als Duke fröhlich piepsend wieder auf Sorkas Schulter landete und seine kalte Schnauze an ihrer Wange rieb.

»Das war wirklich sehr zufriedenstellend und wirkungsvoll«, strahlte Bay.

»Bitte, Bay, erzählen Sie es Emily!« bat Sean und schob seine Hand unter Sorkas Ellbogen. »Wir müssen jetzt wohl unser heutiges Pensum an Lastenschlepperei hinter uns bringen.«

»Der Tod des Galliani-Jungen hat sich also als Katalysator erwiesen?« fragte Paul Benden, als er an diesem Abend mit Emily am Komgerät Neuigkeiten austauschte.

»Pol und Bay sind sehr viel zuversichtlicher«, antwortete Emily, der die Tragödie immer noch mehr zu schaffen machte, als sie eigentlich verstehen konnte. Aber sie wußte ja, daß sie müde war. Selbst jetzt, während sie mit Paul sprach und hoffte, von ihm irgendwelche tröstlichen Nachrichten vom Nordkontinent zu erhalten, beschäftigte sich ein Teil ihrer Gedanken noch immer mit all den Dingen, die einfach erledigt werden mußten.

»Telgars Gruppe hat sich gewaltig angestrengt, Em. Die Unterkünfte sind großartig. Man merkt gar nicht, daß man sich fünf oder zehn Meter tief in massivem Fels befindet. Cobber und Ozzie sind in sieben Tunnel ein paar hundert Meter weit vorgedrungen. Es gibt sogar ein Krähennest für Ongolas Funkausrüstung, man hat es hoch oben in die Klippenwand hineingehauen. Der Höhlenkomplex ist groß genug, um die gesamte Bevölkerung von Landing aufzunehmen.«

»Nicht jeder will in einem Loch unter der Erde leben, Paul.« Emily sprach auch für sich selbst.

»Es gibt eine ganze Reihe von ebenerdigen Höhlen, mit direktem Zugang von außen«, beschwichtigte er sie. »Warte nur, du wirst schon sehen. Wann kommst du eigentlich? Ich muß mich beim nächsten Fädenfall sehen lassen, sonst schmeißen sie mich raus.«

»Wünsch dir das ja nicht!«

»Emily.« Pauls etwas schnoddriger Tonfall wurde ernst. »Laß dich von Ezra ablösen. Er und Jim sollen das Verladen dirigieren. Die Transporte und die Wartung der Schlitten und Gleiter können andere übernehmen. Pierre müßte auch hier sein, um die Verpflegung der Leute zu organisieren. Er hat hier die größten Küchenräume auf ganz Pern.«

»Eine willkommene Abwechslung nach der größten Grillgrube! Ich mache mir Sorgen wegen der Drachen, Paul.«

»Ich glaube, damit müssen sie selbst klarkommen, Emily. Und nach allem, was du mir berichtet hast, werden sie das wohl auch schaffen.«

»Danke, Paul«, sagte sie mit Nachdruck. Die Sicherheit in seiner Stimme hatte ihr neuen Mut gegeben. »Ich werde mir morgen einen Platz im Abendschlitten reservieren.«

Nach der Aufregung über Dukes Flug nach Norden war es nicht mehr so spannend, die Zwergdrachen zwischen Landing und Kahrain hin- und herzuschicken, aber es war doch ein Zeitvertreib auf der ermüdend langen Reise. Auf dem Rückweg ließ Sean die Drachenreiter üben, in geschlossener und weit auseinandergezogener Formation zu fliegen und, was noch wichtiger war, günstige Luftströmungen zu erkennen und auszunützen.

An diesem Abend machten sie ein größeres Lagerfeuer, und Pol und Bay schlüpften ebenfalls in den Kreis, um mit den anderen zu besprechen, was sie bei den Zwergdrachen beobachtet hatten, und zu überlegen, wie sich dies auf die Drachen anwenden ließ. Es war gar nicht nötig gewesen, daß Sean so eindringlich zur Vorsicht mahnte: Marco und Duluth waren allen noch sehr lebhaft im Gedächtnis. Um keinerlei trübsinnige Gedanken aufkommen zu lassen, schlug Sean vor, am nächsten Tag weiter das Formationsfliegen zu exerzieren; beim Kampf gegen die Fäden würde es ihnen zugute kommen.

»Wenn man weiß, wo man sich in bezug auf andere Geschwaderflieger befindet, weiß man auch immer, wohin man zurückkehren muß«, betonte er.

»Eure Drachen sind noch sehr jung für diese Spezies«, schaltete sich Pol ein, als er sah, wie bereitwillig diese Anregung aufgenommen wurde. »Die Zwergdrachen zeigen keinerlei Verfallserscheinungen. Mit anderen Worten, sie altern, physiologisch gesehen, nicht so wie wir.«

»Soll das heißen, daß sie auch weiterleben, nachdem wir tot sind?« fragte Tarrie erstaunt und blickte sich nach Porth um, die wie ein dunkler Schatten vor den Pflanzen aufragte.

»Nach allem, was wir festgestellt haben ja, Tarrie«, antwortete Pol.

»Unsere wichtigsten Organe sind vom Verfall bedroht«, fuhr Bay fort, »obwohl die moderne Technologie vieles reparieren oder ersetzen kann und uns damit ein langes, aktives Leben ermöglicht.«

»Es ist also unwahrscheinlich, daß sie krank werden oder dahinsiechen?« strahlte Tarrie.

»Das glauben wir jedenfalls«, antwortete Pol, hob jedoch warnend den Finger. »Aber schließlich haben wir auch noch keine alten Zwergdrachen gesehen.«

Sean schnaubte verächtlich, und Sorka schwächte die Reaktion mit einem Lachen ab. »Wir können eigentlich nur nach unserer Generation urteilen«, sagte sie. »Außerdem lassen sich nur unsere eigenen Tiere von uns behandeln, weil sie uns vertrauen, und sie haben gewöhnlich nicht mehr als ein paar Kratzer oder Brandwunden und hin und wieder eine Hautabschürfung. Ich finde es tröstlich zu wissen, daß die Drachen ebenso langlebig sein könnten.«

»Solange wir keine Fehler machen«, mahnte Otto Hegelman düster.

»Dann dürfen wir eben keine Fehler machen!« Sean sagte es entschieden. »Und damit es nicht dazu kommt, werden wir uns morgen in drei Gruppen aufteilen. Sechs, sechs… und fünf. Wir brauchen drei Anführer.«

Obwohl Sean niemanden benannt hatte, wurde er selbst sofort gewählt. Nach kurzer Diskussion entschied man sich außerdem für Dave und Sorka.

Später, als Sorka und Sean es sich zwischen Faranth und Carenath im Sand bequem gemacht hatten, umarmte sie ihn lange und gab ihm einen Kuß.

»Womit habe ich das verdient?«

»Du hast uns allen Hoffnung gegeben. Aber ich mache mir Sorgen, Sean.«

»Ach?« Sean entfernte ihr Haar von seinem Mund und wühlte sich mit seiner linken Schulter tiefer in den Sand.

»Ich glaube, wir sollten nicht zu lange warten, bis wir zu teleportieren versuchen.«

»Ganz meine Meinung, und ich bin Pol und Bay dankbar für ihre Äußerungen zur Langlebigkeit der Drachen. Hat mich auch aufgemuntert.«

»Solange wir also den Kopf nicht verlieren, behalten wir auch unsere Drachen.« Sie kuschelte sich an ihn.

»Ich wünschte, du hättest dein Haar nicht abgeschnitten, Sorka«, murrte er und zog sich wieder eine Locke aus dem Mund. »Früher hatte ich nicht so viel davon zwischen den Zähnen.«

»Unter dem Reithelm ist kurzes Haar praktischer«, murmelte sie schläfrig. Dann schliefen sie beide ein.

Die Pakete und die in Plastik verpackten Geräte in Landing wurden zwar zusehends weniger, aber die an der Bucht von Kahrain lagernde Fracht konnte nicht so schnell weggeschafft werden. Als Sean am zweiten Abend den Reitern seines Geschwaders beim Abladen half, entdeckte er einen der Frachtaufseher, der an einem behelfsmäßigen Schreibtisch saß und auf einen kleinen tragbaren Bildschirm blickte.

»Morgen bringen wir den Rest der Sachen aus Landing, Desi«, versicherte ihm Sean.

»Großartig, Sean, großartig«, sagte Desi kurz und winkte ab.

»Was zum Teufel ist los, Desi?« fragte Sean.

Die scharfe Frage ließ den anderen überrascht aufsehen. »Was los ist? Ich soll einen ganzen Strand voll Zeug wegschaffen und habe keine Transportmittel.« Desis Gesicht war so verzerrt vor Anspannung, daß Seans Ärger verflog.

»Ich dachte, die großen Schlitten kommen zurück.«

»Sie müssen erst neu aufgeladen und gewartet werden. Ich wünschte, man hätte mir das früher gesagt.« Seine Stimme zitterte vor Frustration. »Alle meine Terminpläne… futsch. Was soll ich tun, Sean? Bald fallen hier wieder die Sporen, und der ganze Kram« - er wedelte mit einem schweißnassen Lappen zu dem Stapel orangefarbener Kartons hin -»ist unersetzlich. Wenn nur…« Er brach ab, aber Sean konnte sich gut vorstellen, was er eigentlich hatte sagen wollen. »Ihr habt großartige Arbeit geleistet, Sean, ich weiß das wirklich zu schätzen. Wieviel ist noch zu holen, sagtest du?«

»Morgen haben wir alles ausgeräumt.«

»Hör mal, einen Tag später…« Desi rieb sich wieder das Gesicht, um zu verbergen, daß er rot geworden war. »Na ja, ich habe es von Paul gehört. Er will, daß ihr Reiter euch auf den Weg nach Seminole macht und von dort aus weiter nach Norden fliegt. Und…« Desi verzog wieder das Gesicht.

»Und wir sollen einen Teil der orange kodierten Stücke aus der Gefahrenzone bringen?« Sean spürte, wie erneut Groll in ihm aufstieg. »Na ja, wohl immer noch besser, als wenn man zu gar nichts taugt.« Er entfernte sich mit langen Schritten, ehe sein Temperament mit ihm durchging.

Faranth und Sorka kommen, teilte ihm Carenath bedrückt mit. Sean änderte die Richtung und ging ihnen entgegen. Er konnte Sorka nicht täuschen, aber beim Entladen konnte er doch einen Teil seiner Wut loswerden.

»Also, was ist passiert?« fragte Sorka und zog ihn auf die dem Meer zugewandte Seite ihrer Drachenkönigin, wo sie von den anderen Reitern, die immer noch Pakete nach Farbkodierungen sortierten, nicht gesehen werden konnten.

Sean schlug sich mehrmals heftig mit der Faust auf die Handfläche, ehe er seine Demütigung in Worte fassen konnte.

»Man sieht uns nur als elende Packtiere an, als Lastesel mit Flügeln!« sagte er schließlich. Wenigstens dämpfte er seine Stimme, obwohl er vor Wut schäumte.

Faranth drehte den Kopf und betrachtete die beiden Reiter, in ihren blauen Augen glommen rote Funken auf. Carenath schob seinen Kopf über ihren Rücken. Dahinter hörte Sean die anderen Drachen murren. Ehe er wußte, wie ihm geschah, waren er und Sorka von Drachen umringt, und ihre Reiter strebten dem Zentrum des Kreises zu.

»Jetzt sieh mal, was du angerichtet hast«, seufzte Sorka.

»Was ist los, Sean?« fragte Dave und drängte sich an Polenth vorbei.

Sean holte tief Luft und schluckte seinen Zorn und seinen Groll hinunter. Wenn er sich selbst nicht unter Kontrolle hatte, konnte er auch andere nicht kontrollieren.

Die Augen der Drachen, die auf ihn hinunterblickten, loderten in erschrockenem Gelb. Er mußte sie, sich selbst und die anderen Reiter beruhigen. Sorka hatte recht. Er hatte etwas angerichtet, was er schleunigst wiedergutmachen mußte.

»Offenbar sind wir das einzige verfügbare Lufttransportmittel«, sagte er und brachte so etwas wie ein Lächeln zustande. »Desi sagt, alle großen Schlitten sitzen erst einmal fest, bis sie gewartet werden können.«

»He, Sean«, protestierte Peter Semling und zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf die Massen von Gütern am Strand. »Das können wir aber nicht alles wegschaffen!«

»Ausgeschlossen.« Sean wehrte mit einer entschiedenen Handbewegung ab. »Das verlangt man auch nicht von uns.

Wenn wir Landing geräumt haben, möchte Paul, daß wir nach Seminole fliegen und von dort die letzte Etappe nach Norden antreten. Das ist in Ordnung.« Sein Lächeln wurde wehmütig. »Aber Desi hätte gern, daß wir einen Teil der unersetzlichen Dinge mitnehmen.«

»Solange allen klar ist, daß wir keine Fuhrleute sind«, sagte Peter gekränkt. Er empfand offenbar ebenso wie Sean.

»Das ist gar keine Frage, Pete«, erklärte Sean entschieden. »Wir machen Fortschritte als Drachenreiter, gute Fortschritte. Aber Desi steht mit dem Rücken an der Wand, und er braucht uns.«

»Ich wünschte nur, wir würden für das gebraucht, was wir eigentlich tun sollen«, bemerkte Tarrie.

»Sobald wir unsere Verpflichtungen hier erfüllt haben«, sagte Sean, »werden wir uns darauf konzentrieren und nur darauf. Ich habe mir vorgenommen, daß wir alle teleportieren können, bis wir Seminole erreichen.«

»An Orte, die wir nie gesehen haben?« fragte der praktisch denkende Otto.

»Nein, an Orte, wo wir kurz zuvor gewesen sind. Betrachtet unseren Flug nach Seminole als Chance, euch die wichtigsten Besitzungen im Süden anzusehen«, antwortete Sean lebhaft und stellte überrascht fest, daß er selbst an seine Worte glaubte. »Wir brauchen derartige Bezugspunkte, um zu teleportieren, wenn wir gegen Fäden kämpfen.« Sorkas Gesicht glühte vor Stolz, weil es ihm gelungen war, nicht nur seinen eigenen Zorn in die Gewalt zu bekommen, sondern auch den anderen das Vertrauen in eine würdevolle Zukunft wiederzugeben. Über ihren Köpfen erlosch das gelbe Funkeln in den Drachenaugen. »Ich rieche Essen. Ich habe Hunger. Kommt, wir haben es uns verdient.«

»Wir müssen die Drachen jagen lassen, ehe wir über den ganzen Kontinent flitzen«, sagte Peter und deutete mit dem Kinn auf die Tierpferche.

Emilys versteckter Warnung eingedenk, schüttelte Sean lächelnd den Kopf. »Zweimal können wir uns das nicht erlauben, Pete. Morgen machen wir Jagd auf die Biester, die uns in der Umgebung von Landing bisher entgangen sind.« Er drängte sich zwischen den Drachen hindurch. »Morgen kannst du dich satt essen, Carenath«, sagte er und versetzte seinem Bronzedrachen im Vorbeigehen einen liebevollen Stoß.

Mit Fisch ? quengelte Carenath.

»Mit Fleisch. Mit rotem Fleisch«, versprach Sean. Als einige Drachen freudig zu trompeten anfingen, lachte er. »Aber diesmal werden wir es nicht für euch stehlen.«

Dann legte er den Arm um Sorka und ging auf den Strand und die Kochfeuer zu.

Als die drei Drachengeschwader am nächsten Tag den Jordan überquerten, schwärmten sie in drei verschiedene Richtungen aus, umgingen die unter einer Ascheschicht liegende Siedlung und strebten in geringer Höhe nach Süden und dann nach Osten.

Faranth sagt, sie hat laufendes Fleisch gefunden, meldete Carenath seinem Reiter. Stimmt das?

Sean hatte sein Fernglas auf ein kleines Tal gerichtet. Sie befanden sich nördlich der Bahn der beiden Fädeneinfälle, die dieses Gebiet betroffen hatten, daher gab es noch Vegetation, die Pflanzenfresser anlockte.

»Sag ihr, wir haben eine Goldgrube entdeckt.«

Kein Fleisch? fragte Carenath traurig.

Sean grinste und klopfte seinem Drachen auf die Schulter. »Doch, es ist Fleisch, aber unter einem anderen Namen. Und diesmal so viel, wie ihr fressen könnt«, fügte er hinzu, als die kleine, aus Rindern und Schafen gemischte Herde davonstürmte, um der Gefahr aus der Luft zu entgehen. Er gab dem Rest seines Geschwaders mit den übertriebenen Armbewegungen, die sie geübt hatten, ein Zeichen. Da die Drachen sich untereinander verständigen konnten, hatten die Reiter auf Funkgeräte verzichtet, aber Sean hatte die von Pol beschafften erhalten. Sie waren zwar zu wertvoll, um zu riskieren, daß sie aus großer Höhe herunterfielen, aber auch zu nützlich, um sie wieder abzugeben. »Setze mich auf diesem Grat ab, Carenath. Dort ist auch genügend Platz für die anderen.«

Porth sagt, es gibt genug für uns alle, meldete Carenath, als er elegant aufsetzte und die Schulter beugte, damit Sean absteigen konnte.

»Sag Porth, wir danken ihr, aber du solltest dich beeilen, um diese Schar einzuholen«, riet ihm Sean. Die Herde raste aus Leibeskräften das Tal hinunter. Sean hielt sich die Hände vor das Gesicht, denn Carenath hatte bei seinem überstürzten Aufbruch Kies und die überall vorhandene Asche aufgewirbelt. Helle Streifen erschienen hinter dem Bronzedrachen. »Herzlich willkommen«, sagte Sean ironisch, als er zwischen den kleinen farbigen Feuerechsenkörpern, die Blazer folgten, auch blaue und grüne entdeckte.

Der Rest seines Geschwaders war bald zur Stelle. Sogar Nora Sejby und Tenneth schafften eine akzeptable Landung; Nora verbesserte sich immer mehr. Mehr Sorgen machte ihm Catherine Radelin-Doyle, die seit der Tragödie kein einziges Mal mehr mit Singlath gekichert hatte. Nyassa, Otto und Jerry Mercer, damit war die Gruppe vollständig. Sobald auch die anderen Drachen zur Jagd gestartet waren, richtete Sean sein Fernglas auf Carenath und sah gerade noch, wie der Bronzedrache herabstieß und sich, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern, einen Stier schnappte.

»Gut gemacht, Carenath!« Sean reichte das Glas an Nyassa weiter, damit sie Milath beobachten konnte.

»Mir schienen in der Herde ziemlich viele Rinder zu sein«, sagte Jerry, nahm seinen Helm ab und fuhr sich durch das verschwitzte Haar. »Was soll aus ihnen werden?«

Sean zuckte die Achseln. »Das beste Vieh wurde nach Norden gebracht. Die hier werden überleben oder auch nicht.«

»Sean, sieh mal, wer zum Essen gekommen ist!« Nyassa zeigte nach Norden, wo die unverwechselbaren Silhouetten von fünf Wherries aufgetaucht waren. »Ran an den Feind!« fügte sie hinzu, als fünf Feuerzwergdrachen auf die Eindringlinge losgingen. »Ihr müßt schon warten, bis ihr an die Reihe kommt!«

»Ich habe einen Imbiß mitgebracht«, sagte Catherine und befreite sich von ihrem Rucksack. »Warum sollen wir nicht auch Mittagspause machen?«

Sean erklärte die Jagd für beendet, als jeder Drache zwei Tiere verschlungen hatte. Carenath beklagte sich, er habe nur ein großes Tier bekommen und brauche daher noch zwei von der kleineren Sorte. Sean erklärte ihm, dann würde sein Bauch so voll sein, daß er nicht mehr fliegen könne, und sie hätten noch einiges zu tun. Die Drachen murrten, und Carenath bemerkte hinterhältig, daß auch Faranth noch hungrig sei, aber Sean ließ sich nicht umstimmen, und die Drachen fügten sich.

Sobald sie in der Luft waren, formierte Sean sein Geschwader.

»Paß auf, Carenath«, sagte er und dachte erleichtert, daß dies die letzten Lasten in Landing waren. »Jetzt kehren wir so schnell wir können zum Turm zurück und bringen das hinter uns!«

Er hob den Arm und ließ ihn fallen.

Im nächsten Augenblick waren er und Carenath von einer so absoluten Schwärze umgeben, daß Sean glaubte, sein Herz sei stehengeblieben.

Ich werde nicht in Panik geraten! ermahnte er sich mit aller Kraft und verdängte die Erinnerung an Marco und Duluth. Sein Herz raste, und er spürte die betäubende Kälte des schwarzen Nichts.

Ich bin hier!

Wo sind wir, Carenath ? Aber Sean wußte es bereits. Sie waren im Dazwischen. Er konzentrierte seine Gedanken intensiv auf ihr Ziel und rief sich das merkwürdig matte Licht in Erinnerung, in das Landing dank der Asche getaucht war, die Form des Wetterbeobachtungsturms, das flache Landegitter davor, die Bündel, die dort auf sie warteten.

Wir sind am Turm, erklärte Carenath ziemlich überrascht, und in diesem Augenblick waren sie auch tatsächlich dort. Sean war so erleichtert, daß er einen Schrei ausstieß.

Dann riß er plötzlich entsetzt die Augen auf. »Himmel! Was habe ich getan!« kreischte er. »Wo sind die anderen, Carenath! Sprich mit ihnen!«

Sie kommen, antwortete Carenath mit unerschütterlicher Ruhe und Zuversicht und kreiste über dem Turm.

Vor Seans ungläubigen Augen tauchte sein Geschwader, immer noch die Formation einhaltend, plötzlich hinter ihm auf.

»Bitte, Carenath, setz mich ab, ehe ich herunterfalle!« flüsterte Sean. Seine Erleichterung war so überwältigend, daß er sich ganz flau fühlte.

Als die anderen in den Landeanflug gingen, blieb Sean auf Carenath sitzen und ließ, halb staunend, halb entsetzt über das beispiellose Risiko, das er soeben rätselhafterweise überlebt hatte, alles noch einmal im Geist an sich vorüberziehen.

»Keeeeeeyoooo!« Nyassas triumphierendes Jodeln riß ihn aus seinen Gedanken. Sie schwenkte ihren Reithelm über dem Kopf, als Milath neben Carenath landete. Catherine und Singlath glitten auf der anderen Seite heran, Jerry Mercer und Manooth dahinter, und Otto und Shoth neben Tenneth und Nora.

»Hipp, hipp, hurra!« Jerry führte den Sprechchor an, während Sean sie alle anstarrte und nicht wußte, was er sagen sollte.

Es war doch ganz einfach. Du hast mir vorgedacht, wohin ich fliegen sollte, und dann habe ich es getan. Und du hast gesagt, ich soll so schnell wie möglich dorthin kommen. Carenaths Tonfall klang ein wenig vorwurfsvoll.

»Wenn das alles ist, warum haben wir dann so lange gewartet?« fragte Otto.

»Hat jemand eine Ersatzhose dabei?« fragte Nora kläglich. »Ich hatte solche Angst, daß ich mich naßgemacht habe. Aber wir haben es geschafft!«

Catherine kicherte, und das brachte Sean wieder zur Vernunft. Er gestattete sich ein Lächeln.

»Wir waren eben soweit!« stellte er mit lässigem Achselzucken fest, als er seine Reitriemen abschnallte. Dann merkte er, daß auch er irgendwo eine saubere Hose auftreiben mußte.

***

»Ich sagte, wir werden über Emilys Zustand Stillschweigen bewahren«, erklärte Paul barsch und sah Ongola, Ezra Keroon und den finster blickenden Joel Lilienkamp böse an. Er wollte nicht, daß Lilienkamp Wetten darüber annahm, ob sich Emily Boll von ihren zahlreichen Knochenbrüchen erholte oder nicht. Als sein Blick auf Fulmar Stone fiel, der mit gesenktem Kopf unaufhörlich an einem schmierigen Lappen zupfte, wich die Strenge aus seinem Gesicht. »Soweit es die Fort-Festung betrifft, ruht sie sich aus. Das ist nicht gelogen, das sagen auch der Arzt und alle Hilfssysteme, die ihren Zustand überwachen. Für Außenstehende ist sie beschäftigt - etwaige Anrufe werden zu Ezra geschaltet.«

Paul stand unvermittelt auf und begann in seinem neuen Büro, dem ersten Raum auf der Ebene oberhalb der Großen Halle, auf- und abzugehen. Aus den Fenstern hatte man einen freien Blick auf die in ordentlichen Reihen gestapelten Frachtgüter und Vorräte, die dieses Ende des Tals füllten. Mit der Zeit würde man alle diese Dinge in die großen, unterirdischen Kavernen von Fort verfrachten. Es war noch so viel zu tun, und er vermißte Emilys Unterstützung schmerzlich.

Er ertappte sich dabei, daß er an seinen Fingerprothesen herumrieb, und steckte energisch beide Hände in die Taschen.

Seine Stellung verlangte, daß er seine Betroffenheit für sich behielt, um nicht auch noch die anderen zu beunruhigen, die ohnehin unter großem Druck standen. Aber vor seinen engsten, vertrautesten Freunden konnte er sich die Ängste von der Seele reden, die sie alle teilten.

Das katastrophale Versagen der Gyros des großen Schlittens und der darauf folgende Absturz waren von den Bewohnern der Fort-Festung beobachtet worden, aber nur wenige hatten gewußt, daß die Gouverneurin an diesem Abend mitgeflogen war. Die Verletzungen des Piloten konnte man ehrlich zugeben, denn seine zwei gebrochenen Arme und die zahlreichen Schnittwunden würden problemlos heilen. Von den anderen Passagieren war niemand schwer verletzt worden, und die Helfer hatten Emily nicht erkannt, weil ihr aus einer Kopfwunde das Blut über das Gesicht strömte. Wenigstens so lange, bis sie sich auf dem Wege der Besserung befand, würde Paul nicht zulassen, daß die Tatsachen allgemein bekannt wurden. Bei dem Unfall waren außer dem Schlitten selbst auch einige unersetzliche Arzneimittel verlorengegangen, und da sich dies alles so kurz nach dem hastigen Auszug aus Landing ereignet hatte, mußte es heruntergespielt werden, um die Moral nicht zu gefährden.

»Pierre stimmt mir zu«, fuhr Paul fort. Er spürte den Widerstand der anderen, die unausgesprochene Überzeugung, daß dieses Vertuschungsmanöver seine Glaubwürdigkeit untergraben würde. »Er besteht sogar darauf. Emily würde es so wollen.« Während Paul weiter auf und ab ging, sah er unwillkürlich aus dem tiefen Fenster und wandte dann den Blick von der tiefen Furche ab, die der Schlitten vor zwei Tagen in den Boden gerissen hatte. »Ezra, lassen Sie das von jemandem planieren, ja? Ich muß es jedesmal sehen, wenn ich aus dem Fenster schaue.«

Ezra murmelte etwas und machte sich eine Notiz.

»Wie lange können wir damit rechnen, Emilys Zustand geheimhalten zu können?« fragte Ongola, in dessen Gesicht sich neue Sorgenfalten eingegraben hatten.

»Verdammt, Ongola, so lange, wie es nötig ist! Wir können den Leuten doch wenigstens eine zusätzliche Sorge ersparen, besonders, wenn wir keine positive Prognose haben.« Paul atmete tief durch. »Die Kopfwunde war nicht so schlimm kein Schädelbruch -, aber es hat eine Weile gedauert, bis man sie aus dem Schlitten herausholte. Das Trauma wurde nicht schnell genug behandelt, und wir haben nicht die Geräte, um den durch die vielen Knochenbrüche entstandenen Schock zu mildern. Sie braucht Zeit und Ruhe. Fulmar« - Paul drehte sich zu dem Ingenieur um -, »es wird doch heute ein Transportschlitten bereitstehen, um nach Süden zu fliegen, oder? Ich kann Desi nicht ständig vertrösten.«

»Alles mit orangefarbener Markierung ist unersetzlich«, fügte Joel hinzu und setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Wir haben zwar hier noch nicht einmal die Hälfte unter Dach gebracht, aber das Zeug wäre doch in unserem eigenen Vorgarten viel leichter zu schützen als auf einem lausigen Strand eine halbe Welt weit entfernt. Sonst muß Tillek noch mal zurückfahren und es holen. Und ich kann mir einen neuen Terminplan aus den Fingern saugen. Du könntest nicht vielleicht zwei Schlitten entbehren, Fulmar?«

Als Fulmar aufblickte, waren seine Augen vor Überanstrengung und Trauer so gerötet, daß sogar der hartgesottene Magaziner bestürzt zurückzuckte. Joel wußte, daß Stones Leute bis zum Umfallen gearbeitet hatten, um die großen Transportschlitten zu warten. Nur sich selbst gestand er ein, daß man den Schlittenabsturz eher dem Magazin zur Last legen konnte als den Wartungsmonteuren. Aber was konnte er schon tun, wenn man ihm einen Notfall nach dem anderen auflud?

»Wenn es geht, Fulmar«, sagte er etwas sanfter. »Sobald sie eben fertig sind.« Er verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Wir tun, was wir können, Admiral«, sagte Fulmar müde und rappelte sich auf. Er betrachtete den Lappen in seiner Hand, sah erstaunt, daß er zerfetzt war, und stopfte ihn in seine Hüfttasche.

»Ich weiß, Mann, ich weiß.« Paul führte den Ingenieur zur Tür und klopfte ihm verständnisvoll auf die Schulter. »Wenn Sie einen Augenblick Luft haben, Fulmar, stellen Sie mir doch bitte eine Liste mit den Wartungsterminen für die kleineren Maschinen zusammen. Ich muß wissen, wie viele ich für den nächsten Fädenfall zur Verfügung habe.«

»Niemand war schuld an dem Absturz«, sagte er, als Fulmar gegangen war, dann kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und ließ sich in seinen Stuhl fallen. »Fulmar macht sich Vorwürfe, weil er nicht früher auf einer Wartung bestanden hat. Genausogut könnte ich sagen, ich hätte Emily nicht drängen sollen, nach Norden zu kommen. Die Fracht in der Kabine war ungenügend gesichert. Aber, meine Herren, es ist töricht, in ein solches Ereignis mehr hineinzulesen als schlechte Koordination und ein fatales Zusammentreffen unglücklicher Umstände. Die Evakuierung von Landing ist einigermaßen geordnet vor sich gegangen. Man hatte neue Unterkünfte für uns bereit, und nun müssen wir genügend Personal und Maschinen auftreiben, um gegen die Sporen zu kämpfen.« Er hatte jede Hoffnung auf Unterstützung seitens der Zwergdrachen oder gar der Drachen aufgegeben.

***

»Was hast du getan?« schrie Sorka und wurde vor Zorn erst bleich und dann rot. In Faranths Augen begann es orange zu schillern, und sie senkte den Kopf. Carenath trompetete erschrocken.

Sean packte Sorka an beiden Armen, ihre Reaktion machte ihn seltsamerweise ärgerlich. Er hatte die anderen mit Mühe dazu bewegen können, mit der Verkündigung ihrer Heldentat noch zu warten, bis Sorkas Geschwader gelandet war.

»Aber Sorka, ich hatte das doch nicht geplant! Himmel, es war das letzte, was mir in den Sinn gekommen wäre. Ich habe Carenath nur gesagt, er soll so schnell wie möglich nach Landing zurückkehren. Und das hat er getan!«

Es war wirklich ganz einfach, sagte Carenath bescheiden. Ich habe es Faranth erzählt. Sie glaubt mir. Er drehte den Kopf und warf Sorka einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Wie… wie… haben es denn die anderen erfahren?« Wieder verschattete Furcht ihre Augen. Sie achtete nicht auf die allgemeine Aufregung ringsum, wo Seans Geschwader mit ihren Reitern herumtobte und alle durcheinanderredeten und sich lauthals in allen Einzelheiten erzählten, was geschehen war.

Er hat es ihnen gesagt, antwortete Faranth etwas scharf.

»Wir haben zwei Stunden gebraucht, um dahinterzukommen.« Sean lächelte und hoffte, auch Sorka ein Lächeln zu entlocken. Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu den anderen zurück. »Ich glaube«, er wählte seine Worte sehr sorgfältig, »wir haben alle vor Angst fast den Verstand verloren, nachdem Marco und Duluth so umgekommen waren. Jetzt wissen wir aus erster Hand, warum Marco in Panik geriet. Sorka, so etwas hast du noch nie erlebt, du spürst überhaupt nichts, nicht einmal deinen Drachen zwischen den Beinen. Otto hat es als totale sensorische Deprivation bezeichnet.«

Es ist dazwischen, sagte Carenath fast belehrend. Er und Faranth folgten ihren Reitern zurück zu den in Netzen verpackten Bündeln, die sie als letzte Last befördern würden. Die Drachen aus Seans Geschwader saßen im Kreis auf ihren Hinterbeinen und schüttelten sich gelegentlich die über all herumfliegende Asche ab. Faranth grollte tief in der Kehle, und Sean mußte grinsen. Die goldene Königin war ebenso skeptisch wie ihre Reiterin.

»Kann mir Faranth sagen, wie weit Daves Geschwader entfernt ist?« fragte er Sorka.

Sie kommen jetzt in Sicht, sagte Carenath, und gleichzeitig antwortete Sorka: »Faranth sagt, daß sie gerade in Sicht kommen«, und zeigte nach Nordosten. »Polenth sagt, die Jagd sei gut gelaufen. Fleisch!« Sorka lächelte kurz, und Sean nahm das als Zeichen, daß sie ihm schon halb verziehen hatte.

Natürlich gab es erneut erstaunte Ausrufe und neidvolle Glückwünsche, als Dave und seine Reiter die Nachricht hörten.

»Na schön«, sagte Sean, stieg auf eine Kiste und wandte sich an alle. »Wir machen jetzt folgendes, ihr Reiter! Wir teleportieren zur Bucht von Kahrain. Sie ist uns aus der Luft ebenso vertraut wie Landing, also ein ausgezeichneter Test. Carenath behauptet steif und fest, er habe den anderen Drachen gesagt, wohin sie fliegen sollten, aber es wäre mir lieber, wenn ihr Reiter euren Drachen selbst erklärt, was ihr von ihnen wollt. Ich glaube, das gehört ebenso zu den Flugvorbereitungen wie das Anschnallen und das Überprüfen des unmittelbaren Luftraums.« Er grinste sie an.

»Und was sagen wir ihnen?« fragte Dave und deutete mit dem Daumen nach Norden.

»Emily ist zum Admiral geflogen. Pol und Bay sollten mit dem ersten Schlitten zurückkommen.« Sean hielt inne, sah sich wieder um und warf dann Sorka einen langen Blick zu. Sie nickte zustimmend. »Ich glaube, wir behalten das vorläufig für uns. Wir überraschen sie mit dem fertigen Produkt, mit einsatzbereiten Drachen! Nur mit Hilfe eines Fax eine Feuerechse nach Norden zu schicken, ist eine Sache, aber ich würde sicherlich nicht riskieren, Carenath an einen Ort zu schicken, wo ich noch nie war.« Sean atmete noch einmal tief durch, nachdem er gesehen hatte, daß alle wohlwollend reagierten. »Desi sagte, wir sollen an der Küste entlang nach Seminole fliegen. Dabei haben wir genügend Zeit, um zur Übung jeweils zwischen dem gegenwärtigen und dem letzten Standort hin und her zu teleportieren. Auf diese Weise können wir uns genau einprägen, wie wir jede der größeren Besitzungen erreichen, wenn wir über ihnen Fäden bekämpfen müssen.«

»Ja, aber die Drachen speien noch kein Feuer«, erinnerte ihn Peter Semling.

»Überall an der Küste gibt es phosphinhaltiges Gestein. Wir haben alle beobachtet, wie die Feuerechsen die Steine kauen. Das ist das geringste Problem«, antwortete Sean wegwerfend.

»Von einem Ort zum anderen zu gelangen, ist eine Sache«, begann Jerry langsam. »Das haben wir jetzt gemacht. Wir begeben uns von hier« - Er streckte den linken Zeigefinger in die Höhe »nach dort.« Er hob den rechten Finger. »Und die Drachen tun die Arbeit. Aber wenn man Fäden oder einem Schlitten ausweichen muß…« Er brach ab.

»Duluth hat Marco völlig überrascht, und er hat durchgedreht.« Sean sprach schnell und zuversichtlich. »Offen gestanden, Jerry, dieses Dazwischen hat mir eine Heidenangst eingejagt, und ich wette, euch ist es nicht anders ergangen. Aber nachdem wir jetzt Bescheid wissen, werden wir uns darauf einstellen. Wir werden schnelle Ausweichmanöver planen.« Sean zog das Messer aus seinem Stiefelschaft und kauerte sich nieder. »Die meisten von uns haben bei Fadeneinfällen Schlitten oder Gleiter geflogen, wir haben also gesehen, wie das Zeug fällt… meistens jedenfalls.« Er zeichnete eine Reihe von langen, schrägen Streifen in die Asche. »Ein Reiter sieht, daß er sich auf Kollisionskurs mit den Sporen befindet… hier« - er setzte die Spitze ein -»und denkt einen Schritt weiter.« Er setzte die Spitze ein Stück nach vorne. »Wir müssen üben, auf diese Weise zu springen. Dazu muß man schnell reagieren. Wir sehen, daß die Feuerechsen diese Taktik ständig anwenden - sie erscheinen und verschwinden blitzartig -, wenn sie mit den Bodentrupps gegen die Fäden kämpfen. Wenn sie es können, können es auch die Drachen!«

Die Drachen beantworteten diese Herausforderung mit lautem Trompeten, und Sean grinste breit.

»Richtig?« Seans Frage stachelte die Reiter an.

»Richtig!« riefen alle begeistert und schwenkten zum Zeichen ihrer Bereitwilligkeit die Fäuste.

»Also dann!« Sean stand auf und klatschte laut in die Hände. Asche rieselte von seinen Schultern. »Wir laden auf und teleportieren nach Kahrain.«

»Und wenn uns jemand sieht, Sean?« fragte Tarrie ängstlich.

»Was gibt es denn schon zu sehen? Die fliegenden Lastesel tun doch nur das, wofür sie geschaffen wurden«, antwortete er bissig.

***

»Offensichtlich«, erklärte Paul den besorgten Piloten, »werden wir mit unserer dezimierten Luftstreitmacht nicht mehr ganz soviel Land schützen können wie früher.«

»Verdammt, Admiral«, sagte Drake Bonneau und runzelte die Stirn. »Unsere Energiezellen sollten doch angeblich für fünfzig Jahre reichen!«

»Das stimmt.« Joel Lilienkamp sprang wieder auf. »Bei normaler Beanspruchung. Aber man kann nicht behaupten, daß sie in letzter Zeit normal beansprucht oder auch nur normal gewartet worden wären. Und Fulmar und seine Leute können nichts dafür. Ich glaube, sie haben seit Monaten keine ganze Nacht mehr geschlafen. Nicht einmal die besten Mechaniker der Welt können aus einem Schlitten mit halb oder schlecht aufgeladenen Zellen die volle Leistung herausholen.« Er sah angriffslustig in die Runde, dann setzte er sich so heftig, daß der Stuhl auf dem Steinboden schaukelte.

»Wir haben also die Wahl, die Schlitten und Gleiter, die wir noch haben, mit größter Vorsicht zu behandeln, oder in einem Jahr überhaupt keine Flugzeuge mehr zu besitzen?« jammerte Drake.

Niemand antwortete sofort.

»Genau, Drake«, sagte Paul schließlich. »Geht mit den Flammenwerfern um eure Häuser herum und über die Gemüsegärten, die ihr habt retten können, haltet die Besitzung frei… und dankt welcher höheren Macht ihr wollt, daß wir den hydroponischen Anbau haben.«

»Wo sind eigentlich diese Drachen? Es waren doch achtzehn«, sagte Chaila.

»Siebzehn«, verbesserte Ongola. »Marco Galliani ist mit seinem Braunen Duluth in Kahrain umgekommen.«

»Entschuldigung, das hatte ich vergessen«, murmelte Chaila. »Aber wo sind die anderen? Ich dachte, sie sollten einspringen, wenn die Maschinen ausfallen.«

»Sie sind auf dem Weg von Kahrain hierher«, antwortete Paul.

»Und?« bohrte Chaila weiter.

»Die Drachen sind noch kein Jahr alt«, sagte Paul.

»Laut Windblütes« - die leise mißbilligende Reaktion auf diesen Namen entging ihm nicht -»Pols und Bays Prognosen werden die Drachen erst in zwei oder drei Monaten so weit ausgewachsen sein, daß man sie voll… einsetzen kann.«

»In zwei oder drei Monaten«, rief jemand verbittert, »werden wir achtzehn bis zwanzig weitere uneingedämmte Fädeneinfälle hinter uns haben!«

Fulmar erhob sich und wandte sich dem hinteren Teil des Raums zu. »In drei Wochen stehen drei völlig neu instandgesetzte Schlitten zur Verfügung.«

»Ich hörte, es seien noch weitere Wesen ausgeschlüpft«, sagte Drake. »Ist das wahr, Admiral?«

»Ja, das ist wahr.«

»Taugen die etwas?«

»Es sind sechs weitere Drachen«, sagte Paul mit mehr Zuversicht, als er wirklich empfand.

»Und damit werden sechs weitere junge Leute aus unseren Verteidigungstruppen abgezogen!«

»Und wir bekommen sechs weitere wartungsfreie, sich selbst vermehrende potentielle Kämpfer!« Paul erhob sich. »Man muß das Projekt aus dem richtigen Blickwinkel betrachten. Wir brauchen eine Luftverteidigung gegen die Sporen. Wir haben mit biotechnischen Mitteln eine einheimische Lebensform so verändert, daß sie diesen dringenden Bedarf decken kann. Und das werden sie tun!« Er legte seine ganze Überzeugungskraft in diese Worte. »In ein paar Generationen…«

»Generationen?« Der Aufschrei löste unter den durch die vorangegangenen unangenehmen Informationen ohnehin schon entmutigten Zuhörern zorniges Gemurmel aus.

»Drachengenerationen!« Paul hob die Stimme. »Die fruchtbaren Weibchen sind mit zweieinhalb bis drei Jahren so weit erwachsen, daß sie sich fortpflanzen können. Eine Drachengeneration beträgt also drei Jahre. Die Königinnen werden zehn bis zwanzig Eier legen. Wir haben zehn Goldene aus der ersten Brut und drei aus der zweiten. In fünf bis zehn Jahren steht uns ein unbesiegbares Luftverteidigungssystem zur Verfügung, mit dem wir diesen Eindringling schlagen können.«

»Ja, Admiral, und in hundert Jahren gibt es für die vielen Menschen keinen Platz mehr auf diesem Planeten!« Diese Vorstellung wurde mit nervösem Gelächter aufgenommen, und auch Paul lächelte und war dem anonymen Witzbold dankbar.

»So weit wird es nicht kommen«, sagte er, »aber wir werden ein einzigartiges Verteidigungssystem besitzen, das genau auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist. Und die Drachen machen sich auch in anderer Beziehung nützlich. Desi sagte mir, daß die Reiter auf dem Weg hierher nach Fort den Besitzungen Vorräte bringen. Ich glaube, Sie haben alle Ihre Anweisungen.«

Damit erhob sich Paul Benden und verließ schnell den Raum, dicht gefolgt von Ongola.

»Verdammt, Ongola, wo zum Teufel sind sie denn nun wirklich?« rief Paul, sobald sie unter sich waren.

»Sie melden sich jeden Morgen. Sie kommen gut voran. Von einer noch nicht ausgewachsenen Spezies können wir nicht mehr verlangen. Ich habe gehört, wie Bay Ihnen sagte, sie und Pol fürchteten, die Drachen könnten bei der Evakuierungsaktion gefährlich überanstrengt worden sein.«

Paul seufzte. »Sie haben schließlich keine andere Möglichkeit, hierher zu gelangen, jedenfalls nicht bei der gegenwärtigen Transportsituation.« Er stieg die gewundene Eisentreppe hinunter, die vom Verwaltungsgeschoß in den unterirdischen Laborkomplex führte. »Windblütes Personal muß anderweitig eingesetzt werden. Wir haben weder die Zeit noch die Arbeitskräfte oder die Mittel für weitere Experimente, ganz gleich, was sie sagt.«

»Sie wird sich an Emily wenden wollen!« antwortete Ongola.

»Dann wollen wir inständig hoffen, daß sie das auch kann! Haben Sie heute morgen schon von Jim gehört?« Paul war momentan mit schlechten Nachrichten so übersättigt, daß ihn zusätzliche Schläge nicht mehr allzusehr treffen konnten. Die Nachricht des letzten Tages, daß Jim Tilleks Konvoi, gerade als er an Boca vorbeisegelte, in einen plötzlich Sturm geraten war, der neun Schiffe zum Kentern gebracht hatte, war ihm fast bedeutungslos erschienen.

»Er meldet, daß es keine Toten gegeben hat«, beruhigte ihn Ongola, »alle Boote bis auf zwei konnten wieder flottgemacht werden und sind zu reparieren. Die Delphine bergen die Fracht. Für einige schwere Dinge werden wir allerdings Taucher einsetzen müssen. Glücklicherweise waren sie in flachem Wasser, und der Sturm dauerte nicht lange.« Ongola zögerte.

»Nur raus damit!« sagte Paul und blieb auf einem Treppenabsatz stehen.

»Es gab kein Ladungsverzeichnis, man kann also nicht feststellen, ob alles geborgen wurde.«

Paul sah Ongola gleichmütig an. »Hat er schon eine Vorstellung, wie lange ihn das aufhalten wird?« Ongola schüttelte den Kopf. »Ein Grund mehr, um Windblütes Leute umzubesetzen. Wenn alles vorbei ist, werde ich ein Wörtchen mit Jim reden. Es ist unglaublich, daß er eine so buntgemischte Flottille überhaupt so weit gebracht hat! Durch Nebel, Fädenfall und Sturm!«

Ongola stimmte ihm aus vollem Herzen zu.

***

Während Carenath mit äußerster Konzentration kaute, war Sean ein wenig zur Seite getreten und bemühte sich, seine Nervosität zu unterdrücken. Feuerzwergdrachen flitzten um die Drachen herum und zirpten ihnen offenbar aufmunternd zu. Duke und eine der anderen Bronzeechsen hatten kleine Steine gefunden und demonstrierten ihnen, wie sie zu zerkleinern waren. Die Drachen und ihre Reiter hatten das erforderliche phosphinhaltige Gestein auf einer Hochfläche auf halbem Weg zwischen dem Malayfluß und Sadrid entdeckt. Im Laufe der letzten paar Tage war es den Reitern wieder und wieder gelungen, von und zu vorgegebenen Landmarken zu teleportieren, und das hatte ihre Zuversicht gestärkt. Otto Hegelman hatte angeregt, jeder Reiter solle sich ein Log anlegen und sich darin Bezugspunkte für spätere Fälle notieren. Der Vorschlag war begeistert angenommen worden, obwohl man dazu erst einmal auf dem Malayfluß-Anwesen um Schreibmaterial bitten mußte. Zu ihrer Überraschung fanden sie dort nur Kinder vor, die von Phas Radamanths sechzehnjähriger Tochter beaufsichtigt wurden.

»Alle sind draußen und kämpfen gegen Fäden«, erklärte das Mädchen, legte den Kopf schief und sah die Drachenreiter, wie Tarrie später behauptete, eindeutig unverschämt an.

»Desi hat uns Vorräte für euch mitgegeben.« Sean bemühte sich, seinen Groll über die versteckte Kritik und das gegenwärtig so geringe Ansehen, in dem die Drachenreiter standen, zu unterdrücken, und winkte Jerry und Otto, das Frachtnetz ins Haus zu bringen. »Könnt ihr uns vielleicht ein paar Notizbücher überlassen?«

»Wozu?«

»Wir wollen eine Karte der Küstenlinie zeichnen«, erklärte Otto etwas von oben herab.

Das Mädchen sah ihn überrascht an, dann wich der feindselige Ausdruck aus seinem Gesicht. »Ich glaube schon. Da drüben im Schulzimmer liegt alles mögliche herum. Wer hat momentan schon Zeit für Unterricht?«

»Du bist wirklich sehr freundlich«, grinste Jerry und verneigte sich kurz zum Abschied.

Dieser Vorfall erhöhte die Entschlossenheit der Reiter, ihr Ziel noch vor Ende der Reise nach Westen zu erreichen.

»Du kannst ihm das Kauen wirklich nicht abnehmen, Sean«, sagte Sorka und reichte Faranth ein weiteres Stück. »Wieviel müssen sie denn fressen?«

»Wer weiß, wie lange man schüren muß, um ein Drachenfeuer in Gang zu kriegen?« rief Tarrie fröhlich. »Ich würde sagen« - sie wog einen Stein in ihrer Hand - »der ist vergleichbar mit den Kieseln, mit denen ich meinen goldenen Zwergdrachen immer gefüttert habe. Nicht wahr, Porth?«

Die Königin senkte gehorsam den Kopf und nahm den Stein entgegen.

»Die Zwergdrachen kauen mindestens eine Handvoll, bis sie Feuer spucken können«, sagte Dave Catarel, aber er beobachtete doch etwas skeptisch, wie Polenth mit der gleichen feierlichnachdenklichen Miene wie alle anderen seine Kiefer bewegte. »Schau, Sorka, dein Schwärm macht es ihnen vor!«

Duke stieß einen langen Feuerstoß aus, während Blazer zeternd in die Luft flatterte. In diesem Augenblick kreischte Porth auf, ihr Mund öffnete sich, und ein grünfleckiger Stein fiel dicht neben Tarries Fuß zu Boden. Porth klappte den Mund wieder zu und wimmerte.

»Was ist passiert?« fragte Dave.

»Sie sagt, sie hat sich auf die Zunge gebissen«, antwortete Tarrie und klopfte Porth mitfühlend auf die Schulter. »Tatsächlich. Seht nur!« Das grüne Blut auf dem Stein glitzerte im Sonnenlicht. »Soll ich nachsehen, Sorka? Vielleicht hat sie sich verletzt.«

»Was meint denn Porth dazu?« fragte Sorka mit routinierter Gelassenheit. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Drachen behandelt zu haben, der sich selbst gebissen hatte.

»Es tut weh, und sie will warten, bis es aufhört, ehe sie weiter Steine kaut.« Tarrie hob den Stein des Anstoßes auf und legte ihn auf den Haufen zurück, den sie zusammengetragen hatten.

Noch ein Drache schrie schmerzlich auf, Noras Tenneth war Porths schlechtem Beispiel gefolgt. Sean und Sorka tauschten besorgte Blicke, fuhren aber fort, ihren Drachen Feuerstein anzubieten.

Plötzlich rülpste Polenth, und vor seiner Nase zuckte eine winzige Flamme in die Höhe. Erschrocken sprang der Bronzedrache zurück.

»He, er hat's geschafft!« rief Dave stolz. »Puh!« stöhnte er dann und wedelte mit der Hand. »Stellt euch gegen den Wind, Leute. Das stinkt.«

»Vorsicht!« Sean sprang zur Seite, als Carenath aufstieß und alle mit einer ganz beachtlichen Flammenzunge überraschte, die beinahe seinen Reiter getroffen hätte. Über den Drachen drehten die Feuerechsen, abwechselnd freudig zirpend und Flammen speiend, ihre Kreise, und ihre Augen schillerten in zufriedendem Blau.

»Gegen den Wind und zur Seite, Reiter!« kommandierte Sean. »Versuch's noch einmal, Carenath!« Sean reichte ihm einen größeren Brocken.

»Himmel, das ist ja schrecklich!« rief Tarrie, als ihr der Wind den überwältigenden Schwefelgestank direkt ins Gesicht blies, und duckte sich hustend und Schutz suchend hinter Polenths Rücken.

»Wo Feuer ist, da riecht es auch«, witzelte Jerry. »Nein, Manooth, dreh den Kopf in die andere Richtung!«

Der braune Drache gehorchte, und im gleichen Augenblick schoß ein Flammenstrahl aus seinem Mund, und einige der kümmerlichen Büsche auf dem Plateau zerfielen zu Asche.

Jerry klopfte seinem Drachen triumphierend auf die Schulter. »Du hast es geschafft! Manooth! Du bist der Meisterspeier!«

Die anderen fütterten ihre Drachen mit neuer Hingabe weiter. Eine Stunde später hatten zwar alle Männchen Flammen produziert, aber keines der Weibchen. Obwohl die Goldenen unermüdlich gekaut hatten, hatten sie nur einen ekelhaften grauen Brei heraufgewürgt.

»Wenn ich das Programm richtig in Erinnerung habe«, versuchte Sean die enttäuschten Reiterinnen der Goldenen zu trösten, »gelangen die Königinnen erst mit fast drei Jahren zur Geschlechtsreife. Die Männchen sind… nun ja…« Er suchte nach einer taktvollen Umschreibung.

»Schon jetzt voll einsatzfähig«, ergänzte Tarrie nicht gerade entzückt.

»Selbst eine siebenköpfige Verstärkung wird man in Fort begeistert empfangen«, sagte Otto, ausnahmsweise bemüht, keine Überheblichkeit zu zeigen.

Sorka runzelte jedoch die Stirn, was für sie so ungewöhnlich war, daß sich Tarrie nach dem Grund erkundigte.

»Ich überlege nur. Kit Fing war doch so auf Tradition bedacht…« Sorka sah ihren Mann so lange an, bis er den Kopf senkte, weil er ihren Blick nicht mehr ertrug. »Schön, Sean, du kennst jedes Symbol in diesem Programm. Hat Kit Fing eine Geschlechtsdifferenzierung vorgesehen?«

»Eine was?« fragte Tarrie. Die anderen Reiterinnen drängten näher heran, während die jungen Männer sich diskret zurückzogen.

»Eine Geschlechtshemmung… das würde bedeuten, daß die Königinnen Eier legen und alle andersfarbigen kämpfen!« Sorka war empört.

»Es könnte auch ganz einfach sein, daß die Königinnen noch nicht ausgewachsen sind«, wollte Sean sie beruhigen. »Ich bin aus einigen von Kit Pings Gleichungen nicht schlau geworden. Vielleicht ist die Flammenproduktion geschlechtsreifen Tieren vorbehalten. Ich weiß nicht, warum alle Königinnen das Zeug ausgekotzt haben. Wir müssen Pol und Bay fragen, wenn wir nach Fort kommen. Aber warum sollt ihr Mädchen eigentlich nicht mit Flammenwerfern arbeiten können? Wenn man die Rohre ein wenig verlängert, besteht auch keine Gefahr, daß ihr aus Versehen eure Drachen versengt.«

Von diesem Vorschlag ließen sich die Reiterinnen vorläufig besänftigen, aber Sean hoffte inständig, Pol und Bay würden mit einer annehmbareren Lösung aufwarten können. Siebzehn Drachen waren eine viel imponierendere Streitmacht als sieben. Und er wollte unbedingt Eindruck machen, wenn die Drachenreiter in der Fort-Festung ankamen. Die einzige Last, die die Drachen jemals wieder tragen sollten, waren ihre Reiter und Feuerstein!

***

»Eigentlich«, sagte Telgar mit einem Blick auf Ozzie und Cobber, »haben sich Windblütes Photophoben bei unterirdischen Erkundungen als äußerst nützlich erwiesen, Paul. Sie haben einen untrüglichen Instinkt für verborgene Gefahren - Stolperfallen zum Beispiel, und blinde Tunnel.« Der Geologe zeigte sein freudloses Lächeln. »Ich würde sie gerne behalten, nachdem Windblüte sie sozusagen ausgesetzt hat«, erklärte er, an Pol und Bay gewandt.

»Ich bin froh, daß sie überhaupt zu etwas taugen«, sagte Pol mit einem tiefen Seufzer. Als man Windblüte aufforderte, das Drachenprogramm einzustellen, hatten er und seine Frau immer wieder versucht, vernünftig mit der empörten Genetikerin zu reden. Sie behauptete zwar, bei der überstürzten Verlegung von Landing nach Fort seien viele Eier in dem manipulierten Gelege beschädigt worden, aber Pol und Bay hatten die Obduktionsberichte gesehen und wußten, daß dies nicht stimmte. Sie hatten Glück gehabt, daß sechs lebensfähige Exemplare ausgeschlüpft waren.

»Sobald sie einmal Vertrauen gefaßt haben, sind sie ganz harmlos«, fuhr Telgar fort. »Cara ist ganz vernarrt in den jüngsten Nestling, und er läßt sie nicht aus den Augen, solange sie in der Festung ist.« Wieder zeigte er das starre Lächeln. »Nachts hält er vor ihrer Tür Wache.«

»Wir können aber nicht zulassen, daß sie sich unkontrolliert vermehren«, wandte Paul schnell ein.

»Dafür werden wir sorgen, Admiral«, versprach Ozzie feierlich, »aber die kleinen Dinger machen sich wirklich sehr nützlich.«

»Und stark sind sie. Schleppen mehr aus den Minen raus, als sie selbst wiegen«, fügte Cobber hinzu.

»Schon gut, schon gut. Haltet mir nur die Vermehrung in Grenzen.«

»Fressen alles«, fügte Ozzie noch hinzu, »einfach alles. Dadurch sorgen sie auch noch für Ordnung und Sauberkeit.«

Paul nickte wieder. »Ich will nur, daß Pol und Bay als Vertreter der Biologen gefragt werden, ehe es zur Fortpflanzung kommt.«

»Wir freuen uns jedenfalls sehr darüber«, sagte Bay. »Ich mochte diese Kreaturen nicht, aber ich kann auch nicht billigen, daß man Lebewesen, die sich als nützlich erweisen könnten, einfach ausrottet.«

Telgar stand unvermittelt auf, und Bay fragte sich schon, ob ihre Worte ihn wohl irgendwie an Sallahs Tod erinnert hatten, und machte sich insgeheim Vorwürfe, weil sie so unüberlegt dahergeredet hatte. Auch Ozzie und Cobber sprangen auf.

»Sie haben ja nun den Höhlenkomplex von Fort vollständig erkundet, Telgar«, sagte Paul und überspielte damit geschickt die aufkommende Verlegenheit. »Wie sehen denn Ihre weiteren Pläne aus?«

In den Augen des Geologen leuchtete ein Funke der Begeisterung auf. »Die Sondenberichte lassen auf Erzvorkommen in den Westbergen schließen, das wäre eine Alternative zum energieaufwendigen Transport von Karachi Camp. Es ist besser, wenn man die Rohstoffe in der Nähe hat.« Telgar verabschiedete sich abrupt mit einem Kopfnicken und verließ mit langen Schritten den Raum; Ozzie und Cobber murmelten noch ein paar Worte und folgten ihm.

»Wie sich der Mann verändert hat!« sagte Bay leise mit traurigem Gesicht.

Paul schwieg für eine Weile respektvoll. »Ich glaube, wir haben uns alle verändert, Bay. Nun, wie ist es, kann man gegen Windblütes Uneinsichtigkeit etwas unternehmen?«

»Nichts, solange sie nicht mit Emily persönlich sprechen kann«, sagte Pol, ohne eine Miene zu verziehen. Man hatte den beiden Wissenschaftlern den wahren Zustand der Gouverneurin, der sich auch zwölf Tage nach dem Unfall praktisch nicht verändert hatte, nicht verheimlichen können.

»Ich weiß nicht, warum sie Ihre Entscheidung nicht akzeptiert, Paul«, sagte Bay erregt.

»Tom Patrick sagt, Windblüte hat kein Vertrauen zur männlichen Hälfte dieser Regierung.« Paul grinste. Eigentlich fand er die Situation lächerlich, aber da Windblüte sich bis zu einer ›fairen Verhandlung‹ weigerte, ihre Räume zu verlassen, hatte er die Gelegenheit ergriffen und ihren Mitarbeitern produktivere Tätigkeiten zugewiesen. Die meisten waren darüber nicht unglücklich gewesen. »Sie werden natürlich die jungen Nestlinge weiterhin überwachen.«

»Selbstverständlich. Was hört man Neues von Sean und den anderen?« fragte Pol mit leichter Ungeduld. Er hatte mit Bay über die lange Abwesenheit der Drachenreiter gesprochen und fragte sich allmählich, ob sie sich nicht absichtlich soviel Zeit ließen. Beiden Biologen war bekannt, wie sehr Sean es verabscheute, wenn sie zu Botendiensten herangezogen wurden. Aber was konnte er erwarten? Jeder mußte tun, was er konnte. Auch Pol und Bay waren nicht gerade entzückt von Kwan Marceaus Projekt, die Maden aus dem Rasenstück auf Calusa zu überwachen, aber es war schließlich eine Aufgabe, bei der sie sich nützlich machen konnten.

»Sie müßten bald hier sein.« Weder Pauls Stimme noch seine Miene verrieten etwas von seinen Empfindungen. »Wann hat Kwan vor, seine Würmer probeweise im Norden auszusetzen?«

»Es sind eher Maden als Würmer«, belehrte ihn Pol. »Für einen Bodentest ist inzwischen eine ausreichende Anzahl vorhanden.«

»Das hört man wirklich gerne«, sagte Paul herzlich und stand auf. »Aber vergessen Sie nicht, morgen ist kein guter Tag für irgendwelche Tests!«

Pol und Bay sahen sich an. »Stimmt es, Admiral«, fragte Pol, »daß Sie nicht die ganze Fädenfront in den Bergen bekämpfen wollen?«

»Ja, Pol, das ist richtig. Es fehlt uns an Leuten, an Energie und an Schlitten, um mehr als die unmittelbare Umgebung zu schützen. Wenn also diese Maden irgendwie helfen könnten, wären wir Ihnen alle sehr dankbar.«

Als sie gegangen war, ließ Paul sich wieder in seinen Stuhl sinken und drehte sich zum Fenster, um in die Sternennacht hinauszuschauen. Hier im Norden war das Klima rauher als im Süden, aber in der kalten Luft waren die inzwischen vertrauten Sternbilder kristallklar zu erkennen. Manchmal konnte er sich beinahe einbilden, er sei wieder im Weltraum. Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich ans Terminal. Er mußte in dem deprimierenden Bericht, den Joel abgeliefert hatte, wenigstens eine Spur von Hoffnung finden.

Falls sie die Schlitten und Gleiter wirklich nur einsetzten, wenn es absolut unerläßlich war, würden sie vielleicht gerade so lange halten, bis die Materie der Oort'schen Wolke an Pern vorübergezogen war. Aber was würden sie tun, wenn sie wiederkam? Paul zuckte zusammen, als er daran dachte, mit welcher Arroganz Ted Tubberman einfach die Peilkapsel abgesetzt hatte. Hatte der Mann überhaupt gewußt, wie man sie richtig aktivierte? Ironie des Schicksals! Würde sie ihr Ziel erreichen, Würde man darauf reagieren? Mit Hilfe der hochtechnisierten Gesellschaft, von der sie sich losgesagt hatten, konnten seine Nachkommen überleben. Wollte er das? Hatten sie eine andere Wahl? Mit der entsprechenden Technologie konnte das Sporenproblem möglicherweise gelöst werden. Erfindungsreichtum und die Besinnung auf natürliche Mittel hatten bisher kläglich versagt.

Feuerspeiende Drachen! Eine lächerliche Vorstellung, ein Ammenmärchen. Und doch…

Entschlossen ließ Paul die nackten Zahlen vor sich abrollen, die ihm Auskunft über die schwindenden Vorräte der Kolonie gaben.

***

»Tarrie!« Peter Chernoff kam aus der Scheunenhöhle am Ostrand des Hauptquartiers des Seminole-Anwesens gestürmt, um seine Schwester zu begrüßen. Er war ein hochgewachsener junger Mann und konnte auf die Reiter hinabschauen, die ihn umringten. »Sagt mal, Leute, wo wart ihr denn die ganze Zeit?«

»Wir haben uns jeden Tag auf Fort gemeldet«, gab Sean überrascht zurück.

»Ich habe den gestrigen Bericht verfaßt und sogar mit Bruder Jake gesprochen«, fügte Tarrie mit ängstlicher Miene hinzu.

»Was ist los, Peter?«

Peter trat von einem Fuß auf den anderen, druckste herum und wollte nicht mit der Sprache heraus. »Die Lage wird immer schlimmer. Wir sollen überhaupt nicht mehr fliegen, wenn nicht höchste Katastrophengefahr besteht.«

»Deshalb haben wir also so viele Sporenschäden gesehen«, sagte Otto erschrocken.

Peter nickte ernst. »Und heute ist ein Fädenfall über der Fort-Festung angesagt, und die müssen es einfach tatenlos über sich ergehen lassen.«

»Ohne auch nur zu versuchen…« Dave Catarel war schockiert.

»Die Umsiedlung von Landing nach Norden war zuviel für die Schlitten und die Energiezellen.« Peter starrte auf sie hinunter und versuchte, ihre Reaktion abzuschätzen. »Außerdem wurde die Gouverneurin verletzt. Seit Wochen hat sie niemand mehr gesehen.«

»O nein!« Sorka lehnte sich haltsuchend an Sean. Nora Sejby begann leise zu weinen.

Peter nickte wieder auf seine ernste Art. »Es ist schlimm. Wirklich schlimm.«

Plötzlich wurde er von allen Seiten mit Fragen nach den jeweiligen Angehörigen bestürmt, die er beantwortete, so gut er konnte. »Hört mal, Leute, ich sitze auch nicht die ganze Zeit am Komgerät. Die Parole heißt abwarten und den Besitz mit den Bodentrupps so weit wie möglich zu schützen. HNO3 ist genügend vorhanden, und Tanks und Rohre sind leicht instandzuhalten.«

»Aber das Land nicht«, sagte Sean mit gebieterisch erhobener Stimme. Das Geplapper verstummte sofort, seine Reiter sahen ihn an. »Heute fallen Fäden über Fort, sagtest du. Wann?«

»In diesem Moment!« antwortete Peter. »Na ja, es fängt über der Bucht an…«

»Und ihr habt Flammenwerfer hier? Könnten wir zehn Stück bekommen?« fragte Sean eifrig.

»Bekommen? Na ja, das müßtet ihr Cos fragen, und der ist im Moment nicht da. Wozu braucht ihr denn zehn Flammenwerfer?«

Grinsend drehte sich Sean um und zeigte mit einer schwungvollen Handbewegung auf die Königinnen und ihre Reiterinnen. »Die Mädchen brauchen sie, um gegen die Sporen zu kämpfen! Und wir müssen uns beeilen, damit wir rechtzeitig dort sind!«

»Was redest du da?« Peter war wie vom Donner gerührt. »Der Fädenfall hat schon angefangen. Und ihr kommt doch nicht mal mehr über den Ozean, ehe er vorbei ist. Außerdem sollt ihr euch sofort, wenn ihr hier eintrefft, mit Fort in Verbindung setzen!«

»Peter, sei nett und widersprich mir nicht! Zeige den Mädchen, wo die Flammenwerfer aufbewahrt werden, und laß mich das letzte Fax von der Fort-Festung sehen. Oder besser noch von dem Hafen, den man, wie ich höre, inzwischen gebaut hat. Unsere Drachen sind viel schneller als die Flotte, die Jim Keroon anführt. Die hat noch nicht einmal die Westspitze von Delta passiert.«

Er ließ Peter keine Zeit zum Überlegen oder Protestieren, sondern gab Otto den Auftrag, Kopien der Anlage an der Mündung des Flusses bei der Fort-Festung zu machen. Tarrie redete so lange auf ihren Bruder ein, bis er ihnen zeigte, wo die Flammenwerfer gelagert wurden, und den Mädchen half, die Tanks herauszuholen. Mit großem Geflatter landeten die Königinnen am Magazin und gestatteten sogar, daß Sean, Dave und Shih Reservetanks auf ihrem Rücken befestigten. Sean wies Jerry und Peter Semling an, die Tragnetze mit Feuerstein auf den Rücken der Braunen und der Bronzedrachen zu kontrollieren. Peter Chernoff ging von einem Reiter zum anderen und bekniete sie, sie möchten doch aufhören. Was sollte er denn machen? Wie sollte er das alles erklären? Wann würden sie die Sachen zurückbringen? Sie könnten doch Seminole nicht wehrlos zurücklassen.

Dann waren die hektischen Vorbereitungen beendet, und die Bronzedrachen und die Braunen hatten soviel Feuerstein gefressen, wie sie nur hinunterbrachten.

»Riemen überprüfen!« brüllte Sean. Seine Stimme wurde allmählich recht kräftig. Natürlich brauchte er eigentlich gar nicht zu schreien, weil alle Drachen auf Carenath hörten, aber es regte seine Adrenalinproduktion an und ermutigte die anderen, die ihm bald in die Gefahr folgen würden.

»Überprüft!« kam prompt die Antwort.

»Wissen wir, wohin wir fliegen?« Um den anderen ein Beispiel zu geben, breitete Sean das flatternde Fax aus und warf einen letzten langen Blick auf die Küstenanlage mit dem Kai und dem bizarr wirkenden Entladekran auf den hohen Stahlpfeilern, die einst Bestandteil eines Raumschiffs gewesen waren.

»Wir wissen es!«

»Luftraum überprüft?«Er wandte den Kopf nach rechts und nach links, obwohl Carenath schon vor Ungeduld zitterte.

»Überprüft!«

»Vergeßt das Springen nicht! Es geht los!«

Sean richtete sich auf Carenaths Hals so weit auf, wie es die Reitriemen gestatteten, hob den Arm, schwenkte die Hand und ließ ihn dann fallen: das Signal zum Absprung.

Siebzehn Drachen starteten, schossen in zwei V-Formationen in den hellen, tropischen Himmel hinauf. Und dann verschwanden die V's vor Peter Chernoffs verwirrtem, ungläubigem Blick.

Peter blieb der Mund offen stehen, und er starrte noch lange hinterher. Dann drehte er sich auf dem Absatz um, rannte ins Büro und setzte sich ans Komgerät. »Fort, hier spricht Seminole. Fort, hört ihr mich? Wehe, wenn nicht!«

»Peter, bist du das?« fragte sein Bruder Jake.

»Tarrie war hier, aber sie ist schon wieder fort. Mit einem Flammenwerfer.«

»Reiß dich zusammen, Peter, du redest Unsinn.«

»Sie waren alle hier. Sie haben unsere Flammenwerfer und die Hälfte der Tanks mitgenommen und sind wieder abgeflogen. Alle. Gleichzeitig.«

»Peter, beruhige dich und rede vernünftig.«

»Wie kann ich vernünftig reden, wenn ich meinen eigenen Augen nicht mehr trauen kann!«

»Wer war da? Tarrie und wer noch?«

»Sie. Die die Drachen reiten. Sie sind nach Fort geflogen. Um gegen die Fäden zu kämpfen!«

***

Paul nahm den Hörer des Komgeräts ab. Alles war besser, als wie eine Muschel auf einem Schiffsrumpf in einem verdunkelten Raum zu sitzen, während draußen ein gefräßiger Organismus vom Himmel fiel.

»Admiral?« Schon aus diesem einzigen Wort war Ongolas Erregung zu hören. »Wir haben Nachricht, daß die Drachenreiter hierher unterwegs sind.«

»Sean und seine Gruppe?«

Paul begriff nicht, warum sich Ongola deshalb so aufregte.

»Wann sind sie aufgebrochen?«

»Wann immer sie aufgebrochen sind, Sir, sie sind bereits hier.« Paul fragte sich, ob sein unerschütterlicher Stellvertreter nun vor Enttäuschung endgültig den Verstand verloren hatte, denn er hätte schwören können, daß der Mann lachte. »Der Seehafen fragt an, ob sie sich an der Luftverteidigung der Anlagen beteiligen sollen?

Und, Admiral, Sir, ich habe es auf dem Sichtgerät! Unsere Drachen kämpfen gegen die Fäden! Ich schalte es auf Ihren Schirm.«

Paul wartete, bis sich der Bildschirm klärte und an Tiefe gewann, und dann sah auch er das Unglaubliche: winzige fliegende Wesen, aus deren Mündern ohne jeden Zweifel Feuerstrahlen auf den Silberregen schossen, der sich wie ein grausiger Vorhang über die Hafenanlagen senkte. Er sah es nur einen Augenblick lang, dann wurde das Bild von einer Fädenfront unterbrochen.

Er wartete nicht länger.

Hinterher wunderte sich Paul, daß er sich nicht den Hals gebrochen hatte, als er, drei Stufen auf einmal nehmend, nach unten stürmte. Er hetzte quer durch die Große Halle und die Metalltreppe hinunter zu den Garagen, wo die Schlitten und Gleiter abgestellt waren. Fulmar und ein Mechaniker beugten sich gerade über einen Gyro und starrten ihn überrascht an.

»Sie da, machen Sie die Türen auf. Fulmar, Sie kommen am besten mit. Vielleicht brauchen sie Hilfe.«

Er fiel fast in den nächsten Schlitten hinein und fummelte ungeschickt am Komgerät herum.

»Ongola, sagen Sie Emily, Pol und Bay, daß ihre Schützlinge es geschafft haben. Zeichnet das auf, bei allem, was heilig ist, bringt alles auf den Film, was ihr nur könnt.«

Paul ließ den Motor aufheulen, noch ehe Fulmar das Kanzeldach geschlossen hatte, und manövrierte den Schlitten unter der Tür durch, noch ehe sie voll geöffnet war - jedem anderen hätte er dafür die Hölle heiß gemacht. Dann schaltete er die Zündung ein und schoß wie ein Pfeil aus dem Tal nach oben. Sobald die schützenden Klippen von Fort unter ihm zurückblieben, konnte er die bedrohliche Fädenfront erkennen.

»Admiral, sind Sie verrückt geworden?« fragte Fulmar.

»Schalten Sie den Bildschirm ein, starke Vergrößerung. Verdammt, Sie brauchen ihn gar nicht, Fulmar, Sie können es mit bloßen Augen sehen!«

Paul fuchtelte wild durch die Luft.

»Sehen Sie die Flammen? Die Feuerstöße? Ich zähle vierzehn, fünfzehn. Die Drachen kämpfen gegen die Fäden!«

***

Es war beängstigend, dachte Sean. Es war herrlich! Es war der schönste Augenblick seines Lebens, und doch hatte er eine Heidenangst.

Sie waren alle genau am Zielort herausgekommen, direkt über dem Hafen, einige Drachenlängen vor der Fädenfront.

Carenath begann sofort Feuer zu speien, und dann, kurz bevor sie durch ein zweites Fadenknäuel geflogen wären, sprang er.

Bei den anderen alles in Ordnung? erkundigte sich Sean besorgt, als sie in den realen Raum zurückglitten. Gute Feuerstöße und saubere Sprünge, versicherte ihm Carenath ruhig und würdevoll, schwenkte leicht ab, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und bahnte sich mit einem neuen Feuerstoß einen Weg durch die Sporen.

Sean blickte sich um und sah, daß ihm der Rest seines Geschwaders in der Staffelformation folgte, die sie von Kenjos Schlittentaktik übernommen hatten, weil dabei die zerstörerische Wirkung am größten war. Jerry und Manooth verschwanden vor seinen Augen und tauchten sofort wieder auf; ein geglücktes Manöver. Dann wagte er mit Carenath den nächsten Sprung.

Dreihundert Meter unter sich sah er Sorkas Fünfergeschwader und hinter dieser Formation flog Tarrie, gefolgt von den übrigen Königinnen. Weiter! verlangte Carenath gebieterisch und schoß in einer Lücke zwischen den Sporen nach oben. Er drehte den Kopf nach hinten und öffnete weit das Maul. Sean tastete nach einem Klumpen Feuerstein. Das muß noch geübt werden, dachte er. Carenath sprang wieder.

Shoth hat sich am Flügel verbrannt, meldete der Drache. Er wird weiterfliegen!

Das wird ihn lehren, vorsichtiger zu sein! gab Sean zurück.

Dann strafften sich die Riemen an seinem Gürtel, denn Carenath schien sich auf seinen Schwanz zu stellen, um einem Fädenstrom auszuweichen, den er dann mit seiner Flamme verfolgte.

Formation wieder einnehmen! kommandierte Sean. Das fehlte noch, daß sie sich gegenseitig verbrannten. Als Carenath sich wieder einreihte, sah er, daß die anderen ihre Position gehalten hatten.

Diese erste Durchquerung der Fädenfront hatte allen Mut gemacht, und jetzt gingen sie ernsthaft an die Arbeit, bis sowohl Feuerspeien wie Ausweichmanöver ganz automatisch abliefen. Carenath ging mehrmals ins Dazwischen, um sich von Fäden zu befreien, die sich an seine Schwingen geheftet hatten. Jedesmal, wenn Carenath eine Verletzung erlitt, biß Sean die Zähne zusammen. Inzwischen hatten sich alle Bronzedrachen und Braunen kleinere Wunden zugezogen, aber sie kämpften trotzdem weiter. Die Königinnen ermunterten sie beständig. Dann meldete Faranth das Eintreffen eines Schlittens, als nächstes verkündete sie, daß in der Hafengegend Bodentrupps ausgerückt seien und die Hülsen zerstörten, die die Oberfläche erreicht hatten. Die Reiterinnen hatten die von Seminole mitgebrachten Tanks geleert, und Sorka wollte sich vom Hafen Nachschub holen.

Faranth will wissen, wie lange wir kämpfen werden sagte Carenath.

Solange der Feuerstein reicht! antwortete Sean verbissen. Er hatte gerade verkohlte Fäden ins Gesicht bekommen, und seine Wangen brannten. Er notierte sich im Geist, daß Gesichtsmasken ganz nützlich wären.

Manooth sagt, sie haben keinen Feuerstein mehr! meldete Carenath plötzlich, nachdem sie eine Weile fast ohne zu denken gekämpft hatten. Sollen sie nachsehen, ob es in der Fort-Festung noch welchen gibt?

Sean hatte gar nicht gemerkt, wie weit sie sich im Laufe des Kampfes landeinwärts bewegt hatten. Sie befanden sich tatsächlich über den mächtigen Mauern der Fort-Festung. Er starrte sie einen Moment lang verwirrt an und wurde sich plötzlich sehr stark bewußt, wie sehr ihm die Kälte und die Anstrengung zugesetzt hatten. Die Reitriemen hatten sich tief in sein Fleisch eingedrückt, sein Gesicht brannte, und seine Finger, Zehen und Knie waren gefühllos.

Sag ihnen, sie sollen auf Fort landen! befahl er. Die Sporen sind in die Berge hinaufgezogen. Mehr können wir heute nicht tun!

Gut! antwortete Carenath so begeistert, daß Sean seine brennenden Wangen vergaß und grinste. Er gab seinem Drachen einen liebevollen Klaps auf die Schulter, die Formation flog eine Rechtskurve und setzte in Spiralen zur Landung an.

***

»Emily!« Pierre kam ins Zimmer seiner Frau gestürmt. »Emily, du wirst es nicht glauben!«

»Was werde ich nicht glauben?« fragte sie müde. Seit dem Unfall schienen ihre Kräfte sie völlig verlassen zu haben. Sie drehte den Kopf, der auf der gepolsterten Lehne des bequemen Stuhls lag, und schenkte ihm ein mattes Lächeln.

»Sie sind gekommen! Ich habe es gehört, aber ich mußte es mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.

Alle Drachen haben mit ihren Reitern Fort erreicht. Sie kamen im Triumph! Sie haben tatsächlich gegen die Fäden gekämpft, wie du es dir erträumt, wie Kit Fing es geplant hat!« Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, den einzigen Teil ihres Körpers, der bei dem Absturz heil geblieben war. »All die siebzehn prächtigen, tapferen jungen Leute. Und sie haben eine richtige Schneise in die Sporen gebrannt, sagt Paul.« Er merkte erst jetzt, daß er lächelte, doch als er sah, wie ihr Gesicht Farbe bekam, wie sie tief einatmete und wie in ihren Augen Interesse aufflackerte, traten ihm die Tränen in die Augen. Sie hob den Kopf, und er plapperte weiter. »Paul hat zugesehen, wie sie die Fäden am Himmel verbrannt haben. Sie konnten natürlich nicht während des ganzen Einfalls bleiben, ein Teil davon ging ohnehin über dem Meer nieder, und der Rest fällt auf die Berge, wo er nicht viel Schaden anrichten kann.

Paul sagte, er habe noch nie etwas so Großartiges erlebt. Es sei noch besser gewesen als damals, als bei Cygnus die Verstärkung eintraf. Sie haben es auch aufgezeichnet, du kannst es dir später ansehen.« Pierre beugte sich über ihre Hand und küßte sie. Die Tränen in seinen Augen galten Emily, aber auch den mutigen jungen Leuten, die gegen die schreckliche Bedrohung am Himmel ihrer wundersamen und doch so beängstigenden Welt angeritten waren. »Paul ist hinuntergegangen, um sie zu begrüßen. Ein triumphaler Empfang. Ich schwöre dir, das gibt uns allen neuen Mut. Alles schreit und jubelt, und Pol und Bay haben geweint, ein sehr unwissenschaftliches Verhalten für die beiden. Vermutlich halten sie die Drachenreiter für ihr Werk. Und wahrscheinlich haben sie sogar recht, meinst du nicht auch?«

Emily bewegte sich in ihrem Stuhl, ihre Finger umklammerten seine Hand. »Hilfst du mir ans Fenster, Pierre? Ich muß sie sehen. Ich muß sie selbst sehen!«

***

Die meisten Bewohner der Fort-Festung strömten heraus, um sie zu begrüßen, sie schwenkten improvisierte Fahnen aus buntem Stoff und jubelten aus Leibeskräften, als die Drachen auf dem freien Feld landeten, wo die Bodentrupps hier und dort die wenigen dem Drachenfeuer entgangenen Fäden vernichtet hatten. Die Menge drängte nach vorne, umringte die einzelnen Reiter; jeder wollte unbedingt einen Drachen berühren, und anfangs achtete niemand auf die dringenden Bitten der Drachengefährten nach einem schmerzlindernden Mittel für die von Fäden zerfressenen Schwingen und die Brandwunden auf der Haut.

Dankbar sah Sean einen Gleiter heranschweben und hörte über Lautsprecher die Aufforderung, Platz zu machen, damit die Ärzte zu den Drachen gelangen konnten.

Der Lärm verringerte sich um ein oder zwei Dezibel. Die Menge teilte sich, gestattete den Ärzteteams Zutritt und machte Platz, damit die Reiter absteigen konnten. Mitleidiges Geflüster kam auf, als der Jubel sich so weit gelegt hatte, daß man das schmerzliche Wimmern der Drachen hören konnte. Einige der um Carenath Versammelten halfen Sean eifrig, ihn zu verarzten.

Sind sie alle hier, um uns zu sehen? fragte Carenath schüchtern und drehte seinen linken Flügel, damit Sean eine besonders breite Strieme erreichen konnte. Als die Betäubungssalbe aufgetragen wurde, seufzte er vernehmlich vor Erleichterung.

»Ich weiß nicht, womit wir so viel Glück verdient haben«, murmelte Sean vor sich hin, als er sicher war, Carenaths sämtliche Verletzungen versorgt zu haben. Er blickte sich um und sah, daß auch alle anderen Drachen behandelt worden waren. Sorka zeigte ihm den erhobenen Daumen und grinste ihn mit blut- und rußverschmiertem Gesicht zu. Er erwiderte das Zeichen mit beiden Fäusten. »Reiner Dusel, daß wir nur mit Verbrennungen und Kratzern davongekommen sind. Wir wußten ja gar nicht, was wir taten. Blindes Glück!«

In seinem Kopf überstürzten sich die Gedanken, er überlegte, auf welche Weise man jegliche Verletzungen vermeiden und mit welchen Übungen man lernen konnte, die einzelnen Flammenstöße noch effektiver einzusetzen. Dies war schließlich nur das erste kleine Scharmützel in einem langen, langen Krieg gewesen.

»He, Sean, Sie haben auch etwas abgekriegt!« sagte eine Ärztin und nahm ihm den Helm ab, um seine Wangen mit der Salbe zu bestreichen. Wir müssen Sie doch auf Vordermann bringen. Der Admiral wartet!«

Stille senkte sich über die Ebene, als wären diese Worte ein Stichwort gewesen. Die Reiter sammelten sich und machten sich auf den Weg zur Rampe, wo Paul Benden in der Uniform eines Flottenadmirals zusammen mit Ongola und Ezra Keroon, die ebenso formell gekleidet waren, die siebzehn jungen Helden erwartete.

Im Gleichschritt marschierten die Drachenreiter an den vor Stolz töricht grinsenden Menschen vorbei. Sean erkannte viele Gesichter: Telgar, dem die Tränen über die Wangen liefen, flankiert von Ozzie und Cobber; Cherry Duff, von zweien ihrer Söhne gestützt, mit freudig blitzenden schwarzen Augen. Er entdeckte die Hanrahans, Mairi hielt seinen kleinen Sohn in die Höhe, damit er den Aufmarsch sehen konnte. Gouverneurin Emily Boll war nirgends zu sehen, und Scans Herz krampfte sich zusammen. Was Peter Chernoff gesagt hatte, stimmte also. Ohne sie war dieser Augenblick nicht vollkommen.

Sie erreichten die Rampe; irgendwie waren die Reiterinnen einen Schritt zurückgeblieben, und Sean stand in der Mitte. Als sie anhielten, trat er einen Schritt nach vorne und salutierte, eine Förmlichkeit, die der Anlaß zu erfordern schien. Admiral Benden erwiderte den Gruß mit Tränen in den Augen.

»Admiral Benden, Sir«, sagte Sean, der Reiter des Bronzedrachen Carenath, »darf ich Ihnen die Drachenreiter von Pern vorstellen?«

ENDE